Traditionalistische Spiritualität: Sufismus, Freimaurerei und christliches Rittertum

Zuletzt aktualisiert am 12. Dezember 2015.

In den späten 1920er Jahren, als der Traditionalismus sich als Philosophie zu etablieren begann, wurde Guénon in Paris von mehreren Schicksalsschlägen heimgesucht. In deren Folge siedelte er 1930 nach Kairo über. Damit begann die dritte und längste Phase seines Lebens. In dieser Zeit wurde der Traditionalismus zu einer Bewegung aus locker verbundenen Gruppen, die entweder eine alternative religiöse Praxis oder politische Aktivitäten verfolgten.

Anfang 1927 war Guénon 40 Jahre alt, verheiratet und relativ gut situiert. Als Philosophielehrer war er allerdings nicht erfolgreich: er unterrichtete in einer privaten Mädchenschule, tiefer ging es in der akademischen Hierarchie Frankreichs damals kaum. Seine Bücher jedoch gewannen zunehmend Anerkennung, zumindest in gewissen Kreisen, und die Zahl seiner Bewunderer wuchs. Er und seine Frau hatten keine Kinder, aber seit 1918 zogen sie mit Hilfe von Guénons Tante, die ihn mit seiner Frau zusammengebracht hatte, eine Nichte namens Françoise groß.

Aber innerhalb von zwei Jahren verlor Guénon alles, außer seine Bewunderer. 1927 starb seine Frau während einer Blinddarmoperation mit 44 Jahren und er verlor seine Anstellung an der Mädchenschule. 1928 starb seine Tante. Und im Jahr danach wurde ihm nach Streitigkeiten mit der Mutter von Françoise auch diese, die damals 16 oder 17 war, weggenommen.

Diese Schicksalsschläge führten bei Guénon zu den ersten Anzeichen einer leichten Paranoia. Im März 1929 schrieb er an Charbonneau-Lassay, Françoise habe ein doppeltes Spiel gespielt und fremde Personen in seine Wohnung gelassen, als er nicht da war. Er sei von einem »richtigen Netz von Spionage und Verrat umgeben«. »Das Hauptziel der Personen, die all das bewirkt haben«, fuhr er in einem anderen Brief an Charbonneau-Lassay fort, »ist, die Fortsetzung meiner Arbeit zu verunmöglichen.« Guénon schien mit solchen Andeutungen auf die »niedrigen Kräfte« anzuspielen, von denen er »Orient et Occident« gesprochen hatte: auf gegeninitiatorische Organisationen, die Martinisten eingeschlossen. In Wahrheit wurde Françoise seiner Obhut entzogen, weil sein Lebensstil kaum die geeignete Umgebung für ein heranwachsendes Mädchen bot: während er unterwegs war, um mit seinen Anhängern über den Traditionalismus zu diskutieren, musste sie allein in seiner leeren Wohnung zurückbleiben.

Aber sein Werk führte er fort. Er gab »Le voile d’isis« heraus und hielt Kontakt mit seinen Bewunderern. In Chacornacs Buchhandlung traf er 1929 Dina Shillito (geborene Mary Shillito), eine reiche amerikanische Witwe mit einem starken Interesse am Okkulten, die sich dem Islam zugewandt hatte. Shillito war für die weitere Entwicklung Guénons und des Traditionalismus von entscheidender Bedeutung, auch wenn sie bald wieder seinem Leben verschwand. Sie war es, die Guénon nach Ägypten brachte. Die beiden planten eine traditionalistische Buchreihe, die von Guénon herausgegeben und von Shillito finanziert werden sollte. Nach einem zweimonatigen Aufenthalt im Elsass segelten sie 1930 nach Ägypten, um Texte für die Reihe zu sammeln. Die Idee stammte wahrscheinlich von Shillito, da Guénon zuvor nie ein Interesse an Auslandsreisen oder einem realen Kontakt mit jenem traditionellen Orient gezeigt hatte, über den er so viel schrieb. Auch die Wahl des Zieles ging vermutlich auf Shillito zurück. Ihr Ehemann war Ägypter gewesen und sie dürfte weiterhin Kontakte zu Ägypten unterhalten haben. Aber schon drei Monate, nachdem die beiden angekommen waren, kehrte Shillito alleine nach Frankreich zurück. Guénon und sie hatten ihre Beziehung beendet. Die geplante Buchreihe kam nie zustande und Shillito hatte keine weiteren Kontakte zu Traditionalisten. Offenbar war Dina Shillito die Botin, die das Schicksal gesandt hatte, um Guénon in den realen Orient zu führen.

Guénon als Muslim und Sufi

Guénon wollte nach Shillitos Abreise nur einige Monate in Ägypten bleiben, aber seine Rückkehr nach Frankreich verzögerte sich und fand am Ende nie mehr statt. Anfangs lebte er von den Tantiemen seiner Bücher, die sich jedoch als zu niedrig erwiesen. Guénon sandte einen verzweifelten Brief an Reyor (der 1932 zum Herausgeber der »Voile d’Isis / Études traditionelles« und damit zu einem der Hauptkontakte Guénons in Frankreich geworden war), in dem er ihn bat, überfällige Honorare von Chacornac einzufordern. Reyor schickte einen reichen Bewunderer Guénons nach Kairo, der ihn unterernährt in einem armseligen Zimmer vorfand. Eine Reihe seiner Freunde begann daraufhin Geld zu senden, das sie als Honorar deklarierten, das Guénon aber gar nicht verdient hatte. 1939 kaufte John Levy, ein reicher englischer Traditionalist, der durch Guénons Werke vom Judentum zum Islam bekehrt worden war, und der ihn in Kairo besuchte, das Haus, das dieser gemietet hatte und schenkte es ihm. Dadurch sicherte er zu einem großen Teil seine finanzielle Zukunft.

Guénons ökonomische Situation stabilisierte sich durch Geschenke aus Frankreich und so heiratete er 1934 Fatima Muhammad Ibrahim, eine fromme Muslima aus bescheidenen Verhältnissen. Seine ägyptische Frau gebar ihm zwei Töchter, einen Sohn und einen zweiten Sohn, der erst nach dem Tod des Vaters (1951) zur Welt kam. 1948 nahm Guénon die ägyptische Staatsbürgerschaft an.

Eine Reihe von Gründen dürfte Guénon bewogen haben, in Ägypten zu bleiben: Nichts zog ihn nach Paris zurück, in Kairo konnte er mit weniger Geld leben, hier war er vor den »niedrigen Kräften« sicher, die in Frankreich wirkten und hier begegnete er erstmals einer lebendigen religiösen Tradition.

Kairo war 1930 zwar keine traditionelle, ja nicht einmal eine islamische Stadt, aber viele Einwohner waren fromme Muslime, deren Leben von der Moderne und der Verwestlichung kaum berührt war. In diese Bevölkerungsschicht heiratete Guénon und mit ihr lebte er zusammen, zuerst in den Arbeitervierteln um die alte Husayn Moschee, später in der Mittelklasse-Vorstadt von Doqqi. Guénon trug stets eine gallabiyya (ein traditionelles muslimisches Gewand). Nach ägyptischen Maßstäben war das Tragen einer gallabiyya nicht traditionell, sondern archaisch – die gebildete mittlere und höhere Schicht hatte diese Kleidung längst abgelegt, genauso wie viele andere Bräuche, die Guénon jetzt übernahm. Aber manche französischen Gewohnheiten hielt er bei und beendete beispielweise das Fasten am Ramadan nicht wie üblich mit einer Mahlzeit, sondern mit einer Zigarette und Kaffee.

In Kairo lebte Guénon als frommer Muslim und Sufi. Er beachtete nicht nur peinlich die Vorschriften der Scharia, sondern auch die Empfehlungen der Sunna, die freiwilligen Praktiken des Islam. Guénon unterschied sich also zu dieser Zeit deutlich von den drei westlichen Sufis, die weiter oben porträtiert wurden, von denen keiner der Scharia folgte. Allerdings erlaubte er sich eine Abweichung von der Praxis, die man von einem frommen Sufis nicht erwartet hätte: er pilgerte nie nach Mekka. Zwar war er dazu nicht verpflichtet, weil er eine junge Familie unterstützen musste, aber die Pilgerfahrt ist nicht nur eine Verpflichtung, sondern etwas, wonach nahezu jeder fromme Muslim sich sehnt und man kann sich kaum einen vorstellen, der die Gelegenheit zu dieser Pilgerfahrt ausschlägt, wenn sie sich bietet. Im Fall Guénons bot sie sich, als seine Frau Fatima 1946 nach Mekka ging. Aber Guénon wollte sie nicht begleiten.

