Pfad am Abgrund

Zuletzt aktualisiert am 28. August 2011.

Rudolf Steiner als Generalsekretär der Theosophischen Gesellschaft? Der individualistische Anarchist, der 1897 noch über die Theosophen geschrieben hatte: »Sie sehen mit Achselzucken auf die ganze europäische Wissenschaft … und verehren die morgenländische Art des Wahrheitssuchens als die einzige … Es ist billig, Phrasen aus einer immerhin tiefsinnigen Literatur aufzunehmen und mit ihnen die ganze abendländische Erkenntnisarbeit wertlos zu erklären. Welche Tiefe, welche Innerlichkeit in der angeblich dem oberflächlichen Verstande … angehörigen Wissenschaft des Abendlandes steckt, davon haben die Theosophen keine Ahnung.« Der individualistische Anarchist, der in seiner »Philosophie der Freiheit« geschrieben hatte: »Die Natur macht aus dem Menschen bloß ein Naturwesen; die Gesellschaft ein gesetzmäßig handelndes; ein freies Wesen kann er nur selbst aus sich machen«, – dieser individualistische Anarchist sollte nun Funktionär einer Gesellschaft werden, die die ganze europäische Wissenschaft verachtete?

Aber Steiner schrieb 1902 auch an einen führenden Theosophen, die Theosophische Gesellschaft sei nichts mehr als ein »Rahmen«, in den ein »völlig neues Bild« eingesetzt werden müsse, und sie müsse über Blavatsky und Besant »hinausschreiten«, in die Richtung, die von solchen Philosophen wie dem Sohn Fichtes gewiesen worden sei. Man kann sich kaum einen größeren Gegensatz vorstellen, als den auf die abendländische Wissenschaft eingeschworenen Philosophen Steiner und die orientalisierende, mystelnde Bruderschaft, deren Leitung in Deutschland er übernahm.

Aber es gibt natürlich – wie immer – eine andere Seite. Diese andere Seite sollte man berücksichtigen, bevor man Steiner Charakterlosigkeit oder noch Schlimmeres vorwirft. Denn sein Verständnis der abendländischen Wissenschaft unterschied sich doch sehr vom damals herrschenden. Immer schon hatte er betont, dieses abendländische Wissenschaftsverständnis sei erweiterungsbedürftig: der Revision bedürfe der willkürlich auf die Sinneswahrnehmung eingeschränkte Begriff der Erfahrung, der objektivistische Begriff der Erkenntnis, der Wirklichkeit unter Ausschluss des erkennenden Subjektes definiere, schließlich müsse die Verabsolutierung mechanistischer und positivistischer Positionen überwunden werden, damit die Wirklichkeit des Lebendigen, des Seelischen und Geistigen erkannt werden könne.

Und um diese Wirklichkeit des Lebendigen, des Seelischen und des Geistigen ging es doch in der »Theosophie«. In den Prinzipien der Theosophischen Gesellschaft war von der Entwicklung schlummernder Erkenntniskräfte des Menschen die Rede und von der Erforschung verborgener Kräfte der Natur. In ihnen war auch die Rede von einer Erweiterung des abendländischen Horizontes, einer gerechteren Würdigung des Beitrages, den die nichteuropäischen Völker zur geistigen und kulturellen Entwicklung der gesamten Menschheit geleistet hatten. Und bei näherem Hinsehen: ging es Blavatsky in ihrer »Entschleierten Isis« nicht gerade darum, nachzuweisen, dass eine Erkenntnis der verborgenen Kräfte der Natur mit dem modernen Wissenschaftsverständnis vereinbar sei? Ging es nicht um die Erweiterung des Wissenschaftsbegriffs? Insoweit stand Blavatsky mit ihrer Theosophischen Gesellschaft in der Tradition der abendländischen Esoterik, die seit der Renaissance auf diese Erweiterung der Wissenschaft und der Wirklichkeitsauffassung gepocht hatte, stand auch Steiner mit seinem Anliegen an die Wissenschaften in der Tradition der Esoterik – selbst àvant la lettre, bevor er sich einer genuin esoterischen Strömung auch äußerlich zuwandte.

Aber hätte Steiner sein Anliegen nicht auch im Rahmen der akademischen Wissenschaften vorbringen können? Warum mußte er sich den Theosophen zuwenden? Nun, er hatte es versucht. Er hatte es seit seinem 23. Lebensjahr versucht, seit der Herausgabe der naturwissenschaftlichen Schriften Goethes, er hatte es mit »Wahrheit und Wissenschaft« und seinen anderen philosophischen Werken versucht, aber die traurige Wahrheit war: niemanden interessierte es. Daher die Frage: »muss man verstummen«? Die Theosophen waren eine Gemeinschaft von Menschen, die hören wollten. Sie empfanden die Grenzen und Mängel der »abendländischen Wissenschaft«, deswegen wandten sie sich ja auch der morgenländischen Weisheit zu: weil sie in ihr etwas fanden, was aus der abendländischen Weisheit, auch aus der Verkündigung der Offenbarungsreligionen, verschwunden war. Ein beiderseitiges Bedürfnis traf also zusammen: ein Bedürfnis zu hören und ein Bedürfnis zu sprechen und machte Steiner in seinem 42. Lebensjahr zum Generalsekretär der Theosophischen Gesellschaft in Deutschland.

Aber nun mußte Steiner ausgerechnet diesen Theosophen die Achtung vor der abendländischen Erkenntnisarbeit beibringen. Und hier verfuhr er genau nach jenen Grundsätzen, die er in der »Philosophie der Freiheit« erörtert hatte: »Die moralische Phantasie muß, um ihre Vorstellung zu verwirklichen, in ein bestimmtes Gebiet von Wahrnehmungen eingreifen. Die Handlung des Menschen schafft keine Wahrnehmungen, sondern prägt die Wahrnehmungen, die bereits vorhanden sind, um, erteilt ihnen eine neue Gestalt.

Um ein bestimmtes Wahrnehmungsobjekt oder eine Summe von solchen, einer moralischen Vorstellung gemäß, umbilden zu können, muß man den gesetzmäßigen Inhalt (die bisherige Wirkungsweise, die man neu gestalten oder der man eine neue Richtung geben will) dieses Wahrnehmungsbildes begriffen haben. Man muß ferner den Modus finden, nach dem sich diese Gesetzmäßigkeit in eine neue verwandeln läßt. Dieser Teil der moralischen Wirksamkeit beruht auf Kenntnis der Erscheinungswelt, mit der man es zu tun hat …« das heißt, auf »moralischer Technik«. »Die Theosophen«: sie waren das Gebiet der Wahrnehmungen, das Steiners moralische Phantasie umgestalten wollte. Sollte ihm dies gelingen, bedurfte er einer ausreichenden Kenntnis des gesetzmäßigen Inhaltes dieses Wahrnehmungsgebietes, seiner bisherigen Wirkungsweise – mit anderen Worten – er mußte Theosoph werden, durch und durch, um die Theosophen über Blavatsky und Besant hinauszuführen. Das war ein Pfad am Abgrund. Andere wären gestürzt. Steiner führte die Seinen in das Land jenseits des Abgrunds.

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