Geisteswissenschaft als persönliche Erfahrung III – versunkene Schätze, Zeichen und Bilder

Zuletzt aktualisiert am 15. Januar 2016.

Rudolf Steiner. Wandtafelzeichnung, 20. April 1923

Rudolf Steiner. Wandtafelzeichnung, 20. April 1923

Die dritte Meditation des Buches »Ein Weg zur Selbsterkenntnis …« versucht Vorstellungen über die »hellsichtige Erkenntnis der elementarischen (ätherischen) Welt« anzuregen. Erneut bewahrheitet sich das Prinzip, dass Gleiches durch Gleiches erkannt wird, beruht diese Erkenntnis doch auf Wahrnehmungen, die durch den elementarischen (ätherischen) Leib gewonnen werden. Die Szenerie der Welt, in die der Wanderer auf dem Erkenntnispfad eintritt, lässt sich – in gewisser Hinsicht – mit den Erinnerungen des gewöhnlichen Bewusstseins vergleichen. Ihre Bilder und Gestalten tauchen ebenso wie jene im Inneren auf. Außerdem tragen sie Beziehungen in sich, durch die sie über sich hinaus weisen. Aber im Unterschied zu den Erinnerungen des gewöhnlichen Bewusstseins deuten diese Verweise nicht auf sinnliche, sondern auf übersinnliche Tatsachen. Die Reichweite dieser übersinnlichen Erfahrungen hängt von der fortschreitenden Verstärkung der Seelenkräfte ab: das Äthermeer ist buchstäblich grenzenlos, die in ihm verborgenen Schätze der Weisheit und des Lebens unerschöpflich.

Was zeigt sich der hellsichtigen Erkenntnis der elementarischen Welt? Steiner verdeutlicht dies an zwei Beispielen: an einer Pflanze und an der Erde als Himmelskörper.

Die sinnlich wahrnehmbare Pflanze ist für die übersinnliche Beobachtung von einer »Gestalt«, eine »Kraftwesenheit« umgeben und durchdrungen. Diese Kraftwesenheit baut die sichtbare Pflanze aus den Stoffen der sinnlichen Welt auf und liegt ihren Lebensvorgängen zugrunde. Sie lässt sich der Seele vergleichen, die den Arm hebt, und ist von der sinnlichen Erscheinung der Pflanze ebenso unabhängig, wie jene vom Arm, den sie hebt. Sie existiert bereits vor der sinnlichen Pflanze. Diese keimt, wächst, blüht, fruchtet, welkt und geht in eine neue Pflanze über: all ihre Vegetationszustände entspringen aus der übersinnlichen Kraftwesenheit, die sich gerade dann am mächtigsten entfaltet, wenn die Pflanze sich im Keimzustand befindet. Den Lesern der »Einleitungen zu Gothes Naturwissenschaftlichen Schriften« ist diese Kraftwesenheit als »Typus« vertraut, als »sinnlich-übersinnliche Form«, die »räumlich-zeitliche Formen als ideelle Anschauung« enthält. »Das Bedeutsame der Pflanzenmetamorphose« so Steiner in den »Einleitungen …« über den Typus, »liegt … nicht in der Entdeckung der einzelnen Tatsache, dass Blatt, Kelch, Krone usw. identische Organe seien, sondern in dem großartigen gedanklichen Aufbau eines lebendigen Ganzen durcheinander wirkender Bildungsgesetze, welcher daraus hervorgeht und der die Einzelheiten, die einzelnen Stufen der Entwicklung, aus sich heraus bestimmt [kurs. L.R.]«.

