Mythos, Metapher und Imagination. Über die Realität der geistigen Welt

Zuletzt aktualisiert am 23. Mai 2019.

Symbol oder Realität? Hierarchien in traditioneller Darstellung

Symbol oder Realität? Hierarchien in traditioneller Darstellung

Das folgende Zwiegespräch bezieht sich auf die Rezensionen zu den beiden Bänden der kritischen Steinerausgabe, die bisher von Christian Clement herausgegeben worden sind. Die Rezensionen »Dynamit, das dogmatische Bastionen sprengt« und »Die Anthroposophie – ein ›Rückfall‹ in den Mythos« wurden im anthroblog veröffentlicht. Christian Clement wurde zu diesem Gespräch eingeladen, konnte aber aus Zeitgründen nicht daran teilnehmen.

Christoph Hueck:

Lieber Herr Ravagli. Zuerst einmal herzlichen Dank für Ihre ausführliche Besprechung der SKA 7, zu der ich einige Anmerkungen machen möchte. Ich bin mir nicht sicher, wie berechtigt Ihre Kritik ist. Spricht Clement wirklich von einem »Rückfall« in den Mythos?«

Die Frage nach den vom Menschen unabhängigen Geistwesen scheint methodisch von zentraler Bedeutung zu sein. Meint Clement es tatsächlich so, dass die Hierarchien nur im Menschen real wären? (Sobald man von »im« Menschen spricht, impliziert man ja ein »außer« und damit einen Dualismus – was Clement gerade nicht tut – siehe die Einleitung zu SKA 5.) Sie schreiben ja später auch, »dass die Anthroposophie versucht, die Intuition, die im Ich an diesem Ich erlebt wird, auf den gesamten Weltinhalt auszuweiten und dadurch diesen so zu erkennen, wie sich das Ich erkennt.« So verstehe ich Clement auch. Er meint das eigene Wesen als Weltwesen, also das Ich ausgegossen über alle Dinge, die Dinge »im« Ich erlebt, wie es Rudolf Steiner für die intuitive Erkenntnis beschrieb: »Das Ich hat sich ergossen über alle Wesen; es ist mit ihnen zusammengeflossen. Das Leben der Dinge in der Seele ist nun die Intuition« (GA 12, S. 22). Liegt nicht in der Formel Ich = Welt, Welt = Ich die einzig mögliche Überwindung des Dualismus? (Wenn auch das kleine, gespiegelte Ich dafür zum großen erweitert werden muss, was, wenn überhaupt, dann zunächst nur punktuell geschehen kann und was immer ein hin- und herschwingender, atmender Prozess bleiben wird).

Und gibt es tatsächlich »vom Menschen unabhängige objektive Daseinsformen«? Ich meine, die gibt es nur für das gewöhnliche Bewusstsein, für das initiierte (intuitive) nicht mehr. Zur Unterscheidung von Begriffsintuition und Wesensintuition – die ich im Prinzip sehr erhellend finde – scheint mir die Frage wichtig, ob nicht beiden ein ähnliches Willens-Erlebnis, das Einswerden mit dem Wesen, zugrunde liegt. Einen Kreis verstehe ich, wenn ich ihn innerlich nachschaffe, einen Stein ebenso. Dann werde ich geistig aber auch eins mit dem jeweils schaffenden Wesen. Schließlich auch die Frage nach den Inhalten geistiger Erlebnisse (Hüter, Chakren). Sie schreiben, dass sie »reale Wahrnehmungen« sind. Ja! Aber wie können wir uns solche Wahrnehmungen vorstellen, z.B. das Verhältnis von Wahrgenommenem und Wahrnehmenden?

Für mich bedeuten diese Fragen die innere Richtung, in der ich nach dem Geist suche. Suche ich »außerhalb« meiner selbst, oder »innerhalb«? Wenn ich »innen« suche, dann geht die Reise sozusagen zu einem Punkt zurück, wo ich und die Objekte noch nicht getrennt sind. Im normalen Bewusstsein ist dieser Punkt unbewusst, weil ich in diesem Bewusstsein nur in der Subjekt-Objekt-Trennung wach sein kann. Im Punkt der Einheit – der Intuition – sind die Dinge von derselben Geist-Wesenhaftigkeit wie ich selbst; es gibt in diesem Punkt keinen Unterschied mehr zwischen mir und dem Wesen der Dinge, es gibt »mich« nicht mehr im Sinne einer abgegrenzten Entität. Für mich ist dieses mystische Erlebnis in dem Christus-Wort »Ich und der Vater sind eins« in allerhöchster Form ausgedrückt. Ich meine, dass dieses intuitive Einssein immer da ist, jedem Erkennen zugrunde liegt, aber eben unbewusst bleibt, weil es das gewöhnliche Ich erschlagen, zerquetschen würde. Einweihung wäre dann das Aufwachen dafür. In einem Artikel in der Vierteljahresschrift vom letzten Sommer (»Natur, dein mütterliches Sein, ich trage es in meinem Willenswesen« – ein Beitrag zur Überwindung der Subjekt-Objekt-Spaltung. Anthroposophie, S. 105-119, Johanni 2014) habe ich versucht, das möglichst genau zu beschreiben, und vor allem auch auf die Seelenfähigkeiten Vorstellen, Fühlen und Wollen zu beziehen. Durch das Vorstellen trenne ich mich von den vorgestellten Inhalten, im wollenden Hervorbringen bin ich mit ihnen geistig eins. Nur im Vorstellen bin ich zunächst wach, im Willen schlafend (die träumende Zwischenstufe des Fühlens vermittelt das mitfühlende Verstehen der Dinge).

Lorenzo Ravagli:

Schon in Band 5 der SKA hat Clement Formulierungen verwendet, die darauf hindeuten, dass er die steinersche »Esoterik« als eine Veranschaulichung philosophischer Ideen betrachtet. Zum Beispiel:

»Die steinersche Esoterik kann als eine zum Zweck der Anschaulichkeit vorgenommene ideelle Umstülpung seiner Philosophie verstanden werden, in welcher dasjenige, was zuvor Inneres war, als Äußeres angeschaut wird, und umgekehrt.«

In SKA 7 schreibt er über Steiners Ausführungen zu Kundalinilicht und Kundalinifeuer und den Chakren in »Wie erlangt man…«: »Diese Konzeption ist aber in ihrem Kern nichts anderes als die schon bei Fichte zu findende und auch Steiners ›Philosophie der Freiheit‹ prägende Dialektik von Erkenntnis und Liebe. Auch hier erweist sich somit die anthroposophische Esoterik wieder als Verbildlichung philosophischer Konzeptionen.« (S. LX)

An anderer Stelle: »Der sogenannte ›Astralleib‹ und die darin sich bildenden ›Chakren‹ … sind für Steiner somit letztlich bloße Visualisierungen bzw. Imaginationen, in denen seelische und geistige (und somit immaterielle) Phänomene in sinnliche Bilder gekleidet und so dem Meditierenden und dem Leser vorstellbar gemacht werden.» (S. LVII)