Guénon folgte nicht nur der Scharia, sondern wurde auch Mitglied eines Sufiordens, der Hamdiyya Shadiliyya. Dieser Orden war erst vor kurzem entstanden und wurde immer noch von seinem Gründer, Salama al-Radi geleitet, einem der bekanntesten Sufischeichs seiner Zeit. Für einen Traditionalisten war al-Radi jedoch eine etwas seltsame Wahl, denn er war ein Charismatiker.

Sufischeichs gehören im allgemeinen einer von drei Kategorien an: den Routiniers, den Charismatikern und den Spezialisten. Die meisten Scheichs sind Routiniers, die den Orden von ihrem Vater geerbt haben und kaum mehr als eine Erweiterung der täglichen religiösen Praxis frommer Muslime bieten. Einige wenige Scheichs sind Charismatiker, Männer, die eine enthusiastische Gefolgschaft um sich sammeln, von der sie als Heilige betrachtet werden und die oft neue Orden gründen. Ein charismatischer Scheich ist oft der ehemalige Schüler eines Spezialisten, eines Mannes, der einen kleinen Kreis entschiedener Anhänger auf dem Weg des Sufismus führt, häufig bis zu einer mystischen Vereinigung mit Gott. Ein Spezialist wäre normalerweise die Wahl eines Muslims, der sein ganzes Leben der Religion widmen will und möglicherweise meinte Guénon, er habe einen Spezialisten gefunden. Vielleicht folgte er al-Radi nicht als spirituellem Führer, sondern nahm lediglich periodisch an dem gemeinsamen dhikr (Gebet) teil. Denn er hatte keine hohe Meinung von den Orden. »Alle sind von ihrem Ursprung her initiatisch«, schrieb er zwei Jahre nach seiner Ankunft in Ägypten einem Freund, »aber unglücklicherweise gibt es welche, die viel von ihrer Spiritualität verloren haben, entweder, weil sie zu groß geworden sind, oder weil sie politischen Einflüssen unterliegen.« Die politischen Einflüsse auf die Guénon anspielte, waren vermutlich die antikolonialistischen Tendenzen vieler Sufiorden.

Mochte Guénon in seinem Alltagsleben auch ein frommer Muslim sein, so hielt er doch an seinen perennialistischen Überzeugungen fest. Er behauptete, er sei nicht zum Islam konvertiert, sondern habe sich in ihn hineinbewegt: »Wer die Einheit der Traditionen versteht«, schrieb er, »wird sich niemals zu irgendetwas ›bekehren‹ können.«

Guénon blieb nicht nur Universalist, sondern auch in seinen Schriften war er eher Traditionalist als Muslim. In seinen Werken vor 1930 gibt es wenig Bezugnahmen auf den Islam und auch wenn sich diese ab 1930 etwas vermehrten, wurde der Islam nie zu einer bedeutenden Quelle für ihn. Auch bei seiner Lektüre spielte er keine wichtige Rolle: seine private Bibliothek umfasste zur Zeit seines Todes an die 3000 Titel, aber viermal mehr zum Hinduismus als zum Islam und nur wenige oder vielleicht gar keine in Arabisch. Als Guénon sich auf den großen Sufi Ibn al-Arabi beziehen wollte, bat er einen Anhänger in Paris, der al-Arabi gut kannte, um Textstellen. Wahrscheinlich las Guénon gar kein Arabisch. Zwar wird oft behauptet, er habe fließend Arabisch gesprochen, tatsächlich beherrschte er lediglich den ägyptischen Dialekt, den einzigen, den seine Frau sprach. Die religiösen Texte des Islam sind jedoch nicht in einem arabischen Dialekt, sondern in der der klassischen Form dieser Sprache geschrieben. Ein Abendländer muss Jahre harter Arbeit investieren, bis er das klassische Arabisch fließend lesen kann und als Guénon sich in Kairo niederließ, hatte er weder die Zeit noch das Interesse an einem solchen Studium. Er war in seinen Fünfzigern und wollte lehren, nicht lernen.

In Kairo las und schrieb er Bücher und Artikel und unterhielt eine weitläufige Korrespondenz wie auch zuvor in Paris. Dieser Briefwechsel nahm jeden Tag Stunden in Anspruch, besonders in späteren Jahren; er beantwortete jeden Brief gewissenhaft, unabhängig von seiner Herkunft und seinem Thema. Die Briefe waren das einzige Mittel, um seine abendländische Elite zu organisieren, die inzwischen von Indien bis nach Brasilien reichte.

Gelegentlich empfing er Besucher aus Europa, aber je mehr seine Paranoia zunahm, desto zögerlicher. Eine Krankheit fesselte ihn 1937 für mehrere Monate ans Bett. Er hielt sie für die Folge eines magischen Angriffs, den ein europäischer Besucher auf ihn ausgeübt hatte, von dem er glaubte, gegeninitiatorische Kreise in Frankreich hätten ihn gesandt. Es gab auch Gerüchte, seine erste Frau Berthe sei magischen Attacken zum Opfer gefallen, Gerüchte, die er möglicherweise selbst ausstreute. Nach seiner Erkrankung traf Guénon nicht nur rituelle Vorkehrungen gegen weitere Angriffe, sondern hielt auch seine Adresse geheim und leitete seine Korrespondenz über Postfächer um. Er empfing nur Besuche solcher Europäer, deren Identität ihm bekannt war und verließ in späteren Jahren kaum das Haus.

Valentine de Saint-Point

Valentine de Saint-Point

Guénon hatte in Kairo nicht viele Freunde, keinen Kreis, der jenem in Paris gleichkam. Seine älteste Freundin war die Gräfin Valentine de Saint-Point, eine Französin, die länger in Kairo lebte als er. Sie war 1918 zum Islam übergetreten, etwa sieben Jahre nach dem Ende einer erfolgreichen Karriere als Dichterin und Schriftstellerin im Paris der Belle Epoque. Sie war die erste Frau, die den Atlantik in einem Flugzeug überquerte und hatte dem Bildhauer Auguste Rodin nackt Modell gesessen. Außerdem war sie Feministin. 1924 zog sie nach Kairo, wo sie wie Aguéli die nationale Bewegung unterstützte und sich mit Akupunktur beschäftigte. Guénon war ihr im Hinblick auf seine Ankunft in Kairo empfohlen worden.

Seine anderen Kairoer Freunde waren abendländische Konvertiten zum Islam und Kosmopoliten wie der junge Najm al-Din Bammate. Dieser stammte aus Daghestan und war der Sohn des afghanischen Botschafters in Paris, studierte in der Schweiz, unterrichtete später an einer französischen Universität und sollte in den 1970ern und 1980ern zu einer wichtigen Gestalt unter den traditionalistischen Muslimen Frankreichs werden. Daneben gab es verwestlichte Ägypter wie Muin al-Arab, einen ehemaligen Diplomaten, der zum Buddhismus übergetreten war und eine Engländerin geheiratet hatte (die ihrerseits zum Islam übertrat).

So wenig der Islam in seinen Schriften in Erscheinung trat, scheint Guénon auch mit islamischen Gelehrten Kontakt gehabt zu haben. Eine Ausnahme war Abd al-Halim Mahmud, ein Sufi, der von 1973 bis 1978 Scheich an der Al Azhar Moschee war und damit die höchste Stellung in der islamischen Hierarchie Ägyptens innehatte. Mahmud verteidigte den Sufismus zu einer Zeit, als er unter gebildeten Ägyptern immer unpopulärer wurde. Später beschrieben ihn traditionalistische Kreise gerne als engen Freund Guénons, der außerdem Traditionalist gewesen sei. Aber die für seinen Traditionalismus angeführten Beweise sind wenig überzeugend und Mahmud las nie ein Buch Guénons. Er verfasste zwar einen langen Artikel, in dem er Guénon pries. Aber er pries ihn nicht wegen seiner Schriften, sondern wegen seiner Frömmigkeit und die unausgesprochene Botschaft des Aufsatzes war, dass am Sufismus nichts verkehrt sein konnte, wenn ein so brillanter Franzose wie Guénon Sufi wurde.

