Die sieben Regionen der mythischen Erde

Zuletzt aktualisiert am 27. April 2021.

Bhavachakra, Rad der Wiedergeburt, mit den sieben mythischen Weltregionen im Inneren

Wie sieht die imaginative Erde in der Genesis des Mazdaismus, im Bundahischn, aus?

Ursprünglich war sie ein integres Ganzes, ein Allzusammenhang des Lebens. Aber unter dem Einfluss der dämonischen Mächte wurde sie in sieben voneinander abgegrenzte Regionen unterteilt. Die Zentralregion Xvanratha, »das leuchtende Rad«, ist so groß, wie die sechs anderen Regionen zusammen. Diese sechs umgeben sie als Segmente eines Kreises, die von der Zentralregion und voneinander durch den kosmischen Ozean getrennt sind. Im Osten und Westen befinden sich je eine, im Norden und Süden zwei Regionen. Die östliche Region reicht vom Aufgangspunkt der Sonne am längsten Tag bis zu ihrem Aufgangspunkt am kürzesten Tag. Die beiden südlichen vom letzteren bis zum Sonnenuntergangspunkt am kürzesten Tag. Von hier bis zum Sonnenuntergangspunkt am längsten Tag erstreckt sich die westliche Region. Von diesem bis zum Sonnenaufgangspunkt am längsten Tag reichen die beiden nördlichen Regionen. Die Grenzen der westlichen und östlichen Region gegen die nördlichen bilden also der Sonnenaufgang und -untergang am Tag der Sommersonnenwende, ihre Grenzen zu den südlichen Regionen der Sonnenuntergang und -aufgang am Tag der Wintersonnenwende.

Es handelt sich um mythische Regionen des Himmels, nach denen aber auch bestimmte Seen und Berge benannt sind, die sie auf Erden repräsentieren. Die Namen der Regionen sind zugleich die Namen der Heilande, Sayoshyants, von denen jeder eine beherrscht. Sie alle werden mit dem siebenten zusammenwirken, um die Verklärung der Welt herbeizuführen. Das ist die mythische imago terrae, das imaginative Bild der Welt im Mazdaismus.

Die zentrale Region umschließt die Mitte des archetypischen Himmelskreises, die Mitte der Mitte, Airyanem Vaejah, in Pahlavi Eran-Vej, die Geburtsstätte der Reinen (Arier, Iraner). Hier wurden die Helden der Legende erschaffen, hier entsprang die Religion Zarathustras, um in die übrigen Regionen auszustrahlen, hier wird der letzte der Heilande geboren werden, der Ahriman entmachten und die Wiederherstellung aller Dinge herbeiführen wird.

Jene Region, die die Mitte der Mitte kreisförmig umschließt, ist dem Menschen heute allein noch zugänglich. Sie repräsentiert aber nur ein Siebtel der Erde. Später wurde diese Region in weitere sieben Regionen unterteilt, einen mittleren Kreis, der von sechs Kreisen umgeben ist, wie eine Blume mit sechs Blütenblättern. Der Kreis in der Mitte repräsentierte den Iran und die sechs übrigen andere geographische Regionen (ähnlich wie China als Reich der Mitte von verschiedenen barbarischen Reichen umgeben war, die halbmythische Völker bewohnten). Diese Kartographie soll auf Zarathustra zurückgehen und fand noch im 10. Jahrhundert bei Biruni Verwendung. In der irdischen Geographie bildet sich die himmlische, mythische ab, in dieser die sieben heiligen Unsterblichen, deren Avatare die auf Erden erscheinenden Heilande sind. Alles ist von der Ordnung der Siebenheit durchdrungen.

Die mythische Ordnung der Welt ist Inhalt der Meditation und zugleich die reale Struktur des Universums. Wer sich in diese Struktur versenkt, begibt sich in die imaginative Welt, aus der die Ordnung der irdischen hervorgeht. Diese Art der Anordnung ist archetypisch. Man findet sie auch im Lebensrad (bhavachakra) des Buddhismus mit seinen sechs Speichen, auf russischen Ikonen, die die sieben Erzengel darstellen und in Manuskripten des christlichen Mittelalters. Im Gegensatz zur relativen geographischen Lage Irans, befindet sich der mythische Iran, Eran-Vej, stets im Zentrum der Welt. Die Lage dieses Zentrums ist nicht durch etwas anderes bestimmt, vielmehr bestimmt das Zentrum die Lage aller übrigen Orte. Die Seele, die sich in dieses Zentrum begibt, ist nicht länger an den äußeren Raum gebunden. Sie selbst wird zum Mittelpunkt, aus dem die räumlichen Regionen hervorgehen, sie trägt ihr Zentrum, den Mittelpunkt der Welt, stets bei sich.

