Guénon unter Gnostikern, Taoisten und Sufis

Zuletzt aktualisiert am 31. Dezember 2015.

Nachdem sich Guénon von seinem ersten Meister Encausse getrennt hatte, schloss er sich 1909 der »Universellen gnostischen Kirche« an. Hier traf er eine zentrale Figur des frühen Traditionalismus, den Taoisten Graf Albert-Eugène Puyou de Pouvourville. Guénon übernahm von ihm das zweite zentrale Element der traditionalistischen Philosophie, die Idee der Inversion, die sich zunächst als Feindseligkeit gegen den zeitgenössischen Katholizismus äußerte. Guénons erste Zeitschrift, »La Gnose«, war mit der gnostischen Kirche verbunden; hier wurden die ersten Aufsätze Guénons und eines anderen Anhängers de Pouvourvilles, des Sufis Ivan Aguéli, publiziert.

Die gnostische Kirche

Die »Universelle gnostische Kirche« war um 1888 von Jules-Benoît Doinel, einem Archivar in Orléans, gegründet worden. Doinels Kirche stützte sich auf Texte über die Gnosis aus dem dritten Jahrhundert sowie auf seine eigenen Visionen, unterschied sich aber erheblich von deren ursprünglicher Form. Die Gnosis war eine spirituelle Strömung innerhalb der frühen Kirche, hauptsächlich in Ägypten. Gnostiker glaubten an eine fortdauernde Offenbarung und einen direkten Zugang zu Gott. Sie unterschieden sich noch in vielen anderen Hinsichten von jener Form des Christentums, das sich innerhalb der katholischen Kirche entwickelte, aber diese Unterschiede waren bis 1945, als die Nag Hammadi Kodizes entdeckt wurden, kaum bekannt. Im 19. Jahrhundert war das Bild der Gnostiker noch weitgehend von den feindseligen Darstellungen in den Schriften ihrer katholischen Gegner, der Kirchenväter bestimmt, von denen auch die von Doinel benutzten Texte stammten. Mangels Quellen zu den gnostischen Ritualen griff Doinel auf Riten der Katharer zurück, von denen er glaubte, sie hätten in Beziehung zu den Gnostikern gestanden. Nachdem er die Weihe von drei Katharerbischöfen und einem katholischen Bischof in Utrecht empfangen hatte, gründete er die universelle gnostische Kirche und leitete sie unter dem Namen Valentin II. als ihr Patriarch.

Viele frühe Martinisten schlossen sich seiner Kirche an, unter anderem Encausse und Léonce Fabre des Essarts, ein Dichter, der damals mit Encausse in dessen Zeitschrift »L’initiation« zusammenarbeitete und beim französischen Erziehungsministerium angestellt war. 1891 verurteilte das Heilige Offizium in Rom die »Erneuerung der gnostischen Häresie« und setzte Encausses’ Zeitschrift auf den Index. Die universelle gnostische Kirche durchlief 1894 eine Krise, als Doinel infolge einer Vision, bei der ihm der Heilige Stanislas Kostka erschienen sein soll, der Gnosis abschwor und zur katholischen Kirche zurückkehrte. Als Akt der Reue verfasste er das Buch »Lucifer démasqué«, in dem er die gnostische Kirche, den Martinismus und die Freimaurerei als Werk des Teufels denunzierte. Doinels Buch war nur eines von vielen ähnlichen, die zu dieser Zeit publiziert wurden und gehörte einem Genre an, zu dem später auch Guénons Polemiken gegen die Theosophie und den Spiritsmus, »Theosophisme« und »L’erreur spirite«, beitrugen.

Mitte der 1890er Jahre brach die universelle gnostische Kirche in zwei Gruppen auseinander. Die eine, die aus Martinisten bestand, bildete eine katholische gnostische Kirche. Die führte die ursprüngliche gnostische Kirche fort, deren Leitung Fabre des Essarts, der sich von Encausse abwandte, als Patriarch Synésius übernahm. Fabre des Essarts weihte 1909 René Guénon zum Bischof von Alexandrien und nahm auch seine beiden Getreuen Alexandre Thomas und Patrice Genty aus dem Templerorden auf. Damit hatte Guénon nach der martinistischen und neutemplerischen seine dritte Initiation erlangt.

De Pouvourville und seine taoistische Initiation

Albert de Pouvourville

Albert de Pouvourville

Ein anderes Mitglied der universellen gnostischen Kirche war Graf Albert de Pouvourville, den Guénon 1918 immer noch als einen seiner »Meister« bezeichnete. In eine adlige Familie geboren, war Pouvourville an die Militärakademie von Saint Cyr gesandt worden, hatte sich aber gegen den traditionellen Berufsweg seiner Familie entschieden und verließ 1884 die französische Armee. Er schloss sich der Fremdenlegion an und wurde nach Indochina entsandt, wo er in den Kolonialkriegen kämpfte. In Südvietnam desertierte er und schloss sich vermutlich als Flüchtling zwei Triaden (geheimen Gesellschaften) an, der T’ien-ti hui und der Bac Lieu. Die Triaden standen im allgemeinen in Opposition zur französischen Besatzungsmacht, was sie einem Deserteur gegenüber möglicherweise milde stimmte.

Wie alle Triaden hatte auch die T’ien-ti hui einen chinesischen Ursprung. Sie gelangte im 18. Jahrhundert nach Vietnam und nahm im Lauf des 19. Jahrhunderts viele Vietnamesen auf (der Ursprung der Bac Lieu ist unbekannt). Die vietnamesischen Triaden dieser Zeit waren weniger philosophisch und textbezogen als ihre chinesischen Vorbilder, sie dienten eher ökonomischen und sozialen, aber auch religiösen Interessen. Außerdem besaßen sie Ähnlichkeiten mit der Maurerei. Ihre Riten, zu denen komplexe Initiationen gehörten, stammten zwar aus taoistischen, buddhistischen und konfuzianischen Quellen, sie wurden aber von Vietnamesen und Ausländern als taoistisch bezeichnet. De Pouvourville selbst sprach von seiner »taoistischen Initiation«.