Ein solches lebendiges Ganzes »wirkender Bildungsgesetze, das die einzelnen Stufen der Entwicklung aus sich heraus bestimmt«, eine solche »Kraftwesenheit« lässt sich auch an der Erde beobachten. Sie geht ebenso wie die der Pflanze der sinnlich wahrnehmbaren Erde zeitlich voraus und treibt das, was an ihr wahrnehmbar ist, ihre einzelnen Entwicklungszustände, aus sich hervor. Die Erde besitzt wie die Pflanze, das Tier und der Mensch einen ätherischen oder elementarischen Leib. Wenn das übersinnliche Bewusstsein diesen elementarischen Leib der Erde beobachtet, dann »zeigt sich«, so die »Geheimwissenschaft im Umriss«, dass die Wahrnehmung dieses »Leibes« »durch sich selbst sich in zwei Bilder … zerlegt. Das eine Bild stellt sich dar als diejenige Gestalt, welche die Erde gehabt hat während ihrer Mondenentwickelung [jenem Metamorphosezustand, aus dem die heutige Erde hervorgegangen ist]. Das andere Bild aber zeigt sich so, dass man daran erkennt: dieses enthält eine Gestalt, welche noch im Keimzustande ist und welche erst in der Zukunft in dem Sinne wirklich werden wird, wie die Erde jetzt wirklich ist. Bei weiterer Beobachtung zeigt sich, dass in diese Zukunftsform fortwährend dasjenige einströmt, was sich in einem gewissen Sinne als Wirkung dessen ergibt, was auf der Erde geschieht. In dieser Zukunftsform hat man deshalb dasjenige vor sich, was aus unserer Erde werden soll. Die Wirkungen des Erdendaseins werden sich mit dem, was in der charakterisierten Welt geschieht, vereinigen, und daraus wird das neue Weltenwesen entstehen, in welches sich die Erde so verwandeln wird, wie sich der Mond [nicht der heutige Mond!] in die Erde verwandelt hat«. Auch hier also liegt die ätherische Kraftwesenheit jenseits von Vergangenheit und Zukunft, wird die Zeit zum Raum.

Das übersinnliche Wahrnehmen beschränkt sich aber nicht auf elementarische Wesen, die mit sinnlichen Körpern verbunden sind. Es sind auch rein ätherische Wesenheiten beobachtbar, »die sich nicht in einem sinnlichen Leib ausleben«. Die elementarische Welt umfasst mehr, als das, was sich von ihr in der sinnlichen Welt in Gestalt physischer Körper offenbart. Die spirituelle Ontologie kennt geistige Wesen, deren »Leib« nicht aus physischen Elementen, sondern aus ätherischer Substanz – aus Lichtäther – besteht. Zu diesen Wesen gehören bereits die Engel, die keinen physischen Leib besitzen, deren unterstes Wesensglied vielmehr der Ätherleib ist. (»In der elementarischen Welt treten der Menschenseele Wesen entgegen, welche innerhalb dieser Welt Kräfte und Fähigkeiten entwickelt haben, die der Mensch selbst nur dadurch entfalten kann, dass er außer seinem ätherischen Leibe und den anderen übersinnlichen Gliedern seiner Wesenheit noch den physischen Leib an sich trägt. Die Wesen, auf welche hier hingedeutet wird, haben keinen solchen physisch-sinnlichen Leib. Sie haben sich so entwickelt, dass sie durch ihren ätherischen Leib eine Seelenwesenheit haben, welche der Mensch durch den physischen Leib hat … In dieser Beziehung stehen diese Wesen in der Weltenordnung um eine Stufe höher als der Mensch … Sie bilden ein über dem Menschen stehendes Wesensreich, eine über ihm in der Stufenfolge der Wesen stehende Hierarchie.« GA 17).

Wie verhalten sich nun die metamorphotischen Gestalten der physischen Gebilde zu den Kraftgestalten der elementarischen Welt? Sie verhalten sich zu dieser wie Eisstücke, die im Wasser schwimmen. Die sinnliche Welt ist ein Teil der übersinnlichen Welt, der in die letztere eingebettet ist und aus ihr hervorgeht.

In der Vorrede zur Neuausgabe der »Grundlinien einer Erkenntnistheorie …« 1923 heißt es im Hinblick auf die naturwissenschaftliche Evolutionsvorstellung: »Die Entwickelung der Welt ist … so zu verstehen, dass das vorangehende Ungeistige, aus dem sich später die Geistigkeit des Menschen entfaltet, neben und außer sich [kurs. L.R.] ein Geistiges hat. Die spätere durchgeistigte Sinnlichkeit, in der der Mensch erscheint, tritt dann dadurch auf, dass sich der Geistesvorfahre des Menschen [kurs. L.R.] mit den unvollkommenen ungeistigen Formen vereint, und, diese umbildend, dann in sinnenfälliger Form auftritt« (GA 2).

