Wiederkunft Christi

Zuletzt aktualisiert am 10. März 2020.

Die Wiederkunft Christi ist ein Thema, das die Christenheit seit Jahrtausenden beschäftigt. Die Erwartung hat mannigfaltige Wandlungen durchlaufen, sie ist aber keineswegs geschwunden. In den Vereinigten Staaten stehen die Buchserien der Evangelisten Tim La Haye und Jerry B. Jenkins, die von der unmittelbar bevorstehenden Wiederkunft und der Entrückung der Erwählten erzählen, seit Jahren auf den Bestsellerlisten. Auf den Straßen kann man immer wieder Autos sehen, die mit Aufklebern die Überzeugung ihrer Insaßen bekunden, dass diese Wiederkunft in nächster Zeit zu erwarten ist. Wie im Judentum spielte auch im Christentum die Erwartung des Messias immer wieder eine bedeutende Rolle in spirituellen Erweckungsbewegungen, nur mit dem Unterschied, dass das Judentum nach wie vor die erstmalige Ankunft des Messias erwartet, während die Christen auf die zweite Ankunft hoffen.

Auch esoterische Bewegungen im 19. und 20. Jahrhundert haben dieses Motiv aufgegriffen. Der Begriff des »New Age« ist aus theosophischen Interpretationen des Themas entstanden. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts verdichtete sich in der von Annie Besant geleiteten Theosophischen Gesellschaft die Erwartung zu der Überzeugung, die Wiederkunft Christi werde sich dadurch vollziehen, dass der überragende »Weltenlehrer« von einem indischen Knaben Besitz ergreife. Auf eigenartige Weise versuchte die Theosophische Gesellschaft ihren Leitsatz vom Wahrheitskern in allen Religionen zu verwirklichen. Der Einsatz für die Befreiung Indiens von der englischen Kolonialherrschaft, der auf das revolutionäre Erbe der Aufklärung zurückging, verband sich mit einem religiösen Sendungsbewusstsein, das dem Westen die ewigen Wahrheiten des Ostens einpflanzen wollte. Christus, der sich in einem Inder reinkaniert und zum Weltlehrer der Liebe und Barmherzigkeit wird, das war die Revanche des Ostens für die jahrhundertelange Unterdrückung im Namen des Christentums. Ein Orden wurde gegründet, um die bevorstehende Ankunft vorzubereiten. Als »Vehikel« der Wiederkunft wählte Charles Webster Leadbeater Jiddu Krishnamurti aus. Diese Vorgänge, die Anfang 1910 kulminierten, veranlaßten Rudolf Steiner, der damals Generalsekretär der Deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft war, zu Korrekturen. Er wies im Januar 1910 darauf hin, dass die Wiederkunft Christi keine Wiederkunft in einem physischen Menschenleib sei, sondern sich in der ätherischen Welt vollziehe und zwar im 20. Jahrhundert. Christus sei kein Volksgott, sondern das spirituelle Urbild der gesamten Erdenmenschheit, er kehre im Bewusstsein der Einzelnen wieder, um sie aus der Zersplitterung in Rassen, Völker und Kulturen in ein Reich der Freiheit und der allumfassenden Brüderlichkeit zu führen. Die Auseinandersetzungen über die Interpretation des zweiten Kommens führten schließlich zum Bruch zwischen Besant und Steiner, aus dem die Anthroposophische Gesellschaft hervorging.