Besonders deutlich wird die Tendenz aber in den von mir zitierten Ausführungen:

»Während Steiner also 1902 vorhandene Mythen aus bewusstseinsphilosophischer Perspektive nur interpretierte, kreiert er hier gewissermaßen selbst einen Mythos, um das seelisch-geistige Erleben des menschlichen Selbst im übersinnlichen Bewusstsein anschaulich und lebendig werden zu lassen …«. (S. 319)

»Schon an früherer Stelle hatte Steiner die inneren Gesetzmäßigkeiten der geistigen Welt durch den Gebrauch einer mythologischen Redeweise zu verdeutlichen gesucht und von ›höheren Wesenheiten‹ gesprochen … In der Geheimwissenschaft von 1910 werden diese vereinzelten Versuche dann zur grundlegenden Methodik, indem Steiner in seiner Schilderung der Kosmogenese unter Rückgriff auf christliche und theosophische Hierarchienmodelle ein ganzes System geistiger Wesen einführt, mit deren Hilfe er die am evolutiven Geschehen im Kosmos beteiligten Kräfte und Prozesse zu konkret-greifbaren Vorstellungen verdichtet. In dieser Hinsicht kann die Anthroposophie insgesamt als Versuch einer Erneuerung mythischen Denkens in der Moderne aufgefasst werden. An anderer Stelle hat er jedoch diese mythologisierende Sprechweise zurückgenommen und etwa das karmische Geschehen als nicht von ›Wesen‹ und ›Mächten‹, sondern von unpersönlichen ›Kräften‹ bzw. ›Gesetzen‹ geleitet beschrieben … So schwankt die anthroposophische Darstellungsart oft zwischen mythisch-bildlicher und wissenschaftlich-abstrakter Rede«. (S. 321)

Kurz darauf: »Was vorher in einer mythologisch-verdinglichenden Weise als ›Wesen‹ oder ›Mächte‹ dargestellt worden war …, erscheint hier in einer moderneren und wissenschaftlichen Form, nämlich als ›Kräfte‹ bzw. ›Gesetze‹, welche hinter dem menschlichen Karma stehen.« (S. 328)

Immer wieder kehren diese Formulierungen bei Clement wieder: Verbildlichung, Visualisierung, Veranschaulichung, Verdeutlichung. Was gemeint ist, machen Wendungen wie »bloße Visualisierungen«, »nichts anderes als« besonders deutlich. Wenn ein Autor behauptet, etwas sei »nichts anderes als«, ist erhöhte Aufmerksamkeit geboten, weil sich darin meist eine unzulässige Identifikation oder Reduktion verbirgt. Clement hält das Sprechen von geistigen Wesen, von Astralleib usw. für weniger wissenschaftlich, für weniger modern, als die rein philosophisch-abstrakte Redeweise. Insofern tatsächlich ein »Rückschritt«. Steiner selbst sah darin aber einen Fortschritt, ein Weiter- und Hinaufschreiten.

Ich nehme also an – auch aufgrund dessen, was ich in meiner Rezension zu SKA 5 herausgearbeitet habe – dass Clement in der Hierarchienwelt, in den gesamten Inhalten der Anthroposophie, in denen Steiner so richtig esoterisch geworden ist, nichts als Veranschaulichungen und Allegorisierungen von Vorgängen sieht, die man entweder auch rein philosophisch erkennen oder zum Ausdruck bringen kann. Ich erinnere an Steiners Ausführungen in »Mein Lebensgang« zu seinem Vortrag »Goethes geheime Offenbarung«: »Und in diesem Vortrag wurde ich in Anknüpfung an das Märchen ganz esoterisch. Es war ein wichtiges Erlebnis für mich, in Worten, die aus der Geistwelt heraus geprägt waren, sprechen zu können, nachdem ich bisher in meiner Berliner Zeit durch die Verhältnisse gezwungen war, das Geistige nur durch meine Darstellungen durchleuchten zu lassen.«

Aber sehen wir einmal von Clement ab.

Wie ist Steiner selbst zu verstehen? Vielleicht müssen wir die genetische und die systematische, die ontologische und die logische Perspektive unterscheiden. Würde man behaupten, die gesamte »Geheimwissenschaft im Umriss« enthielte nichts als Vorgänge, die sich im Bewusstsein Steiners abgespielt hätten, und diese Prozesse bezögen sich nicht auf etwas, das auch unabhängig von diesem Bewusstsein Bestand hätte, wäre die logische Folge, dass die Welt aus Steiners Bewusstsein entstanden ist. Denn, was er hier als Alten Saturn, Alte Sonne, als Archai, Exusiai, Throne usw. schildert, existierte alsdann ja nur in seinem Bewusstsein und alles, was aus dem Wirken der Hierarchien hervorgegangen sein soll, existierte auch nur in seinem Bewusstsein. Steiner wäre also Gott. Oder er hätte eine überaus reiche, lebendige Phantasie. Warum sollten wir uns aber dann mit ihm weiter beschäftigen? Er wäre so oder so nichts weiter als ein Kuriosum der Weltgeschichte. Und was wäre denn jetzt, nachdem dieses Bewusstsein nicht mehr vorhanden ist? Oder bringt er immer noch die Welt hervor, auch nachdem er gestorben ist?

Zwar sind all diese Vorgänge erst durch sein erkennendes Bewusstsein für uns zugänglich geworden, weil er sie erforscht und dargestellt hat, aber sie existieren – zweifellos auch nach Steiners Auffassung – auch unabhängig von diesem Erkennen – insbesondere, da sie dieses Erkennen überhaupt erst ermöglicht haben. Die menschliche Erkenntnisorganisation, die den Weltprozess erkennen kann, muss ja zuerst durch diesen Weltprozess entstanden sein, damit sie sich auf ihn zurückwenden und erkennen kann, wie sie entstanden ist. Es wäre aber ein Irrtum, anschließend zu behaupten, dieses Erkennen, das das Ergebnis des Weltprozesses ist (laut »Philosophie der Freiheit«, das letzte das entstanden ist), hätte diesen Weltprozess, also die Voraussetzungen und Bedingungen seiner Möglichkeit hervorgebracht. Vielmehr hat das Geistige, das »neben und außer dem Ungeistigen« existiert, aus dem diese Organisation hervorgegangen ist, diese hervorgebracht.

Wendet man Clements These auf das erkennende Bewusstsein des Menschen im allgemeinen an, würde sie zur Konsequenz führen, dass jedes einzelne erkennende Bewusstsein alles hervorbringt, was es erkennt, einschließlich der Voraussetzungen seiner Erkenntnisorganisation und damit würden wir tatsächlich bei einem radikalen Solipsismus landen, denn es gäbe so viele Welten, wie es erkennende Bewusstseine gibt oder bei einer Form des Monadismus, sofern all diese Welten in einer Art von prästabilierter Harmonie übereinstimmen.

