Das Reich der Mütter

Zuletzt aktualisiert am 10. April 2014.

starry-sky»Göttinnen thronen hehr in Einsamkeit,
Um sie kein Ort, noch weniger eine Zeit;
Von ihnen sprechen ist Verlegenheit.
Die Mütter sind es!«

Goethe, Faust II

Jeden Morgen, wenn wir aufwachen, tauchen wir aus einem Meer wogender Bilder empor und retten uns auf das schwankende Eiland unseres Tagesbewusstseins. Unsere Träume sind nur die rasch zerstiebenden Kronen gewaltiger Wogen, die sich an den Kalkgebirgen unseres physischen Leibes brechen.

Jeden Morgen, wenn wir aufwachen, bringen wir aus den Tiefen dieses Ozeans aber auch einen mit nichts aufzuwiegenden Schatz mit: Kraft, Energie, die Erneuerung unseres Lebens. Schlafentzug führt binnen kurzem zu Wahnsinn und Tod, das wissen alle Folterknechte dieser Erde. Aber auch der Bilderentzug führt zu einer Form des Wahnsinns, von dem unsere westlichen Gesellschaften befallen sind und dieser Wahnsinn ist nur ein Vorbote des seelischen Todes. Wenn wir am Abend in die Arme des Schlafes sinken, treten wir durch sein dunkles Tor in eine Welt von lebendigen Bildern ein, die realer und mächtiger sind, als alles, was uns in unserem Tagesbewusstsein begegnet, denn diese Bilder sind nicht nur die Urbilder alles Lebendigen, sondern besitzen auch die Macht, es zu gestalten. Wir alle kranken daran, dass unser Bewusstsein auf die Welt des Tages fixiert ist – am wenigsten die Kinder, die der geheimnisvollen Welt jenseits des Traumes noch näher stehen.

Einst schöpfte die Menschheit aus diesem »Reich der Mütter« Religionen, Kulturen und Lebensformen. Heute weigern wir uns, seine machtvolle Realität anzuerkennen, weil wir in der Illusion Münchhausens befangen sind, wir könnten uns an unserem eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen. Diese Illusion verdanken wir der Philosophie der Neuzeit. Sie hat auch die Grundlage für die Technologien der Bewusstseinsformung geschaffen, die uns habituell mit den Dispositiven des Materialismus durchdringen.

Eigentlich müssten wir den Göttern dankbar sein, dass sie uns nicht gänzlich verlassen haben, dass sie uns nicht zwingen, die Konsequenzen unserer Blindheit zu tragen und in der Scheibenwelt unseres Tagesbewusstseins dahin zu vegetieren wie Schatten in einer virtuellen Hölle. Jeden Abend kommen sie zu uns und tragen uns über die Schwelle des Schlafs in ihre schöpferische Welt, aus der sie unser Leben und unseren Lebensmut erneuern, so wie sie das Leben dieser Erde und all ihrer Geschöpfe aus ihm erneuern. Bilder sind Leben – die Bildlosigkeit ist der Tod – der Seele und der Kultur. Wenn man das einmal begriffen hat, blickt man mit anderen Augen auf Märchen, Legenden und Sagen sowie die großen kosmogonischen und apokalyptischen Erzählungen der Religionen. Lebensmut und Lebenszuversicht schöpfen wir aus Bildern, nicht aus abstrakten Begriffen. Sie tragen uns durch die Einöde der Moderne und umhüllen uns selbst noch im Tod mit ihrem tröstenden Schleier.

Gestaltungsmächte des Lebens

Nur wenige im 20. Jahrhundert haben die fundamentale Bedeutung der Bilder verstanden: Rudolf Steiner, C.G. Jung, Religionswissenschaftler wie Mircea Eliade und Henry Corbin, Mythenforscher wie Joseph Campbell oder Vilhelm Grønbech oder der Esoterikforscher Antoine Faivre. Steiner sprach von Imaginationen, Jung von Archetypen, Corbin von der imaginalen Welt – letztlich meinten sie dasselbe: eine Welt jenseits des flüchtigen Alltagsbewusstseins, das in Schatten wandelt.

Begreifen wir, dass unser Leben aus der Welt der Bilder quillt, dass sie die Gestaltungsmächte des Lebens sind, deren »ew’ge Unterhaltung« die Gestaltung und Umgestaltung ist, dann lernen wir sie vielleicht als das anerkennen, was sie sind: schöpferische Wesen, aus denen wir hervorgehen, aus denen alles Lebendige entspringt. »Gott mathematisiert« – dieser Ausspruch wird Plato zugeschrieben; »die schöpferische Natur imaginiert, sie denkt in Bildern« – diese Aussage findet sich bei Steiner. Auch hier besteht letztlich kein Unterschied, denn der mathematisierende Gott Platos plastiziert die Natur wie ein Geometer seine ideellen Körper konstruiert: durch seine schöpferische Phantasie, seine Imaginationskraft. Ob wir die Gestalt einer Pflanze oder eines Menschen betrachten: Stets blicken wir auf eine Offen­barung dieser imaginierenden Natur. Es ist nicht falsch, sie als Göttin, ja als einen Chor von Göttinnen anzusprechen, daher sprach Goethe von den »Müttern« (»Die Mütter! Mütter! – ‘s klingt so wunderlich …« Faust II). Stellen wir sie uns vor, wie sie im Inneren unserer Leiber, im Inneren der lebendigen Natur ihren Reigentanz aufführen, wie sie ihre Schleier schwingen, wie jede Hand- oder Fußbewegung, jede Neigung ihrer Häupter, jede Regung ihrer Antlitze Wesen erschafft und umbildet, aber auch vernichtet.