Steiner weckte durch seine Ausführungen über die Wiederkunft Christi in der ätherischen Welt jedoch seinerseits Erwartungen. Zwar lehnt Steiner ausdrücklich und unmißverständlich die für ihn absurde Vorstellung ab, die Christuswesenheit könne sich ein zweites Mal in einem Menschen inkarnieren. Für ihn ist die Menschwerdung Christi, des Gottessohnes, ein einmaliges und unwiederbringliches Ereignis, dessen Sinn durch eine weitere Inkarnation zerstört würde, aber dennoch kann der ätherische Christus im 20. Jahrhundert wie ein »Berater und Freund« erlebt werden, »der zu den Menschenseelen sprechen wird, so wie ein Mensch, der physisch neben uns geht.« (14.10.1913, GA 152, S. 91) Steiner wies insbesondere auf die dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts hin, in denen dieses Erlebnis vermehrt auftreten werde. Er wies aber gleichzeitig darauf hin, dass in dieser Zeit die Versuchungen zunehmen würden, die ätherische Gestalt des Christus mit physischen Erlösergestalten zu verwechseln – eine Voraussage, die sich, wie wir inzwischen wissen, auf fatale Weise bewahrheitet hat.

Hartwig Schiller, Generalsekretär der Anthroposophischen Gesellschaft in Deutschland, setzt sich in seinem neuen Buch »Die Suche nach dem Unverlorenen« mit diesen Fragen auseinander: »Für die Beurteilung der Parusie-Ankündigung Rudolf Steiners bleibt entscheidend, ob ihre Voraussage bestätigt werden kann oder nicht. Sie ist letztlich also von vorliegenden oder ausbleibenden Erfahrungen abhängig.« Von der in Fülle vorliegenden »Bestätigungsliteratur« hält Schiller nicht viel. Diese Schriften haben ihm zu viel bekenntnishaftes und sektenartiges. Auch Autoren, die sich inszenieren und als »neue Sendboten, Propheten oder Eingeweihte verehren lassen«, sind Schiller verdächtig, da ihnen meistens das fehlt, »was die Würde des modernen Menschen ausmacht: der Weg durch Zweifel, Not und kritisches Bewußtsein.« Was der ätherische Christus laut Schiller ermöglicht, ist »ein Verständnis des Menschenwesens, das zugleich der Beginn seiner Verwirklichung ist« und diese ist nicht »an äußere Wundergläubigkeit und gespensterartige Visionen geknüpft.« Sie läßt den Menschen als ein Wesen der Initiative verstehen, das Verantwortung für sein Handeln übernimmt und aus Liebe handelt. »Die Parusie des Christus-Wesens ist überall da zu suchen, wo sich der Mensch handelnd, Anteil nehmend und tragend in die Welt stellt.« Alles hängt von unserem Bewußtsein, von unserer Erkenntnis ab, denn der ätherische Christus will erkannt werden. Eine Portion Kynismus, im Sinne »radikaler Wahrheitsliebe, Selbsterforschung und konsequenter Lebensführung« würde die Auseinandersetzung mit der Frage nach dem ätherischen Christus vor »Wundergläubigkeit, seelischen Fieberzuständen sowie leiblichen Krankheitsdispositionen schützen und das Problem der falschen Propheten radikal vermindern.« Die Anwesenheit des Christus im Menschen muss heute vom Menschen aktiv bewirkt werden, sie entsteht nicht von selbst, sondern durch die entsprechende Vorbereitung.

Im Leser, der mit der anthroposophischen Szene vertraut ist, erhebt sich bei solchen Äußerungen unwillkürlich die Frage: von wem spricht der Autor? Wen meint er, wenn er von den neuen Sendboten, Propheten und Eingeweihten spricht, oder von seelischen Fieberzuständen und Krankheitsdispositionen? Da er keine Namen erwähnt, ist man auf Vermutungen angewiesen. Jedenfalls ist auffällig, dass Schiller mit keinem Wort auf Judith von Halle eingeht, die wohl prominenteste »Sendbotin« der Gegenwart, auf die die zitierten Äußerungen am ehesten angewandt werden könnten, wenn sie denn überhaupt auf Erscheinungen innerhalb der anthroposophischen Bewegung zu beziehen sind. Sieht man einmal von diesen orakelhaften Abgrenzungen ab, enthält Schillers Buch eine Reihe von Ausführungen, die durch ihre gedankliche Präzision, ihre meditative Verdichtung und ihren lakonischen Stil – ganz im Sinne des Kynismus – bestechen.

