Hurqalya, die Erde der Auferstehung

Zuletzt aktualisiert am 9. Dezember 2015.

Fortsetzung von »Hurqalya, die Erde der geistigen Schau«

»Prinz Humay trifft die chinesische Prinzessin Humayun«. Persische Miniatur, etwa 1450

Scheich Ahmad Ahsa’i unterscheidet laut Corbin zwischen verschiedenen Formen der Leiblichkeit, genauer gesagt, er kennt eine Schichtenanthropologie, die mit derjenigen der Anthroposophie praktisch identisch ist.

Jeder Mensch besitzt einen aus den vier Elementen zusammengesetzten physischen Leib, der dem Entstehen und Vergehen unterworfen ist und mit dem Tode zerfällt. Dieser Leib ist sichtbar, tastbar, wägbar und unterliegt den Gesetzen der Physik.

Außerdem besitzt jeder Mensch einen »Ätherleib«, der ebenfalls aus vier Elementen zusammengesetzt ist, aber nicht aus den Elementen der sublunarischen Welt, sondern aus jenen von Hurqalya besteht. Dieser Leib ist nicht sichtbar, sondern unsichtbar. Er gehört der mittleren Welt an. Auch er hat Dimensionen, Ausdehnung usw., aber er ist nicht wie der erste ein akzidenteller Körper, sondern ein essentieller Leib, der unzerstörbar ist. Er ist der Leib des »spirituellen Fleisches«.

Darüber hinaus besitzt jeder Mensch einen Leib, der weder aus irdischen noch ätherischen Elementen zusammengesetzt, aber ebenso wie der physische akzidentell ist. Auch er ist ein Gebilde der mittleren Welt. Er besteht aus der himmlischen Stofflichkeit Hurqalyas. Dies ist der himmlische Leib des Menschen, der »Astralleib«, der einst wieder in den Himmel Hurqalyas eingehen wird.

Schließlich besitzt jeder Mensch einen essentiellen höheren Leib, einen archetypischen, ewigen und unvergänglichen Leib, von dem der Geist des Menschen niemals getrennt wird, weil er das Fundament der ewigen Individualität bildet. Dieser Leib ist der »überhimmlische Leib« des Menschen.

Solche Unterscheidungen finden sich auch schon bei den Neuplatonikern, zum Beispiel bei Proklos. Die Neuplatoniker sprachen von verschiedenen leiblichen Hüllen, in die die Seele sich kleidet. Die Existenz des Astralleibes, des »soma astroides« ist zentral für den Neuplatonismus und es gibt viele weitere Parallelen, etwa den »vollendeten Leib« der Mithrasliturgie (»soma teleion«), den »unsterblichen Leib« (»soma athanatos«) des Corpus Hermeticum und schließlich den »idios daimon«, oder »oikeios daimon«, den persönlichen Schutzengel, dem der Adept bei seiner Initiation anvertraut wird, und der das irdische Menschenwesen zum Abbild eines himmlischen Wesens macht, mit dem es ein Ganzes bildet. Dieses himmlische Wesen ist der Fravarti des Mazdaismus, die Daena, das transzendentale Ich, das himmlische alter ego.

Proklos verband eine Reihe überlieferter philosophischer Anschauungen in einer neuen Synthese. Aus seiner Sicht besitzt der Mensch einen höheren Leib, den er als »augoeides«, als leuchtend oder »astroeides«, sternenhaft, bezeichnet. Es ist der erste Leib, »proton soma«, den der Demiurg mit einer Seele begabt hat. Er ist unstofflich, nicht dem Leiden unterworfen und unvergänglich. Diesem Leib entspricht der Geistleib in der Lehre von Ahsa’i, das ursprüngliche Urbild, der essentielle Leib, der reale oder wirkliche Mensch, der Mensch im »wahren Sinn des Wortes«. In anthroposophischer Terminologie kann man diesen als »Phantom des physischen Leibes« bezeichnen.