Die Sterne am Tage

Es bedarf keines »Faust«, um zu erkennen, was wir verloren haben, als wir aus dem lebendigen Bildermeer auf die beinerne Erde herabgestiegen sind. Der Preis der Erkenntnis ist der Tod – das lehrt uns die Genesis, das lehrt uns auch die Anthroposophie. Nun ist die Zeit überfällig, dass wir Wasser in unseren vertrockneten Brunnen schöpfen, Wasser aus jenem unversieglichen Quell, der aus der Nacht strömt, jener Nacht, die die Mutter des Tages ist, die auch am Tage da ist, und nur vorübergehend vom Licht der Sonne überstrahlt wird. Wir müssen die Sterne am Tage wieder sehen lernen, die Tauchfahrt in den Ozean des Lebens antreten, wenn wir unsere leichenstarre Zivilisation wieder mit der Seele der Kultur durchdringen wollen.

Wir benötigen dazu nur eine gewisse Andacht und Behutsamkeit und die Bereitschaft, den Seelenblick nach innen zu wenden, dorthin wo Bruder Schlaf an der dunklen Tür auf uns wartet, um uns jenen Trank zu verabreichen, der uns dem Tode nahebringt, und uns doch zugleich vor ihm rettet – wenn auch nur vorübergehend.

Fassen wir Mut und gehen an die Schwelle jener Tür, öffnen wir unsere inneren Augen, dann können wir bald auf jene Gestalten sehen, die jenseits des Schleiers auf uns warten. Den Augen unseres Geistes offenbaren sich die Mächte des Lebens auch in der sichtbaren Welt, wenn das Licht der Imagination auf die äußeren Erscheinungen fällt. Denn in allen Geschöpfen offenbaren sich die Archetypen, deren Abbilder sie sind. Der Imagination erscheint die Welt, die uns umgibt, in einem übernatürlichen Glanz, der aus ihrem Inneren zu erstrahlen beginnt, so wie das Goldgelb einer Blütenknospe, wenn sie sich öffnet. In den Gestalten des Lebens erscheinen uns die Urbilder, deren Geschöpfe auch wir sind.

Das Heilige und seine Perversion

Auf einmal sehen wir den Jüngling und die Jungfrau in einem anderen Licht. Die Jungfrau mit ihrer Anmut und Demut, der Jüngling in seiner Neugier und unschuldigen Abenteuerlust: von einem göttlichen Glanz sind sie umgeben, Urgestalten schimmern durch sie hindurch, die uns an längst Vergessenes erinnern. Die griechische Kore scheint in der Jungfrau auf, Persephone, die auf der Asphodeloswiese Blumen pflückt, die Jungfrau im Paradiesesgärtlein, spielend mit dem Einhorn, die Schmetterlingsmädchen der Hopi, zauberhafte, bezaubernde Gestalten des keimenden Lebens, der ewigen Verjüngung und Erneuerung. In jedem Jüngling aber spricht Hermes uns an, der Gott der Diebe und Gaukler, der Mittler zwischen den Lebenden und den Toten, der unschuldige Täuscher und Trickser, oder der listige Kojote der Prärieindianer, der stets ein Stückchen schlauer ist, als ihm gut tut und sich in aller Unschuld oft als Tolpatsch erweist. Dort warten sie, in der offenbaren Welt oder auch hinter dem Schleier in unserem Inneren, darauf, dass wir ihnen Gestalt geben, dass wir ihre Gestalt annehmen.

Anders sehen wir auch die Gestalten der Mutter und des Kriegers, in denen sich die Verheißungen der Jungfräulichkeit und der Jungmännlichkeit erfüllen. Die Demut und Anmut der Jungfrau ist zur Hingabe gereift, die Neugier und Abenteuerlust des Jünglings zum Opfermut. Das heilige Mysterium der Empfängnis umhüllt die Jungfrau mit dem blauen Gewand der Mütterlichkeit, die Bereitschaft, den äußeren Feind zu bezwingen, umschließt den Jüngling mit der Waffenrüstung des Todesmutes. Beide haben sie die Abenteuerfahrt des Lebens angetreten, jene in Liebe, dieser in Kraft, beide haben sie entfaltet, was schon ihr Keimling in sich trug. Umgestaltungen sind sie beide, des ewigen Sinnes ew’ge Unterhaltung.