Das Ungeistige, Stoffliche, Materielle, hat neben und außer sich ein Geistiges, das die Kraft besitzt, die ungeistigen Formen umzubilden, das als wirkende Kraft real, ja, realer sein muss, als das Ungeistige, dessen Wirklichkeit (Erscheinungsform) es bestimmt. Nicht aus dem Ungeistigen – durch Anpassung an die Umwelt oder Selektion – geht die »durchgeistigte Sinnlichkeit« des Menschen hervor, diese durchgeistigte Sinnlichkeit stellt vielmehr die Anpassung einer »ungeistigen Form« an die geistige Form des Menschen dar. In Wahrheit geht beides: der Leib des Lebewesens und seine Umwelt aus dem Äthermeer des lebendigen Ganzen »wirkender Bildungsgesetze« hervor. Dies ist, nebenbei bemerkt, Steiners Antwort auf die Frage nach der Wirksamkeit des Zufallsprinzips: nicht die Zufallsereignisse der Reproduktion bestimmen die organische Evolution, sondern das Organismus und Umwelt gemeinsame Telos, das ihrer »Koevolution« zugrunde liegt. Die Metapher der »Verdichtung« oder »Erstarrung« ist kein beliebiges Sprachbild, sondern bezeichnet genau den tatsächlichen Vorgang: so wie in der Embryonalentwicklung das Feste aus dem Flüssigen, der physische Leib, der sich bis zum Knochensystem verdichtet, aus der gallertartigen Masse der Eizelle hervorgeht, so geht alles Feste aus dem Flüssigen, das Mineralische aus dem Ätherischen hervor, das ein in sich sinnvoll geordnetes Ganzes ist, das wiederum von höheren, astralen und geistigen Urbildern gestaltet wird.

Steiner kommt in dieser dritten Meditation auch auf das Übersetzungsproblem zu sprechen, das uns bereits aus früheren Darstellungen bekannt ist. Wie früh er sich dieses Problems bewusst war – weit vor seiner Zeit als Lehrer der Esoterik nach der Jahrhundertwende – zeigt ein Brief, den der 20jährige an seinen Freund Josef Köck schrieb, in dem es heißt: »Den eigentlichen Begriff und das Wesen des Menschen macht aus: die Sehnsucht nach dem Absoluten, Ewigen, Unsterblichen. … Dem Absoluten allein kommt die höchste Wirklichkeit zu. Alles was nicht im Absoluten aufgeht, ist Schein, Täuschung, Irrtum, ›des Sterblichen Meinung‹, wie Parmenides sagte. Das Streben nach dem Absoluten, diese Sehnsucht des Menschen ist Freiheit. Jedes andere Ziel bringt Irrtum, Täuschung, Schein hervor … Der Schein muss zerstört, der Schleier gehoben werden, und die Wahrheit, die Gottheit steht vor uns; die Welt steht im neuen Lichte vor uns. Wie töricht waren wir, da wir das nicht erkannten. Mit der Willkür streifen wir auch alle uns noch anhaftenden Züge der seichten Weltanschauung ab; wir erkennen, dass wir uns missverstanden haben. Wir verstehen uns jetzt erst, wir verstehen Religion, Kunst und Philosophie in ihrem Zusammenhange. Wir streifen die gewöhnlichen landläufigen Anschauungen von Ewigkeit, Unendlichkeit ab und ein ganz neues Gebäude steht vor uns. Es geht uns der Sinn für eine Unendlichkeit auf, von der wir keine Ahnung hatten, ja nicht haben konnten. –

Dies sind alles keine Metaphern, sondern der höchste Ernst [kurs. L.R.]. – Das Fatale bei dem Niederschreiben der höchsten Wahrheiten ist nur das, dass man sich der gewöhnlichen Sprache bedienen muss [kurs. L.R.] und in dieser die Worte meist Zeichen für sinnliche Gegenstände sind, die Leute aber dann nur immer an das nächste denken, und von dem, was man sagen will, keine Ahnung bekommen. Manche kommen gar mit den Trivialitäten der Logik, ohne zu wissen, dass man mit diesem abgeschmackten und faden Formalismus alles mögliche beweisen kann. Und nun weiter. Nennen wir dieses Erkennen der höchsten Wahrheiten: das Zusammengehen des Menschen mit dem Absoluten, so finden wir, dass in diesem Zusammengehen seine höchste Freiheit erblüht.

Halten Sie das nicht für Schwärmerei und Irrtum, sondern für einen matten Abdruck von wirklichen Wahrheiten [kurs. L.R.] « (GA 38, 16.08.1881).