Guénon hatte keinerlei Einfluss auf den ägyptischen Islam. Einige wenige seiner Artikel wurden ins Arabische übersetzt, aber er hinterließ keine weiteren Spuren. Ägypter haben zwar einen großen Appetit auf religiöse Bücher, bevorzugen aber moderne und alte Werke über den Islam und nicht solche über den Hinduismus. Fast jeder fromme Muslim wäre von der Vorstellung, seine Religion könnte etwas mit dem Hinduismus zu tun haben, entsetzt gewesen, da dieser gewöhnlich als eine Form heidnischer Götzenverehrung betrachtet wird. Guénons Perennialismus hätte kaum Verständnis gefunden: die gängige Auffassung des Islam besagt, dass alle anderen Religionen durch die Offenbarung Mohammeds überholt sind und nur aufgrund von Unwissenheit oder Perversion weiter existieren. Frühere Offenbarungen waren nur bruchstückhafte und vorbereitende Mitteilungen des göttlichen Willens und wurden von ihren Anhängern falsch verstanden, wie zum Beispiel von den Christen, welche die unmögliche Lüge erfanden, dass Gott Kinder gehabt habe. Die Kluft zwischen Guénons Interessen und jenen der traditionellen ägyptischen Muslime war einfach zu groß, als dass ein wirklicher Austausch hätte stattfinden können.

Guénon dürfte also wenig bis gar nichts von den muslimischen Gelehrten in Kairo gelernt haben, aber er lernte doch etwas aus seinen Jahren in Ägypten. Er gewann ein realistischeres Bild des Orients und vollendete so den Übergang von jener Idealisierung des Ostens, die man bei Eberhardt und Aguéli findet, zur Idealisierung der Tradition als einer Idee, die unabhängig von geographischen Orten existiert. Dieser Wandel wird in einem Anhang sichtbar, den er der Neuauflage seines Buches »Orient et Occident« 1948 hinzufügte, in dem er zwischen dem »mystischen Orient« (der Tradition) und dem »geografischen Orient« – Ägypten und anderen Orten – unterschied, an denen nicht alles traditionell und nicht jeder ein frommer Sufi ist. Trotz dieser Änderung seiner Ansichten blieb sein frühes idealisiertes (und unrealistisches) Bild des Ostens für viele spätere Traditionalisten maßgebend, die – wie Guénon vor 1930 – selbst wenig oder überhaupt keine persönliche Erfahrung mit dem Osten hatten.

Eine wichtigere Folge seiner Erfahrung des Lebens frommer Muslime war die wachsende Anerkennung der Bedeutung religiöser Praxis, eine Anerkennung, die insofern speziell islamisch war, als der Islam die tägliche religiöse Praxis stärker betont als andere Religionen. Diese neue Einschätzung zeigte sich bald in Guénons Werken. Im allgemeinen stellen die Artikel, die er in Kairo schrieb, Berichtigungen der traditionalistischen Philosophie dar und seine Bücher aus dieser Zeit sind überarbeitete Neufassungen früherer Artikel aus der Zeit zwischen 1910 und 1915. Das einzige neue Gebiet, über das er schrieb, war die Initiation, der er zwischen 1932 und 1939 eine ganze Reihe von Aufsätzen widmete. Diese Aufsätze, die später im Buch »Aperçus sur l’initiation« (1946) herausgegeben wurden, betonen die Notwendigkeit persönlicher Initiation in eine orthodoxe religiöse Praxis.

Die Aufsätze riefen einen Strom von Briefen hervor. Enttäuschte Traditionalisten, die geglaubt hatten, sie seien auf einer in erster Linie intellektuellen Suche, schlossen sich jüngeren Lesern Guénons an, die fragten, welche Initiation sie wählen sollten. Dieser hat öffentlich nie eine bestimmte Initiation empfohlen, schloss aber Organisationen aus, von denen er glaubte, sie besäßen keinen initiatischen Wert mehr: die katholische Kirche, verschiedene neohinduistische Gruppen im Westen und alles, was in seinen Augen »gegeninitiatorisch« war. Er hob auch die praktischen Schwierigkeiten hervor, die sich jedem, der nicht als Hindu geboren wurde, beim Versuch in den Weg stellten, dem Hindupfad zu folgen. Implizit ließ dies nur zwei Möglichkeiten zu: die Freimaurerei oder den Sufipfad innerhalb des Islam. Guénon empfahl seinen Briefpartnern jedoch nicht immer den Islam, und wenn, dann nicht immer sogleich. In »Orient et Occident« hatte er noch gehofft, die Assimilation des Westens durch den Osten verhindern oder diese scheinbar unausweichliche Entwicklung in eine andere Richtung lenken zu können. Auch später verfolgte er nie ein so schlichtes Ziel wie die Islamisierung des Abendlandes. Er behielt stets die Hoffnung, westliche Formen der Initiation könnten überlebt haben. Eine Zeit lang interessierte ihn auch eine konkrete initiatische Organisation des Westens: die Ritter des göttlichen Parakleten, bei der es sich aber aller Wahrscheinlichkeit nach um eine Fiktion handelte.

Die Bruderschaft der Ritter des göttlichen Parakleten

Die »Bruderschaft der Ritter des göttlichen Parakleten« wurde von Jean Reyor in Frankreich entdeckt, nachdem sich Guénon bereits in Ägypten niedergelassen hatte. Reyor, der Herausgeber der »Études traditionelles« und einer seiner führenden Anhänger in Paris, wollte nicht zum Islam konvertieren und fand an der Maurerei keinen Gefallen. In Artikeln von Charbonneau-Lassay hatte er Anspielungen auf einen mittelalterlichen christlichen Orden gefunden, der noch heute existieren sollte. Reyor interessierte sich auch aus beruflichen Gründen für diesen Orden, denn als Herausgeber der »Études traditionelles« erhielt er regelmäßig Anfragen von Lesern, welche Initiation die richtige sei. Daher nahm er mit Charbonneau-Lassay Kontakt auf, der ihm berichtete, seine Andeutungen bezögen sich auf den »Estoile internelle«, einen katholischen Orden, der im 15. Jahrhundert gegründet worden sei, kaum die Revolution überlebt habe, aber immer noch existiere und aus zwölf Personen bestehe. Einige Jahre zuvor habe ihn eines seiner Mitglieder, der Kanoniker Benjamin-Théophile Barbot kontaktiert, nachdem er sein Werk über christliche Symbolik gelesen hätte, um ihm die Archive des Ordens zugänglich zu machen.

Reyor war interessiert, aber es gab ein Problem. Der Orden wollte nur jemanden initiieren, wenn eines seiner lebenden Mitglieder starb und weit mehr Traditionalisten suchten nach einer authentischen Initiation. Auf Drängen Reyors gestand Charbonneau-Lassay, es gebe noch einen anderen Orden, die »Bruderschaft der Ritter des göttlichen Parakleten«. Die katholische Theologie versteht unter dem Parakleten den Heiligen Geist, der die Menschheit bis zur Wiederkunft Christi tröstet. Die Bruderschaft des Parakleten, so Charbonneau-Lassay, habe seit dem 16. Jahrhundert bestanden. Auch wenn sie 1668 aufgelöst worden sei, habe ihre Initiation im Orden des »Inneren Sterns« weiterbestanden und sei vom Kanoniker Barbot an ihn übergeben worden. Charbonneau-Lassay zögerte anfangs, die Bruderschaft wieder zu beleben, aber als Reyor ihm klarmachte, dass dann viele Traditionalisten gezwungen wären, zum Islam überzutreten, gab er nach. 1938 wurde die Bruderschaft durch Charbonneau-Lassay, Reyor und Alexandre Thomas, der auch schon Mitglied in Guénons Templerorden gewesen war, formell wieder ins Leben gerufen. Einige Traditionalisten schlossen sich der Bruderschaft 1939 an, aber der Ausbruch des II. Weltkriegs brachte alle weiteren Aktivitäten zum Stillstand.

Guénon hatte die Angelegenheit von Kairo aus mitverfolgt, war aber zum Schluss gelangt, die Bruderschaft habe wenig Nutzen, denn es gebe keinerlei Spuren einer wirklichen spirituellen Praxis. Reyor meinte, diese könne nach dem Vorbild des Sufismus rekonstruiert werden, aber Guénon scheint diesen Plan verworfen zu haben. 1943 verließ der immer noch zögernde Reyor die Bruderschaft und wurde endlich Muslim. 1946 jedoch erzählte Charbonneau-Lassay Alexandre Thomas (der Reyor als Meister der Bruderschaft gefolgt war), er habe sich inzwischen an eine ganze Reihe täglicher Praktiken erinnert, von denen ihm Barbot berichtet hätte, deren Bedeutung er leider zwanzig Jahre lang nicht verstanden habe. Thomas übergab diese Praktiken seinen Nachfolgern.