Sein Vater, ein höherer Offizier mit guten Beziehungen, bewahrte de Pouvourville vor den negativen Konsequenzen seiner Desertion. Nachdem de Pouvourville vietnamesisch gelernt hatte, wurde er mit besonderen Aufgaben betraut, zuerst als Übersetzer, später als Inspekteur im Außenministerium. Bei der Tonkin-Kampagne (1890-91) wurde er verletzt und kehrte nach Frankreich zurück. Hier veröffentlichte er sein erstes Buch, »Le Tonkin actuel«. Darin verurteilte er die französische Kolonialpolitik heftig und warf ihr vor, sie ignoriere die Verhältnisse vor Ort und kenne nicht einmal die Sprachen der unterdrückten Völker. Nach einer weiteren Mission in Indochina für das Kunstministerium (1892), begann er seine zweite Karriere als Autor und Journalist in Paris. Er schrieb über koloniale Themen in Zeitschriften wie dem »Journal des sciences militaires«, der »Dépêche coloniale« und dem »Courrier de Saîgon«. Seine Produktivität war bemerkenswert: er veröffentlichte zwischen 1894 und 1911 nahezu ein Buch pro Jahr, anfangs über chinesische Kunst und die Geschichte Indochinas. Das erfolgreichste seiner Bücher »De l’autre côté du mur: récits chinois des guerres de 1883« (»Von der anderen Seite der Mauer: chinesische Erzählungen über den Krieg von 1883«) erlebte zwischen 1887 und 1935 fünfundvierzig Auflagen. 1898 wurde er zum Mitglied des französischen Kolonialinstituts ernannt und dann – trotz seiner einstigen Desertion – zum Präsidenten der Veteranenvereinigung der Fremdenlegion.

Ab den 1890er Jahren schrieb de Pouvourville zunehmend über spirituelle Themen und veröffentlichte unter anderem eine Übersetzung des Tao Te Ching. Wie Guénon brachte er einige Zeit in Encausses’ Zirkel zu und schrieb in »L’initiation«, brach aber dann mit Encausse. 1904 rief er eine Zeitschrift ins Leben und schloss sich der nicht-martinistischen gnostischen Kirche an. In drei Büchern, die er zwischen 1904 und 1907 veröffentlichte, bezeugte er seinen antikatholischen Perennialismus. Er unterschied zwischen »Religion« und »Religionen« (»liebe die ›Religion‹ und hasse die ›Religionen‹«) und behauptete, die Kirchenväter hätten das Christentum verfälscht, womit er indirekt die gnostische Kirche verteidigte, die sich auf eine christliche Tradition berief, die älter als die Kirchenväter war.

Einer der frühesten Artikel Guénons, »Die Religion und die Religionen« von 1910, übernimmt nicht nur die Unterscheidung de Pouvourvilles, sondern bezeichnet diesen (der als »unser Meister und Mitarbeiter« bezeichnet wird) auch als Urheber der Idee, es könne nur eine »primordiale Lehre« geben und »eine parasitäre Vegetation« dürfe »nicht mit dem wahren Baum der Tradition verwechselt« werden. Aber es gab noch weitere Quellen für Guénons Perennialismus. Was Guénon von de Pouvourville übernahm, war nicht der Perennialismus, sondern die betonte Ablehnung »parasitärer Gewächse«, in diesem Fall der »katholischen Kirche«. Die Vorstellung der Inversion im Traditionalismus hat sich aus de Puvourvilles Ansichten entwickelt.

De Pouvourville, der ein Werk mit dem Titel »L’opium, sa practique« (»Über das Opium und seinen Gebrauch«) verfasste, dürfte Guénon in die Verwendung dieser psychoaktiven Substanz eingeführt haben. Über dieses Thema schrieb er 1906 auch in seiner deutsch-französischen Zeitschrift »Le Continent« und hielt darüber 1908 Vorträge in der Hochschule für wirtschaftliche Studien. Laut seinem Neffen brachte er sogar den radikalsozialistischen Kolonialminister Albert Sarraut (1872-1962) dazu, mit ihm zusammen Opium zu rauchen (erst nach dem I. Weltkrieg begannen die europäischen Länder den Gebrauch von Opiaten zu regeln und später zu verbieten).

Ivan Aguéli

Ivan Aguéli

Ivan Aguéli

Der Gruppe um de Pouvourville und »La Gnose« gehörte ein weiterer Perennialist an: der schwedische Maler Ivan Aguéli. Aguéli gesellte sich zu de Pouvourville und Guénon 1910, nachdem er Alexandre Thomas in einem esoterischen Buchladen begegnet war, in dem dieser aushalf. Thomas war einer jener Martinisten, die Guénon durch den Templerorden zur gnostischen Kirche gefolgt waren. Aguéli trat der gnostischen Kirche bei und begann in »La Gnose« zu schreiben.

»La Gnose« war das offizielle Organ dieser gnostischen Kirche und war von Guénon und Thomas gemeinsam begründet worden, die sie auch zusammen herausgaben. In Wahrheit war »La Gnose« aber die Zeitschrift Guénons. Er nutzte sie zeitweise für einen persönlichen Feldzug gegen Encausse, so wie Encausse »Le Voile d’Isis« für seine Polemik gegen Blavatsky genutzt hatte. Später wurde in der Zeitschrift eine Serie von Artikeln veröffentlicht, welche die wesentlichen Elemente des Traditionalismus formulierten und in Guénons erstes Buch eingingen. Die meisten Artikel handelten vom Hinduismus und stammten von Guénon, während Aguéli über den Sufismus und den Islam schrieb. Zwanzig Jahre später sollten der Islam und der Sufismus für Guénon und viele andere Traditionalisten eine zentrale Bedeutung erlangen, die sie allerdings 1910 noch nicht besaßen.

