Die Engel Avicennas – I

Zuletzt aktualisiert am 11. Dezember 2015.

Avicenna

Avicenna

Der persische Arzt, Philosoph und Theosoph Avicenna (Ibn Sīnā, 980-1037), den die Philosophiegeschichte hauptsächlich als Schöpfer des Begriffs der Kontingenz kennt, war nicht nur einer der einflussreichsten Denker der islamischen Welt und der Verfasser eines Kanons der Medizin, der bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts das europäische Denken über Krankheit und Heilung geprägt hat. Er war auch ein Praktiker der Esoterik, dem sich in der Erfahrung des Denkens ein Kosmos geistiger Wesen eröffnete, aus dem die irdische Welt und der Mensch immerzu hervorgehen und auf den sie mit allen Fasern ihrer Existenz rückbezogen sind. Der Mensch stellt innerhalb dieses Kosmos eine zehnte Hierarchie dar, der seiner Kontingenz seine prekäre Freiheit und die Möglichkeit verdankt, sowohl zum Dämon als auch zum Engel zu werden. Um seine Möglichkeiten und seine Bestimmung auszuschöpfen, muss er das Exil dieser Welt verlassen und die Reise in den Orient, seine wahre Heimat, antreten. Von dieser Reise in den Orient handeln einige Erzählungen, die Avicenna verfasst hat. Der philosophisch-theosophische Kontext dieser esoterischen Erzählungen wurde von Henry Corbin in seinem Buch »Avicenne et le récit visionnaire« (1954) ausgeleuchtet. Es folgen einige Auszüge aus diesem Buch.

Engel, Geist und Intelligenz

Die Vorstellung einer Reise in den Orient – der Rückkehr der Seele in ihre »Heimat« unter der Leitung ihres spirituellen Führers, ihres himmlischen Selbstes – setzt eine »Pädagogik der Engel« voraus, die die Existenz der individuellen Seele und die Idee der Seele im allgemeinen mit der Welt der Engel in Zusammenhang bringt. Dieser Zusammenhang wird besonders deutlich in der visionären Erzählung Avicennas über Hayy ibn Yaqzān, in der seine Engellehre mit ihren drei Hierarchien in ihrem ganzen Umfang aufscheint: (1.) es gibt die Erzengel oder reinen Geistwesen (Intelligenzen), die Kerubim (Cherubim). (2.) Es gibt die Engel, die aus diesen hervorgehen und als Seelenwesen die Himmelssphären bewegen. (3.) Und es gibt die Menschenseelen oder »irdischen Engel«, die Menschenkörper bewegen und regieren.

Fortwährend werden wir hier an die Verwandtschaft und Wesensähnlichkeit zwischen den himmlischen und den menschlichen Seelen erinnert. Die Menschenseelen stehen zum Engel, aus dem sie hervorgehen, dem zehnten Kerub, in derselben Beziehung. wie jede einzelne Planetenseele zu dem Geistwesen (der Intelligenz), dem sie ihr Dasein verdankt. Daher kann die Menschenseele sich in Nachahmung der Planetenseele ihrer Engelhaftigkeit bewusst werden, die jedoch stets virtuell bleibt, aus dem einfachen Grund, weil sie eine irdische Seele ist. Aber im Unterschied zur Planetenseele vermag die Menschenseele sich zu irren, ihre Grenzen zu überschreiten und die in ihr liegenden dämonischen Möglichkeiten zu entfalten.

Der Begriff der Seele spielt in Avicennas Engellehre eine zentrale Rolle, denn die Engel-Intelligenz hat nicht nur eine kosmologische Funktion, sondern sie besitzt im Hinblick auf diese Seele auch eine soteriologische Bedeutung. Die letztere stellt die Vollendung der Pädagogik der Engel dar, die jedoch auch ein Problem aufwirft. Wenn nämlich unsere Seelen im selben Verhältnis zur aktiven Intelligenz (dem Heiligen Geist oder dem Erzengel Gabriel) stehen, wie jede einzelne Planetenseele zu ihrem Erzengel, und jede Intelligenz (ʿaql) mit ihrer Seele (nafs) eine dyadische Einheit, ein geschlossenes Universum, einen Himmel unter den Himmeln bildet, während die Menschenseelen eine Vielheit sind, die zu ein und derselben Intelligenz in Beziehung steht – wie hat man sich dann ihre Übereinstimmung mit den Himmelsseelen in Struktur und Verhalten vorzustellen? Die Antwort auf diese Frage ist weniger eine theoretische Lösung, als eine Vision – zum Beispiel die von Hayy ibn Yaqzān – aus der ein fundamentales Motiv der Engellehre unter einem neuen Aspekt hervortritt: das Motiv der spezifischen Individualität – d.h., der Individualität, die nicht mehr einer Spezies untergeordnet ist, sondern für sich eine eigene Spezies, einen Archetypus, darstellt.