Das »Gegebene« ist aber nicht von uns hervorgebracht, wir müssen es als Gegebenes annehmen, aufnehmen und erkennend durchdringen. Zu diesem Gegebenen gehört auch unsere Leibesorganisation, die das Erkennen erst möglich und nötig macht. Hinter dem Gegebenen verbirgt sich die gesamte Evolution, der Weltprozess, der Schöpfungsprozess, der zu dieser Leibesorganisation als objektiver Prozess hingeführt hat, damit durch sie ein individueller Menschengeist diesen Weltprozess und die schöpferischen Mächte erkennen kann, die ihn ermöglicht haben.

Natürlich spielt sich der ganze Weltprozess im Bewusstsein ab, wenn es diesen erkennt, aber ist deshalb dieser Weltprozess nur ein Bewusstseinsvorgang?

Dabei ginge die objektive Seite dieses Prozesses verloren. Vom Menschen »unabhängige Daseinsformen oder Geistwesen« wären dadurch obsolet, denn es handelte sich stets nur um »Projektionen« des Menschen, der nicht erkennt, dass es sich um »Projektionen« handelt.

Wenn sich das menschliche Ich zum Weltinhalt erweitern soll, dann muss ein solcher Weltinhalt doch überhaupt erst einmal vorhanden sein.

Die »Philosophie der Freiheit« frägt zwar nicht danach, wie dieser Weltinhalt entstanden ist, die »Geheimwissenschaft im Umriss« aber sehr wohl. Insofern ist die »Geheimwissenschaft« die notwendige Ergänzung der »Philosophie der Freiheit«, weil sie die von dieser ausgeklammerte Frage beantwortet.

Sind Sie denn der Auffassung, dass das initiierte Bewusstsein die Engelwesen, die es erkennt, als Wesen in ihrem Sein hervorbringt?

Oder ist es nicht vielmehr so, dass es durch seine Erkenntnistätigkeit die Bedingungen schafft, dass diese in ihm erscheinen können? Dass es zum Beispiel die tätigen Organe erzeugt, damit diese in imaginativer Form – als Bilder – erscheinen können? Wohl ist das Geistige, das ich erkenne, Wesen von meinem Wesen, aber es ist nichtsdestotrotz Wesen, Wesen, das in seinem Sein aus sich selbst besteht – und nicht aus mir.

Das gilt ja auch schon für die von uns erkannten Gesetze. Wir schaffen nicht das Dreiecksgesetz, es beruht auf sich selbst. Wir schaffen es lediglich in unserem Denken nach, das in seinem Vollzug sich diesem Gesetz hingeben muss, wenn es dieses seinem Wesen entsprechend denken soll. Und so verhält es sich mit allen geistigen Weltinhalten, abgesehen von unserem eigenen Ich, das wir tatsächlich selbst schaffen, indem wir es erkennen. Deswegen ist die Intuition des Ich auch die »einzige wirkliche Intuition«, die der Mensch im gewöhnlichen Bewusstsein haben kann.

Christoph Hueck:

Lieber Herr Ravagli, Sie schreiben, »dass Clement in der Hierarchienwelt, in den gesamten Inhalten der Anthroposophie, in denen Steiner so richtig esoterisch geworden ist, nichts als Veranschaulichungen und Allegorisierungen von Vorgängen sieht, die man entweder auch rein philosophisch erkennen oder zum Ausdruck bringen kann.«

Gut, das kann man Clement vorhalten, und »nichts als« ist immer einseitig. Man könnte – mit mehr Berechtigung! – anders herum argumentieren, dass die philosophischen Darstellungen Steiners »nichts als« geistige Erlebnisse im idealistischen Gewand waren. Ich würde Clement aber zugute halten, dass er durch seine Rückführung der Esoterik auf die Philosophie eine Brücke baut, auf der man sich der Esoterik vom philosophischen Bewusstsein aus annähern kann. »Die Philosophie der Freiheit« und »Theosophie« führen ja, wie Steiner schrieb, zum gleichen Ziel: »Wer noch auf einem anderen Wege die hier dargestellten Wahrheiten suchen will, der findet einen solchen in meiner ›Philosophie der Freiheit‹. In verschiedener Art streben diese beiden Bücher nach dem gleichen Ziele.« (Vorrede zur 3. Aufl. »Theosophie«)!

Die Frage ist: Wie stellen wir uns solche geistigen Erlebnisse vor? In der Theosophie gibt es dazu einige schöne Hinweise. »Man stellt sich oft unwillkürlich die ›höheren Organe‹ als zu ähnlich den physischen vor. Man sollte sich aber klarmachen, das› man es mit geistigen oder seelischen Gebilden in diesen Organen zu tun hat. Man darf deshalb auch nicht erwarten, dass dasjenige, was man in den höheren Welten wahrnimmt, etwa nur eine nebelhaft verdünnte Stofflichkeit sei. Solange man so etwas erwartet, wird man zu keiner klaren Vorstellung von dem kommen können, was hier mit ›höheren Welten‹ eigentlich gemeint ist.« (S. 94) Und S. 120: »Vor allen Dingen muss betont werden, dass diese Welt aus dem Stoffe (auch das Wort ›Stoff‹ ist natürlich hier in einem sehr uneigentlichen Sinne gebraucht) gewoben ist, aus dem der menschliche Gedanke besteht.«

Es geht nun m.E. gerade darum, eine klare Vorstellung von dem zu gewinnen, was mit höheren Welten gemeint ist.

Zu Ihrer Aussage: »Würde man behaupten, die gesamte »Geheimwissenschaft im Umriss« enthielte nichts als Vorgänge, die sich im Bewusstsein Steiners abgespielt hätten, und diese Prozesse bezögen sich nicht auf etwas, das auch unabhängig von diesem Bewusstsein Bestand hätte, wäre die logische Folge, dass die Welt aus Steiners Bewusstsein entstanden ist

Ich denke selbstverständlich NICHT, dass sich die Kosmogenese »nur« in Rudolf Steiners Bewusstsein abgespielt habe.

Zu Ihrer Aussage: »Clements These jedoch läuft letztlich darauf hinaus, dieses Geistige für nichtexistent zu erklären.«

Das Geistige war zuerst da. Genauer: der geistige Mensch, in der christlichen Esoterik umfassend als »Vater, Sohn und Geist« bezeichnet. Daraus ist alles entstanden, zuletzt das Erkennen. Das Erkennen hat den Weltprozess und die Leibesorganisation also natürlich nicht hervorgebracht. Aber das Geistige, das ihn hervorgebracht hat, spiegelt sich im diesem Erkennen und wird sich so seiner selbst bewusst. Es ist dieselbe Kraft und Wesenheit, die im Aufbau des Leibes und im Erkennen wirkt.