Daneben kennt Proklos ein »schema pneumatikon«, ein niederes, geistiges Vehikel, ein vorübergehendes Anhängsel, das aus den vier Elementen besteht, den feinstofflichen Leib der vernunftlosen Seele. Wie die letztere überlebt er den Tod, löst sich aber in der kosmischen Selenwelt auf. Diesem entspricht der Astralleib des Scheichs, der ebenfalls ein akzidentelles Gebilde ist, das aus der mittleren Welt hervorgeht und sich in dieser wieder auflöst.

Dieses Problem des feinstofflichen Leibes hat existiert, seit es den Neuplatonismus gab und wird solange existieren, als es ihn gibt. Es taucht bei den Byzantinern auf, den Neuplatonikern in Cambridge und bei den Neuplatonikern Persiens. Aber in der Tradition der Scheichs gewinnt dieses Problem an Komplexität. Während Proklos erfolgreich unterschiedliche Denktraditionen synthetisierte, indem er zwischen einem unzerstörbaren und einem vergänglichen Vehikel unterschied, nahm Scheich Ahsa’i zwei unzerstörbare Leiber und einen Astralleib an, der sich nach dem Tode auflöst. Was die Sache komplexer macht, hängt mit den Problemen der Eschatologie zusammen, die die Koranexegese aufwirft.

Nach dem wörtlichen Verständnis des Koran soll der physische Leib des Menschen auferstehen oder in der Form wiederkehren, in der er einst bestanden hat. Für die philosophische Meditation stellte diese materielle Identität stets einen unüberwindlichen Widerspruch dar, umso mehr, als sie laut Corbin auf ein unzureichendes Verständnis der Problemstellung zurückging. Nachdem die physische Unmöglichkeit feststand, verlangte das Problem, dass man sich über die Ebene der empirischen sinnlichen Daten und die diesen entsprechende Form der Wahrnehmung erhob. Die Aufgabe war gestellt, die äußere Wahrnehmung in eine spirituelle Wahrnehmung umzuwandeln, nicht um in die Allegorie oder die Abstraktion zu flüchten, sondern um die Physik von Hurqalya zu finden. Allein diese Physik ermöglichte ein Verständnis der leiblichen Auferstehung auf dem Hintergrund der Lehre von den vier Leibern. Diese lehrt, dass sich der Astralleib nach dem Tode vollständig auflöst, aber durch ein anderes Vehikel ersetzt wird, einen Leib, der zugleich elementarisch und essentiell ist, einen Leib aus spirituellem Fleisch, der aus den geistigen, archetypischen Elementen von Hurqalya geformt ist. So verstanden, schließt die Idee des ganzen Menschen immer ein zweifaches Vehikel ein. Genau dies besagt auch die Auffassung der iranischen Neuplatoniker.

Gemäß der Schule der Scheichs stellt sich der eschatologische Prozess wie folgt dar. Die akzidentellen Leiber, also der physische Leib und der Astralleib, lösen sich beim Tod bzw. nach dem Tod auf. Die essentiellen Leiber, also der Ätherleib und das Phantom des physischen Leibes, bleiben bestehen. Der physische Leib ist aus den grobstofflichen Elementen zusammengesetzt, in ihn zog die Seele bei ihrer Herabkunft auf die Erde ein, er ist nicht essentiell und zerfällt nach dem Tode, indem die einzelnen Elemente wieder in ihren Bereich zurückkehren. Beim Tod verlässt diesen vergänglichen Leib zweierlei: der essentielle ursprüngliche Leib (das Geistphantom des physischen Leibes), die dauernde Basis für die ewige Individualität, und der Astralleib, jener akzidentelle feinstoffliche Leib, in den die ewige Seele sich kleidete, als sie durch die Sphären der Planeten zur Erde herabstieg. Auch dieser Leib ist aus der mittleren Welt hervorgegangen, aber er besteht nicht aus den Elementen von Hurqalya, sondern aus ihren himmlischen Substanzen. Und er ist akzidentell. Diese beiden Leiber überleben den Tod und bilden zusammen den nachtodlichen Zustand der ewigen geistigen Individualität des Menschen, die in der mittleren Welt entweder die Freuden des westlichen Paradieses genießt, oder aber die Verzweiflung der Hölle, die sie in sich trägt.