»La Gnose« war nicht die einzige Zeitschrift, in der Guénon damals schrieb. 1909 verfassten Thomas und ein anderer Ex-Martinist einen gemeinsamen Brief an den Herausgeber der »France Chrétienne«, Abel Clarin de la Rive, in dem sie Encausse angriffen. Diese katholische Zeitschrift hatte unter ihrem früheren Herausgeber Leo Taxil (1854-1907) bereits 1894-95 eine Kampagne gegen Encausse und den Martinismus geführt. Als Guénon in der »Gnosis« einen Artikel über die mangelnde Logik des damals gebräuchlichen maurerischen Hochgradsystems veröffentlichte, druckte ihn Clarin de la Rive im folgenden Jahr mit Vergnügen in seiner Zeitschrift ab. De la Rive nahm auch eine Einladung Guénons an, einer gnostischen Zeremonie beizuwohnen, die ihn offensichtlich beeindruckte. Er und Guénon wurden Freunde und »La France chrétienne« begann, gegen die gnostische katholische Kirche von Encausse zu polemisieren, nicht aber gegen die universelle gnostische Kirche, der Guénon angehörte. Guénon schrieb regelmäßig Briefe an de la Rive, später auch Artikel für dessen Zeitschrift, die 1913 ihren Namen in »La France anti-maçonnique« änderte. Guénons Mitwirkung an diesen Zeitschriften bedeutet jedoch nicht, dass er selbst katholisch oder antimaurerisch geworden wäre – er war während dieser Zeit praktizierendes Mitglied einer Maurerloge und behielt seine Vorbehalte gegenüber der Kirche bei – , sondern lediglich, dass er de la Rives Zeitschrift als eine nützliche Plattform für seinen Kampf gegen die Martinisten, atheistische Maurer und andere betrachtete, die seiner Ansicht nach eine gefährlich falsche Auffassung von Spiritualität und Religion verbreiteten.

1911 wurde Guénon von de Pouvourville in seine Triade eingeweiht. Guénon und ein anderer Gnostiker, Leon Champrenaud, wurden außerdem von Aguéli in den Shadhiliyya Arabiyya Sufi-Orden aufgenommen und nahmen die muslimischen Namen Abd al-Wahid und Ald al-Haq an. Dabei handelte es sich nicht um Konversionen im gewöhnlichen Sinn, wie manchmal behauptet wird. Es gibt keinerlei Hinweise darauf, dass Guénon den Islam praktizierte oder taoistischen bzw. buddhistischen Regeln folgte, jedenfalls nicht vor seiner Ankunft in Ägypten im Jahr 1930.

Angesichts der herausragenden Rolle, die der Islam und seine Mystik im späteren Traditionalismus spielten, stellt diese erste Begegnung Guénons mit einem Sufi-Orden ein Schlüsselereignis dar. Wer war Aguéli und was hatte es mit seinem Sufiorden auf sich? Obwohl er Schwede war, verbrachte er die meiste Zeit seines Lebens in Frankreich und Ägypten, nachdem er sein Geburtsland mit 21 verlassen hatte. Er war in Sala, seiner schwedischen Heimatstadt, aus drei verschiedenen Schulen geworfen worden und seine Eltern lehnten seine Laufbahn als Maler ab. Während der Belle Epoque strebten alle Maler, die es ernst meinten, nach Paris und so zog auch Aguéli 1890 in die Metropole an der Seine. Er studierte und malte im Atelier von Emile Bernard, einem talentierten Maler und Bildhauer, der bei der Entwicklung Paul Gauguins und Paul Cézannes Pate stand. Aguéli beteiligte sich an vielen anderen Bewegungen, die damals im Künstlermilieu von Paris eine Rolle spielten, insbesondere dem Anarchismus, dem Feminismus und der Theosophie, in die er 1891 von Bernard eingeführt wurde und die er niemals vollständig verwarf.

Marie Huot

Marie Huot

Kurz nachdem er sich der Theosophischen Gesellschaft angeschlossen hatte, begann er eine Affäre mit Marie Huot, einer verheirateten französischen Theosophin, die etwas älter war als er. Sie war Anarchistin und Vegetarierin. Einmal unterbrach sie aus Protest eine Vorlesung Louis Pasteurs an der Sorbonne und nur Ferdinand de Lesseps, der Erbauer des Suezkanals, rettete sie damals vor den aufgebrachten Anhängern Pasteurs. Sie war Sekretärin der Liga gegen Vivisektion und gründete das erste Tierspital Frankreichs. Außerdem war sie Dichterin. Es ist nicht klar, ob Aguélis Beziehung zu Huot sexueller Natur war, jedenfalls dauerte sie viele Jahre.

Huot war indirekt dafür verantwortlich, dass Aguéli sich dem Sufismus zuwandte. Dank ihrer Beziehungen zu Anarchisten landete er 1894 für kurze Zeit im Gefängnis, in dem er den Koran zu lesen begann. Huots Ehemann bezahlte Aguélis Schiffspassage nach Ägypten, nachdem dieser wieder freigelassen worden war. Warum Aguéli nach Ägypten ging, ist unklar, Nordafrika hätte bei einem französischen Intellektuellen, der sich für den Islam interessierte, aus geographischen und sprachlichen Gründen näher gelegen. Möglicherweise beabsichtigte er, wegen seines Interesses am Hinduismus nach Indien weiter zu fahren; die Standardroute nach Indien führte über Ägypten und den Suezkanal.