Anders auch die Hexe und der Zauberer, die weise Frau und der alte Weise. Beide sind durch Leid wissend geworden, durch Mitleid die eine, durch Leid, das er zufügte und erlitt, der andere. In gewisser Weise sind sie beide die Vollendung, das Ziel, das jene, der Mann und die Frau, auf ihrem Wege suchten. Sie sind aber auch die Einkehr und Rückkehr in den Anfang. Denn die Hexe und der Zauberer, sie haben beide jene Heilkraft erlangt, die der Jüngling und die Jungfrau schon besaßen, ohne es zu wissen, die sie deswegen auch verloren haben. Die Hexe und der Zauberer: sie sind sehend geworden, weil sie die Unschuld der Jugend verloren haben, ebenso wie die Illusionen der Mutter und des Kriegers. Jene musste sich von der Illusion befreien, ihre Kinder blieben ewig Kinder, dieser vom Irrglauben, der Feind lauere in der äußeren Welt. Es ist gleichgültig, welchen Namen wir diesem dreifach Göttlichen geben, das sich durch Leib, Seele und Geist des Menschen offenbart und das doch in Wahrheit eines ist. Wir alle sind seine Geschöpfe, wir alle sind seine Epiphanien, es erscheint in uns und durch uns und in anderen, wenn wir es in ihnen sehen.

Wir müssen es aber sehen, dieses Göttliche, und sehen lernen. Denn wenn wir das nicht tun, dann werden wir von seinen Perversionen, seinen verzerrten Entstellungen in den Abgrund gerissen. Fragen wir uns, woher in unserer von gefrorenen Bildern überfluteten Welt die Faszination der als Vamps verkleideten Jungfrauen, der promisken Madonnengestalten und taffen Mannweiber kommt, welcher Schoß all die Rowdies, Fußballkrieger und Technokraten gebiert, die Besitz von unseren Bahnhöfen, Fußgängerzonen und VIP-Lounges ergreifen. Die Imaginationen, die die Engel während des Nachts in unsere Seelen weben, so Rudolf Steiner, werden zu Perversionen, wenn wir sie nicht ins Bewusstsein heben. Das Heilige und die Perversion sind zwei Seiten ein und desselben Archetyps. Dazwischen stehen wir. Blicken wir zum Archetyp auf, erhebt er uns. Wenden wir uns von ihm ab, zieht er uns nieder. Auch C.G. Jung kannte diese Gesetzmäßigkeit, sprach er doch davon, dass Inhalte des Unbewussten, die nicht ins Bewusstsein gehoben würden, eine minderwertige, krankhafte oder perverse Erscheinungsform annehmen. Wir dürfen uns nicht wundern, wenn in unserer von den Archetypen des Lebens so abgewandten Welt ihre Gegenbilder überhand nehmen. Die gefrorenen Bilder der Bewusstseinstechnologien wirken der heilenden Magie entgegen, die aus der Überwindung innerer Dämonen hervorgeht. Statt diese Magie des Heilens zu entwickeln, liefern wir uns den Artefakten der Technik aus. Ihre Kälte lässt unser Herz gefrieren und je mehr wir sehen, umso blinder werden wir.

Wenn unsere siech gewordene Zivilisation geheilt werden soll, dann muss sie wieder Anschluss an die Quellen des Lebens finden. Diese Quellen sind die Bilder, die Archetypen, die Imaginationen, die jenseits unseres Tagesbewusstseins den Kosmos und die Natur durchfluten. Wir müssen unsere Inseln verlassen, eintauchen in das Meer, sehenden Auges in die Finsternis hineinschreiten. Wir werden sehen, dass wir nicht untergehen, sondern von unsichtbaren Händen empfangen werden, dass die Finsternis nicht finster bleibt, sondern von innen heraus zu leuchten beginnt. Und wir werden erleben, dass die Bilder zu Bildemächten werden, dass nicht wir sie, sondern sie uns gestalten, dass wir, je mehr wir mit ihnen leben, zu ihrem Bilde werden.

»Versinke – ich könnt’ auch sagen – steige!« ruft Mephisto Faust zu, als dieser den Gang zu den Müttern antritt. Es liegt in unserer Hand, ob wir sinken oder steigen. Denn wir werden, was wir denken. Die Bilder, mit denen wir unser Bewusstsein erfüllen, werden zur Welt, in der wir leben, nicht nur hier, sondern auch nach dem Tode, – diese Einsicht findet sich schon bei Jakob Boehme. Aus dieser nachtodlichen Welt geht die künftige irdische Welt hervor. Wir entrinnen den Bildern nicht, sie sind unsere Nemesis, im Guten wie im Bösen.

Literatur:

Joseph Campbell: Der Heros in tausend Gestalten, 2011; Henry Corbin: Alone with the Alone: Creative Imagination in the Sufism of Ibn ‘Arabi, 1998; Mircea Eliade: Das Heilige und das Profane, 1998; Antoine Faivre: Vis imaginativa. A Study of Some Aspects of the Magical Imagination and Its Mythical Foundations, in: Theosophy, Imagination, Tradition, 2000; Vilhelm Peter Grønbech: Griechische Geistesgeschichte 2. Götter und Menschen, 1967; C.G. Jung: Symbole der Wandlung, 2011; Rudolf Steiner: Die Stufen der höheren Erkenntnis, 2010

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