(An dieser Stelle sei zu Corbin angemerkt, dass der bleibende Widerspruch der fortdauernden Existenz eines akzidentellen Leibes, des Astralleibes, nur dadurch gelöst werden kann, dass auch er sich auflöst und die ewige geistige Individualität des Menschen, zusammen mit dem Geistphantom des physischen Leibes, in eine noch höhere geistige Sphäre eintritt, in der sie sich auf ihre künftige Inkarnation vorbereitet. Sonst bleibt die ewige geistige Individualität des Menschen in der Welt von Hurqalya, der mittleren Welt, stecken und vermag sich nicht weiter zu entwickeln. Aber die Tatsache der Reinkarnation liegt weder im Horizont der iranischen Scheichs, noch in jenem Corbins. Allein die Tatsache und Idee der Reinkarnation erlaubt es, die vertikale und die horizontale Dimension der menschlichen Existenz, Wahrheit und Geschichte, Identität und Evolution miteinander auszusöhnen.)

Das bisher Ausgeführte betrifft die individuelle Eschatologie der Seele nach dem Tod. Aber daneben gibt es auch die Eschatologie des Ganzen, des Kosmos und der Menschheit, das Ende des Äons, das dem Anbruch eines neuen kosmischen Zyklus vorausgeht.

Ein Koranvers spricht von den beiden »Trompetenstößen«, die vom Erzengel Seraphiel angestimmt werden. Der erste Trompetenstoß kündigt die vollständige Absorption des Kosmos an, jedes Wesen kehrt in seine Quelle zurück und schläft dort eine Zeit, die vier Jahrhunderte unserer irdischen Zeit dauern soll – was natürlich symbolisch zu verstehen ist. Der zweite Trompetenstoß kündigt die Erneuerung der Schöpfung an, die Wiederherstellung aller Dinge, die »apokatastasis«, ihr Wiedererscheinen in ihrem paradiesischen Ausgangszustand.

Worin genau besteht nun die Auferstehung? Wie ist es möglich, dass die Erde von Hurqalya nicht nur das Werkzeug und der Schauplatz der individuellen Eschatologie, sondern des allgemeinen Endzeitgeschehens ist? Die Erklärung ist folgende: wenn die zweite Trompete erklingt, dann erscheint der essentielle, ursprüngliche Leib des Menschen, das Phantom des physischen Menschenleibes, das Fundament der geistigen Individualität, in seiner ursprünglichen Ganzheit wieder. Der Astralleib aber, der lediglich dem Geistleib eine vorübergehende Festigkeit verliehen hat, kehrt nicht wieder, vielmehr wird er vom Geistleib vollständig aufgesogen. Was aber geschieht mit dem unvergänglichen Ätherleib, dem Leib aus geistigem Fleisch, der aus den geistigen Elementen von Hurqalya besteht?

Dieser Leib ist ebenfalls essentiell, besteht aus den Elementen der Erde von Hurqalya und nimmt die Einflüsse ihrer Himmel in sich auf. Er besitzt Wahrnehmungsorgane, die »siebzigmal edler« sind, als die des physischen Leibes. Er besitzt Form, Ausdehnung, Gestalt und ist trotzdem unzerstörbar. Während der physische Leib im Grab zerfällt, entfernt sich der Ätherleib im Augenblick des Todes nicht von diesem, wie die beiden anderen höheren Leiber. Er überlebt im Grab. Aber das Grab ist nicht das Grab des physischen Leibes, sondern die mystische Erde, der er angehört: dort, in der mystischen Erde existiert er fort, unsichtbar für physische Sinne, nur sichtbar für die Imagination.