Nach seinem ersten Besuch in Ägypten 1894-95 hing Aguéli die Malerei für einige Jahre an den Nagel und kehrte nach Paris zurück, um an der führenden französischen Institution, der École des Langues Orientales Arabisch zu studieren und bei Sylvain Lévi, dem Indologen, der später Guénons Doktorthese ablehnen sollte, Sanskrit zu lernen. Er wurde außerdem Muslim und kehrte nach Ägypten zurück. 1900 löste er bei einem Besuch in Frankreich einen Skandal aus, als er Huot bei ihrem Widerstand gegen die Einführung des spanischen Stierkampfes in Frankreich unterstützte. Aguéli begleitete Huot in die Arena und schoss auf den Stierkämpfer. Der Matador überlebte und wegen der öffentlichen Sympathie für Huots Anliegen wurde gegen Aguéli lediglich eine Bewährungsstrafe verhängt.

Zurück in Kairo engagierte sich Aguéli in der antikolonialistischen Politik und arbeitete eng mit einem Italiener, Enrico Insabato, zusammen. Auch dieser hatte einen anarchistischen Hintergrund, außerdem war er Freimaurer und Geheimbeauftragter Giovanni Giolittis, des italienischen Premierministers von 1903 bis 1905, aber soweit bekannt kein Theosoph. Er strebte ein völlig illusorisches Bündnis zwischen dem imperialistischen Italien und dem Islam an. Ebenso wie die deutsch-französische Entente de Pouvourvilles, wurde dieses Vorhaben nie realisiert, die letzte Hoffnung darauf ging im italienisch-türkischen Krieg 1911-12 verloren. Vor diesem Desaster gehörten zu Insabatos Projekten eine »riwaq« (ein College) für Tripolitaner an der Al Azhar Universität in Kairo und eine italienisch finanzierte Moschee, die nach König Umberto I. benannt und 1906 eröffnet wurde. Wichtiger für den Traditionalismus war das arabisch-italienische Periodikum »Al nadi / Il Convito«, für das der ägyptische Hauptunterstützer Aguélis und Insabatos, Abd al-Rahman Illaysh schrieb.

Abd al-Rahman Illaysh war der Sohn eines angesehenen Gelehrten, Muhammad Illayshs, der von 1854 an Maliki-Mufti war und damit eine der wichtigsten Autoritäten in der islamischen Hierarchie Ägyptens. Abd al-Rahman floh aus Ägypten nach Damaskus, nachdem sein Vater im Gefängnis gestorben war (in dem er aus politischen Gründen landete). Dort wurde er enger Mitarbeiter Amir Abd al-Qadirs, eines Anführers des algerischen Widerstands, der in seinen letzten Lebensjahren von den Franzosen als Politiker und von den syrischen Muslimen als Kenner des mittelalterlichen Sufis Muhyi al-Din al-Arabi verehrt wurde. Abd al-Rahmans Verbindung mit Insabato kann man als eine Fortsetzung der antibritischen Aktivitäten seines Vaters betrachten; möglicherweise spielte auch Insabatos Maurerei eine Rolle, da Abd al-Qadir ebenfalls Freimaurer war. Illayish enttäuschte später Insabato. Es wies dessen Angebot zurück, ihn zum Shaykh al-Islam Äthiopiens zu ernennen und verabschiedete sich 1909 von Insabatos Plänen, um stattdessen auf eine französisch-arabische Annäherung hinzuwirken.

Illayish stellte in der Zeitschrift »Al nadi / Il Convito« die Bedeutung Ibn al-Arabis heraus und kündigte die Gründung einer Gesellschaft zur Erforschung dieses Mystikers in Italien und im Orient an; dieses Projekt scheint jedoch nicht über das Stadium der Ankündigung hinaus gelangt zu sein. Illayish weckte auch das Interesse Aguélis an al-Arabi, dessen Lehren für Aguéli später die Quintessenz des Islam darstellten. Ibn al-Arabi ist für Sufis in der islamischen Welt zwar eine wichtige Figur; aber für alle Traditionalisten, die Aguélis Spuren folgten, nahm er eine geradezu überwältigende Bedeutung an. Die spätere Bevorzugung Ibn al-Arabis durch den Traditionalismus geht letztlich auf Amir Abd al-Qadir zurück.

Aguéli trat unter Illayshs Führung auch einem Sufiorden, der Shadiliyya Arabiyya, bei. In Ägypten existierten damals hunderte solcher Orden, manche schufen bloß ein freundliches Milieu für fromme Muslime, manche aber führten eine kleine Zahl von Gläubigen weit auf dem Pfad zur mystischen Gotteserfahrung. Der Islam unterscheidet ebenso wie der Traditionalismus zwischen Exoterik (zahir) und Esoterik (batin) und manchmal beschreiben die Sufis das Verhältnis zwischen dem Sufismus und dem Islam mit diesen Begriffen. Der Islam der Massen ist exoterisch, der Sufismus erschließt die geheimen, esoterischen Tiefen der Religion, die reine Spiritualität. Der Sufipfad ist allerdings ein Pfad innerhalb des Islam und die peinliche Beachtung seiner Regeln ist Voraussetzung für das Beschreiten des esoterischen Pfades.

