Wissenschaft und Esoterik IX – Auftritt der Antiapologeten – Jacob Thomasius

Zuletzt aktualisiert am 12. Juni 2013.

3. Der Anti-Apologet Jacob Thomasius

Ab 1650 begannen protestantische Historiker systematisch die Erzählungen des orientalisierenden Platonismus über die Geschichte der Philosophie anzugreifen. Die »Geschichte der Wahrheit« war in der apologetischen Erzählung verankert. Die protestantischen Historiker setzten ihr eine »Geschichte des Irrtums« entgegen, die auf der radikalen Ablehnung jener Erzählung beruhte. Daher ist ihr Standpunkt laut Hanegraaff zu Recht als anti-apologetisch bezeichnet worden. Die protestantischen Historiker sahen in der apologetischen Tradition nicht nur den Hauptgrund für die Hellenisierung des Christentums, sondern auch für das Absinken der Philosophie in »Pseudophilosophie«. Die Hauptvertreter dieser kritischen Denkrichtung systematisierten die anti-heidnischen, anti-platonischen und anti-patristischen Tendenzen und schufen eine logisch konsistente Erzählung, die auf historischer Kritik und der exklusiven Wahrheit des Protestantismus fußte.

Die Geschichte der Anti-Apologetik beginnt laut Hanegraaff mit Jacob Thomasius, dem Vater von Johannes Thomasius, einem der Lehrer von Leibniz, der in Leipzig Philosophie und Philologie unterrichtete. Mit seinem »Schediasma historicum« schuf er 1665 die Grundlagen des neuen anti-apologetischen Narrativs. Insoweit er sich auf philosophische Analyse und historische Kritik stützte, kann er als Begründer der Philosophiegeschichte betrachtet werden – aber sein Hauptmotiv war nicht historisch, sondern dogmatisch. Er wollte die christliche Theologie von ihrer Verunreinigung durch die heidnischen Irrtümer reinigen. In der Folgezeit führte seine Methode tatsächlich zur Entstehung der Philosophiegeschichte (und der westlichen Esoterik), aber auch zu grundlegenden Problemen für die Theologie. Seine scharfe Trennung zwischen antiker Philosophie und christlicher Religion mündete schließlich in der Zertrümmerung der Orthodoxie, die er mit dieser Unterscheidung hatte verteidigen wollen.

Geleitet von seiner »Liebe zur historischen Wahrheit«, suchte er nach den »authentischen Lehren der Philosophen«. Er wollte aus diesen alles entfernen, was auf den »Synkretismus« zurückzuführen war, besonders spätere Interpretationen, die sie verfälschten. Ein Hauptbeispiel für solchen Synkretismus war für ihn die versöhnlerische Tendenz der Erzählung von der alten Weisheit, die die heidnischen Philosophen zu »halben Christen« und die Christen zu »halben Heiden« machte. Heidnische Philosophie und christliche Wahrheit hatten aus seiner Sicht absolut nichts miteinander gemein. Als frommer Lutheraner sah er die Geschichte der Kirche seit den Vätern als Geschichte des Niedergangs und der Irrtümer. Die Quelle aller Häresien war für ihn die heidnische Philosophie, insbesondere der Platonismus. Gegenüber den Vätern übte er keine Rücksicht mehr: sie waren aus seiner Sicht verantwortlich für die Hellenisierung der Kirche, weil sie glaubten, die platonische Philosophie sei kompatibel mit dem Christentum.

Alle heidnischen Philosophien gingen nach Thomasius auf die dualistische Lehre Zoroasters und die persischen Magier zurück, die vom Teufel inspiriert waren. Dieser Dualismus sei der »Grundirrtum« der Heiden: er impliziere die Annahme, dass »aus nichts nichts kommen könne«. Die heidnische Philosophie lehne die »creatio e nihilo«, die Schöpfung aus dem Nichts ab (die historisch gesehen nicht biblisch ist, sondern erstmals im 2. Jahrhundert von Theophilus von Antiochien formuliert wurde). Das Heidentum glaube stattdessen an die Ewigkeit der Welt. Entgegen der strengen Scheidung zwischen Gott und Welt, Schöpfer und Schöpfung, mache das Heidentum die Welt ewig (koaetern mit Gott). Alle häretischen Ansichten gehen laut Thomasius auf diesen Grundirrtum zurück: der Emanatismus (der die Seelen und Geister aus Gott fließen lasse), der Dualismus (der Gott und Materie für gleichewig erkläre), der Pantheismus (der behaupte, Gott sei die Welt) und der Materialismus (der behaupte, die Welt sei Gott). All diese Irrlehren vergöttlichen nach Thomasius die Schöpfung auf Kosten des Schöpfers.