Dort schläft er für die Dauer der Zeit bis der Tag der Wiederauferstehung anbricht. Wenn der zweite Trompetenstoß erklingt, dann bekleidet sich die ewige Individualität des Menschen, die bereits ihren Phantomleib an sich trägt, wieder mit diesem spirituellen Leib. Diese Vereinigung und Verklärung findet auf der Erde von Hurqalya und durch sie statt. Sie ist es, die den künftigen Auferstehungsleib aufbewahrt, weil sie auch sein Ursprung ist. Deswegen spielt sie dieselbe Rolle auch bei der allgemeinen Auferstehung, sie ist die Erde der Auferstehung.

In der damit angedeuteten »Physik und Physiologie« der Auferstehung spielt ein traditioneller Bestandteil der Esoterik, die Alchemie, eine bedeutende Rolle. Es handelt sich um eine spirituelle Alchemie, bei der jeder Prozess auf der Ebene der physischen Substanzen eine symbolische Ausdrucksform seelisch-geistiger Vorgänge ist, die sich im Gefüge der menschlichen Leiber abspielen. Aus der Sicht der Scheichs ermöglicht es allein die Alchemie, die Auferstehung der Leiber als Folge der Unsterblichkeit der Geister zu begreifen. Sie ermöglicht den Übergang vom einen zum anderen. Wer diesen Übergang vollzieht, nimmt nicht nur eine begriffliche Übertragung vor, sondern vollzieht auch eine reale Umwandlung und entkräftet dadurch die rationalen Argumente gegen die Auferstehung, da diese Argumente sich auf einer Ebene bewegen, die der wirkliche Prozess der Auferstehung transzendiert.

Laut Sarkar Agha muss der Mensch schon in diesem Leben ein Bewohner Hurqalyas werden, er muss eingeweiht werden und sich die Fähigkeit aneignen, die Dinge in Hurqalya zu sehen. Sehen kann er diese Erde nur durch das Organ der aktiven Imagination, die allein imstande ist, das mittlere Reich zu betreten und das Unsichtbare im Sichtbaren sichtbar zu machen. Die aktive Imagination ist die Quintessenz aller Lebens- und Seelenkräfte. Laut Scheich Ahmad gehört »die Imagination zum Wesen der Seele und ist für sie ein Werkzeug, wie die Hand für den physischen Körper. Selbst die Dinge der sinnlichen Welt werden nur durch dieses Organ erkannt, denn es ist für die Seele, was die Seele der Venus für die Seele des Tierkreises ist.« Die Imagination ist die Sternenwelt im Menschen, sein himmlischer oder überhimmlischer Leib. Auch die eigentliche alchymische Arbeit findet wegen der seelischen Prozesse, die sie im Menschen auslöst, auf der Erde von Hurqalya statt. Daher kann man sagen, dass sie mit den Elementen der mystischen Erde arbeitet oder die Elemente der physischen Erde in diese umwandelt.

Damit dies tatsächlich der Fall ist, muss aber die Alchemie auch in Hurqalya wahrgenommen und verwirklicht werden und das setzt das entsprechende Wahrnehmungsorgan, die aktive Imagination, voraus. Daher heißt es auch, die Alchemie sei der »Spiegel des weisen Mannes«. »Um das Elixier der Unsterblichkeit hervorzubringen, haben die weisen Männer einen Spiegel angefertigt«, schreibt Ahmad, »in dem sie alle Dinge dieser Welt betrachten, sowohl die sinnlich wahrnehmbaren, als auch die nur Denkbaren. In diesem Spiegel sehen sie, dass die Auferstehung der Leiber der Auferstehung der Geister entspricht.« Es ist ein und dieselbe geistige Energie des Lichtes, die sowohl die Essenz der materiellen als auch die der geistigen Dinge bildet. »Geistwesen sind Licht im flüssigen Zustand, Körper Licht im festen Zustand. Der Unterschied zwischen beiden entspricht dem zwischen Wasser und Eis. Beweise für die Auferstehung des einen sind auch gültig für die Auferstehung des anderen.« Das Endergebnis des alchymischen Prozesses ist genau dieses Zusammenfallen der Gegensätze: wenn ein Körper einmal durch die alchymische Arbeit vollendet ist, befindet er sich im Zustand einer »festen Flüssigkeit«.

