Liturgie und Zeitlosigkeit. Theosophie VI

Zuletzt aktualisiert am 2. November 2011.

Versluis deutet die Liturgie, das Messritual, aus der Perspektive des Geistrealismus gemäß dem religiösen Selbstverständnis. In der mittelalterlichen katholischen und in der orthodoxen Kirche bis in die Gegenwart empfangen die Gläubigen aus den Mysterien der Sakramente, den Ritualen und der heiligen Sprache, ihre geistige Nahrung. Anders als für den Protestantismus, ist die Messe für die Orthodoxie bis heute die Erscheinung des Zeitlosen in der Zeit, die Gegenwart Gottes in der Welt.

Für Protestanten ist unverständlich, dass Gott in der Liturgie gegenwärtig wird, dass das Zeitgebundene durch die sakramentale Erfahrung des Ewigen geheiligt werden könnte. In einem schönen Bild erläutert Versluis diesen Gedanken am Kreuz. Die horizontale Zeitachse wird von der Vertikale der Ewigkeit durchschnitten. Das Kreuz versinnbildlicht das zentrale Mysterium der ewigen Gegenwart im Christentum: nur an einem Ort kann das Ewige das Zeitliche schneiden, nur in unserer jeweiligen Gegenwart kann die Erscheinung des Ewigen in der Zeit von uns wahrgenommen werden. Im Raum repräsentiert die Mitte des Kreuzes Wesen und Ursprung der Existenz, das Herz des Einzelnen und des Kosmos.

Das Geheimnis der Liturgie ist das Geheimnis des Kreuzes und beide sind untrennbar von der Vertikalität, von der himmlischen Hierarchie. Die gesamte Schöpfung ist eine vertikale Kette, eine Ausstrahlung der Gottheit in die Welt. Die Sakramente könnten nicht wirken, gäbe es diese vertikale Ausstrahlung Gottes in die Welt nicht. Sie sind nicht nur ein Aufstieg der Feiernden zu Gott, sondern auch ein Abstieg des Heiligen Geistes zu den Feiernden.

Daher heißt es in der orthodoxen Kirche, in der Liturgie seien die Engel anwesend. Während sie zelebriert wird, ist die Erlösung im Zeitlichen gegenwärtig. Die Liturgie ist ein Bruch im Strom der Zeit, eine Umkehrung des Falls, eine Wiederherstellung der ursprünglichen Beziehung des Menschen zu Gott. Wer an der Liturgie teilhat, hat an der Gegenwart des Himmels auf Erden und an der Erlösung teil.

Aber die Sakramente machen die Mitwirkung des Menschen nicht überflüssig. Sie sind ein Geschenk Gottes an die Menschheit und rufen uns auf, unser Wesen durch eine spirituelle Praxis unentwegt umzuwandeln. Die Liturgie selbst ist eine spirituelle Praxis, in der sich das Mysterium der Wandlung Gottes in den Menschen, des Menschen in Gott, stets von neuem entfaltet. Die Sakramente sind ein Ausfluß der göttlichen Gnade und rufen den Menschen auf, diese in sich aufzunehmen, sich ihr entgegen zu bewegen, um sich zu einem würdigen Gefäß für sie zu machen. Sie erleuchten den in der Zeitlichkeit wandelnden Menschen mit dem Licht seines urbildlichen Wesens.

Diese Erleuchtung wurde von manchen gnostischen Gruppierungen betont, die historisch betrachtet, sich den historisierenden Tendenzen der Kirche entgegenstemmten. Im Thomasevangelium heißt es, das Reich Gottes, das die Gläubigen erwarteten, sei schon da, sie erkennten es nur nicht oder es sei über die Erde ausgebreitet und die Menschen sähen es nicht. Das göttliche Wesen durchdringt den gesamten Kosmos, der dieses Wesen widerspiegelt. Auch die Liturgie vergegenwärtigt dieses Wesen, durch die Zeremonien, die einen Zugang zum Heiligen eröffnen.