Zu Ihrer Aussage: »Das ›Gegebene‹ ist aber nicht von uns hervorgebracht, wir müssen es als Gegebenes annehmen, aufnehmen und erkennend durchdringen.«

Ja, das gilt für das gewöhnliche, gespiegelte Bewusstsein. Im initiierten (intuitiven) Bewusstsein, das vor der Spiegelung am Leib bewusst wird, ist man mit dem Weltprozess eins (was, das sei hier nur angedeutet, einen anderen Zeitbegriff erfordert, wenn man das Weltwerden verstehen will).

Ich glaube, dass wir es mit einer Stufenleiter von Bewusstseinsformen zu tun haben. Alles, was Sie schreiben, gilt aus der Perspektive des gegenständlichen Bewusstseins. Im Intuitiven sind Ich und Welt, Welt und Ich – auch in ihrem Werden – eins. (Dazwischen stehen noch die Stufen der Inspiration und Imagination.)

Ebenso gibt es eine Stufenleiter des Ich. Alles, was Sie schreiben gilt aus der Perspektive des kleinen, leibgespiegelten Ich. Das große, wesenhafte Ich ist aber die Welt selbst.

Zu Ihrer Aussage: »Natürlich spielt sich der ganze Weltprozess im Bewusstsein ab, wenn es diesen erkennt, aber ist deshalb dieser Weltprozess nur ein Bewusstseinsvorgang?«

Nein.

Zu Ihrer Aussage: »Dabei ginge die objektive Seite verloren. Vom Menschen ›unabhängige Daseinsformen oder Geistwesen‹ wären dadurch obsolet, denn es handelte sich stets nur um ›Projektionen‹ des Menschen, der nicht erkennt, dass es sich um ›Projektionen‹ handelt.«

Projektion ist nach Clement dann gegeben, wenn das Ich eine (geistige oder physische) Außenwelt postuliert, die es von sich als wesenhaft getrennt ansieht (also eine materielle Natur oder einen jenseitigen Schöpfergott), mit deren Wesen es aber in Wahrheit eins ist. Nicht die Selbsterkenntnis des Seinsgrundes im menschlichen Bewusstsein ist Projektion, sondern das Verlegen dieses Seinsgrundes in eine vom Ich getrennte Weltensphäre. Im waldorfblog schrieb Clement: ›Diese … Konzeption [des ideogenetischen Grundgesetzes] besagt, dass sämtliche Formen, welche die Wirklichkeit im Bewusstsein des Menschen annimmt, nicht als Repräsentationen einer vom innersten Wesen des Menschen substantiell getrennten bzw. verschiedenen ›Außenwelt‹ zu verstehen sind, sondern vielmehr als Repräsentationen bzw. Manifestationen des absoluten, in der menschlichen Erkenntnis sich selbst entwickelnden Weltwesens.‹ (http://waldorfblog.wordpress.com/2014/11/21/ideologische-vs-ideogenetische-steiner-deutung/)

Projektion in diesem Sinne ist, wenn ich mir denke, dass das Wesen der Welt ›da draußen‹ ist und nicht zu mir gehört. Aber ich brauche diese Projektion zunächst, um mich als selbstständiges Ich finden zu können. Initiation heißt, bewusst zu erfahren, dass Ich und Welt in Wahrheit doch eins sind. Erkenntnisse über den Geist (oder die Natur) sind, so Clement, ›Manifestationen des absoluten, in der menschlichen Erkenntnis sich selbst entwickelnden [und sich selbst begegnenden] Weltwesens‹. Das wahre, aber für das gewöhnliche Bewusstsein notwendig unbewusste Wesen des Ich ist das Wesen der Welt. Ich finde, dass man Steiners Leitidee so sehr gut in philosophischen Begriffen zusammenfassen kann.

Zu Ihrer Aussage: »Wenn sich das menschliche Ich zum Weltinhalt erweitern soll, dann muss ein solcher Weltinhalt doch überhaupt erst einmal vorhanden sein.«

Ja, ganz richtig. Nur: Das Ich war ursprünglich dieser Weltinhalt – und ist es geistig gesehen (nachts, nachtodlich, in der Intuition) immer noch. Gerade das ist ja der wichtige, weiterführende Gedanke!

Zu Ihrer Frage: »Sind Sie denn der Auffassung, dass das initiierte Bewusstsein die Engelwesen, die es erkennt, als Wesen in ihrem Sein hervorbringt?«

Nein.

Zu Ihrer Aussage: »Wohl ist das Geistige, das ich erkenne, Wesen von meinem Wesen, aber es ist nichtsdestotrotz Wesen, Wesen, das in seinem Sein aus sich selbst besteht – und nicht aus mir.«

»Mir«, das wäre wieder das kleine Ich, für das ich Ihnen voll zustimme.

Zu Ihrer Aussage: »Deswegen ist die Intuition des Ich auch die ›einzige wirkliche Intuition‹, die der Mensch im gewöhnlichen Bewusstsein haben kann.«

Rudolf Steiner sagt doch im Bologna-Vortrag: Das Ich ist in Wirklichkeit in den Weltgesetzen, ist eins mit ihnen.

Lorenzo Ravagli:

Lieber Herr Hueck, Sie schreiben: »Man könnte – mit mehr Berechtigung! – anders herum argumentieren, dass die philosophischen Darstellungen Steiners nichts als geistige Erlebnisse im idealistischen Gewand waren. Ich würde Clement aber zugute halten, dass er durch seine Rückführung der Esoterik auf die Philosophie eine Brücke baut, auf der man sich der Esoterik vom philosophischen Bewusstsein aus annähern kann.«

»Geistige Erlebnisse in idealistischem Gewand«: bei dieser Interpretation würde man außerdem mit Steiner übereinstimmen, der 1907 an Edouard Schuré über die »Einleitungen zu Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften« schrieb: »Wer diese Einführungen liest, wird darin schon die theosophischen Ideen in dem Gewande eines philosophischen Idealismus finden können« sowie über seine Tätigkeit vor der Jahrhundertwende: »Und die hinter mir stehenden okkulten Mächte gaben mir nur den einen Rat: ›Alles in dem Kleide der idealistischen Philosophie‹«. –

Was die Rückführung der Esoterik auf die Philosophie und den Bau einer Brücke von dieser zur Esoterik anbetrifft, so stellt sich mir die Frage, ob die Anthroposophie einer solchen Brücke überhaupt bedarf. Nach Steiners Selbstverständnis stellte die Anthroposophie selbst – so wie er sie dargestellt hat – bereits eine solche Brücke dar. Die Darstellung der Anthroposophie ist im Prinzip eben diese Brücke zur Welt der Esoterik, sie ist nicht die Esoterik selbst, da diese erst mit der geistigen Erfahrung beginnt. Die dargestellte Anthroposophie ist nicht die Erfahrung selbst, sondern die systematisierte Schilderung dieser Erfahrung. Insofern könnte man sagen, die gesamte Darstellung der Anthroposophie sei eine einzige »Metapher« der Esoterik. Wie wir aus »Von Seelenrätseln« wissen, fasste Steiner seine Anthroposophie als »Philosophie über den Menschen« auf, die sich aus der Begegnung zwischen Sinnes- und Geisteswissenschaft ergibt. Wir hätten es also in der Anthroposophie mit einer Philosophie oder einer Esoterik in philosophischem Gewand zu tun. Und in der »Geheimwissenschaft im Umriss« sprach er ausdrücklich davon, er habe die übersinnliche Erkenntnis in Gedankenformen gegossen, die dem gewöhnlichen Denken und dem gesunden Verstand verständlich seien: »Aber dem unbefangenen nicht-schauenden Bewusstsein ist das Geschaute voll verständlich, wenn es der Schauende bis in die Gedankenform hineinbringt. Es ist verständlich, wie dem Nicht-Maler das fertige Bild des Malers verständlich ist. Und zwar ist das Verständnis der Geist-Welt nicht das künstlerisch-gefühlsmäßige wie bei einem Kunstwerk, sondern ein durchaus gedankenmäßiges wie der Naturerkenntnis gegenüber.