Der Sufiorden Illayishs, die Shadiliyya Arabiyya, stammte aus dem siebzehnten Jahrhundert und blühte Ende des achtzehnten. Muhammad, der Vater Illayishs, hatte dessen Führung von seinem Vater übernommen, aber zu diesem Zeitpunkt befand sich der Orden bereits im Niedergang. Für einen Gelehrten wie Muhammad Illayish war es nicht ungewöhnlich, die Pflichten eines Mufti mit der Leitung eines Sufiordens zu verbinden, aber für ihn standen die Rolle des Gelehrten und Politikers und nicht die des Mystikers im Vordergrund. Unter seinem Sohn, Abd al-Rahman, scheint die Shadiliyya Arabiyya keinerlei aktiven Mitglieder mehr gehabt zu haben. Nach Sufibegriffen spielt es jedoch keine Rolle, dass ein Orden äußerlich nicht mehr existiert, man kann einem anderen die Weihe weiterreichen, solange man die Erlaubnis – »ijaza« – dafür hat, unabhängig davon, ob der Orden aktiv ist oder nicht. Natürlich kann man einen Orden ohne Mitglieder kaum als wichtig oder erfolgreich bezeichnen. Illayish nahm Aguéli nicht nur in den Orden auf, sondern erteilte ihm auch die Erlaubnis, dies mit anderen zu tun.

1909 kehrte Aguéli nach Paris zurück, wo er durch extravagantes Verhalten von sich reden machte. Sanguinisch und mit einer Vorliebe für lange Reden über unbeliebte Themen wie den Anarchismus, trug er öfter einen Turban oder arabische Kleidung. Ein solches Verhalten wurde von Künstlern in der Belle Epoque fast erwartet, die eine systematische Technik des Skandals entwickelt hatten, um ihre Ideen im Gespräch zu halten. Aguélis berühmterer Zeitgenosse, Alfred Jarry, der Autor des Theaterstücks »König Ubu«, spazierte durch die Pariser Straßen in der Kleidung eines Rad-Rennfahrers und trug Pistolen in seinem Gürtel. Zu diesem Zeitpunkt traf Aguéli de Pouvourville und nutzte seine ijaza, um die Shadiliyya Arabiyya an Guénon und Leon Champrenaud weiterzugeben.

Isabelle Eberhardt

Isabelle Eberhardt

Isabelle Eberhardt

Aguéli war nicht der einzige westliche Sufi im frühen 20. Jahrhundert, aber er ist der erste, von dem man weiß, dass er einen genuinen Zweig eines Sufiordens in Europa begründete. Der wahrscheinlich am besten bekannte Sufi dieser Zeit war eine Frau: die Journalistin und Romanautorin Isabelle Eberhardt, die als Kind russischer Eltern in Genf geboren wurde. Eberhardts Bücher schilderten die Wüste und das arabische Leben in romantischen Bildern und waren in Frankreich sehr beliebt. Eberhardts Leben wird auch oft in romantischen Farben geschildert und in der Tat hat das Bild einer mutigen Französin, die allen möglichen Gefahren und der kolonialistischen Verfolgung in der Verkleidung eines Arabers trotzt, bis heute eine starke Ausstrahlung. Eberhardt wurde zu einer feministischen (und in geringerem Grad) antikolonialen Ikone.

Ihr Vater, Alexander Trofimowsky, wurde als Leibeigener geboren und diente dem ersten Mann ihrer Mutter, einem Offizier, als Hauslehrer. Trofimowsky, ihre Mutter und ihre ersten drei Kinder verließen Russland, um sich in der Schweiz niederzulassen, wo Isabelle geboren wurde. Ihr Vater war ein radikaler Sozialist und Atheist, der Tolstoi und Bakunin folgte. Die Erziehung, die er seiner Tochter angedeihen ließ, war ebenso radikal und nonkonformistisch; er unterrichtete sie in Latein und Griechisch und ermutigte sie, sich wie ein Junge zu kleiden. Eberhardt lernte auch Arabisch, möglicherweise von ihrem Vater, der sich für den Islam als anti-kolonialistische Strömung begeisterte. Zu den Freunden ihres Vaters gehörte James Sanua, ein ägyptischer Jude italienischer Herkunft, der sich 1878 in Paris niedergelassen hatte. Sanua wurde ein enger Freund Eberhardts, führte eine Korrespondenz mit ihr, die 1896 begann und machte sie mit einer Vielzahl von Tunesiern bekannt; mit einem von ihnen unterhielt sie einen Briefwechsel über religiöse Fragen.

1897 zogen die 20jährige Eberhardt und ihre Mutter nach Algerien. Eines ihrer Halbgeschwister blieb in der Schweiz; zwei andere kehrten nach Russland zurück, wo beide später Selbstmord begingen. In Algerien hielt Eberhardt sich und ihre Mutter durch journalistische Tätigkeit über Wasser. Durch ihr Verhalten schockierte sie das französische Kolonialregime, denn sie kleidete sich nicht nur wie ein Mann, rauchte Haschisch und bewegte sich betrunken in der Öffentlichkeit, sondern schlief auch mit vielen algerischen Männern. Sie schockierte die Franzosen auch, indem sie sich zum Islam und dem Sufismus bekannte.

Es ist nicht klar, wie und wann Eberhardt Muslima wurde; ihr Vater scheint vor seinem Tod zum Islam übergetreten zu sein, wahrscheinlich mehr aus politischer Sympathie, denn aus religiösen Gründen. Auch Eberhardt könnte bereits in Europa Muslima geworden sein. Die Konversion zum Islam ist technisch gesehen einfach: es bedarf keines langen Unterrichts oder irgendwelcher Formalitäten. Man muss lediglich vor zwei Zeugen – die selbst Muslime, erwachsen und gesund sind – das islamische Glaubensbekenntnis sprechen, die Formel: »Ich bekenne, dass es keinen Gott gibt außer Allah und dass Mohammed sein Prophet ist.« Die Person, die diesen Satz sagt, ist daraufhin Moslem und muss sich der Scharia, dem islamischen Gesetz, unterwerfen – das den Konsum von Alkohol und Sex außerhalb der Ehe verbietet und Haschischrauchen missbilligt. Eberhardt scheint also keine gute Muslima gewesen zu sein, oder – anders ausgedrückt – ihr Verständnis des Muslimseins schloss nicht die sorgfältige Beachtung der Verbote der Scharia ein.