Bei der Begründung seiner Engellehre musste sich der Avicennismus mit abweichenden Auffassungen über Engel auseinandersetzen, die einer grundlegend andersartigen Weltdeutung entsprungen waren. An erster Stelle mit der koranischen Engellehre, die eine geglückte esoterische Auslegung zu ihren philosophischen Quellen zurückzuführen vermag. Dann gibt es den weit ernsteren Konflikt mit der Engellehre des Averroes. Und es gibt das Unbehagen, das diese Engellehre im Christentum hervorgerufen hat, die es dem lateinischen Avicennismus verunmöglicht hat, in der scholastischen Orthodoxie des Mittelalters Fuß zu fassen, dessen Verbreitung uns trotzdem in die Lage versetzt, ihre Verwandtschaft und Ähnlichkeit mit so vielen anderen Sichtweisen unterschiedlicher Zeiten zu erkennen.

Die himmlische Verwandtschaft der Seele wird durch eine einfache Tatsache erwiesen, die zwei Konsequenzen hat: Wenn die Seele zum Selbstbewusstsein erwacht, indem sie das Bewusstsein ihres Selbstes erlangt, vermag die Seele den Engel und die Welt der Engel zu erkennen und wenn sie so das »Gefilde des Engels« – d.h. den Orient – betritt, verwirklicht sie zugleich ihren Auszug aus dem Kosmos, der als Okzident bezeichnet wird – mit anderen Worten, sie beweist ihre Transzendenz in bezug auf diesen Kosmos. Dies schließt eine Beziehung zwischen der denkenden Menschenseele (nafs natiqā) und dem Engel ein, die man zumindest als Wesensverwandtschaft bezeichnen kann (die in der Tat ihre Spur im zweigliedrigen Denkvermögen der Seele hinterlässt, die nach dem Vorbild der Dyade ʿaql-nafs geformt ist). Und es schließt ebenfalls eine Transzendenz gegenüber dem Kosmos ein, die dem Engel und der Seele gemeinsam ist. Indem die Seele ein Bewusstsein dieser Transzendenz erlangt, befreit sie sich vom Kosmos. Um genau zu sein: Gemeint ist das Bewusstsein der Räumlichkeit, das zur kosmischen Krypta gehört, die bis zur neunten (höchsten) Himmelssphäre reicht; die Transzendierung des sinnlichen Raums schließt nicht das Dahinschwinden in die Formlosigkeit oder die Unerkennbarkeit in sich. Reinen Formen kommt eine »Räumlichkeit« eigener Art zu.

Bereits diese Voraussetzungen waren geeignet, unsere Philosophen in Konflikt mit der islamischen Orthodoxie zu bringen. Nicht mit dem Text der koranischen Offenbarung als solchem; im Gegenteil: diese Offenbarung hat allen Spielarten der Theosophie (jener Ibn ʿArabīs zum Beispiel) und ihrer emsigen esoterischen Auslegung unerschöpfliches Material zur Verfügung gestellt. Andererseits stellt die Engellehre den zweiten der fünf islamischen Glaubensartikel dar (Einheit Gottes, Engel, Propheten, offenbarte Bücher, Tag der Auferstehung) und von daher könnte man erwarten, dass die Lage unserer Philosophen im Islam weit weniger beschwerlich sein würde, als im Christentum. Tatsächlich hatte ihre Auffassung des Engels und der Engellehre zumindest eine Dezentralisierung des monotheistischen Universums zur Folge, aber es war unvermeidlich, dass dies sowohl im Christentum wie auch im Islam eine Reaktion der Orthodoxie hervorrief, die sich zwischen Unverständnis und erhöhter Wachsamkeit auf der einen und offener Feindschaft auf der anderen Seite bewegte. Man lotete die arabische Wortwurzel ʿaql aus, um Übersetzungen für die Begriffe Intellekt oder Intelligenz (Geist als Substanz, Nus) und Denken (Geist als Tätigkeit, noesis) zu finden. Darüberhinaus wurde die Tätigkeit des Denkens als Erzeugungsgrund des Seins und der Substanz beschrieben, von Intelligenz zu Intelligenz, bis hinunter zur zehnten, unserer aktiven Intelligenz, dem Erzeuger unserer Seelen. Die geistige Natur dieser Engelwesen verlangte außerdem nach einer Pneumatologie, welche die Immaterialität des Geistes (rūh) und seine Transzendenz gegenüber dem Kosmos bewies. Nun, diese Lehre konnte bei der offiziellen Orthodoxie keine Anerkennung finden, auch wenn sie vom Theologen al-Ghazzālī akzeptiert wurde.