Um aber ein solches Verständnis wirklich möglich zu machen, muss der Darsteller des geistig Geschauten seine Schauungen bis zu einem richtigen Hineingießen in Gedankenform bringen, ohne dass sie innerhalb dieser Form ihren imaginativen Charakter verlieren. Das stand alles vor meiner Seele, als ich meine ›Geheimwissenschaft‹ ausarbeitete.«

Wozu benötigt die Anthroposophie also eine Brücke?

Außerdem müsste eine solche Brücke auch auf den richtigen Kontinent führen, und nicht ins Leere. Wenn aber meine Vermutung zutrifft, Clement habe die esoterische Erfahrung zu einer Allegorie einer abstrakten Begriffswelt umgedeutet, dann führt diese Brücke tatsächlich ins Leere …

Sie fragen: »Wie stellen wir uns solche geistigen Erlebnisse vor?« Und zitieren aus Steiners Theosophie: »Man stellt sich oft unwillkürlich die ›höheren Organe‹ als zu ähnlich den physischen vor. Man sollte sich aber klarmachen, daß man es mit geistigen oder seelischen Gebilden in diesen Organen zu tun hat. Man darf deshalb auch nicht erwarten, dass dasjenige, was man in den höheren Welten wahrnimmt, etwa nur eine nebelhaft verdünnte Stofflichkeit sei.«

Dieser Hinweis ist sicher wichtig. Was bedeutet das aber für unser Verständnis? Das führt auf ein Problem, das ich als »Übersetzungsproblem« bezeichne. In welche Sprache soll man Erfahrung übersetzen, um sie mitteilbar zu machen? In den »Grundlinien …« heißt es schön: »Das Denken ist der Dolmetsch, der die Gebärden der Erfahrung deutet«, – aber wer ist der Dolmetsch des Denkens?? In welches Symbolsystem übersetzen wir die vom Denken gedeuteten Gebärden? In die Alltagssprache, eine künstliche Symbolsprache? Welche ist am angemessensten, welche am verständlichsten?

Und behauptet Steiner, die Organe, von denen er spricht, seien nicht vorhanden oder stellten keine Realität dar, nur weil man sie sich oft unwillkürlich zu ähnlich den physischen vorstelle? Und »zu ähnlich« heißt nicht: »überhaupt nicht ähnlich«.

In »Wie erlangt man …« verwendet Steiner zahlreiche Begriffe, um hellseherische Erfahrungen zu beschreiben. Welche davon sind Metaphern, welche nicht? Und in welchem Sinn? Wenn man genauer hinsieht, bezeichnet er nicht alle diese Begriffe als Metaphern, sondern nur bestimmte. So spricht er zum Beispiel vom »Seelenorganismus« und von »Seelenorganen«, die er auch als »Sinnesorgane« der Seele bezeichnet. Handelt es sich dabei um Metaphern? Oder sind es nicht adäquate Ausdrücke, um ein zusammenhängendes, selbstorganisiertes, in sich differenziertes Gebilde, das auf seinen eigenen Gesetzen beruht und aus einer gewissen Summe gesetzmäßig wirkender Kräfte besteht, zu bezeichnen? Natürlich kennen wir »Organismus«, »Organe« und »Sinne« zunächst nur aus der sinnlichen Wahrnehmungswelt, aber deren Begriffe sind übersinnlich. Wer sagt denn, dass sich der Begriff des Organismus nur am physischen Leib des Menschen oder eines anderen Lebewesens individualisieren lässt und dass er nicht auch auf eine übersinnliche Wahrnehmung anwendbar ist?

Interessant ist die Art, wie Steiner die »Chakren« einführt. Zunächst spricht er davon, der Hellseher könne »gewisse Gebilde im Seelenorganismus wahrnehmen«. Dieser selbst nehme sich »wie eine Art selbstständiger Leib« aus. Also schon hier: »wie eine Art Leib«, ähnlich dem Leib. Die Geheimkundigen würden die Gebilde (»Seelenorgane«) als Chakrams oder »Lotusblumen« bezeichnen. »Sie heißen so wegen der Ähnlichkeit mit Rädern oder Blumen; doch muss man sich natürlich darüber klar sein, dass ein solcher Ausdruck nicht viel zutreffender ist, als wenn man die beiden Lungenteile ›Lungenflügel‹ nennt. Wie man sich hier klar ist, dass man es nicht mit ›Flügeln‹ zu tun hat, so muss man auch dort nur an eine vergleichsweise Bezeichnung denken.«

Es ist also nicht unberechtigt, diese Organe als »Blumen« oder »Räder« zu bezeichnen, denn es besteht tatsächlich eine »Ähnlichkeit« mit Blumen oder Rädern – die hellseherisch wahrgenommenen Gebilde müssen also gewisse Eigenschaften besitzen, die die Anwendung dieser Metaphern auf sie gerechtfertigt erscheinen lassen. Das tertium comparationis könnte hier zum Beispiel die »Gliederung«, die »regelmäßige Anordnung«, die »Ausbreitung um ein Zentrum herum« sein – aber auch weitere Eigenschaften, wie zum Beispiel den Blütenfarben entsprechende Impressionen usw. Damit verhält es sich wie mit den »Lungenflügeln«. Steiner sagt hier: der Ausdruck »Blumen« sei nicht zutreffender als »Lungenflügel« für die beiden »Lungenteile«. (Die Engländer sind hier nüchterner, sie sagen: »left lung, right lung«; die Franzosen sagen »lobe de poumon«, also Lungenlappen.) Aber der Ausdruck Lungenflügel ist nicht unzutreffend! Wenn man sich die beiden Lungen ansieht, wie sie mit der Luftröhre verbunden sind, drängt sich der Vergleich mit Flügeln – eines Schmetterlings z.B. – geradezu auf. Prosaisch sprechen wir von »Teilen«. Aber ist dieser Ausdruck zutreffender? Handelt es sich um Teile eines Organs? Oder nicht vielmehr um Lappen? Ist der Ausdruck »Teil« im Grunde nicht genau so metaphorisch wie Flügel? Sind nicht alle Worte – oder Symbolsysteme – lediglich Chiffren für Erfahrungen?