Synaxis der Erzengel mit Christus

Die mythische Ordnung der Welt bildet sich auch in den persischen Paradiesgärten ab (das Wort »Paradies« stammt aus dem Medischen), ebenso, wie sich die spirituelle Struktur der Welt in den Paradiesgärtlein des christlichen Mittelalters abbildete. Das Meditationsbild der mythischen Erde ist ein Mandala, das die Seele auf ihrem Weg zum Ursprung leitet, auf jenem Weg der Auslegung von Symbolen, der in die imaginative Welt führt.

Angesichts der Ubiquität mythischer, mystischer und imaginativer Orte, ist der Versuch ihrer geographischen Lokalisierung in der sinnlichen Welt oder der Falsifizierung solcher Lokalisierungen irrelevant. Dies wirft auch ein Licht auf Versuche, die Lokalisierung mythischer Atlantiserzählungen zu verifizieren oder zu falsifizieren. Denn die mythische Geographie bezieht sich auf einen qualitativen, nicht einen quantitativen Raum, einen Raum, in dem die Lage der einzelnen Regionen durch ihre inneren Beziehungen bestimmt ist, nicht durch äußere Koordinaten. Wenn historische Ereignisse in diesen mythischen Raum verlagert werden, dann zeugt dies allein davon, dass gewisse geistige Operationen stattgefunden haben, die einer Verifikation oder Falsifikation durch empirische Wissenschaften nicht zugänglich sind. Man könnte diese Operationen als »Metaphernbildung« im ursprünglichen Sinn dieses Wortes bezeichnen, in jenem Sinn, von dem auch Goethes Satz »Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis« zeugt. Bei dieser Übertragung werden Dinge oder Wesen der sinnlichen Welt zu Sinnbildern, Symbolen ihres ewigen Wesens, ihrer zeitlosen Urbilder. Da die Seele des Menschen alle Urbilder in sich trägt – hat sie sie doch vor der Geburt geschaut –, wird sie durch das Erscheinen ihrer Abbilder an diese Urbilder erinnert, erkennt sie in diesen wieder und das Zeitliche erglänzt im Licht des Ewigen – ein platonischer Gedanke.

Die mythische Ordnung des Kosmos ist eine archetypische Ordnung, die nicht der physischen, sondern der imaginativen Welt angehört, einer Welt, in der die geistige Schau des Zentrums und der Peripherie die Orte und Lagen der jeweiligen Regionen bestimmt. Die geistige Realität, die der Imagination zugänglich ist, trägt ihren eigenen Raum in sich, und muss nicht nach physisch-empirischen Gegebenheiten ausgerichtet werden. Vielmehr verleiht sie diesen physischen Gegebenheiten von Fall zu Fall eine archetypische Bedeutung. Wenn also im Mythos von verschiedenen Zentren der Erde die Rede ist, dann zeugt dies davon, dass die jeweiligen geographischen Orte Schauplätze von Epiphanien waren, in denen das mystische Zentrum der Erde erlebt worden ist. Die Omphaloi (Nabelsteine), die diese Epiphanien markieren, sind physische Erinnerungsmale für diese geistigen Ereignisse. Auch Atlantis befand sich in der imaginativen Welt, jener Welt, die Steiner als Akasha-Chronik bezeichnet. Es befindet sich noch dort, auch wenn es mit physischen Mitteln nicht auffindbar ist, denn die imaginative Welt birgt die archetypische Seinsordnung in sich, aus der die physische hervorgegangen ist. Atlantis ist untergegangen und ist es zugleich nicht. Es ist in dem Sinn untergegangen, in dem die ganze imaginative Welt bei der Heraufkunft des rationalen Diesseitsbewusstseins untergegangen ist. Und es besteht noch immer, weil es sich als Teil der mythischen Menschheitsgeschichte in der imaginativen Welt befindet.