Die Entsprechung zwischen dem Pleroma der Intelligenzen (ʿUqūl) und dem Pleroma der Engel (arabisch Malā’ika, persisch Fereshtagān) ist ein Bestandteil der Überzeugungen unserer Philosophen. Es würde sich lohnen, diese Entsprechung bis in die Zeit des spätgriechischen Neuplatonismus zurückzuverfolgen; dem Avicennismus kommt in dieser Geschichte zweifellos eine zentrale Bedeutung zu …

Wie auch immer, wenn der Philosoph über den Begriff ʿaql mit der Bedeutung Engel-Intelligenz nachdenkt, versäumt er es nicht, einige überraschende Beobachtungen zu den Implikationen dieses Wortes mitzuteilen, das im Arabischen den griechischen Ausdruck Nus vertrat, für den im Lateinischen intellectus (Intellekt) oder intelligentia (Intelligenz, nicht ratio) verwendet wurde. Im Persischen verhält es sich ganz anders. Der entsprechende Ausdruck kharad ruft unmittelbar Vorstellungen hervor, die sich auf Erkenntnis und geistige Substanz beziehen (z.B. den Titel des Buches in Pahlavi Mēnokē Xrat: Himmlische Weisheit; kharad entspricht nus und sophia). Mit diesen Vorstellungen im Bewusstsein ist es gewiss leichter, unter dem arabischen Ausdruck ʿaql die Substanz des Engelwesens zu verstehen. …

Ob das Wort ʿaql dem Bedeutungsumfang der »Intelligenzen« nun entsprechen mochte oder nicht, was gefunden werden musste und auch gefunden wurde, war die Entsprechung der Dii-Angeli (der Gott-Engel) des Proklus. Begriff und Idee der Malā’ika boten sich da von selbst an, nicht als nachträgliche Harmonisierung mit der Offenbarung des Koran; vielmehr brachte die esoterische Deutung diese Offenbarung wieder zu der vollen Wahrheit des Engels zurück, von der die koranische Sichtweise lediglich den exoterischen Aspekt darbietet.

Natürlich konnte sich die buchstabengläubige Orthodoxie mit dieser esoterischen Auslegung nicht anfreunden. Die schiitische Gnosis war damit höchst zufrieden; wenn man die Reaktion exoterischer Theologen kennenlernen will, genügt ein Blick in die voluminöse Enzyklopädie Madschlisī’s. Die Existenz von Engeln, heißt es dort, wird von allen Imāmiten, oder besser, von allen »Muselmännern« akzeptiert, mit Ausnahme derer, die sich zur Philosophie bekennen und unter die »Muselmänner« nur eingeschlichen haben, um die Grundsätze und Dogmen des Islam zu zerstören. Jeder fromme Gläubige weiß aus dem Koran (35:1), dass die Engel sublime, leuchtende Körper besitzen und entweder zwei, drei, vier oder mehr Flügel haben. Sie können die unterschiedlichsten Formen annehmen; sie sind mit vollkommener Erkenntnis begabt und besitzen eine vollkommene Herrschaft über ihre Handlungen. Ihr Leben besteht in der Verherrlichung Gottes; sie offenbaren sich den Propheten und ihren spirituellen Erben, um ihnen göttliche Botschaften zu überbringen. Aber alles, was darüber hinaus geht – z.B. die Behauptung ihrer Transzendenz oder die esoterische Rückführung ihres Begriffs auf die Intelligenzen und Seelen der Sphären, auf die Kräfte der Natur oder die menschlichen Fähigkeiten – das ist für den großen schiitischen Gelehrten Vermessenheit und führt vom rechten Weg ab. Daher zieht er es auch vor, sich bei seiner systematischen Erörterung der Engellehre an solchen Autoritäten wie Taftāzānī und Fakhraddīn Rāzī zu orientieren, statt sich direkt mit unseren Philosophen oder irgendeinem Schüler Ibn ʿArabīs auseinanderzusetzen.