Müssen wir uns also vorstellen, die von Steiner beschriebenen »Gebilde« seien gerade das alles nicht, als was er sie beschreibt? Oder sollten wir uns nur einfach der Tatsache bewusst sein, dass es sich um Vergleiche handelt, die eine wenigstens einigermaßen annähernde Vorstellung dieser Gebilde vermitteln, als Substitute für Erfahrungen, bevor wir diese selbst haben? So wie eine Reise auf der Landkarte ein Substitut für die reale Erfahrung der Landschaft und ihrer Bewohner ist, die wir erleben, wenn wir die Reise tatsächlich antreten? Aufgrund einer Wanderkarte können wir uns eine ziemlich genaue Vorstellung von den Steigungen, Neigungen, Profilen, den Wasserläufen, der Bewaldung eines Gebietes bilden – aber den geplanten Weg zu erwandern, ist eine allsinnliche Erfahrung, der kein Substitut gleichzusetzen ist.

Zu meiner Aussage: »Das ›Gegebene‹ ist aber nicht von uns hervorgebracht, wir müssen es als Gegebenes annehmen, aufnehmen und erkennend durchdringen« schreiben Sie:

Ja, das gilt für das gewöhnliche, gespiegelte Bewusstsein. Im initiierten Bewusstsein, das vor der Spiegelung am Leib bewusst wird, ist man mit dem Weltprozess eins (was, um das Weltwerden zu verstehen, einen anderen Zeitbegriff erfordert).

Ich glaube, dass wir es mit einer Stufenleiter von Bewusstseinsformen zu tun haben. Alles, was Sie schreiben, gilt aus der Perspektive des gegenständlichen Bewusstseins. Im Intuitiven sind Ich und Welt, Welt und Ich – auch in ihrem Werden – eins. (Dazwischen stehen noch die Stufen der Inspiration und Imagination.)

Auch in der Geisterkenntnis gibt es ein Gegebenes, das allerdings vom Menschen als Angeschautes, allgemeiner: als Erfahrungsinhalt mit hervorgebracht wird. Hier können wir wieder auf die geistige Welt des reinen Denkens rekurrieren.

Im zweiten Zusatz zur Neuausgabe der »Philosophie der Freiheit« 1918 schreibt Steiner: »Was als Wahrnehmung auftritt, das muss der Mensch auf seinem Lebenswege schlechterdings erwarten. Es könnte sich nur fragen: darf aus dem Gesichtspunkte, der sich bloß aus dem intuitiv erlebten Denken ergibt, berechtigt erwartet werden, dass der Mensch außer dem Sinnlichen auch Geistiges wahrnehmen könne? Dies darf erwartet werden. Denn, wenn auch einerseits das intuitiv erlebte Denken ein im Menschengeiste sich vollziehender tätiger Vorgang ist, so ist es andererseits zugleich eine geistige, ohne sinnliches Organ erfasste Wahrnehmung. Es ist eine Wahrnehmung, in der der Wahrnehmende selbst tätig ist, und es ist eine Selbstbetätigung, die zugleich wahrgenommen wird. Im intuitiv erlebten Denken ist der Mensch in eine geistige Welt auch als Wahrnehmender versetzt. Was ihm innerhalb dieser Welt als Wahrnehmung so entgegentritt wie die geistige Welt seines eigenen Denkens, das erkennt der Mensch als geistige Wahrnehmungswelt. Zu dem Denken hätte diese Wahrnehmungswelt dasselbe Verhältnis wie nach der Sinnenseite hin die sinnliche Wahrnehmungswelt. Die geistige Wahrnehmungswelt kann dem Menschen, sobald er sie erlebt, nichts Fremdes sein, weil er im intuitiven Denken schon ein Erlebnis hat, das rein geistigen Charakter trägt. Von einer solchen geistigen Wahrnehmungswelt sprechen eine Anzahl der von mir nach diesem Buche veröffentlichten Schriften.«

Wir bringen also im Denken Wahrnehmungen hervor: dennoch beruhen diese Wahrnehmungen auf sich selbst, sie stellen in sich bestimmte, gesetzmäßig strukturierte Inhalte dar, die wir uns durch unsere Denktätigkeit zum Bewusstsein bringen. Wir bringen die Inhalte nicht ihrem Wesen nach hervor, sondern wir bringen sie zur Erscheinung, wir geben ihnen nicht ihre Existenz, weil sie bereits existieren, bevor sie in unser Bewusstsein eintreten, wir geben lediglich der besonderen Form ihrer Erscheinung eine Existenz. Ebenso mit geistigen Wahrnehmungen: wir bringen nicht die Inhalte als Wesen hervor (also z.B. einen Engel, weil dieser bereits existiert, bevor wir ihn in unser Bewusstsein rufen), sondern wir bringen ihre besondere Erscheinungsform hervor, z.B. die imaginative, durch die tätigen Organe unserer Seele. Darauf, dass wir sie hervorbringen, beruht übrigens der Unterschied zwischen Imaginationen und Visionen: letztere sind uns einfach gegeben, während wir bei ersteren den Anteil kennen, den unsere Tätigkeit an ihrer Hervorbringung hat. Und dann müssen wir auch noch die subjektive von der objektiven Imagination unterscheiden – in der ersteren kleiden wir ein Wesen in ein Gewand, das wir ihm selbst geben, in der letzteren kleidet es sich in ein Gewand, durch das es selbst sein Wesen zum Ausdruck bringt.

Das Bewusstsein ist nicht nur in unserem leibgestützten Alltagszustand ein gespiegeltes: es ist auch in der Imagination und in der Inspiration noch gespiegelt, im Grunde selbst noch in der Intuition. In der Imagination spiegelt sich die Tätigkeit des Ich am Astralleib, in der Inspiration am Ätherleib, in der Intuition findet zwar eine Wesensdurchdringung statt, aber hier spiegelt sich Wesen in Wesen, Ich in Ich – vermutlich spielt dabei allerdings auch die »geistige Form des physischen Leibes« eine Rolle. Gäbe es keine solche Spiegelung, würde das Bewusstsein des Erkennenden im Erkannten untergehen, erlöschen. Das wäre dann eine unio mystica, aber keine Erkenntnis, sondern das Ende aller Erkenntnis.