Man nehme Silizium und Pottasche, beides feste Substanzen, die dem Zustand der irdischen, festen Körper entsprechen. Wenn sie gekocht und verflüssigt werden, verlieren sie ihre Undurchdringlichkeit und werden zu Glas (Silikat aus Pottasche), das durchsichtig ist. In diesem Zustand erlaubt das Äußere, durch es hindurch einen Blick auf sein Inneres. Es ist zwar immer noch eine »erdige« Substanz, aber zugleich ist sie das nicht. Dieser Zustand entspricht der Beschaffenheit des Ätherleibes, der aus den Elementen von Hurqalya gebildet wird. Wenn ein weiterer chemischer Bestandteil hinzugefügt wird, entsteht aus dem Glas ein Kristall, und dieser Kristall, dem das weiße Elixier hinzugefügt wird, wird zu einem »Kristall, der Feuer entfacht« (zu einer »Linse«). In diesem Zustand entspricht er dem Astralleib, der den Geistleib umhüllt und mit ihm zusammen im Augenblick des Todes die himmlische Erde betritt. Wenn der Kristall ein zweites Mal mit dem weißen Elixier vermischt wird, wird er zum Diamanten. Es ist derselbe Kristall, dasselbe Silikat, in dem der Kristall verborgen war, dieselbe Verbindung von Merkur und Sulfur, und es ist zugleich etwas völlig anderes. »Und der Diamant, der vom Kristall, vom Glas, vom Stein befreit ist, entspricht dem Leibe des Gläubigen im absoluten Paradies.«

Die Meditation, die all diese äußeren Vorgänge verinnerlicht, erzeugt im Verlauf der Arbeit den Geistleib, der ebenfalls eine concidentia oppositorum ist. Der Meditierende betritt die mittlere Welt, das Seelenreich feinstofflicher Leiber durch die aktive Imagination, die, indem sie sinnliche Vorgänge in Symbole verwandelt, seelische Energien aufruft, welche die Beziehung von Seele und Leib grundlegend verändern. Dies führt zu einem Zustand, in dem laut Scheich Ahmad, »die Leiber durch ihre Essenz die Gedanken wahrnehmen, die in der himmlischen Welt gedacht werden, ebenso wie die Gestalten der Engel. Umgekehrt nehmen die Geister, die mit Leibern zusammenhängen, diese Leiber und die übrigen körperlichen Dinge durch ihre eigene Essenz wahr, da ihre Leiber, wenn sie es wünschen, Geist werden, und ihr Geist, wenn sie es wünschen, Leib wird.« Die Meditation, welche die alchymische Umwandlung begleitet, führt also genau zu jenem Ergebnis, das Muhsin Fayz in der Formel über die Erde von Hurqalya zusammenfasste, sie sei »eine Welt, in der Leiber vergeistigt und Geister verleiblicht werden«. Und dies ist nicht nur eine präzise Definition der Erde von Hurqalya, sondern auch der Vorgänge, die sich in ihr abspielen und für die diese Erde ihre Substanz zur Verfügung stellt.