Die Bedeutung dieser Erörterung liegt darin, dass sie zeigt, wie die Engellehre sich in den Augen eines orthodoxen Theologen seiner Zeit darstellte. Taftāzānīs Darstellung unterscheidet drei verschiedene Engellehren: die der islamischen Orthodoxie; jene unserer Philosophen, die zwischen reinen Intelligenzen oder Erzengel-Cherubim und Engelseelen unterscheiden, die mit der Regierung eines Körpers beschäftigt sind; schließlich die Lehre der theurgischen Weisen, die hier sowohl die Sabäer von Harrān als auch die Theosophen der Erleuchtung einschließen. Ihre Lehre besitzt die Eigentümlichkeit, dass sie keinen besonderen Wert auf den ʿaql, das Organ der Selbsterkenntnis des Engels legt, was ihnen ihre Herleitung des Kosmos aus den Engeln ermöglicht, in der die himmlische Hierarchie als eine Art Phänomenologie des Engelbewusstseins erscheint. Die theurgische Lehre legt ein größeres Gewicht auf den Rūh, statt von al-ʿAql al-awwal spricht sie von al-Rūh al-Aʿzam, dem höchsten Geist; sie anerkennt für jede Spezies, für jede Kategorie von Wesen einen regierenden und schützenden Engel. Diese Ansicht stimmt mit einer Grundvorstellung des Neo-Zoroastrismus der Ishrāqī (der Theosophen der Erleuchtung) überein und führt in letzter Konsequenz zu der Idee der Vollendeten Natur (des Menschen).

Die Darstellung Fakhraddīn Rāzīs hat den Vorteil, dass sie ein Prinzip der Systematisierung einführt. Ein jeder, so sagt auch er, stimmt der Existenz von Engeln zu, betrachtet sie als den alles überragenden Vorzug der höheren Welt und versteht sie als persönliche Wesen, die durch sich selbst existieren. Die Differenzen entstehen durch die Frage, ob diese rein geistigen Wesen einen Raum einnehmen oder nicht. Die Annahme der ersten Hypothese ermöglicht es, drei Engellehren in einer Gruppe zusammenzufassen: jene der Mehrheit der Muselmänner; jene der Astralreligion der Sabäer und jene der Mehrheit der Mazdäer und Mandäer. Den letzteren wird ein Dualismus zugeschrieben, der die Substanzen des Lichtes und der Finsternis einander als zwei Prinzipien gegenüberstellt, die zwar ewig, ihrem Wesen nach aber stofflich und daher räumlich sind. Die Substanz des Lichtes bringt unablässig Freunde – d.h. Engel hervor – nicht durch körperliche Zeugung, sondern so, wie Licht Licht erzeugt oder Weisheit Weisheit. Die Substanz der Finsternis bringt unablässig Feinde hervor – d.h. Dämonen – so, wie die Dummen Dummheit erzeugen usw.

Ebenso interessant sind die Ausführungen Fakhraddīns über jene, die die zweite Hypothese bejahen. Denn die letztere, so meint er, ist der Philosophie und gewissen christlichen »Sekten« gemeinsam. Aufgrund der später erörterten Einzelheiten kann es sich nur um gnostische Sekten handeln. Für diese Gnostiker sind die Engel Menschenseelen, die ihren Körper beim Tod in einem Zustand vollkommener Reinheit, Güte und Schönheit verlassen, während es sich bei den Dämonen um Seelen handelt, die ihre Körper hässlich und beschmutzt verlassen. Angelologie und Dämonologie sind mit dem menschlichen Leben verbunden und dieses wird im wesentlichen als Zwischenzustand aufgefasst, der die Möglichkeit des Engeldaseins, aber auch des Dämonendaseins in sich trägt. Dies stimmt sehr gut mit der Anthropologie der ismailischen Gnosis überein. Laut Rāzī sind die Engel der Gnostiker und Philosophen nicht mehr im Raum verortbar, und der Übergang zwischen dem tatsächlichen Engel und der Menschenseele, die zum Engel werden kann, ist fließend. Von den beiden Kategorien der Engel, den Intelligenzen und Seelen, stehen die ersteren, die reinen Geistwesen, zu den letzteren, den (auf Körper) wirkenden Engelseelen in derselben Beziehung, wie die letzteren zu unseren denkenden Seelen.