Charbonneau-Lassays plötzliche Erinnerung an die Praktiken der Bruderschaft kam zu gelegen, um glaubwürdig zu sein; unglaubwürdig war auch die Genauigkeit der Erinnerung. Manche meinten, Thomas habe sie erfunden, aber es ist wahrscheinlicher, dass Charbonneau-Lassay sie erfand. Thomas hatte keinen Grund, seine Nachfolger in der Bruderschaft zu täuschen, aber Charbonneau-Lassay hatte einen: er wollte Seelen vor der Verdammnis retten. Charbonneau-Lassay war einst Laienbruder gewesen und ein frommer Katholik geblieben. Er glaubte inzwischen, Guénons Bücher seien gefährlich und hätten oft bedauerliche Wirkungen, denn sie führten seiner Ansicht nach zu einer »Superreligion, die einer Elite von Initiierten vorbehalten ist, die ohne die geringste Schwierigkeit von einer Religion zur nächsten übergehen können, je nach der Gegend, in der sie gerade leben«. Charbonneau-Lassay hätte also allen Grund gehabt, alles Mögliche zu erfinden, wenn es ihm dadurch gelungen wäre, die Traditionalisten in der katholischen Kirche festzuhalten.

Möglicherweise hat er sogar die ganze Bruderschaft erfunden. Die vier Personen, die er als Begründer im 16. Jahrhundert benannte, existierten zwar alle, aber es gibt keinerlei Dokumente, die sie miteinander in Verbindung bringen, außer die Erzählung Charbonneau-Lassays. Er war Antiquar und es dürfte ihm nicht schwergefallen sein, vier plausible Namen und weitere plausible Details zu erfinden. In der Tat ist es verdächtig, dass alle vier Namen aus dem 16. Jahrhundert solche waren, die im 20. Jahrhundert identifiziert werden konnten. Es wäre überzeugender gewesen, wenn wenigstens einer der Gründer keinerlei Spuren hinterlassen hätte.

Sollte die »Bruderschaft der Ritter des göttlichen Parakleten« ein Schwindel gewesen sein, den ein gläubiger Katholik sich ausdachte, um den Abfall von Glaubensbrüdern zum Islam zu verhindern – was zwar eine Hypothese bleiben muss, wenn auch eine sehr wahrscheinliche – dann wäre sie das erste Beispiel für das, was Guénon 1924 als »Irrwege« bezeichnet hatte. Und es sollte nicht der letzte bleiben.

Reform der französischen Freimaurerei

Die »Bruderschaft des Parakleten« mochte eine Enttäuschung sein, aber die Freimaurerei bot initiatorische Möglichkeiten, die Guénon bis zu seinem Tod interessierten. Tatsächlich verwies Reyor mit Guénons Einverständnis Ratsuchende, die nach einer Initiation suchten, regelmäßig auf die Maurerei und empfahl nur dann den Sufismus, wenn sie diese ablehnten.

Oswald Wirth

Oswald Wirth

Der wichtigste Verbündete Guénons in den Reihen der Maurer war der Schweizer Oswald Wirth (1860-1943), ein Mesmerist und Schüler Stanislas de Guaitas’, der Guénon in die Loge Thébah aufgenommen hatte. Aber ihre Beziehung war nicht unproblematisch, es heißt sogar, sie hätten sich zerstritten. Guénon scheint nach 1914 nicht mehr an den Treffen der Loge teilgenommen zu haben. Aber ihre Ansichten stimmten wenigstens so weit überein, dass der Traditionalismus sich an der Reform und Wiedergeburt der französischen Maurerei beteiligen konnte, die zum großen Teil das Verdienst von Wirth ist.

Im frühen 20. Jahrhundert wurde die französische Maurerei gewissermaßen Opfer ihres eigenen Erfolges. Sie war während der Revolution nahezu verschwunden, aber unter Napoleon wiederbelebt worden. Der Grand Orient erhielt so viele offizielle Gunstbezeugungen, dass er später zu einem Teil des republikanischen Establishments wurde, ein Sammelplatz aller, die monarchischen und anderen nichtliberalen Alternativen zur Republik feindselig gegenüberstanden. Um 1900 waren die Hälfte der Mitglieder der Abgeordnetenkammer (der späteren Nationalversammlung) Freimaurer und die Maurerei galt als die »Kirche der Republik«. Soziale und politische Aktivitäten hatten alle anderen verdrängt oder, wie Wirth sagte, »wesentliche Angelegenheiten waren mehr und mehr zugunsten profaner vernachlässigt worden« und die Kenntnis spiritueller Tatsachen stand in den meisten Logen »auf dem Niveau einer Primarschule«. Als das Überleben der Republik und des Republikanismus nicht weiter gefährdet schien, wurden sowohl eine republikanische Bewegung als auch die »Kirche der Republik« überflüssig.

Wirth wollte die Maurerei wieder zum Wesentlichen zurückführen und den Ritus reformieren. Seine eigene Sicht des Rituals unterschied sich nicht sonderlich von manchen Auffassungen der religiösen Praxis, aber er meinte, das Ziel der Maurerei sei auf die diesseitige, nicht auf die jenseitige Welt gerichtet. Der Sinn des maurerischen Rituals sei die moralische und ethische Entwicklung des Einzelnen, die Beherrschung der animalischen Leidenschaften durch den Willen. Die Rituale der Loge seien Symbole der Mittel, die außerhalb der Loge zu diesem Zweck eingesetzt werden sollten. Sie wirkten nur, wenn sie verstanden und von allen überflüssigen und verwirrenden Zutaten befreit würden, die sich im Lauf des 19. Jahrhunderts angesammelt hätten. Um diese Ziele zu verwirklichen, gründete Wirth die Zeitschrift »Le Symbolisme« und schrieb eine Reihe bis heute populärer Bücher über Maurerei. Sein Werk wurde von älteren Maurern in der französischen Grande Loge geschätzt, einer Obödienz, die 1880 gegründet worden war, dem Grand Orient Konkurrenz machte und weniger politisch ausgerichtet war. Auch einige Mitglieder des Grand Orient, der selbst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts etwas weniger politisch wurde, unterstützen Wirth. Dieser erreichte tatsächlich einen Teil der angestrebten Reformen.

Trotz ihrer unterschiedlichen Grundideen stand Wirths Verständnis des masonischen Rituals Guénons Verständnis der esoterischen Praxis doch so nahe, dass sich eine gewisse Allianz zwischen ihnen entwickelte. Während Wirths Leben schrieb Guénon gelegentlich in der Zeitschrift »Le Symbolisme« und Wirths Nachfolger als Herausgeber gestand offen zu, was Wirth Guénon verdankt habe, auch wenn er sonst nicht als Traditionalist bezeichnet werden könne. Die traditionalistische Arbeit am Symbol hauchte den Ritualen vieler Logen neues Leben ein und führte zu einer kleinen Renaissance der Maurerei. Die traditionalistische Philosophie breitete sich in französischen Maurerkreisen aus, weniger in italienischen oder spanischen. Der Beitrag des Traditionalismus zur Reform der Maurerei zeigt sich auch daran, dass noch am Ende des 20. Jahrhunderts eine Reihe von Logen existieren, die ihren Bezug auf den Traditionalismus offen zum Ausdruck bringen, zum Beispiel eine Schweizer Loge mit dem Namen »René Guénon«. Auf die amerikanische oder britische Maurerei hatte der Traditionalismus viel weniger Einfluss, da sie sich kaum für die kontinentale Maurerei interessieren, aber am Ende des 20. Jahrhunderts war der Traditionalismus auch in diesen Ländern unter Maurern nicht unbekannt.

Frithjof Schuon und die Alawiyya

Die wichtigste religiöse Organisation des Traditionalismus war weder die fiktive Bruderschaft des Heiligen Geistes, noch die Freimaurerei, sondern ein Sufiorden, die Alawiyya, die später unter dem Namen Maryamiyya bekannt wurde. Dieser Orden wurde in den 1930er Jahren ins Leben gerufen, als Antwort auf Guénons verstärkte Betonung von Initiation und religiöser Praxis. Zwei Schweizer, beide Mitte Zwanzig, waren für seine Gründung verantwortlich: Titus Burckhardt (1908-1984) und Frithjof Schuon (1907-1998). Die beiden waren bereits in ihrer Schulzeit in Basel befreundet gewesen und stammten beide aus Künstlerfamilien. Burckhardt wurde in Florenz als Sohn eines Bildhauers geboren, wuchs aber hauptsächlich in der Schweiz auf. Er stammte aus einer alten, angesehenen Basler Familie und war der Großneffe Jakob Burckhardts, dessen Werk »Die Kultur der Renaissance in Italien« (1860) das klassische Beispiel für ein heroisches Renaissancebild ist, in dem der menschliche Geist über den Aberglauben des Mittelalters triumphiert und die Moderne aus sich gebiert – das genaue Gegenteil dessen, was Guénon guthieß. Schuon dagegen stammte aus einer Emigrantenfamilie. Sein Vater war ein deutscher Geiger und seine Mutter eine Elsässerin, so dass er von Geburt Deutscher war.