Beobachter des Übersinnlichen, so Steiner 1912, bedienen sich der Alltagssprache, die sich naturgemäß auf die sinnliche Welt bezieht. Ätherische Gebilde werden beispielsweise als »Lichtleiber« beschrieben, die in mannigfaltigen Farben »aufblitzen«, »glimmern« und »leuchten«. Und diese Farben- und Lichterscheinungen werden als »Lebensäußerungen« der betreffenden Gebilde dargestellt. Nun verhält sich das »Licht- und Farbenbild« zu dem, was wahrgenommen wird, wie die Schrift zu den Tatsachen, die durch sie mitgeteilt werden.

Nicht das gesprochene Wort, sondern die Schrift wird hier zum Vergleich herangezogen. Die visuellen Zeichen des geschriebenen Wortes repräsentieren das gesprochene Wort, dieses wiederum ist ein akustisches Zeichen, das eine Vorstellung, einen Gedanken oder eine Wahrnehmung repräsentiert. Zwischen der ursprünglichen Tatsache und ihrem Zeichen vermitteln also mindestens zwei Ebenen der Transposition oder Repräsentation.

Von der ursprünglichen Tatsache ist in ihrem Zeichen buchstäblich nichts enthalten – von der Materie oder der sinnlichen Erscheinung einer Linde geht nichts in das schriftförmige Zeichen ein, das sie repräsentiert, und doch repräsentiert dieses Zeichen unzweideutig das Bezeichnete. Jeder, der das betreffende Zeichen sieht und versteht, kann die entsprechende Vorstellung oder Wahrnehmung in seinem Bewusstsein aufrufen. Ja, selbst die Zeichen sind sich nicht gleich – was der Deutsche als »Linde« bezeichnet, kennt der Franzose unter dem Namen »tilleul« und der Engländer als »lime tree«. In ihrem jeweiligen kulturellen Kontext sind diese Zeichen dennoch der angemessene, unverwechselbare Ausdruck des Bezeichneten. Ebenso verhält es sich mit den Licht- und Farbenbildern, durch die übersinnliche Impressionen repräsentiert werden.

Vom Inhalt der Impressionen geht nichts in diese Bilder ein, und dennoch repräsentieren sie das Bezeichnete. Sie verhalten sich wie Spiegelbilder, bei welchen auch nichts vom sich Spiegelnden stofflich, materiell in das Bild eingeht, das Gespiegelte aber trotzdem im Bild anwesend ist. Abhängig ist die Form des Bildes nicht nur vom Inhalt, der sich spiegelt, sondern auch von der Beschaffenheit des Spiegels: Dreidimensionales erscheint in seiner Fläche im Schein der Räumlichkeit, Lebendiges im Toten im Schein des Lebendigen, Bewegtes als sich selbst Bewegendes usw. Daher ist die Bezeichnung, die für das Übersinnliche gewählt wird, auch nicht willkürlich. Denn es besteht eine »Ähnlichkeit« zwischen dem Bezeichneten und dem Bezeichnenden. Das übersinnliche Erlebnis ist dem entsprechenden Sinneseindruck ähnlich, weil es sich in diesem spiegelt.

Der Grund für diese Ähnlichkeit liegt laut Steiner darin, dass die Befreiung vom »sinnlichen Leib« im übersinnlichen Erleben »nicht vollständig« ist. Der Ätherleib ist in den »sinnlichen Leib« eingebettet und dieser »bringt das übersinnliche Erlebnis in eine sinnliche Form«. Die Beschreibung der übersinnlichen Beobachtung mutet daher wie eine »visionäre oder phantastische Zusammenstellung von Sinneseindrücken« an. Sie ist aber trotzdem die »wahre Wiedergabe des Erlebten«. »Man schildert nichts anderes, als was man geschaut hat«. Der Irrtum liegt demnach nicht in der Beschreibung des Bildes, sondern in seiner Deutung – und zwar dann, wenn sie das Bild mit dem Urbild verwechselt, auf das es lediglich hindeutet.