Aus Fakhraddīns Darlegung geht deutlich hervor, dass der Begriff des Engels und der Begriff der Menschenseele, Angelologie und Psychologie, von einer Geistlehre, einer zuvor ausgearbeiteten Pneumatologie abhängen. Ohne Zweifel war dies zu einem bestimmten Zeitpunkt ein zentrales Problem des islamischen Denkens.

Man sollte nicht vergessen, dass unter Raum hier der Raum verstanden wird, der von der kosmischen Krypta eingeschlossen ist, die bis zur neunten Sphäre reicht; die imago mundi wird nicht auf einen unendlich ausgedehnten Kosmos projiziert. Diese Einschränkung ist wichtig, damit es weiterhin möglich bleibt, den Engel vorzustellen und zugleich die Argumente für seine Überräumlichkeit anzunehmen. Die Welt der geistigen Wesen, der reinen, vom Stoff getrennten Formen, ist nicht die Welt des Formlosen oder des Unvorstellbaren, wie ein mystischer Monist vorschnell vermuten könnte, der darauf brennt, die Zersplitterung der Formenwelt zu überwinden. In der Welt der geistigen Wesen gibt es Unterschiede und Vielheit. Gewiss ist es nicht anders als durch Symbole möglich, jenen Erfahrungszustand zu beschreiben, der dem Dasein der reinen Formen entspricht, denn das heißt, »das Immaterielle jenseits des Materiellen zu erfassen, das Feuer zu empfinden, das jenseits alles Brennbaren brennt, kurz, die eigene absolute, reine Form wahrzunehmen und sie zugleich zu sein.«

Mit der Notwendigkeit dieses »Jenseits …« begründete z.B. Suhrawardī die Überräumlichkeit des Geistes (Rūh). Die Mehrdeutigkeit des arabischen Wortes beiseite schiebend, unterscheidet der Meister der Theosophie der Lichter zwischen einem Lebensgeist (pneuma) – einem ätherischen Leib, der den physischen Körper am Leben hält – und der denkenden Seele – der »monadischen geistigen Substanz« (ʿaqlīya), dem Geist des Menschen (rūh al-insān) – , oder genauer: dem göttlichen Geist (al-Rūh al-ilāhī) im Menschen. Nun, dieser göttliche Geist, die denkende Seele im Menschen, ist weder ein Körper, noch körperlich, noch befindet er sich in der Welt der Körper; es besteht zwischen ihm und dem Engel kein Unterschied, abgesehen von seiner momentanen Pflicht, über einen Körper zu regieren. Befände er sich in der Welt – d.h., wäre er von Natur aus im Raum der kosmischen Krypta eingeschlossen – wie wäre es dann noch möglich, jene Zustände der Ekstase zu erleben, in denen sich die Seele jenseits dieser Welt wiederfindet, die ihr so fremd erscheint, in jener anderen Welt, die ihre eigentliche Heimat ist – , wo doch ein jeder weiß, dass es unmöglich ist, das reine ätherische Metall, aus dem die Himmelssphären bestehen, zu durchdringen?

Bedeutsam ist, dass sich unser Schaich auf die ekstatische Erfahrung beruft, um die Transzendenz der Seele, ihre Unabhängigkeit von der körperlichen Welt und ihre Verwandtschaft mit den Engelgeistern und Engelseelen zu bezeugen. Wegen dieser Überräumlichkeit ist die Reise in den Orient, die Hayy ibn Yaqzān unternimmt, möglich. Den Orient, das »Gefilde des Engels« zu erreichen, heißt, den Raum des Kosmos einer »Involution« zu unterwerfen. Aber dieser Orient, das Reich der Geister des Lichts, das von Hayy ibn Yaqzān in magischen Worten beschrieben wird, ist kein Abgrund reiner Negativität. Den besten beschreibenden Kommentar zu diesem Orient, zu dieser »Wohnstätte im Himmel, die über dem Sternenhimmel liegt« stellt vielleicht die Randbemerkung dar, die Avicenna einem Absatz der sogenannten Theologie des Aristoteles beifügte, der sich spezifisch auf diese Philosophie des Orients bezieht.