Titus Burckhardt

Titus Burckhardt

Über das Leben Burckhardts bevor er Traditionalist wurde, ist wenig bekannt. Über das Leben Schuons dafür um so mehr, da er eine erstaunlich offene Autobiografie mit dem Titel »Erinnerungen und Betrachtungen« verfasste, die allerdings nur als Privatdruck erschienen ist (1974).

Schuon war 16, als er Guénons »Orient et Occident« las. Das Buch gab ihm Lucy von Dechend, eine Freundin aus seiner Kindheit, die von seinem Interesse am Vedanta wusste. Er war begeistert. 1931 schrieb er an Guénon. Aber auf dessen Empfehlung des Sufismus reagierte er genauso ablehnend wie Reyor. In einem Brief an einen Freund schrieb er: »Wie kannst du denken, dass ich Gott über ›Mekka‹ erreichen will und so Christus und den Vedanta betrüge?« Nach einer Zeit der Agonie betete er 1932 in Paris zu Gott, er möge ihm ein Zeichen senden. Kurze Zeit später ging er hinaus auf die Straße und sah eine Abteilung nordafrikanischer Kavallerie vorbeireiten. Er sah darin das erbetene Zeichen, wurde Muslim und schrieb an Guénon, er möge ihm einen Scheich empfehlen.

Zeichen und Visionen spielten in Schuons Leben eine große Rolle, ebenso im Leben vieler, die ihm folgten. Sogar seine Geburt soll von Zeichen begleitet gewesen sein: das Krankenhaus, in dem er geboren wurde, traf ein Blitz, was zum Ausfall aller Uhren führte. Für manche wäre das ein schlechtes Omen gewesen, besonders bei jemandem, dessen Vorname »Dieb des Friedens« bedeutet.

In seiner Autobiografie legte Schuon großes Gewicht auf seine Kindheit, die sein ganzes späteres Leben prägte. Sein Glück wurde durch den Tod seines Vaters getrübt, der starb, als er 13 war. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er in einem entspannten künstlerischen Milieu gelebt; er war unsicher, ob er Maler oder Dichter werden sollte – aber eines von beiden wollte er mit Sicherheit werden. Der Tod seines Vaters brachte die Familie in eine schwierige finanzielle Lage und 1920 zog seine Mutter mit ihm und seinem älteren Bruder nach Mulhouse ins Elsass, um bei ihrer Mutter zu leben. Hier war Schuon höchst unglücklich. Er vermisste nicht nur seinen Vater und das frühere Haus, sondern wurde als Deutscher auch feindselig behandelt. Aus finanzieller Sicht schien die Hoffnung, Maler oder Dichter zu werden, zerstört. Schuon musste mit 16 die Schule verlassen und eine Beschäftigung als Textildesigner in einer Fabrik annehmen, um seine Familie zu unterstützen. Die Beziehung zu seiner Mutter war schlecht und zu seiner Großmutter hatte er überhaupt keine. Seine Mutter wollte ihn zu einem guten Franzosen machen und taufte ihre protestantischen Kinder kurz nach ihrer Ankunft in Frankreich katholisch. Schuon hingegen wollte soviel er konnte vom künstlerischen Milieu bewahren, in dem er aufgewachsen war. 1923 verließ sein Bruder das Haus, um ein Priesterseminar zu besuchen, später wurde er Zisterzienser. Seinem Tagebuch vertraute Schuon seine Verzweiflung darüber an, dass ihm alles genommen wurde, was ihm lieb war, sein Vater und sein Bruder, das Haus seiner Kindheit und sein Vaterland, seine »spirituelle und soziale Kaste«.

Der junge Schuon verbrachte seine Freizeit damit, sich in Philosophie und Bücher über den Osten zu vertiefen. Er verabscheute die Moderne wegen ihrer »Bedeutungslosigkeit, Gemeinheit und Hässlichkeit« und irrte durch die Straßen von Mulhouse in der Sehnsucht nach »Adel, Größe und Schönheit«.

Aber selbst zu dieser Zeit hatte er eine Ahnung davon, dass seine eigene Größe religiöser Natur sein werde. 1923 oder 1924 schrieb er in sein Tagebuch, er werde eines Tages ein Paraklet, ein Tröster sein. Die Bedeutung dieser Passage ist nicht ganz deutlich; »parakletos« verweist in der Regel auf den Heiligen Geist. Für Schuon dürfte er eine andere Bedeutung gehabt haben, nichts weist darauf hin, dass er mit 17 glaubte, ein göttliches Wesen zu sein.

Sobald er Mulhouse verlassen konnte, tat er es. 1929 ging er nach Paris, um eine Arbeit als Textildesigner anzunehmen. Nun war er etwas glücklicher als in Mulhouse. 1932 jedoch verlor er infolge der großen Depression seine Arbeit und entschloss sich voller Verzweiflung, Frankreich Richtung Osten zu verlassen. Kurz darauf betete er, wie berichtet, um ein Zeichen und erhielt es: so wurde er Moslem und kehrte in die Schweiz zurück, wo er einen jungen iranischen Mullah fand, der ihm das erste Kapitel des Koran, den zentralen Text des rituellen Gebetes beibrachte. Manchmal besuchte er auch eine Gruppe von Menschen in Basel, die sich regelmäßig traf, um Guénons Werke zu studieren.

Kurz darauf mietete er ein günstiges Zimmer in Lausanne. Ein nicht näher bekannter Schulfreund, der hier lebte, erbarmte sich seiner und besuchte ihn jeden Morgen, um ihm ein Frühstück zu bringen. Eines Tages, als er verhindert war, sandte er seine 17 Jahre alte Schwester. Sie hieß Madeleine. Schuon war von ihrer Schönheit geblendet und verliebte sich (unglücklich) in sie.

Von Lausanne zog er nach Marseille weiter, wo er seine Freundin Lucy von Dechend traf. Er hatte noch keine Antwort auf seinen Brief an Guénon erhalten, in dem er ihn um die Empfehlung eines Scheichs gebeten hatte. In Marseille trafen Schuon und von Dechend einige algerische (oder jemenitische) Seeleute, die ihnen vom Scheich Ahmad al-Alawi erzählten.

Ahmad al-Alawi

Ahmad al-Alawi

Ahmad al-Alawi war Algerier und einer der berühmtesten Sufischeichs des frühen 20. Jahrhunderts. Als Charismatiker war er nach Marokko gereist, wo er 15 Jahre bei einem Spezialisten des Darqawi-Ordens, Muhammad Bu Zidi, in die Schule gegangen war. Bei seiner Rückkehr in seine Geburtsstadt Mostaganem gründete er seinen eigenen Orden, den er zu Ehren Alis, des Schwiegersohns des Propheten, »Alawiyya« nannte. Ali war al-Alawi in einer Vision erschienen und hatte ihm erlaubt, seinen Namen für den Orden zu benutzen. Schuon war nicht der einzige, der Zeichen und Visionen erlebte, die immer schon zum Alltag von Sufis gehörten. Al-Alawis Laufbahn ist typisch für einen Scheich seiner Art, auch die Zeit, die er in Marokko zubrachte; der Sufismus hat sich nie für nationale Grenzen interessiert.

Der Alawi-Orden breitete sich schnell aus, da manche seiner Anhänger Seeleute waren. Ein jemenitischer Matrose zum Beispiel ließ sich 1925 in Cardiff nieder und begründete dort einen britischen Zweig der Alawiyya, der bald das religiöse Leben der Jemeniten in England dominierte.

Al-Alawi legte Wert auf gute Beziehungen zu den Europäern. Die französische Kolonialverwaltung Algeriens betrachtete den Sufismus zu dieser Zeit mit großem Argwohn, da ein Großteil des Widerstands gegen die französische Besatzung in Nordafrika von Sufis ausging. Der berühmteste unter vielen Anführern des sufitischen Widerstands war der Algerier Amir Abd al-Qadir, der bereits früher erwähnt wurde. Aber der Kampf gegen die Franzosen war verloren und al-Alawi bemühte sich um friedliche Beziehungen. Er verstand Französisch gut, vermied aber, es zu sprechen. Wenn er mit Europäern zu tun hatte, hob er die Gemeinsamkeiten zwischen Sufismus und Christentum hervor und nicht die Unterschiede. Aus diesem Grund genoss er bei vielen Franzosen Ansehen und man fragte ihn 1926, ob er das erste ökumenische Gebet in der neu eröffneten Moschee in Paris sprechen wolle. Er hatte auch eine kleine Zahl europäischer Anhänger, zu denen Probst Biraben gehörte, einer der frühen Bewunderer Guénons in Paris.