Würde ein »Blinder« übersinnliche Impressionen beschreiben, könnte er diese nicht als Farbenerscheinungen schildern. Er würde sich solcher »Empfindungsvorstellungen« bedienen, die ihm aufgrund seiner Wahrnehmungsorganisation zugänglich sind, also zum Beispiel von differenzierten Tastwahrnehmungen sprechen. Die Empfindungsvorstellungen, durch die übersinnliche Impressionen beschrieben werden, können sich – je nach kulturellem oder individuellem Kontext – so unterscheiden, wie die unterschiedlichen Wortbezeichnungen »tilleul« oder »Linde«, sie verweisen aber trotzdem auf ein und denselben Erlebnisinhalt. Entscheidend ist, sich aufgrund der Schilderungen Vorstellungen darüber zu bilden, was geschaut wird. Der sinnliche Leib »kleidet« die übersinnlichen Beobachtungen »in sinnliche Formen« und die Mitteilung der übersinnlichen Beobachtungen »durch die von ihnen erzeugten Sinnesbilder« ist »zunächst« legitim. Wesentlich sind nicht die sinnlichen – symbolischen – Bilder, in welche die übersinnlichen Erlebnisse gekleidet werden, sondern die Erlebnisse, die durch sie in der Seele hervorgerufen werden. Diese Erlebnisse beziehen sich auf Übersinnliches, da die symbolischen Bilder ihre Form aus dem Übersinnlichen erhalten, und in der sinnlichen Welt gar nicht vorkommen (Vgl. dazu die Ausführungen über den Aufbau von Sinnbildmeditationen am Beispiel des Rosenkreuzes in der »Geheimwissenschaft im Umriss«).

Hier fügt Steiner zwei aufschlussreiche Bemerkungen an: Je weiter sich nämlich das hellseherische Vermögen entwickelt, um so größer wird das Bedürfnis, »mehr willkürliche Darstellungsmittel für das Geschaute zu ersinnen. Bei diesen ergibt sich dann immer die Notwendigkeit, erst die gewissen Zeichen, deren man sich bedient, zu erklären«. Andererseits besteht die Notwendigkeit, der Zeitkultur übersinnliche Erkenntnisse bekannt zu machen, und diese Notwendigkeit zieht die andere nach sich, diese Erkenntnisse durch die Ausdrucksmittel des alltäglichen Lebens zu beschreiben. Mit anderen Worten: dass übersinnliche Erkenntnisse mit Hilfe »sinnlicher Empfindungsvorstellungen« beschrieben werden, liegt nicht in der Logik dieser übersinnlichen Erkenntnis, die vielmehr dahin tendiert, »willkürliche Darstellungsmittel« für das Geschaute zu ersinnen, sondern in der Logik der »Zeitkultur«, des Alltagsbewusstseins, auf das diese Mitteilungen zugeschnitten werden müssen. Aus diesem »Bedürfnis« der hellseherischen Erkenntnis erklären sich die unterschiedlichen Darstellungen identischer Sachverhalte im Werk Rudolf Steiners, wofür nicht zuletzt die hier behandelten Schriften ein Beispiel sind.

Schließlich lassen sich zwei Entwicklungsstufen der hellseherischen Erkenntnis unterscheiden: eine solche, auf der übersinnliche Erlebnisse »gnadenhaft« in das gewöhnliche Seelenleben hereinleuchten und eine zweite, auf der sie »willkürlich« hervorgerufen werden. Letztere ist anzustreben, erstere lediglich ein Übergangszustand, der sich aus leicht einsehbaren Gründen noch nicht für systematische Forschung eignet. Aber weder der »brennende Wusch« nach solchen Erlebnissen, noch ein Desinteresse an ihnen ist der Entwicklung des hellseherischen Vermögens förderlich. Der brennende Wunsch legt sich »wie ein Nebel vor das leibfreie Schauen« und das Desinteresse führt dazu, dass die übersinnlichen Erlebnisse, wenn sie denn tatsächlich auftreten, der Aufmerksamkeit entgehen.

Nun kommt Steiner noch auf ein weiteres eigentümliches Erlebnis des Geistesschülers zu sprechen. Wer die Fähigkeit der willkürlichen Hellsicht erlangt, steht zunächst einer undifferenzierten Welt geistiger Impressionen gegenüber, die sich mehr in einem »allgemeinen Gefühl« als in konkreten Wahrnehmungen äußert. Man empfindet, als »schiebe sich etwas« aus einer unbekannten Welt ins Bewusstsein herein, über das man sich jedoch keine Vorstellungen bilden kann. Man erlebt zwar etwas, vermag das Erlebte aber nicht in Begriffe oder Bilder zu fassen. Der Grund für dieses Unvermögen liegt darin, dass der »physisch-sinnliche Leib« die Bildung solcher Vorstellungen verhindert. Nur durch fortgesetzte meditative Übung lernt man allmählich, den Widerstand des Leibes zu überwinden.