Die Theologie führt aus, dass jedes geistige Wesen, das im Himmel über dem Sternenhimmel residiert, »die gesamte Sphäre seines Himmels ausfüllt, aber dennoch einen besonderen Wohnort besitzt, der sich von dem seiner Gefährten unterscheidet, der aber anders beschaffen ist, als die Himmelskörper, denn diese geistigen Wesen sind keine Körper, ebensowenig wie dieser Himmel ein Körper ist.« Der entscheidende Unterschied liegt also im Wort »in«, insofern es das Enthaltensein eines Körpers in einem anderen ausdrückt. Wer den Engel und die Seele, den göttlichen Geist, zu Körpern erklärt, auch wenn es sich um einen sublimen und leuchtenden Körper handelt, wie die orthodoxen Gelehrten des Islam es tun, schließt sie auf immer im Okzident, von dem Hayy ibn Yaqzān spricht, oder in der Welt des Exils aus Suhrawardīs visionärer Erzählung ein. Trotzdem bedeutet die Tatsache, dass es sich nicht um Körper handelt, nicht, dass die Wesen aufhören, unterscheidbar zu sein; es gibt Vielheit, aber die Beziehungen des geistigen Raumes unterscheiden sich von jenen, die unterhalb des Sternenhimmels im planetarischen Raum bestehen, ebensosehr, wie die Existenzform eines Körpers in diesem Himmel sich von der Anwesenheit »in der ganzen Sphäre eines Himmels« unterscheidet. Deswegen kann man auch sagen, dass es »hinter dieser Welt einen Himmel, eine Erde, ein Meer, Tiere, Pflanzen und Menschen gibt, die alle himmlisch sind«; aber dort ist eben alles himmlisch, und die geistigen Wesen dort korrespondieren mit den menschlichen Wesen, und »es gibt keine irdischen Dinge«. Es scheint, als lese man einen Text Swedenborgs; aber Swedenborg hat ja auch die Theologie des Aristoteles gelesen. Avicenna kommentiert: »Es ist nicht wahr, wie manche behaupten, dass es dort keine Vielheit gibt. Aber diese Vielheit besteht nicht darin, dass die Wesen Teile haben; sie besteht vielmehr aus den Begleiterscheinungen der Wesen … Die Form jenes Himmels und jener Welt und alles dessen, was sich in ihnen findet, ist also höher und edler … Die Formen, die der Welt der Intelligenz angehören, können weder abgetrennt noch isoliert werden, obwohl sie unabhängig voneinander sind … Trotzdem existieren alle gleichzeitig und ineinander.«

Die Glosse Avicennas lüftet für einen Augenblick den Schleier, der den Inhalt seiner orientalischen Philosophie verhüllt. Weil die Reise in den Orient eine Pädagogik der Engel voraussetzt, war es notwendig, hier einige Begriffe zu erörtern, die das Verhältnis der philosophischen Engellehre zu jener der islamischen Orthodoxie verdeutlichen. Die (dem Islam und dem Christentum gemeinsame) Idee des Engels als eines Dieners des höchsten Gottes und eines Trägers seiner Botschaften an die Propheten wird durch die neuplatonische Idee des Engels als des »Hermeneuten des göttlichen Schweigens« ersetzt – d.h. der Engel wird zum Verkünder und zur Epiphanie der undurchdringlichen und unaussprechbaren göttlichen Transzendenz. Hier entsprechen sich Angelologie und Theophanie und der ontologische Status des Engels wird zum herausragenden Status der Dii-Angeli (der Gott-Engel) erhoben. Einmal mehr werden wir zum ungelösten Problem zurückgeführt, das vom 12. Buch der Metaphysik des Aristoteles aufgeworfen wird – zum Problem der Vielheit der Ersten Beweger. Eine einzige göttliche Substanz (ousia) – gewiss – aber eine Vielheit von Dii-Angeli, von göttlichen »Wirkenszentren« (ein jedes füllt seine ganze Sphäre aus). Im Resultat haben wir es vielleicht mit einer Art Aufsplitterung des abstrakten Monotheismus zu tun; aber lässt sich das Problem auf den Gegensatz von Monotheismus und Polytheismus zuspitzen? Die Orthodoxie neigte dazu; aber die Engellehre unserer Philosophen zielt auf eine Überwindung dieses Dilemmas.