Es ist nicht bekannt, ob Eberhardt die Scharia in anderer Hinsicht befolgte. Diese besteht nicht nur aus Verboten, sondern legt auch die religiösen Pflichten fest – das rituelle Gebet, regelmäßiges Fasten, Almosen und dergleichen. Almosen dürften kein Thema gewesen sein, denn was über die oft genug verzweifelte finanzielle Lage Eberhardts bekannt ist, dürfte sie von dieser Verpflichtung befreit haben, aber Gebet und Fastenzeiten werden allen abverlangt. Viele geborene Muslime beten nicht regelmäßig, aber nahezu alle fasten am Ramadan; es gibt keine verlässlichen Quellen, die Auskunft darüber geben, ob Eberhardt gebetet und gefastet hat.

Jedenfalls nahm sie – im Gegensatz zu den Verboten der Scharia – gewisse Sufipraktiken Ernst. Sie hatte Kontakte zu zwei verschiedenen Orden, der Qadiriyya und der Rahmaniyya. Der Qadiriyya trat sie 1899 oder 1900 bei, zwei Jahre nach ihrer Ankunft in Algerien. 1901 zog sie sich zur Meditation in die Einsamkeit zurück, eine Praxis, die auch der Katholizismus kennt. 1902 nahm sie die schwierige Reise nach Bu Sada im Süden Algeriens auf sich, um einen Rahmani-Scheich (den Führer eines Sufiordens) zu treffen. Dieser Scheich war eine Frau, Zaynab bint Muhammad ibn Abi’l-Qasim, die Tochter und Nachfolgerin Muhammad ibn Ani’l-Qasims, eines der bedeutendsten algerischen Scheichs des 19. Jahrhunderts. Sie verdankte ihre Berühmtheit nicht nur ihrem Vater, sondern auch der Tatsache, dass es nur ganz wenige weibliche Scheichs gibt. 1903 reiste Eberhardt erneut in den Süden, um Zaynab zu sehen und 1904 zog sie sich ein weiteres Mal zur Meditation zurück, diesmal mit einem Qadiri-Scheich in Kenadsa, wiederum im Süden. Solche Besuche würde man von einem regulären algerischen Sufi erwarten, die zwei Meditationszeiten wären bei einem Algerier Anzeichen einer wirklichen Hingabe an den Sufismus.

Kurz nach ihrer zweiten Meditationszeit, Ende 1904, kam Eberhardt bei einer Überschwemmung (zusammen mit vielen anderen) ums Leben – im Alter von 27 Jahren. Sie war an Malaria erkrankt und möglicherweise an Syphilis und hatte all ihre Zähne verloren. Trotz ihrer Ablehnung des Kolonialismus diente sie dem damaligen französischen General Hubert Lyautey, mit dem sie möglicherweise eine Liebesaffäre unterhielt, als Informantin über die algerische Wiederstandbewegung.

Als islamische Konvertitin, die die Scharia weitgehend ignorierte, aber Sufischeichs besuchte und sich zu spirituellen Exerzitien zurückzog, war Eberhardt eine ungewöhnliche Muslimin, eher ein Sufi, als ein Muslim, so scheint es. Während des 20. Jahrhunderts fand die Ansicht, der Sufismus sei nicht mit dem Islam identisch, im Westen weite Verbreitung. Diese Ansicht ist aber eine westliche Erfindung ist und der nicht-islamische Neosufismus, der in Europa und den USA entstanden ist, ein rein westliches Phänomen. In Algerien und anderswo in der islamischen Welt sind der Islam und der Sufismus untrennbar. Sufis sind per definitionem Muslime und die religiösen Praktiken eines Sufi setzen die sorgfältige Beachtung der Scharia voraus. Eberhardts Zugang zur Religion hätten die meisten Muslime nicht verstanden, außer vielleicht ihr Scheich, da Scheichs Spezialisten für die vielen Wege des Herzens sind.

Was es wirklich mit der Konversion Eberhardts zum Islam auf sich hat, weiß man nicht genau, möglicherweise war sie aber weniger ein religiöser Vorgang, als ein Mittel der Identifikation mit der algerischen Welt, die sie so liebte und eine Zurückweisung der französischen, die sie so verabscheute. Vielleicht fand sie im Sufismus auch spirituelle Tröstung, war aber nicht willens oder nicht fähig, auf jene Elemente ihres Lebensstils zu verzichten, die sich nicht mit dem Sufipfad vertrugen.

Rudolf Freiherr von Sebottendorff

Rudolf Freiherr von Sebottendorff (

Rudolf Freiherr von Sebottendorff

Ein dritter westlicher Sufi zu dieser Zeit war Rudolf Freiherr von Sebottendorff. Sein Sufismus scheint so selektiv wie jener Eberhardts gewesen zu sein und hatte, wie jener Aguélis, seine Wurzeln vermutlich im westlichen Okkultismus. Sebottendorff ist eine bemerkenswerte Figur in der Geschichte des westlichen Sufismus. Seine spirituellen Interessen galten in erster Linie der Alchemie und Maurerei. Er hing einer Emersonschen Form des Perennialismus an und war wie dieser und Blavatsky der Überzeugung, der materialistische Westen bedürfe der orientalischen Spiritualität.