Sie zitieren Clements ideogenetisches Gesetz: »Diese … Konzeption besagt, dass sämtliche Formen, welche die Wirklichkeit im Bewusstsein des Menschen annimmt, nicht als Repräsentationen einer vom innersten Wesen des Menschen substantiell getrennten bzw. verschiedenen ›Außenwelt‹ zu verstehen sind, sondern vielmehr als Repräsentationen bzw. Manifestationen des absoluten, in der menschlichen Erkenntnis sich selbst entwickelnden Weltwesens.«

Also: »die Wirklichkeit« nimmt Formen »im menschlichen Bewusstsein« an. Welche Wirklichkeit? Eine vorausgesetzte Wirklichkeit? Diese Wirklichkeit ist nicht eine »vom innersten Wesen des Menschen getrennte Außenwelt«. Unterscheidet sich hier das »innerste Wesen« des Menschen vom »menschlichen Bewusstsein«? Das »absolute Weltwesen entwickelt sich in der menschlichen Erkenntnis«: entwickelt es sich auch außerhalb der menschlichen Erkenntnis? Also zeitlich vor dieser zum Beispiel – um das menschliche Erkennen durch Entwicklung (Evolution) zu ermöglichen? Gibt es Seins- oder Ermöglichungsbedingungen des menschlichen Erkennens (so wie sie in der »Geheimwissenschaft im Umriß« im Teil die »Weltentwicklung und der Mensch« beschrieben werden)?

Sie schreiben zu meiner Aussage: »Wenn sich das menschliche Ich zum Weltinhalt erweitern soll, dann muss ein solcher Weltinhalt doch überhaupt erst einmal vorhanden sein«:

Ja, ganz richtig. Nur: Das Ich war ursprünglich dieser Weltinhalt – und ist es geistig gesehen (nachts, nachtodlich, in der Intuition) immer noch. Gerade das ist ja der wichtige, weiterführende Gedanke!

Hier ist die Frage, von welchem Ich eigentlich die Rede ist. Steiner spricht ja gelegentlich auch von einem siebenfachen oder sogar 49fachen Ich. Welches »Ich« also meinen wir, wenn wir sagen: »Das Ich war ursprünglich der Weltinhalt«. Sprechen wir dann vom »Welten-Ich« oder vom »menschlichen«? Wie kann das menschliche Ich ursprünglich der Weltinhalt gewesen sein, wenn es aus diesem Weltinhalt auf der Erde überhaupt erst entstanden ist? Vom Welten-Ich lässt sich gewiss sagen, dass es ursprünglich der Weltinhalt war bzw. ist. Aber das menschliche Ich soll doch erst diesen in sich aufnehmen und zu ihm werden. Oder sprechen wir vom »höheren Ich« des Menschen? Was genau ist aber dieses höhere Ich? – Interessante Forschungsfragen!

Zu meiner Aussage: »Deswegen ist die Intuition des Ich auch die ›einzige wirkliche Intuition‹, die der Mensch im gewöhnlichen Bewusstsein haben kann« schreiben Sie:

»Bologna sagt doch: Das Ich ist in Wirklichkeit in den Weltgesetzen, ist eins mit ihnen.«

Das ist ein interessanter Hinweis. Der Text des Bolognavortrages lautet: »Es soll der Einfachheit halber zunächst hier auf den Inhalt der Weltgesetzlichkeit verwiesen werden, insofern dieser in mathematischen Begriffen und Formeln ausdrückbar ist. Der innere gesetzmäßige Zusammenhang der mathematischen Formeln wird innerhalb des Bewusstseins gewonnen und dann auf die empirischen Tatbestände angewendet. Nun ist kein auffindbarer Unterschied zwischen dem, was im Bewusstsein als mathematischer Begriff lebt, wenn dieses Bewusstsein seinen Inhalt auf einen empirischen Tatbestand bezieht; oder wenn es diesen mathematischen Begriff in rein mathematischem abgezogenen Denken sich vergegenwärtigt. Das heißt aber doch nichts anderes als: das Ich steht mit seiner mathematischen Vorstellung nicht außerhalb der transzendent mathematischen Gesetzmäßigkeit der Dinge, sondern innerhalb. Und man wird deshalb zu einer besseren Vorstellung über das ›Ich‹ erkenntnistheoretisch gelangen, wenn man es nicht innerhalb der Leibesorganisation befindlich vorstellt, und die Eindrücke ihm ›von außen‹ geben lässt; sondern wenn man das ›Ich‹ in die Gesetzmäßigkeit der Dinge selbst verlegt, und in der Leibesorganisation nur etwas wie einen Spiegel sieht, welcher das außer dem Leibe liegende Weben des Ich im Transzendenten dem Ich durch die organische Leibestätigkeit zurückspiegelt. Hat man sich einmal für das mathematische Denken mit dem Gedanken vertraut gemacht, dass das ›Ich‹ nicht im Leibe ist, sondern außerhalb desselben und die organische Leibestätigkeit nur den lebendigen Spiegel vorstellt, aus dem das im Transzendenten liegende Leben des ›Ich‹ gespiegelt wird, so kann man diesen Gedanken auch erkenntnistheoretisch begreiflich finden für alles, was im Bewusstseinshorizonte auftritt.« –

Das Wesen, das in der Weltgesetzlichkeit lebt und sich an der Leibesorganisation spiegelt, ist wohl das »wahre« Ich des Menschen – bewusst wird dieses wahre oder wirkliche Ich allerdings nur in seiner gespiegelten Form. Das gewöhnliche Alltagsbewusstsein ist das Ergebnis dieser Spiegelung. Das Denken ergreift die Gesetzmäßigkeit der Welt und lebt in ihr, diese erscheint lediglich als abstraktes Gesetz im Bewusstsein, nicht als wirkendes Gesetz, so wie es im »Transzendenten webt«. Die wirkenden Gesetze wiederum sind Wesenheiten. –

Etwas später fügt Steiner hinzu: »In wachem Zustande ist der menschliche Wesenskern der physischen Organisation so eingefügt, dass er durch sein dynamisches Verhältnis zu dieser sich in ihr spiegelt; im Schlafzustande ist die Spiegelung aufgehoben. Da nun das gewöhnliche Bewusstsein im Sinne der hier gemachten erkenntnistheoretischen Erwägungen nur durch die Spiegelung (durch die gespiegelten Vorstellungen) ermöglicht ist, so hört es während des Schlafzustandes auf. Die Seelenverfassung des Geistesforschers kann nur so verstanden werden, dass in ihr die Illusion des gewöhnlichen Bewusstseins überwunden ist, und dass ein Ausgangspunkt des Seelenlebens gewonnen wird, der den menschlichen Wesenskern real in freier Loslösung von der Leibesorganisation erlebt. Alles weitere, was dann durch Übungen erreicht wird, ist nur ein tieferes Hineingraben in das Transzendente, in welchem das Ich des gewöhnlichen Bewusstseins wirklich ist, obgleich es sich als solches nicht in demselben weiß.« –

Mit anderen Worten: Die Seelenverfassung des Geistesforschers unterscheidet sich von dem gewöhnlichen Bewusstsein insofern, als bei ersterem der »menschliche Wesenskern« leibfrei ist, ohne sein Bewusstsein zu verlieren und sich der Organe der Erkenntnis – der Chakren oder Lotusblumen – bedient, die zuvor in der seelischen Organisation entwickelt wurden. Mit Hilfe dieser Erkenntnisorgane »gräbt« sich der Geistesforscher tiefer in das Transzendente hinein, von dem das gewöhnliche Bewusstsein nichts weiß und denkt die Weltgesetze nicht nur, sondern »schaut« ihnen in ihrem Wirken zu, um schließlich auf der intuitiven Stufe mit ihnen erkennend eins zu werden. Trotz allem »steht« das transzendente Ich »innerhalb« der Gesetzmäßigkeit der Dinge, es ist nicht einfach mit dieser Gesetzmäßigkeit identisch (es ist nicht die Gesetzmäßigkeit der Welt, sondern steht in ihr). Wäre das Ich mit der wirkenden Gesetzmäßigkeit der Schwerkraft identisch, wesenseins, dann müsste es dieselben Wirkungen wie die Schwerkraft hervorrufen können.