Es ist diese hermeneutische und apophatische Rolle des Engels, die es begreiflich macht, wie die Seele, die sich selbst erkennt, zugleich den Engel und die Welt der Engel erkennt – d.h. die Welt der Seelen und der aktiven Intelligenzen. In ihrem Akt der Selbsterkenntnis muss sie zugleich ein Bewusstsein des Aktes jener aktiven Intelligenz erlangen, die ihren intellectus possibilis (ihren bloß der Möglichkeit nach tätigen) in den aktiven Intellekt (den aktuell tätigen Intellekt) überführt. Diese Beziehung ist nicht bloß »intellektueller« Natur im modernen Wortsinn. Der Engel der Erkenntnis ist im eminenten Sinn ein Engel der Offenbarung in jedem einzelnen Erkenntnisakt, den er im Intellekt der Seele anregt, wenn die letztere sich bereit gemacht hat, die Erleuchtung in sich aufzunehmen, die ihr eine geistige Form bringt. Es ist unmöglich, diesen Vorgang aus der Sicht des heutigen Kritizismus umzudeuten und etwa zu behaupten der Engel sei eine Schöpfung unseres Denkens. Denn eine solche Schöpfung bedürfte einer Möglichkeitsbedingung und diese wäre eben genau der Akt des ʿAql al-faʿʿāl oder des Engels Heiliger Geist. Bereits die Baadersche Idee des »Cogitor«, des Gedachtwerdens im Denken, verwahrt uns vor dem Irrtum des »Cogito«, der Erzeugung des Gedachten durch den Denkakt. Deshalb ist die Selbsterkenntnis der Seele zugleich das Bewusstsein des Engels.

Noch genauer: In der Erkenntnis ihrer zweigliedrigen geistigen Natur wird der Seele ihre Gleichursprünglichkeit und Wesensverwandtschaft mit dem Pleroma offenbart, dessen Strukturgesetz jede Intelligenz und jede Seele, ʿAql und Nafs, zu einem Paar zusammenschließt. Genau hier, in der Zweigliedrigkeit ihrer geistigen Kräfte, vermag die Seele das Ziel und das letzte Geheimnis des kosmischen Werdens zu erfassen. Der zehnte Cherub, unsere aktive Intelligenz, hatte am Ende dieses Werdens, in dessen Verlauf die Dunkelheit immer mehr zunahm, nicht mehr die Kraft, eine Intelligenz, eine Seele und einen Himmel hervorzubringen. Diese triadische Einheit zersplitterte in die Vielheit unserer individuellen Seelen. Trotzdem muss es weiterhin eine Wesensähnlichkeit geben, wenn jede einzelne Menschenseele im selben Verhältnis zur aktiven Intelligenz steht, wie jede himmlische Planetenseele zu der Intelligenz, aus der sie hervorgeht. Daher offenbart ihr die Zweiheit ihrer Kräfte, derer sich die Menschenseele durch Selbsterkenntnis bewusst wird, jene geistige Struktur, durch die sie auf die Welt der Engel ausgerichtet ist. Ihre eigene kontemplative Kraft (ihre Fähigkeit des denkenden Anschauens) steht zur aktiven Intelligenz im selben Verhältnis, wie jede himmlische Seele zu ihrem Engel-Geist, und ihre eigene Denktätigkeit oder ihr Tun steht in derselben Beziehung zu ihrer Kraft des Anschauens, wie der einzelne Himmel zu der Seele, die seine Bewegung regiert. Indem sie ein Bewusstsein der Struktur der Engelwelt erlangt, lernt die Menschenseele, sich durch Nachahmung so zu verhalten, wie sich eine Himmelsseele verhält. Wir müssen uns daher jetzt der Prozession zu wenden, durch welche die zwiefältige Engelshierarchie in den Kosmos eintritt.

Fortsetzung: Die Engel Avicennas II

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