Im Grunde beschreibt Schiller einen Schulungsweg, auf dem der gegenwärtige Mensch zur Erfahrung der Parusie gelangen kann, die nicht in spektakulären Erlebnissen besteht, sondern sich auf leisen Sohlen nähert. Die Schulung, von der Schiller spricht, hat viel mit seelischer Hygiene, mit Gedankenschulung und konsequenter Lebensführung, mit Wahrhaftigkeit und Authentizität zu tun. Sie bezieht sich auf den Umgang mit den eigenen Seelenkräften, mit dem Denken, Fühlen und Wollen, auf die Einstellungen zur Zeit im Tages-, Wochen und Jahresverlauf, ja in der gesamten Biographie und unser Verhältnis zu anderen Menschen, denen wir im Alltag begegnen. Die wirklichen Mysterien sind heute dort zu finden, wo wir sie am allerwenigsten vermuten. »Verständige Augen«, so Schiller, »können die gegenwärtige Parusie wahrnehmen. Es ist ein Sehen mit dem Anteil nehmenden Herzen, ernst, selbstbewußt selbstlos, mitleidsvoll und in einem höheren Sinn geschwisterlich.« In jeder menschlichen Begegnung lebt verborgen eine Idealgestalt, in der sich die Anziehungskräfte des ätherischen Christus bemerkbar machen. Die wirklichen Mysterien sind heute öffentlich: Zugang erlangt, wer »mit seiner ganzen Existenz für das eintritt, was er als seine Aufgabe erklärt.« Es geht um die »Identität von Ich und Existenz«, wer sie entwickelt, »lernt das Sterben in die Selbstbestimmung hinein.«

Die wirkliche Christuserfahrung heute wird durch rückhaltlose Selbsterkenntnis errungen, eine Selbsterkenntnis, die von den Illusionen und Inflationen des Ich befreit. Hier, in den psychologischen Teilen von Schillers Ausführungen, finden sich glänzende Sentenzen. Wir müssen uns über das Verhältnis zu unserer Seele aufklären: denken wir, oder werden wir gedacht, fühlen wir oder werden wir gefühlt, wollen oder wünschen wir bloß? Nur wo das wirkliche Ich wirkt, kann sich auch Christus einfinden. »Wird das Erleben des Denkens nur kraftvoll und lebendig genug, dann führt es direkt zu einem Erleben der wirkenden Christus-Kraft … In dem Denken können wir den Lehrer, der uns zur Selbstständigkeit erzieht, den Heiler, der unsere Isolation zu überwinden hilft, den Richter, der die Zusammenhänge zu beurteilen vermag und den Herrscher, der sich selbst zu bestimmen imstande ist, erkennen. Damit erhält das Paulus-Wort: ›Nicht Ich, sondern der Christus in mir‹, eine umfassende Bedeutung«, schreibt Schiller.

Ähnliches läßt sich über das Gefühlsleben und das Wollen sagen. Wenn die Gefühle nicht mehr bloß Ausdruck unserer Befindlichkeit sind, sondern wenn sich in ihnen die Welt ausspricht, werden sie zu einem Organ der Weltkenntnis. »Wollen«, so Schiller, »ist ausnahmslos anstrengend.« Wirkliches Wollen stiftet Beziehung zur Wahrheit, läßt Treue halten. »Ehrlichkeit macht unbeliebt, es sei denn, sie kommt als schmerzfreies Salbenpräparat daher.« Wirkliches Wollen »hängt von einem sich zur Verfügung-Stellen ab. Die Schlüsselfrage lautet, ob sich der Mensch für seine Vorhaben genügend zur Verfügung stellt.« »Wollen bedeutet Identifikation«, »wer in seinen Eigenwillen hineinstirbt, kann die Auferstehung eines geläuterten menschlicheren Willens erleben«, darin liegt die Wirklichkeit eines tatsächlichen Christus-Erlebens.