Die Algerier, die Schuon in Marseille traf, boten ihm eine freie Überfahrt nach Oran in Algerien. Sie weigerten sich aber, seine Freundin Lucy von Dechend mitzunehmen (vielleicht weil sie keine Muslimin oder weil sie eine Frau war), die daher unverrichteter Dinge nach Basel zurückkehren musste. Ende 1932 erreichte Schuon den Moscheenkomplex (zawiya) der Alawiyya in Mostaganem. Kurze Zeit nach seiner Ankunft erhielt er einen Brief von Guénon – und siehe da: Guénon empfahl ihm Ahmad al-Alawi. Dieser Zufall lässt sich leicht erklären: Schuon sprach Französisch und Deutsch und kaum Arabisch und al-Alawi war der berühmteste Scheich seiner Zeit, der des Französischen mächtig war.

1932 war al-Alawi bereits alt und krank und Schuon sah wenig von ihm. Aber 1933 wurde er für die Aufnahmezeremonie in den Orden zu ihm vorgelassen. Die meiste Zeit brachte Schuon im Gespräch mit anderen Alawis zu, besonders mit Adda Bentounès, einem der muqaddam (Beauftragten) al-Alawis. Ein Scheich mit einer großen Gefolgschaft beauftragt in der Regel eine Reihe von Schülern, um untergeordnete Schulen in abgelegenen Gegenden zu leiten, manchmal auch, um ihm bei der Leitung der zentralen zawiya zu helfen. Ein muqaddam erhält in der Regel eine ijaza (Erlaubnis), andere in den Orden aufzunehmen.

Schuon verbrachte auf diese Weise drei Monate. Er hauste in der zawiya in einem Raum, der nur mit einer Strohmatte, einer Matratze und einem Leintuch möbliert war. Wenn er sich nicht mit anderen Schülern unterhielt, wanderte er am Strand umher und hielt sich nach dem rituellen Abendgebet im Hof vor der Moschee auf, um die bestechende Schönheit der Szene zu bewundern. Dieses Verhalten ist normal für einen Neuankömmling in einem Sufiorden, der vom Beispiel der Gemeinschaft ebenso lernt, wie durch gelegentliche Gespräche, und Zeit braucht, alles zu verdauen und seine Erfahrungen zu verinnerlichen. Am Ende der drei Monate verließ Schuon Mostaganem weil die französischen Behörden auf ihn neugierig wurden und kehrte nach Europa zurück.

Schuons traditionalistische Freunde in Basel waren erstaunt: er schien ein anderer Mensch geworden zu sein. Burckhardt traf Schuon zu dieser Zeit wieder, nachdem er ihn seit ihrer Jugend nicht mehr gesehen hatte. Er wollte ebenfalls nach Mostaganem, wurde aber durch die Berichte über die schwindende Gesundheit al-Alawis und die Schwierigkeiten, die Schuon mit den französischen Behörden hatte, umgestimmt. Stattdessen entschied er sich, nach Marokko zu reisen.

So verändert Schuon auch sein mochte, er behielt doch seinen traditionalistischen Perennialismus bei. Selbst in der zawiya in Mostaganem hatte er einige Zeit damit zugebracht, einen Artikel für »Le voile d’Isis« über den »Trinitarischen Aspekt der monotheistischen Tradition« zu schreiben, das heißt, über die tiefere Einheit von Christentum, Islam und Judentum. Er hatte auch eine Auseinandersetzung mit einem anderen Alawi, einem Marokkaner, der Schuon mit der Ansicht herausgefordert hatte, Christen könnten nicht in den Himmel kommen – einer Ansicht, die al-Alawi teilen mochte oder auch nicht, die er aber einem Konvertiten gegenüber, von dessen Bruder er wusste, dass er christlicher Mönch war, nie laut ausgesprochen hätte.

Burckhardt scheint im Unterschied zu Schuon islamischer und weniger perennialistisch geworden zu sein. Er ging nach Fez, wo er den Winter damit verbrachte, Arabisch zu lernen, und wurde Moslem. Im Frühjahr 1934 traf er einige Sufis aus dem Darqawiyya-Orden in Salé und trat später diesem Orden unter der Führung Ali ibn Tayyib al-Darqawis aus Fez bei, aber erst nach einer befremdlichen Erfahrung an der Darqawi-zawiya in Salé: Burkhardt wurde in ein Zimmer gebracht, in dem viele andere Darqawis warteten, und als er eintrat, hatte er das Gefühl, er sei von lauter Doppelgängern Schuons umgeben.

Ungefähr zu dieser Zeit hatte Schuon seine erste Vision, als er in Paris die Bhagavad Gita las: »Der allerheiligste Name ertönte und vibrierte in mir fort. Ich konnte nichts anderes tun, als mich dieser Vibration hinzugeben.« Schuon legte sein Buch nieder und verließ das Haus, um lange Zeit an den Quais in einer Art Trance entlang zu spazieren und den allerheiligsten Namen zu rezitieren.

Einige Tage später erfuhr Schuon, dass diese Vision am Tag von al-Alawis Tod stattgefunden hatte. Er meinte, al-Alawi habe ihm durch sie die Erlaubnis erteilt, den Namen des Allerheiligsten in seiner persönlichen Litanei zu verwenden. Diese Erlaubnis wird nur jenen erteilt, die auf dem Sufipfad weit vorangeschritten sind. Der Name des Allerheiligsten kam und ging in den nächsten Jahren und seine Nähe war für Schuon ein Zeichen seines spirituellen Fortschritts.

Kurz nach diesem Erlebnis kehrte Schuon nach Mostaganem zurück, wo ihn Adda Bentounès empfing, der vom muqaddam zum Nachfolger al-Alawis geworden war. Nach einer Woche sandte Bentounès Schuon in eine khalwa (ein meditatives Exerzitium), während dessen Schuon nicht nur einige Propheten erschienen, sondern auch goldene Bildnisse des Amida Buddha.

Am Ende seiner khalwa ernannte Bentounès Schuon – nach dem Bericht in seiner Autobiografie – zu einem muqaddam. Diese Ernennung sollte später Gegenstand vieler Dispute werden. Manche Alawis bestätigten Schuons Ernennung, andere bestritten sie. Offensichtlich wurde Schuon, nachdem er als muqaddam tätig geworden war, anfangs von Bentounès als solcher akzeptiert, was aber nicht bedeutet, dass dies Bentounès ursprünglicher Absicht entsprach. Manche von Schuons späteren Anhängern befinden sich im Besitz einer undatierten schriftlichen ijaza, die von Bentounès unterschrieben ist, und die begleitende, später entstandene französische Übersetzung ist mit »Moqaddem-Diplom« überschrieben, aber dieses Dokument vermehrt lediglich die Konfusion. Darin ist nämlich nicht die Rede davon, Schuon dürfe andere in die Alawiyya aufnehmen. Der Kernsatz lautet: »[Schuon] erhält die Erlaubnis, die Botschaft des Islam zu verbreiten und akzeptiert die Worte der Einheit, ›Es gibt keinen Gott außer Allah, und Mohammed ist sein Prophet …‹.« Die Worte der Einheit, die auch als islamisches Glaubensbekenntnis bezeichnet werden, müssen von einem Nichtmuslim gesprochen werden, wenn er Muslim werden will. Schuons ijaza erlaubte ihm also, für den Islam zu werben und Bekehrungen vorzunehmen. Aber für das, was die ijaza ihm erlaubte, bedarf es keiner besonderen Erlaubnis; es ist die Pflicht eines jeden Muslim, für den Islam zu werben und jeder gesunde erwachsene Muslim kann eine Bekehrung bezeugen und damit durchführen.