Von Sebottendorff, der ursprünglich Adam Glauer hieß, war der Sohn eines deutschen Eisenbahn-Ingenieurs und erhielt den Namen Sebottendorff und seinen Adelstitel unter umstrittenen Umständen. Nachdem er das Gymnasium abgebrochen hatte, ging er zur See, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Er gelangte per Schiff in die kosmopolitische, griechisch-ägyptische Metropole Alexandria und fand eine Anstellung als Ingenieur bei einem Landeigentümer, der (wie viele Mitglieder der ägyptischen Hocharistokratie) ottomanischer Türke war und Sebottendorff mit in die Türkei nahm. Sebottendorff verbrachte den größten Teil seines weiteren Lebens in der Türkei und nahm 1911 die ottomanische Staatsbürgerschaft an. In der Türkei studierte er unter Anleitung eines jüdischen Kabbalisten in Brussa die Kabbala, der ihn 1890 in eine Maurerloge in dieser Stadt einführte. Daraufhin wandte er sich unter Anleitung einiger Bektaschi-Sufis, die ebenfalls Maurer waren, einer ungewöhnlichen Form des Sufismus zu. Von diesen erfuhr er mehr über Numerologie (in der die Bektaschis schon immer geglänzt hatten), als über den Sufismus.

So weit bekannt, folgte Sebottendorff keinem Sufipfad, aber er wurde wahrscheinlich Moslem. Er versuchte, alles, was er gelernt hatte, zu einem System zusammenzufassen. 1910 war ihm dies seiner eigenen Auffassung nach gelungen. Nachdem er den angeblichen Schlüssel zur spirituellen Verwirklichung gefunden hatte, entschloss er sich, ihn jenen mitzuteilen, die seiner bedurften – nicht Muslimen (die bereits den Sufismus besaßen) oder gläubigen Christen, sondern Materialisten, die an nichts mehr glaubten, besonders Deutschen. So kehrte er 1913 in sein Geburtsland zurück, wo er nach einigen erfolglosen Jahren und vielen Enttäuschungen seine Entdeckung 1924 unter dem Titel »Die Praxis der alten türkischen Freimaurerei« veröffentlichte. Dieses kleine Buch gibt Anleitungen zu einer Reihe numerologischer Meditationen, die wenig mit Sufismus oder Freimaurerei zu tun haben und scheinen jene, die sie ausprobierten, nicht beeindruckt zu haben. Gäbe es nicht die spätere Verwicklung Sebottendorffs in die Politik, wären er und sein Buch dem Vergessen anheimgefallen.

Von Sebottendorff war mit seiner Wahlheimat – ebenso wie Eberhardt und Aguéli – durch eine romantische Liebe verbunden, wenn auch auf etwas andere Art. Eberhardts Erzählungen zeugen von ihrer Liebe zur Wüste und deren Bewohnern; von Sebottendorff schildert die ottomanische Kultur als eine, der es viel besser ging als Deutschland vor und während des I. Weltkriegs. Bei beiden war Verachtung für die westliche bürgerliche Welt ein Motiv für ihre Neigung zu einer östlichen Alternative. Diese romantische Motivlage gibt es bei Guénon nicht. In Briefen von 1917 aus Sétif in Algerien – wo er an einem Gymnasium Philosophie unterrichtete – beklagte er sich über das algerische Klima, über die anstrengende Arbeit am Gymnasium, über unbegabte Schüler und vor allem über das Fehlen eines intellektuellen Milieus. Eberhardt hätte dem nicht zugestimmt. Guénon sollte später ein westlicher Sufi werden, der in die arabische und islamische Welt integriert war, aber 1917 sah er Algerien höchst unenthusiastisch.

Über Eberhardts religiöse Erfahrungen mit dem Sufismus lassen sich nur Vermutungen anstellen. Sebottendorffs Zugang zum Sufismus ist eindeutig: er hatte so gut wie gar nichts mit dem zu tun, was die meisten Sufis als solchen betrachtet hätten, dafür umso mehr mit seinen früheren maurerischen und okkultistischen Erfahrungen. Auch über Aguélis Zugang zum Sufismus lassen sich nur Vermutungen anstellen. Seine Konversion zum Islam scheint wenig Einfluss auf seinen Alltag gehabt zu haben. Er malte weiter Menschen und weibliche Akte, Verstöße gegen die Scharia, die ein frommer Sufi vermieden hätte (auch wenn sie nicht so schwer wogen, wie jene von Eberhardt). Von seinen Schriften her geurteilt war sein Verständnis des Islam, des Sufismus und des Arabischen jedoch ausgezeichnet – und im Vergleich mit jenem von Sebottendorff orthodox.

Aguéli erscheint als der ernsthafteste und orthodoxeste dieser drei westlichen Sufis, aber selbst unter diesen Umständen war seine Konversion zum Islam noch ungewöhnlich und wäre vor dem 19. Jahrhundert nicht denkbar gewesen. Hin und wieder waren auch andere Abendländer seit der Entstehung des Islam Muslime geworden und manche ottomanischen Paschas stammten aus Westeuropa. Diese Konvertiten legten ihre christlich-europäische Identität ab, nahmen muslimische Namen an und mischten sich unter die muslimische Bevölkerung der Gegend, die sie bewohnten, wie es manche Konvertiten auch heute tun. Mochten sie auch romantisch mit ihrer Wahlheimat (Ägypten, Algerien und Türkei) und nationalistischer oder antikolonialer Politik verbunden sein, so blieben doch Aguéli und die anderen westlichen Sufis Abendländer, behielten ihre ursprünglichen Beziehungen und vieles von ihrer Identität bei. Dasselbe gilt von Blavatsky und Olcott, die ebenfalls konvertierten: Blavatsky zum Hinduismus und Olcott zum Buddhismus – oder wenigstens konvertierten sie zu ihren eigenen Versionen dieser Religionen.