Wer seine Seelenfähigkeiten ergreift und durch Selbsterziehung umschmilzt, eröffnet sich neue Zugänge zur Wirklichkeit. »Für die geistige Welt sichtbar werdend, beginnt er selbst zu sehen … Er wird zu dem, was er denkt, womit er sich befaßt, wovon er sich leiten läßt. Erkennen heißt hier zugleich gestalten.« Und unser Sehen verändert die Welt, wir sehen soviel in die Welt hinein, wie aus ihr heraus, wir machen die Welt ärmer oder reicher, je mehr wir an ihr teilnehmen, wir stellen uns in die Welt, ernähren uns aus ihr und ernähren sie durch das, was wir ihr geistig zurückgeben. Hingabe können wir von unseren Sinnesorganen lernen, »die Sinnestätigkeit ist eine potentielle Quelle selbstloser Wesensvermittlung, nicht umsonst heißt das von ihr gestiftete Feld Wahr-Nehmung … Sinnestätigkeit kann ein Ort reiner Menschlichkeit sein, zur Erfahrung eines hingegebenen Göttlichen führen.«

Genug der Beispiele, die um viele weitere vermehrt werden könnten. Nicht nur in diesen psychologischen oder psychosophischen Betrachtungen beweist sich Schiller als glänzender Aphoristiker, sondern auch in seinen Ausführungen über Individuum und Gesellschaft, in denen er sich mit Erziehung und Selbsterziehung befaßt. »Das aber müßte die gegenwärtige Erziehung immer mehr verstehen, dass jede Erziehung eigentlich Selbsterziehung zu sein hat. Denn es geht nicht darum, dass ein Erzieher aus einem Kind etwas macht, sondern dass das Kind lernt, selbst etwas aus sich zu machen«, heißt es an einer Stelle.

So sehr allerdings Schiller durch seine präzise zugespitzten Sentenzen, durch seine antithetischen Konstruktionen und Oxymora erfreut, enttäuscht er als Epiker. Ein gutes Viertel seines Buches, der »Ende und Übergang« betitelte erste Teil, der sich mit der Geschichte des ausgehenden 19. Jahrhunderts beschäftigt, wohl als krisenhaftes, konvulsorisches Vorspiel zum Thema der Parusie gedacht, mutet wie ein etwas zusammengewürfeltes Sammelsurium an, dessen Bedeutung schwer zu durchschauen ist. Hätte der Autor diese historischen Symptome ebenso durchdrungen, wie das psychologische, biografische und gesellschaftliche Erscheinungsfeld mit dem er sich anschließend beschäftigt, wäre dieser Teil vielleicht kürzer, dafür möglicherweise ertragreicher ausgefallen. Die Andeutung einer Tiefeninterpretation findet sich etwa im Aperçu, die technologischen Fortschritte zwischen 1870 und 1925 manifestierten eine verborgene Anthropologie, bei der seelische Qualitäten des Menschen in die mechanische Sphäre projiziert wurden. Mehr Einsichten dieser Art hätten das Historische von seiner Zufälligkeit befreit und den geistigen Tiefengehalt der Symptome stärker hervortreten lassen.

Zuletzt kann ich mir eine Bemerkung zum Lektorat nicht verkneifen. Dem Verlag wäre dringend größere Sorgfalt zu wünschen. In Schillers Buch begegnen zu häufig grammatische und semantische Fehler, die den Genuß der Lektüre unnötig beeinträchtigen.

Hartwig Schiller: Die Suche nach dem Unverlorenen: Von der Gegenwart des Christus in der Wirklichkeit,Verlag Freies Geistesleben Stuttgart, 2011, 253 Seiten.

Kommentare sind geschlossen.