Die wahrscheinlichste Erklärung für dieses Dokument ist, dass Schuon Bentounès klarmachte, wie nützlich eine ijaza für ihn in Europa sein würde und dass Bentounès, der die gewünschte Erlaubnis weder gewähren noch verweigern wollte, ihm eine Form von ijaza erteilte, die ihn zwar nicht ermächtigte, Menschen in die Alawiyya aufzunehmen, aber eine Art Ersatz darstellte. Eine ijaza im herkömmlichen Sinn hat Schuon nie erhalten. Diese ist sowohl ein Verwaltungsakt als auch eine Ehre. Als Verwaltungsakt gibt sie etwas von der Macht und Verantwortung des Scheichs an andere ab, damit sie in seinem Namen handeln können. Aber Schuon sollte nie im Namen al-Alawis handeln. Und als Ehrbezeugung ist sie ein Ausdruck für die erlangte spirituelle Reife. Schuon hatte gerade einmal die erste Stufe seiner Ausbildung zum Sufi absolviert. Dass er kaum die gesamte Ausbildung durchlaufen haben konnte, lässt sich aus einem Vergleich der Zeit seines Aufenthalts in der zawiya al-Alawis (einige Monate) und des Aufenthalts al-Alawis bei seinem eigenen Scheich ersehen (15 Jahre).

Aber auch wenn es später Zweifel an dieser Ermächtigung gab, in Basel zweifelte 1930 niemand an ihr. Und Schuon selbst zweifelte erst recht nicht an seinem Recht, andere in den Sufiorden aufzunehmen. Als erste nahm er einige der Basler Traditionalisten auf, unter anderem Titus Burckhardt und Harald von Meyenburg, einen Freund Burckhardts und dessen späteren Schwager, die alle schon Muslime waren. Sie begannen, sich von Zeit zu Zeit zu treffen, um zu beten und den stummen dhikr (eine Art Herzensgebet) zu üben, später organisierte Schuon eine wöchentliche Zusammenkunft für einen gesprochenen dhikr, die von Burckhardt geleitet wurde, der öfter in Basel war. Diese Gebetstreffen fanden in einem angemieteten Raum in einer Gegend Basels statt, wo »Kommunisten im unteren Stockwerk hausten und Prostituierte vor der Tür standen«.

Gewöhnlich dauert ein gesprochener dhikr eine Stunde. Die Sufis sitzen in einem Kreis oder stehen in Reihe und wiederholen gemeinsam kurze Gebete, während sie ihre Oberkörper im Rhythmus der Gebete bewegen. Die Basler dhikr-Sitzungen hingegen begannen um acht Uhr abends und dauerten oft bis 1 oder 2 Uhr nachts. Die Bewegungen, die die Gebete begleiteten, waren manchmal so enthusiastisch, dass andere Mieter hochkamen, um sich zu beklagen, ihre Beleuchtung sei ausgengangen oder die Bilder würden an den Wänden wackeln. Bei einer anderen Gelegenheit fiel die Decke herunter; nach einer kurzen Pause setzte Burckhardt den dhikr inmitten des Schutts fort.

Einige Zeit später wurde das marode Gebäude abgerissen und die dhikr-Treffen fielen aus, bis von Meyenburg eine neue zawiya fand, diesmal ein schmales zweistöckiges Haus am Rhein, mit einem großen Zimmer in jedem Stock. Hier sorgte Schuon für Ordnung und dämpfte den Enthusiasmus der Teilnehmer. Der dhikr wurde auf die normale Länge begrenzt, seine Form regulärer und die Teilnehmer wurden angewiesen, traditionelle Kleidung zu tragen: arabische Kutten und einen Turban. Selbst zu diesem frühen Zeitpunkt legte Schuon schon Wert auf die äußeren Formen der Dinge.

Frithjof Schuon

Frithjof Schuon

Dass Schuon so leicht die Kontrolle der Basler Traditionalisten übernehmen konnte, dürfte mit seiner Persönlichkeit und seiner »ijaza« zusammenhängen, schließlich mit der Erfahrung, die Burckhardt in Salé gemacht hatte, als er einer Menge von Schuons Doppelgängern gegenüberstand. Burckhardts Arabisch war gut, wahrscheinlich besser als das jedes Abendländers, der bisher erwähnt wurde, mit Ausnahme Aguélis, und den Islam und die marokkanische Kultur verstand er ebenso gut. Schuon hatte weniger Zeit mit seinem Scheich zugebracht, als Burckhardt mit dem seinigen, und er kannte sich weniger gut im Arabischen und der islamischen Terminologie aus. Trotzdem wurde Schuon binnen kurzem der anerkannte Anführer der Gruppe.

Er dämpfte nicht nur den Enthusiasmus seiner Basler Brüder, sondern empfahl ihnen auch, nur die obligatorischen rituellen Gebete zu sprechen und nicht die von der Sunna empfohlenen Gebete. Während die meisten Muslime in der islamischen Welt die sunna-Gebete weglassen und das, was als sunna bezeichnet wird, als nicht notwendig betrachten, achten Sufis darauf, auch die Empfehlungen der sunna auszuführen, wann immer es möglich ist und man weiß von keinem Sufimeister, der seine Schüler je angeleitet hätte, diese Empfehlungen zu ignorieren. Schuons Praxis spiegelt die Auffassung wieder, der dhikr sei die entscheidende Aktivität, nicht das Ritual. Der dhikr war für ihn der »Pfad der Initiation« zur »mystischen Vereinigung mit Gott.« »Es gibt ein bestimmtes Missverhältnis« schrieb Schuon 1939, »zwischen der Praxis dieser direktesten Methode und der unbestimmten Zahl untergeordneter ritueller Vorschriften, deren Ziel die individuelle Erlösung und nicht die mystische Vereinigung mit Gott ist. Deshalb müssen wir uns auf das Wesentliche beim devotionellen Ritual konzentrieren, dessen unbedingte Notwendigkeit wir dennoch anerkennen.«

Kein einziger Sunnit in der islamischen Welt würde dieser Sicht zustimmen oder mit der ungewöhnlichen Interpretation der Sure 29.45 des Koran, die viele Anhänger Schuons vertreten. Diese Abweichung von der üblichen Praxis des Islam war die erste von vielen weiteren in den nächsten fünfzig Jahren und scheint aus Schuons Überzeugung entsprungen zu sein, dass der Islam nicht selbst das Ziel sei, sondern ein Mittel, um zur philosophia perennis oder religio perennis zu gelangen.

In dieser Zeit begegnete Schuon Madeleine wieder, die ihm einst in Lausanne sein Frühstück gebracht hatte. Ihr Bruder arrangierte ein Treffen der beiden am Genfer See und eine Zeit lang trafen sie sich zu Spaziergängen in den Wäldern in der Umgebung Lausannes. Bei einer Gelegenheit sah Schuon Madeleine beim Tanzen zu, entweder im Wald oder in seinem Zimmer. Dann plötzlich beendete Madeleine, aus Gründen, die Schuon nicht mitteilt, die Beziehung.

Schuon hatte sich in Madeleine verliebt und seine unglückliche Liebe zu der Frau, die er als seine Freundin bezeichnete, nahm monumentale Dimensionen an. Er schrieb zahlreiche Gedichte an seine Geliebte und suchte regelmäßig eine Kapelle am See auf, bei der sie sich getroffen hatten, um darum zu beten, sie möge ihre Haltung ändern. Er verzichtete sogar auf den Namen des Allerheiligsten in seinem täglichen Gebet, weil seine irdische Liebe ihn ablenkte. Er forderte seine Anhänger in der Alawiyya auf, seine unglückliche Liebe zu teilen. »Wer Madeleine nicht liebt, gehört nicht zum Orden«, sagte er wiederholt.

»Schönheit«, schrieb er später, »in der Tat alles, was wir lieben, gehört zum Himmel; alles, was gut ist, kommt von Gott und gehört zu Gott. Irdische Schönheit ist gut, wenn sie uns zur Liebe Gottes führt, wenn sie den Rahmen unseres Gebetes und unserer Meditation bildet.« Schuon war offensichtlich der Ansicht, Madeleine habe ihm den Schlüssel zur Gottesliebe dargereicht und er wollte diese mit seinen Anhängern teilen. Dieser Vorfall ist von Bedeutung, da Schönheit und Liebe, besonders die Liebe zu schönen Frauen in der Geschichte von Schuons Orden eine nicht unwichtige Rolle spielten.