Wo auch immer sich also ein historisches Ereignis im heutigen Sinn abgespielt haben mag: dieses Ereignis bedurfte eines Mediums, durch das es erinnert werden konnte. Und dieses Medium ist laut Corbin kein anderes als das archetypische Bild, das auf die unterschiedlichen geographischen Räume projiziert werden kann, ein Bild, das diese Räume in die mythische Raumordnung einbezieht und sie erinnerbar macht. Die aktive Imagination ist es, die bestimmte Orte zu heiligen Plätzen erhebt oder in ihnen ein mythisches Geschehen lokalisiert und ihnen dadurch eine metaphysische Bedeutung verleiht und nicht etwa umgekehrt: nicht der physische Ort besitzt eine metaphysische Qualität, die sich der Imagination einprägt, sondern die Imagination verleiht ihm diese Qualität. Andererseits besitzt jeder Ort der physischen Erde das Potential, durch die aktive Imagination in die archetypische Welt einbezogen zu werden, denn die Erde ist insgesamt eine Erscheinungsform ihres Archetypus. Jeder Berggipfel kann zum Wohnort der Götter werden, jedes Gebirgsmassiv zum Zentrum der Welt, jeder Fluß zum Mutterfluss des irdischen Lebens, denn all diese physischen Orte und Schauplätze haben an ihren Archetypen teil. Die Erscheinungen des Heiligen, des Archetypischen finden in der Seele statt, nicht in den Dingen, wie Corbin sagt. Das ist zwar richtig. Aber ebenso richtig ist, dass jeder Ort der physischen Erde, jedes Ding oder Wesen für die Imagination zu einer Erscheinung des Heiligen werden kann, weil es tatsächlich eine solche Erscheinung ist. Nicht anderes bringen übrigens solche Sätze Steiners zum Ausdruck wie »der Weltengrund hat sich in die Welt vollständig ausgegossen, er hat sich ihr nicht vorenthalten, er treibt sie von innen«.

Sehr schön illustriert all dies auch der iranische Mythos, wenn er davon spricht, im mythischen Iran, in Eran-Vej, seien von Ohrmazd und den himmlischen Wesen die Liturgien zelebriert worden, durch die dieser mythische Iran, ja die ganze Welt entstand, jene Liturgien, die noch heute von den Priestern und Gläubigen zelebriert werden, um sich in diesen mythischen Iran zu versetzen. Durch jede Liturgie, durch jede religiöse Zeremonie versetzen sich die Zelebranten in einen mythischen Raum. Sie transzendieren die physische Räumlichkeit und erheben sie und sich in eine metaphysische Ordnung, durch die alles in einem neuen, anderen Licht erscheint. Darum spricht man auch von »Gotteshaus«. Das Haus Gottes ist nicht ein Haus, in dem Gott wohnt, sondern ein Haus, in dem er durch die heiligen Handlungen und Vorgänge im Bewußtsein der Gläubigen anwesend ist, sofern sie sich durch diese in seine ewige Gegenwart versetzen.

Im mythischen Iran bat Ohrmazd Ardvi Sura Anahita, die Heilige und Reine, die Göttin der himmlischen Gewässer darum, ihm Zarathustra gewogen zu machen, und seinen Propheten mit dem Glauben an ihn zu erfüllen. Im mythischen Iran bat Zarathustra dieselbe Gottheit, König Vishtaspa zu bekehren. Dort auch erhielt der von Schönheit schimmernde Yima, der beste der Sterblichen, den Auftrag, jene Umfriedung zu errichten, in der die Auserwählten aus allen Arten versammelt wurden, damit sie vor den tödlichen Wirkungen des kosmischen Winters bewahrt blieben, um nach dessen Ende die Welt aufs neue zu besiedeln. Die Umfriedung Yimas ist eine mythische, archetypische Stadt, mit leuchtenden Toren und Fenstern, die das Licht in ihrem Inneren verschließen. Einmal im Jahr aber gehen die Sonne, der Mond und die Sterne auf und unter, weshalb ein Jahr wie ein Tag erscheint. Alle vierzig Jahre gebiert jedes menschliche Paar ein weiteres menschliches Paar in jener heiligen Umfriedung Yimas, die keinem Wandel und keiner Zerstörung unterliegt.

Die Frage, ob das Paradies der Archetypen, ob Atlantis und Lemuria durch Meditation oder archäologische Ausgrabungen wieder entdeckt werden können, läßt sich mithin leicht beantworten. Die himmlische Erde im Zentrum der Welt mit ihren mythischen Kontinenten, in denen die unvergänglichen und unendlich fruchtbaren Samen aller Dinge schlummern, aus denen alles Leben künftig wiederauferstehen wird, diese Erde läßt sich nicht mit Hilfe von GPS-Geräten und Schaufeln finden. Gegraben werden muss in der Seele: sie muss den Schutt beiseite räumen, der ihre geistigen Augen verdeckt, sie muss jene Durchsichtigkeit erlangen, die eine Frucht der Kontemplation und Meditation ist. Und erst, wenn sie jene Transparenz erreicht hat, dann können durch sie oder in ihr jene Archetypen erscheinen, die immer gegenwärtig, aber nie greifbar sind. »Versinke«, ruft Mephisto dem Goetheschen Faust zu, »ich könnt auch sagen steige!« Denn das Reich der Mütter ist kein physischer Ort, an den man durch körperliche Bewegung gelangen könnte, das Zentrum der Welt ist überall und nirgends.

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