Was sich der Bildung von Vorstellungen übersinnlicher Erlebnisse entgegenstellt, ist die mangelnde Eignung des »physischen Verstandesapparats«, der habituell lediglich Vorstellungen erzeugen kann, die sich auf sinnliche Wahrnehmungen beziehen. Der Verstandesapparat muss »bearbeitet« werden, damit er diese zusätzliche Fähigkeit in sich aufnimmt. Der angehende Hellseher gleicht einem Kind, das seinen »Verstandesapparat« erst am Erleben der Außenwelt entwickeln muss, damit es sich Vorstellungen von dieser Außenwelt bilden kann. Nur dass ersterer seinen »Vorstellungsapparat« durch meditative Arbeit umbildet, um ihm einen neuen Habitus einzuprägen, durch den er auch übersinnliche Inhalte in sein Vorstellungsleben aufzunehmen vermag.

In der »Philosophie der Freiheit« greift Steiner 1918 in einem Zusatz zur Neuausgabe im 9. Kapitel dieses Motiv auf, wenn er über die zweifache Funktion des »Wesenhaften, das im Denken« wirkt, spricht. Es drängt die Leibesorganisation in ihrer Eigentätigkeit zurück und setzt sich selbst an deren Stelle: »Dem Wesenhaften, das im Denken wirkt, obliegt ein Doppeltes: Erstens drängt es die menschliche Organisation in deren eigener Tätigkeit zurück, und zweitens setzt es sich selbst an deren Stelle. Denn auch das erste, die Zurückdrängung der Leibesorganisation, ist Folge der Denktätigkeit. Und zwar desjenigen Teiles derselben, der das Erscheinen des Denkens vorbereitet. Man ersieht aus diesem, in welchem Sinne das Denken in der Leibesorganisation sein Gegenbild findet. Und wenn man dieses ersieht, wird man nicht mehr die Bedeutung dieses Gegenbildes für das Denken selbst verkennen können. Wer über einen erweichten Boden geht, dessen Fußspuren graben sich in dem Boden ein. Man wird nicht versucht sein, zu sagen, die Fußspurenformen seien von Kräften des Bodens, von unten herauf, getrieben worden. Man wird diesen Kräften keinen Anteil an dem Zustandekommen der Spurenformen zuschreiben. Ebensowenig wird, wer die Wesenheit des Denkens unbefangen beobachtet, den Spuren im Leibesorganismus an dieser Wesenheit einen Anteil zuschreiben, die dadurch entstehen, dass das Denken sein Erscheinen durch den Leib vorbereitet.«

Träger des Denkens ist jener Teil des Ätherleibes, dessen Tätigkeit sich an der Nerven-Sinnes-Organisation spiegelt. Der Ätherleib des Menschen ergießt sich in den physischen Leib, den er aufgebaut hat und nimmt dessen Form an (so wie der Fluss die Form des Bettes annimmt, das er geformt hat und weiterhin formt; zum Fluss wird er erst durch das Bett, das er geformt hat) – darauf deutet die Formulierung, der sinnliche Leib »kleide« die übersinnlichen Beobachtungen »in sinnliche Formen«. Die Zurückdrängung des Einflusses der Nervenorganisation auf das Denken erfolgt durch den Astralleib, der im Ätherleib Bewusstsein erzeugt, während das Ich sich mit den von ihm hervorgebrachten Denkinhalten an die Stelle des Zurückgedrängten setzt. Der »Vorstellungs- oder Verstandesapparat« ist demnach der am physischen Leib gespiegelte Ätherleib, dessen lebendige Urbildprozesse gewohnheitsmäßig, habituell an den Sinneswahrnehmungen herabgelähmt werden. Die Meditation zielt darauf ab, die Tätigkeit des Ätherleibs vom Spiegelungsorgan des physischen Leibes unabhängig zu machen, was zur Wahrnehmung der lebendigen, in sich bewegten, kraftenden Bilder führt, aus welchen der »Bildekräfteleib« oder Ätherleib besteht.