Die Versuchung, die für Thomasius von dieser »teuflischen« Lehre ausgeht, kommt der Versuchung Adams und Evas durch die Schlange gleich. Die christliche Offenbarung ist die einzige Heilung für diesen zweifachen – ontologischen und intellektuellen – Sündenfall. Die Erscheinung Christi hätte das Heidentum ein für allemal überwinden sollen, aber dem Teufel gelang es, mit seinen philosophischen Lehren das Christentum zu infiltrieren. Das bedeutsamste Hilfsmittel des Teufels war der Platonismus. Jedes Weiterleben heidnischer Philosopheme im Christentum ist für Thomasius »Synkretismus« und damit Häresie, ganz gleich, ob er offen oder verschleiert in Erscheinung tritt. Damit wurde die gesamte Kirchengeschichte vor der Reformation zu einer Geschichte der Häresien. Ohne das Gegenbild des Heidentums konnte es gar keine Geschichte der christlichen Theologie geben, denn auch wenn sich ihr zentraler Inhalt in der Offenbarung des Neues Testaments manifestiert hatte, war sie selbst nicht der historischen Entwicklung unterworfen. Die Geschichte des Christentums dagegen war beherrscht vom Gegensatz zwischen heidnischer Korruption und christlicher Wiederherstellung.

Mit diesem Narrativ, so Hanegraaff, kehrt der fundamentale Gegensatz zwischen Geschichte und Wahrheit wieder, der für die Renaissance-Erzählung von der Alten Weisheit kennzeichnend war. Thomasius schuf eine protestantische Gegenerzählung, die ebenfalls auf der Voraussetzung beruhte, dass die letzten religiösen Wahrheiten nicht dem Wandel unterworfen sind, da sie ansonsten ihre Absolutheit verlieren, weswegen sie auch keine Geschichte haben können. Aus diesem Grund musste die Geschichte des menschlichen Denkens eine Geschichte des Irrtums sein.

Thomasius betrachtete den Protestantismus als den radikalsten aller bisherigen Versuche, das Christentum zu enthellenisieren. Er fürchtete aber auch, dass die heidnischen Häresien im Protestantismus ihr Haupt wieder erheben würden. Das Hauptmerkmal dieser neuen Häresien sah er in der »Schwärmerei«, im »Enthusiasmus«, in der Bevorzugung persönlicher religiöser Erlebnisse oder ekstatischer Erfahrungen gegenüber der Glaubenslehre. Der Enthusiasmus wurzelte aus seiner Sicht in der platonischen Lehre von der Emanation und Wiederherstellung, nach der die Seele aus der göttlichen Substanz hervorgegangen war und wieder in sie zurückzukehren vermochte. Der Emanatismus schrieb dem Menschen die Fähigkeit zu, durch sein eigenes göttliches Wesen Gott unmittelbar zu erkennen, indem er sich ekstatisch mit diesem vereinte – und diese Auffassung war für Thomasius identisch mit der gnostischen Häresie der Selbsterlösung und Vergöttlichung durch Erkenntnis. Daher gab es für Thomasius eine ununterbrochene Linie von Simon Magus, dem Erzgnostiker, über die gnostischen Sekten der frühen Jahrhunderte bis zu den Schwärmern und Enthusiasten seiner eigenen Zeit. Die Ewigkeit der Welt und die »falsche Gnosis« waren die Hauptideen jeder Ketzerei. Hinzu kamen Magie und Astrologie, die aus der Suche nach dieser eitlen Erkenntnis entsprangen.

Häresie war nun, aufgrund dieser Untersuchung, jede Form von Synkretismus, der Christentum und heidnische Philosophie verband. Thomasius schuf die Begrifflichkeit, mit deren Hilfe Ehregott Daniel Colberg ein Werk schreiben konnte, das zum Ausgangspunkt der Erforschung der westlichen Esoterik wurde: das »Platonisch-Hermetische Christentum«, das 1690-91 erschien.

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