Aber diese Gestaltwerdung findet nur statt, wenn der Adept die mystische Erde wahrzunehmen vermag. Daher gilt auch hier der alchymische Grundsatz: »solve et coagula«, binde und löse. »Die Weisen«, schreibt Scheich Ahmad, »lösen und binden den Stein mit einem Teil seines Geistes und wiederholen den Vorgang mehrere Male. Wenn sie ihn dreimal mit dem weißen Elixier behandelt haben und neunmal mit dem roten Elixier, wird der Stein zu einem lebendigen Mineral«, was genau der Idee des lebendigen Steines (lapis vivus) der Alchemie entspricht. Es handelt sich um einen Körper, aber einen Körper, der sich wie etwas Geistiges verhält, er verleiht jenen »Metallen« Leben, die tot sind. »Wer dieses Zeichen versteht, versteht das Leben der Verstorbenen im Paradies«, so Scheich Ahmad, »denn sie besitzen Leiber, die über alle Eigenschaften körperlicher Leiber verfügen, aber diese Leiber handeln wie Geister und reine Intelligenzen, sie nehmen dasselbe wahr, was auch die Himmelsseelen und reinen Intelligenzen wahrnehmen, und sie nehmen alles, so wie jene, durch ihre eigene Essenz wahr.« Solche Leiber sind aus dem ursprünglichen Lehm der smaragdenen Städte Jabalqa und Jabarsa gebildet und sie empfangen nicht mehr die Einflüsse der irdischen Himmel, sondern der Himmel von Hurqalya.

Die Scheichs entwickeln also die Idee eines essentiellen, urbildlichen Leibes, der Gestalt, Form, Ausdehnung und Farbe wie die übrigen Leiber besitzt, der sich aber insofern von diesen unterscheidet, als sein Erscheinen von Handlungen abhängig ist und den inneren Zuständen, die durch diese Handlungen zum Ausdruck kommen. In unserer irdischen Welt sind unsere inneren Zustände unsichtbar und was wir sehen können, sind nur die äußeren Wirkungen, aber auf der himmlischen Erde nehmen dieselben Handlungen eine andere Form an und innere Zustände werden sichtbar. Manche nehmen die Gestalt von Palästen an, andere die Form von Huris, von Pflanzen, Bäumen, Tieren, Gärten, Strömen und so fort. All diese Formen und Gestalten sind sichtbar und sind wirklich »außerhalb«, aber sie sind gleichzeitig Eigenschaften und Seinszustände des Menschen. Ihre Umwandlung ist die Umwandlung des Menschen und sie bilden seine Umgebung, seine himmlische Erde. Daher kann man sagen, dass die Handlung ihre eigene Belohnung und die Belohnung die Handlung selbst ist.

Der ontologische Status dieser himmlischen Erde kann durch eine Aussage Swedenborgs erläutert werden, der immer wieder betont, dass »die Dinge, die sich außerhalb der Engel befinden, eine Form annehmen, die jener entspricht, die sie in ihrem Inneren haben«. Alle Gegenstände, die in das Wahrnehmungsfeld der Engel eintreten, entsprechen ihrem Inneren und repräsentieren es, »sie verändern sich in Übereinstimmung mit seinen inneren Zuständen, und daher werden sie als ›Erscheinungen‹ bezeichnet, aber weil sie aus dieser inneren Quelle hervorgehen, werden sie viel lebendiger und klarer wahrgenommen, als der Mensch die irdischen Dinge wahrnimmt, und deswegen sollten sie besser ›wirkliche Erscheinungen‹ heißen, da sie real existieren.« Und eine andere Aussage Swedenborgs lautet: »Der Leib jedes Geistes und jedes Engels ist die Form seiner Liebe.« Dieser These entspricht die Aussage eines Scheichs: »Das Paradies des gläubigen Gnostikers ist sein Leib und die Hölle des Mannes ohne Glauben oder Erkenntnis ist ebenfalls sein Leib.« Dieselbe Einsicht fasst Scheich Ahmad Ahsa’i in die Worte: »Jedes individuelle Wesen aufersteht in der Form, die seine Taten in den verborgenen, esoterischen Tiefen seines Wesens angenommen haben.«