Seit Beginn der Neuzeit, so Steiner 1921, denke der Mensch mit den Kräften, die der Ätherleib in den physischen Leib »hineinsende«, um in diesem einen »Siegelabdruck«, ein »Schattenbild« seiner Tätigkeit zu erzeugen, während in der Zeit davor der Denkprozess als ätherischer Prozess unmittelbar erlebt wurde. »Der Mensch muss sich bewusst werden, dass er in seinem modernen Denken ein Schattenbild hat, und dass dieses Schattenbild nicht Schattenbild bleiben darf, dass dieses Schattenbild, das das moderne Denken ist, belebt werden muss, damit es Imagination werden kann. Es ist immer ein Versuch, das moderne Denken zur Imagination zu machen, was zum Beispiel zutage tritt in einem solchen Buch wie in meiner ›Theosophie‹ oder wie in meiner ›Geheimwissenschaft im Umriß‹, wo eben überall in das Denken hinein die Bilder getrieben werden, damit das Denken zur Imagination, also wiederum zum Leben aufgerufen werde. Es würde sonst die Menschheit vollständig veröden. Wir könnten vertrocknete Gelehrsamkeit weit verbreiten, aber diese vertrocknete Gelehrsamkeit würde nicht zum Wollen sich aufraffen und nicht entflammen können, wenn in dieses schattenhafte Denken, in dieses Denkgespenst, das in der neueren Zeit eben in die Menschheit hereingekommen ist, nicht wiederum das imaginative Leben einziehen würde« (29.04.1921, GA 204).

Wer den Inhalt der Geisteswissenschaft in die Form der »vertrockneten Gelehrsamkeit«, der »Denkgespenster« der neueren Zeit gießt, entkleidet ihn gerade des Wesentlichen, das ihn von dieser Gelehrsamkeit unterscheidet. Wesentlich an diesem Inhalt ist nicht, wodurch er sich an die »vertrocknete Gelehrsamkeit« anlehnt oder für diese akzeptabel ist, sondern dass er die »Schattenbilder« des Denkens in Imaginationen umwandelt, durch die das Denken wieder zum »Leben« aufgerufen wird.

»Dies sind alles keine Metaphern, sondern der höchste Ernst«, schrieb Steiner, wie zitiert, 1881, »manche kommen gar mit den Trivialitäten der Logik, ohne zu wissen, dass man mit diesem abgeschmackten und faden Formalismus alles mögliche beweisen kann«, – der »fade Formalismus der Logik« und die »vertrocknete Gelehrsamkeit« sind ebenso durchgehende Motive seiner Erkenntniserfahrung, wie der »Schein«, der »zerstört«, der »Schleier«, der »gehoben« werden muss, damit die Welt »in neuem Lichte« vor dem Menschen ersteht, und »die Wahrheit«, »die Gottheit« erkannt wird.

1893 heißt es im letzten Kapitel der »Philosophie der Freiheit«: »Das Denken zerstört den Schein des Wahrnehmens und gliedert unsere individuelle Existenz in das Leben des Kosmos ein«, das Denken als »absolute Kraft«, das zwar vom Menschen ergriffen, aber nicht in seinem »Zentrum«, sondern in seiner Peripherie erfasst wird. Von der Peripherie zum Zentrum führt der Weg der Initiation, der an der Peripherie – als Einweihung des Denkens – beginnt, aber nicht bei dieser endet.

1901 heißt es unter Berufung auf Meister Eckhart in »Die Mystik im Aufgang …«: »Die Seele, die verstrickt ist in die Sinnenwelt und damit in die Endlichkeit, hat als solche den Inhalt des Urwesens nicht schon in sich. Sie muss ihn in sich erst entwickeln. Sie muss sich als Einzelwesen vernichten. In treffender Weise charakterisiert der Meister Eckhart diese Vernichtung als ›Entwerdung‹. ›Wenn ich komme in den Grund der Gottheit, so fragt mich niemand, wannen ich komme und wo ich gewesen, und niemand vermisset mich, denn hier ist eine Entwerdung.‹ Deutlich spricht über dieses Verhältnis auch der Satz: ›Ich nimm ein Becken mit Wasser und lege darin einen Spiegel und setze es unter das Rad der Sonne. Die Sonne wirft aus ihren lichten Schein in den Spiegel und vergehet doch nicht. Das Widerspiegeln des Spiegels in der Sonne ist Sonne in der Sonne, und der Spiegel ist doch, das er ist. Also ist es um Gott. Gott ist in der Seele mit seiner Natur und in seinem Wesen und seiner Gottheit, und er ist doch nicht die Seele. Das Widerspiegeln der Seele in Gott ist Gott in Gott, und die Seele ist doch, das sie ist.‹