Der I. Weltkrieg – Guénons maurerische Initiation

Oswald Wirth

Oswald Wirth

1912 empfing Guénon seine sechste und letzte Initiation in die reguläre Maurerloge Thébah. Eingeführt wurde er von Oswald Wirth, einer zentralen Figur in der Geschichte des masonischen Traditionalismus. Wirth, die bedeutendste Gestalt der französischen Freimaurerei im 20. Jahrhundert, hatte denselben Weg vom Okkultismus zur »Respektabilität« zurückgelegt, den Guénon unter katholischen Auspizien vollzog. Wirth war ursprünglich mit Encausse und anderen in okkultistischen Kreisen verbunden und übernahm deren Ziele, wandte sich jedoch in den 1890er Jahren der regulären Maurerei zu und distanzierte sich von seinen früheren Verbündeten.

Guénons Einführung in die reguläre Maurerei war das letzte wichtige Ereignis der ersten, okkultistischen Phase seines Lebens. Die Zeitschrift »Gnosis« hatte 1912 ihr Erscheinen eingestellt, wahrscheinlich mangels Geld und Lesern. Eine andere mögliche Erklärung ist, dass Guénon anderes im Sinn hatte, da er 1912 Berthe Loury heiratete, eine Hilfslehrerin, die damals 29 und damit drei Jahre älter war als er. Seiner künftigen Frau war er 1911 bei seiner Tante in Blois begegnet. Zu diesem Zeitpunkt gab Guénon seinen Haschisch- und Opiumkonsum auf. Wie das Gesetz es verlangte, war die erste Heiratszeremonie zivilrechtlich, eine Woche darauf heirateten die beiden außerdem katholisch (Guénons Frau war eine fromme Katholikin).

Der I. Weltkrieg zerstreute die Gruppe um de Pouvourville. Fabre des Essarts, der Patriarch der universellen gnostischen Kirche, starb 1917. Genty bot Guénon den Posten des Patriarchen an, aber dieser lehnte ab und so übernahm Genty selbst diese Rolle. Da ihn nur wenige Gnostiker akzeptierten, spaltete sich die Kirche und zerfiel.

Aguéli erlebte ebenso wie des Essarts das Ende des Krieges nicht. 1911 hatte er wieder zu malen begonnen und war 1914 nach Kairo zurückgekehrt. Als Folge seiner Kontakte mit ägyptischen Befürwortern des ottomanischen Regimes wurde er jedoch 1915 als umstürzlerischer Ausländer abgeschoben und begab sich ins neutrale Barcelona. Dort wurde er, inzwischen mittellos, 1915 von einem Zug überfahren, manche vermuteten einen Selbstmord. Aguélis Begabung als Maler war in der Zwischenzeit vom Bruder des schwedischen Königs, Prinz Eugen, der ebenfalls Maler war, erkannt worden, aber ein Geldgeschenk des Prinzen traf erst nach Aguélis Tod ein. Prinz Eugen rettete Aguélis Überreste und die Schätzung seines Werkes in Schweden wuchs kontinuierlich, bis er als einer der führenden schwedischen Maler seiner Epoche anerkannt wurde, der durch zahlreiche Ausstellungen und Biografien, ein Museum, eine Reihe von Briefmarken und 1981 durch einen Bestseller gewürdigt wurde, der das erste Mal die schwedische Aufmerksamkeit darauf lenkte, dass er Muslim gewesen war.

De Pouvourville überlebte den Krieg, aber erfuhr durch ihn einen Wandel. Der aktuelle Konflikt mit Deutschland trat an die Stelle eines möglichen Konflikts mit der »gelben Rasse«, der einstmalige Befürworter einer deutsch-französischen Entente wandte sich patriotischer Propaganda zu und veröffentlichte 1916 »Jusqu’au Rhin, les terres meurtries et les terrres promises« (»Bis zum Rhein, die gemarterten und verheissenen Länder«) , das bis 1917 sechs Auflagen erlebte. Seine Schriften nach dem Krieg hatten einen ähnlichen Inhalt. 1934 erschien »Alerte sur Paris, le mur de lumière«, danach fünf Broschüren über »La Guerre prochaine«, auf die 25 Broschüren über »L’heroique aventure« folgten, die 1935 und 1936 zu einem Franc verkauft wurden. In diesen Jahren scheint es zwischen ihm und Guénon keinen Kontakt gegeben zu haben. Nachdem de Pouvourville viel zum Traditionalismus beigetragen hatte, verschwand er aus dessen Geschichte.

Guénon war infolge des Krieges mit finanziellen Probleme konfrontiert. Er stellte fest, dass er nicht mehr von seinen Geldanlagen leben konnte – möglicherweise, weil er nun auch für seine Frau aufkommen musste. 1914 wandte er sich daher wieder einer formalen Ausbildung zu, um sich auf eine erste Anstellung vorzubereiten.

Der Krieg bedeutete auch das Ende des Martinismus, in dem Guénon sich zuerst betätigt hatte. Encausse wurde als Arzt im Rang eines Majors 1914 einberufen und starb 1916 an einer Lungenentzündung, die er sich im Feld zugezogen hatte. Als Meister des Martinistenordens folgte ihm Charles Détré, ein Journalist, der einige Jahre in England gelebt und die irreguläre Loge »Humanidad« geleitet hatte, aber Détré starb 1918. Der Orden fiel danach in mehrere Splittergruppen auseinander, die jeweils anderen Meistern folgten und verfiel schnell. Ein Versuch des Sohnes von Encausse, Philippe, den Orden 1952 wiederzubeleben, scheiterte.

Der I. Weltkrieg räumte so gesehen die Bühne für das Auftreten der traditionalistischen Philosophie und ab den 1930er Jahren der traditionalistischen Bewegung. Die Schrecken des Krieges zerstörten den Glauben an die Moderne, welcher der Belle Epoque seinen Stempel aufgeprägt hatte. Der Krieg schuf Bedingungen, die der Verbreitung der traditionalistischen Ablehnung der Moderne günstig waren.

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