Die Geschehnisse in Schuons Orden wurden Guénon nach Kairo berichtet, aber ob die Berichte auch die nicht-islamischen Details der Visionen Schuons enthielten, ist nicht bekannt. Guénon war begeistert: er hatte die initiatische Basis für seine Elite gefunden. Bald begannen er und Reyor in Paris die Traditionalisten auf Schuon zu verweisen und die Alawiyya wuchs. Auch aus dem sozialen Umkreis Schuons und Burckhardts in der Schweiz traten Menschen bei. Louis Caudron, ein Traditionalist aus Amiens in Frankreich, verschaffte Schuon Arbeit als Textildesigner in seiner Fabrik und eine zweite zawiya der Alawi wurde in Amiens eröffnet, eine dritte bald darauf in Paris, eine weitere in Lausanne, wohin Burckhardt übersiedelte, um für einen Verleger zu arbeiten. Nachdem Schuon eine besser bezahlte Arbeit in Thann im Elsass angenommen hatte, wurde Caudron sein erster muqaddam in Amiens. 1939 nahmen am Basler dhikr, zu dem Schuon wöchentlich aus dem Elsass anreiste, zwischen 30 und 40 Traditionalisten teil. Von Meyenburg beschrieb diese Epoche später als »goldenes Zeitalter«, das von einer »außerodentlichen spirituellen Intensität« geprägt gewesen sei.

Von Beginn an war die Existenz der Alawiyya weitgehend geheim. Diese Geheimhaltung steht in scharfem Kontrast zu der Praxis der Sufiorden in der islamischen Welt, die immer öffentliche Organisationen sind, auch wenn sie sich manchmal privat treffen. Es scheint manche Gründe für diese Geheimhaltung gegeben zu haben, traditionalistische und praktische. Erstens waren alle religiösen Gruppierungen, die bisher besprochen wurden, in irgendeiner Weise geheim: die Maurerlogen, der Templerorden, die Bruderschaft des Heiligen Geistes. Geheimhaltung ist ein Bestandteil der westlichen oder okkultistischen Auffassung von Initiation, spielt aber bei den Sufis keine Rolle. Zweitens hatte Guénon in »Orient et Occident« die Geheimhaltung empfohlen, um der Feindseligkeit der »niederen Mächte« zu entgehen, auch wenn nicht bekannt ist, ob diese Mahnung Schuon beeinflusste. Drittens war der Islam ein Mittel zum Zweck und nicht der Endzweck. Als von Meyenburg – der dritte, der sich Schuons Orden angeschlossen hatte – in einem Gespräch nach der Geheimhaltung gefragt wurde, war seine erste Reaktion Überraschung: Wie hätte es anders sein können? Wie hätten ihre Arbeitgeber reagiert, wenn sie erfahren hätten, dass ihre Angestellten Muslime geworden waren? Eine weitere Überlegung war laut Meyenburg, dass nichts damit gewonnen worden wäre, wenn man sich zum Islam bekannt hätte. Zu dieser Zeit gab es so gut wie keine andere islamische Gemeinschaft in der Schweiz und keine einzige Moschee, in der man sich zum Freitagsgebet versammeln konnte.

1937 hatte Schuon seine zweite Vision, während der die Gegenwart des Allerheiligsten Namens zu ihm zurückkehrte. »Ich erwachte mit der Gewissheit, dass ich zum Scheich geworden war; ich fühlte mich, als würde ich schweben, als ich auf die Straße trat.« Kurz darauf empfing Schuon unter nicht näher beschriebenen Umständen sechs Themen der Meditation: »Leben und Tod«, »Ruhe und Tätigkeit«, »Erkennen und Sein«. Diese beiden Visionen markieren die formelle Trennung der Alawiyya Schuons von der algerischen; wenn Schuon der Scheich war, dann war er nicht länger ein Beauftragter und niemandem mehr verantwortlich außer Gott. Die sechs Meditationsthemen wurden in die Praxis von Schuons Alawiyya eingeführt und bekräftigten die Trennung, denn nun verfügte diese über ihre eigene meditative Praxis.

Im Nachklang seiner Visionen hatte Schuon Zweifel an sich selbst und daran, ob der Westen der angemesse Ort für seine Aktivitäten war. Diese Zweifel wurden auch seinen Anhängern bekannt, aber Schuon überwand sie.

1938 traf Schuon, der zu diesem Zweck nach Kairo reiste, erstmals Guénon. Er berichtet lediglich, dass er Guénon fast täglich besuchte und die Unterhaltung mit ihm etwas enttäuschend fand. Guénon jedoch schien nun überzeugt, dass Schuon sich zu Recht von Mostaganem getrennt hatte. 1936 äußerte er gewisse Zweifel, dass Schuon zu schnell vorgehe und sich zu früh vom algerischen Orden gelöst habe, 1938 aber räumte er ein, die Veränderungen nach dem Tod al-Alawis hätten nicht zum Besseren geführt. Alles werde propagandistischen, exoterischen Tendenzen geopfert, die er keinesfalls billigen könne.

1939 wurden die Aktivitäten von Schuons Alawiyya – so wie jene der Bruderschaft des Heiligen Geistes – durch den II. Weltkrieg unterbrochen. Schuon traf am Tag der Kriegserklärung in Bombay ein und nahm augenblicklich ein Schiff zurück nach Europa mit einer Kopie der Bhagavad-Gita in Sanskrit in seinem Gepäck, nicht um sie zu lesen, sondern »wegen der Macht ihrer Ausstrahlung«. Sein Reisegefährte, John Levy, der kurz davor Guénons Haus gekauft hatte, blieb in Indien, schloss sich der britischen Armee an und trat später zum Hinduismus über. Er ist der erste bekannte Traditionalist, der dem Islam wieder den Rücken kehrte.

Als Soldat in der französischen Armee erlebte Schuon die katastrophale Niederlage von 1940, ohne an Kampfhandlungen teilzunehmen. Der deutsche Sieg brachte eine neue Gefahr mit sich. Deutschland hatte das Elsass annektiert und machte sich daran, Elsässer für die deutsche Armee zu rekrutieren. Seine Mutter war nicht nur Elsässerin, sein Vater war auch Deutscher gewesen. Da Schuon nicht in der deutschen Armee dienen wollte, floh er in die Schweiz. Bei seiner Ankunft wurde er, wie damals üblich, interniert.

Schuon, der in der Schweiz einflussreiche Freunde hatte, suchte um die Schweizer Staatsbürgerschaft nach, die ihm 1941 gewährt wurde, dank der Hilfe von Jacques-Albert Cuttat, einem seiner Schüler, dem Sohn eines Berner Bankiers und einem aufsteigenden Stern im diplomatischen Dienst. Um seine Einbürgerung nicht zu gefährden, wies er die Basler zawiya an, ihre Arbeit ruhen zu lassen. Auch wenn sie später wieder aktiv wurde, sollte die Stadt nie mehr zum Zentrum des traditionalistischen Sufismus werden.

Schuons Schweizer Anhänger kümmerten sich um seine finanziellen Belange. Er mietete eine kleine Wohnung in Lausanne, wo Burckhardt und seine geliebte Madeleine wohnten, aber er entdeckte, dass sie inzwischen verheiratet war. 1943 trafen sie sich und sie stellte ihm ihr kleines Kind vor. Infolge dieses Treffens wurde »die ganze Umwelt zu seiner Geliebten«. Diese Wandlung sollte andauern. Später meinte Schuon, er sei in den kosmischen Leib der Geliebten eingetreten, er wohne in ihr wie in einer Mutter.

Kurz vor diesen Ereignissen ging Schuon Möbel für seine Wohnung kaufen. In einem Schaufenster sah er eine Statuette der Jungfrau Maria und war von ihrer Schönheit geblendet. Er kaufte die Statuette, nahm sie mit nach Hause und stellte sie an einem Ehrenplatz auf. Statuen sind Muslimen durch die Scharia im allgemeinen verboten, und Statuen der Jungfrau werden gewöhnlich mit katholischen Kirchen assoziiert. Im Hinblick auf dieses Verbot erklärte Schuon später: »Ich beachtete religiöse Regeln immer peinlich genau, aber ich stand vor allem auf dem Boden der religio perennis und ließ es nicht zu, dass mich irgendeine Form, die für mich keine Bedeutung hatte, einengte – mir selbst wohlgemerkt, denn einem anderen hätte ich es nicht erlaubt, dieselben Regeln zu brechen.«

Diese Äußerung spiegelt den Zustand der Alawiyya Ende der 1930er Jahre: eines traditionalistischen Sufiordens, dessen Mitglieder dem Islam und der Scharia folgten, dessen Scheich aber privat auf einem universalistischen Boden stand und zu seinen kostbarsten Besitztümern eine Ausgabe der Bhagavad Gita und eine Statuette der Jungfrau Maria zählte. Die weiteren Implikationen seines Kaufs dieser Statuette, welche die Mutterliebe, die er beim Anblick von Madeleines Kind empfunden hatte, mit dem Motiv der Jungfräulichkeit verknüpfte, sollten aber erst später zutage treten.

Fortsetzung

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