Nun wird auch begreiflich, wie die Idee des himmlischen oder Auferstehungsleibes die Idee des ganzen Menschen, des »homo integer«, zum Ausdruck bringt. Indem er den Menschen in seinem verklärten Zustand repräsentiert, ist er weit mehr, als das physische Werkzeug seiner persönlichen Subjektivität im Gegensatz zur Welt, da er seine Welt ist, seine wahre Welt, also nicht eine fremde, undurchdringliche Realität, sondern etwas Durchsichtiges, die unmittelbare Vergegenwärtigung seines eigenen Wesens vor sich selbst. Von daher lässt sich auch verstehen, wie die Repräsentation des ursprünglichen Geistleibes der Neuplatoniker mit der Idee des persönlichen Göttlichen, des Schutzengels oder archetypischen Ich, aus dem das irdische Selbstbewusstsein hervorgeht, eine Verbindung eingehen konnte. Scheich Ahmad behauptet, der Name Hurqalya, der weder arabisch noch persisch ist, stamme aus dem Syrischen, das von den Sabäern in Basra gesprochen werde, genauer gesagt, von den Mandäern. Die Erde von Hurqalya entspricht nicht nur dem Paradies der Urbilder des Yima, sondern auch der »zweiten Welt«, der Welt der Archetypen der mandäischen Gnostiker.

Es ist die Welt, in der die befreite Seele, entweder in einem Zustand vorübergehender Entrückung oder durch die endgültige Entrückung des Todes, ihrem archetypischen Ich, ihrem alter ego oder himmlischen Bild begegnet und die Freuden dieser Begegnung genießt. Von dieser Wiedervereinigung spricht ein mandäischer Text: »Ich gehe, um meinem Bild zu begegnen und mein Bild kommt, um mir zu begegnen, es umarmt und umschlingt mich, wenn ich aus der Gefangenschaft befreit bin.« Von dieser Begegnung berichtet auch das »Perlenlied« in den Akten des Thomas. Der junge Prinz, der in sein Vaterland im Osten zurückkehrt, entdeckt das lichte Gewand, das er hier zurückgelassen hat: »Das Gewand erschien plötzlich, im Augenblick, als ich es vor mir sah – wie in einem Spiegel, der mein eigenes Bild spiegelte. Ich sah es in mir und war zugleich in ihm, denn wir waren zwei, voneinander getrennt, und doch eines, von gleicher Gestalt.« Und im Thomas-Evangelium heißt es: »Wenn du dein Ebenbild siehst, freust du dich, aber wenn du deine Bilder siehst, die vor dir Gestalt annehmen, jene Bilder, die weder sterben noch sichtbar sind, wie sehr wirst du dann leiden müssen!«

Wie steht all dies in Verbindung mit der mazdäischen Gnosis und der späteren islamischen Theosophie? Der Engel Daena, das himmlische Ich, die Tochter von Spenta Armaiti, des weiblichen Erzengels der Erde, wird in dem Augenblick geboren, wenn der Mensch die Natur der Spenta-Armaiti, der Sophia, in sich ausgebiert. Die Beziehung des Menschen zur jetzigen Erde erscheint aus dieser Perspektive als sophianische Beziehung, deren vollständige Verwirklichung dann eintritt, wenn die Erde in die »Wohnstätte der Lobpreisungen«, in das iranische Paradies umgewandelt ist. Die »leuchtende Fatima-Sophia« ist die überhimmlische Erde im Pleroma der Gottheit, da sie die Seele dieser Gottheit ist. Das Erblühen des Geistleibes, die Erweckung und Geburt des himmlischen Ich, vollzieht sich durch eine Form der Meditation, die die Erde in ihre himmlische Form verwandelt, denn der »Lehm eines jedes frommen Gnostikers wurde aus der Erde des Paradieses genommen.« Daraus ergibt sich ein neuer Blick auf die himmlische Erde, der nicht nur eine Antwort auf die Frage zulässt, was diese Erde ist, sondern auch, wer sie ist. Wir selbst sind diese Erde, wir geben ihr ihre Gestalt, die zugleich die Gestalt unseres eigenen Wesens, unserer eigenen Zukunft ist.

Ein Kommentar

  1. Pamela Carty

    Neighbors in Paradise

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