Die Seele, die sich der inneren Erleuchtung hingibt, erkennt nicht bloß in sich das, was sie vor der Erleuchtung war; sondern sie erkennt das, was sie erst durch diese Erleuchtung wird. ›Wir sollen mit Gott vereinigt werden wesentlich; wir sollen mit Gott vereinigt werden einiglich; wir sollen mit Gott vereinigt werden gänzlich. Wie sollen wir wesentlich mit Gott vereinigt werden? Das soll geschehen an der Schauung und nicht an der Wesung. Sein Wesen mag nicht unser Wesen werden, sondern soll unser Leben sein.‹ Nicht ein schon vorhandenes Leben – eine Wesung – soll im logischen Sinne erkannt werden; sondern das höhere Erkennen – die Schauung – soll selbst Leben werden; das Geistige, das Ideelle soll von dem schauenden Menschen so empfunden werden, wie von der individuellen Menschennatur das gewöhnliche, alltägliche Leben empfunden wird«.

Von dieser Umwandlung des Denkens in ein Erleben des Geistes ist auch in »Das Christentum als mystische Tatsache … « 1902 im Zusammenhang mit der Einweihung die Rede: »Wer allein dem Sinnlichen gegenüber mit lebendigen Empfindungen und Gefühlen dasteht, der sieht in dem Höheren eine Fata Morgana, ein ›bloßes‹ Phantasiegebilde. Seine Gefühle sind eben nur auf das Sinnliche hingeordnet. Er greift ins Leere, wenn er die Geistesgebilde fassen will. Sie ziehen sich vor ihm zurück, wenn er nach ihnen tasten will. Sie sind eben ›bloße‹ Gedanken. Er denkt sie; er lebt nicht in ihnen. Bilder sind sie ihm, unwirklicher als hinhuschende Träume. Als Schaumgebilde steigen sie auf, wenn er sich seiner Wirklichkeit gegenüberstellt; sie verschwinden gegenüber der massiven, in sich fest gebauten Wirklichkeit, von der ihm seine Sinne mitteilen. – Anders der, welcher seine Empfindungen und Gefühle gegenüber der Wirklichkeit verändert hat. Für den hat diese Wirklichkeit ihre absolute Standfestigkeit, ihren unbedingten Wert verloren. Nicht stumpf brauchen seine Sinne und seine Gefühle zu werden. Aber sie fangen an, an ihrer unbedingten Herrschaft zu zweifeln; sie lassen Raum für etwas anderes. Die Welt des Geistes fängt an diesen Raum zu beleben«.

Ähnlich, wie die Beobachtung des Denkens in der »Philosophie der Freiheit« zur Einsicht führt, dass »das Wesenhafte, das im Denken wirkt«, die Leibesorganisation zurückdrängt, »um sich selbst an deren Stelle zu setzen«, ruft die fortgesetzte Meditation die Empfindung hervor, dass die Tätigkeit der Seele formend auf den »Leib« des Meditierenden einwirkt. Zunächst setzt der Leib dieser umbildenden Tätigkeit Widerstand entgegen. Aber der Widerstand muss überwunden, der »Gegendruck des Leibes«, der sich wie ein »Fremdkörper« anfühlt, »zurückgedrängt« werden. Allmählich passt sich der Verstandesapparat dem Erleben der Seele an. Zuletzt fühlt man ihn überhaupt nicht mehr, dafür tritt die übersinnliche Welt im Blickfeld auf: so wie man das Auge nicht wahrnimmt, das die Farbenwelt sieht, muss auch der Leib unsichtbar werden, damit die Seele die übersinnliche Welt »sehen« kann.

Die »willkürlichen« hellseherischen Erlebnisse sind eben deswegen willkürlich, weil sie stets von neuem willentlich hervorgerufen werden können – ja hervorgerufen werden müssen, da sie nur vorhanden sind, wenn sie aktiv hervorgebracht werden. Allerdings ist auch dazu Übung und Geduld erforderlich. Anfangs drängen sich übersinnliche Erlebnisse auf, die man nicht selbst herbeiführt. Erst nach und nach vermag man den geistigen Blick gezielt auf Gegenstände zu lenken, die man auch tatsächlich erforschen will.

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wird fortgesetzt

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