Franz von Baader faßte die Kommunion als einen Abstieg des Göttlichen in unsere Welt auf, ohne dass es dadurch vermindert oder verändert würde. Die Eucharistie ist die Präsenz Gottes vor dem Menschen, eine Epiphanie, die die künftige Gegenwart des vergöttlichten Menschen an der Tafel Gottes bezeugt. Die Kommunion ist die Offenbarung des Geheimnisses der göttlichen Einheit und Vielfalt. Die Liturgie ist eine heilige Handlung, die Heiliges bewirkt, eine Offenbarung der künftigen Möglichkeiten des Menschen, die diese künftigen Möglichkeiten mit herbeiführt, und eine Offenbarung des höchsten Opfers, in dem sich Christus zeigt, an dem der Mensch durch das Ritual teilhat. Wem das Sakrament zuteil wird, hat an seiner eigenen Vergöttlichung teil.

Was für die orthodoxe Kirche gilt, galt auch für die katholische Kirche – zumindest bis zum 2. Vatikanum 1969. Die Abschaffung der tridentinischen Messe in Lateinisch hält Versluis für einen schweren Fehler. Das Lateinische hatte den Charakter einer sakralen Sprache und die Übersetzung in Umgangssprachen kommt einem Substanzverlust, einem Verlust an liturgischer Kraft gleich. Die Kirche hat gleichsam ihre eigene Kraft, die Gegenwart Gottes durch das Ritual zu bezeugen, geschwächt. Versluis führt Ambrosius und Chrysostomus als Zeugen für die Heiligkeit der Messe an: Ambrosius sprach von der Gegenwart der Engel bei der Messe, Chrysostomus bezeichnete sie als Quelle, aus der spirituelle Ströme sprudeln, eine Quelle, die von Engeln besucht werde, die die Schönheit des Stromes der Weisheit bewunderten, der durch sie geoffenbart werde. Durch die Modernisierung des Messrituals, so Versluis, habe sich die Messe gleichsam von der Menschheit zurückgezogen.

Je mehr sich das Heilige in Gestalt der Rituale aus dem Alltagsleben zurückzieht, um so mehr muss der Einzelne sich um dessen Vergegenwärtigung bemühen. Dies war auch Jakob Böhmes Überzeugung, der verlangte, jeder Augenblick des Tages müsse zu einer liturgischen Handlung werden. Er wollte den Verlust an Sakralität, den der Protestantismus verschuldet hatte, durch eine um so stärkere Sakralisierung des individuellen Lebens wettmachen. Diese Notwendigkeit bestehe in unserer modernen, säkularisierten Welt noch mehr, meint Versluis. Je mehr die traditionellen Formen des religiösen Lebens schwinden und die Gesellschaft im Chaos versinkt, um so mehr kommt es auf das immerwährende Herzensgebet und die »Engelsbruderschaft« an, die Vereinigung des Menschen mit den Engeln und der Menschen untereinander unter der Leitung der Engel. An dieser Stelle können wir auch an Steiner erinnern, der davon sprach, die alltägliche Begegnung zwischen Menschen und die Arbeit des Naturwissenschaftlers im Labor müßten zu sakramentalen Handlungen werden.

Die Theosophen standen dem Ritual nicht feindselig gegenüber, sondern betonten die Notwendigkeit der individuellen Heiligung: das liturgische Bewußtsein der Gegenwart Gottes sollte alle Aspekte des täglichen Lebens durchdringen. Goethes Aphorismus, jeder Mensch solle wie ein Priester sein, der am Altar der Natur liturgische Handlungen vollbringe, bringt eine theosophische Überzeugung zum Ausdruck. Die Forderung der Theosophen, das Leben von neuem zu heiligen, war eine Kompensation für die Sakralitätsverluste, die mit der Reformation einhergingen.

Diese Heiligung bedeutet, sich mit der göttlichen Liebe zu durchdringen, die sich auf alle Kreaturen erstreckt. Je mehr dies gelingt, um so mehr wird der einzelne Mensch zu einem liturgischen Ort, einem Ort, in dem das Ewige im Zeitlichen zum Vorschein kommt.

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