Christoph Hueck:

Lieber Herr Ravagli,

vielen Aspekten Ihrer Antwort auf meine kritischen Anmerkungen stimme ich zu. Ich möchte allerdings auf einen Punkt noch etwas eingehen. Sie fragen: Wozu benötigt die Anthroposophie die Brücke der Philosophie? Nun, äußerlich betrachtet einfach deshalb, weil auch die Philosophie ein Zugang zur Anthroposophie sein kann. Beide beschäftigen sich mit existentiellen Lebensfragen. Bei aller möglichen Kritik an einzelnen Aussagen Christian Clements kann man sich doch nur freuen, wenn auch Philosophen beginnen, sich mit Rudolf Steiner auseinanderzusetzen! Wie oft hört man anthroposophischerseits die Klage, dass Steiner in philosophischen Handbüchern nicht vorkomme – das ist jetzt hoffentlich bald vorbei.

Aber es gibt auch innere Gründe für den Zusammenhang zwischen Philosophie und Anthroposophie. Warum begann Rudolf Steiner nicht gleich mit der Anthroposophie, sondern drückte sich erst philosophisch aus? Es gibt dafür sicher wichtige zeithistorische und karmische Gründe in Steiners Biographie. Vom Standpunkt eines heutigen »Geistesschülers« aus gesehen ist das Studium der philosophischen Schriften Steiners aber eine Schulung. Es ist Teil des geisteswissenschaftlichen Schulungsweges, und zwar ein sehr wirksamer. Denn es geht um die Ausbildung einer Fähigkeit, die Steiner seelische Beobachtung nennt. Man kann natürlich auch direkt mit dem Studium der »Geheimwissenschaft« beginnen. Hat man sich aber anhand der »Philosophie der Freiheit« das intuitiv erlebte Denken als einen »im Menschengeiste sich vollziehenden tätigen Vorgang«, der zugleich »eine geistige, ohne sinnliches Organ erfasste Wahrnehmung« ist, in seelischer Beobachtung erarbeitet, so hat man eine Methode, auf deren sicherem Boden man sich dann die Anthroposophie als deren Inhalte erarbeiten kann (und die durch »Wie erlangt man …« zu erweitern und vertiefen ist). In der »Philosophie der Freiheit« schrieb Steiner: »Wer sich zum wesenhaften Denken hinwendet, der findet in demselben sowohl Gefühl wie Willen, die letzteren auch in den Tiefen ihrer Wirklichkeit« (Die Philosophie der Freiheit. Dornach 1978, S. 143.). Dieser Hinweis wird für den Geistesschüler bedeutungsvoll, wenn er in »Goethes Weltanschauung« liest: »Das Sehen mit Geistes-Augen führt zur Anschauung der Vorgänge im menschlichen Bewusstsein, zur Beobachtung der Gedanken-, Gefühls- und Willenswelt« (Goethes Weltanschauung, Dornach 1990, S. 156). (Wobei damit Vorgänge gemeint sind, die zwar »im« Bewusstsein zu beobachten sind, die aber Welt zum Inhalt haben.)

Das Studium der »Philosophie der Freiheit« ermöglicht schließlich ein Verständnis für die hier diskutierte Problematik der Ich-Welt-Identität. Denn »das gemeinsame Urwesen, das alle Menschen durchdringt, ergreift der Mensch in seinem Denken« (S. 250). Steiner schreibt sogar, ich dürfe »niemals sagen, dass mein individuelles Subjekt denkt; dieses lebt vielmehr selbst von des Denkens Gnaden« (S. 60). Nehmen wir noch die Aussage aus den »Grundlinien« dazu, dass »das Denken das Wesen der Welt ist und das individuelle menschliche Denken die einzelne Erscheinungsform dieses Wesens«, so wird die Bedeutung des Denkens als eines Wesens, das Einzel-Ich und Welten-Ich ist, vollkommen klar. Es ist dazu allerdings nötig, den Begriff des Denkens tiefer (nämlich auch fühlend und wollend) aufzufassen, als das oft geschieht. Aber gerade diese tiefere Auffassung des Denkens, sein intuitives Erleben, kann eine Brücke zwischen Philosophie und Anthroposophie bilden.

Lorenzo Ravagli:

Lieber Herr Hueck,

ich stimme Ihnen vollkommen zu. Sowohl historisch als auch systematisch stellt die Philosophie eine Brücke zur Anthroposophie dar. Steiner trat zuerst als Philosoph auf – wenn auch zweifellos als erleuchteter Philosoph im Sinne Platos oder Schellings – und sowohl biographisch als auch geistesgeschichtlich kann man den Weg von der Philosophie zur Anthroposophie rekonstruieren. Und systematisch – vom Begründungszusammenhang her – fußt die Anthroposophie ebenfalls auf Philosophie, ganz abgesehen davon, dass das »reine Denken«, das an der Philosophie – zumindest an einer bestimmten Form von Philosophie – geübt werden kann, einen integralen Bestandteil des esoterischen Schulungsweges darstellt.

Die »anthroposophische Arbeit« hat lange Zeit darunter gelitten, dass dieser Zusammenhang nicht genügend gewürdigt wurde, auch wenn er immer wieder von einzelnen betont worden ist, zum Beispiel von Carl Unger oder Herbert Witzenmann. Die Tendenz, die Bedeutung des (philosophischen) Denkens für die Anthroposophie zu unterschätzen, hat zum Dogmatismus in der anthroposophischen Bewegung erheblich beigetragen. Als Herausgeber des »Jahrbuchs für anthroposophische Kritik« (1993-2004) habe ich darauf genügend hingewiesen. Die Ausführungen von Clement haben mich aber darauf aufmerksam gemacht, dass auch eine andere Gefahr besteht: die der Nivellierung des Unterschieds zwischen Philosophie und Anthroposophie nämlich. Und die Wahrnehmung dieses Problems hat mich zu meinen kritischen Nachfragen veranlasst, die natürlich die Bedeutung der von ihm geleisteten Arbeit keineswegs in Abrede stellen oder schmälern wollen.

Ihr Hinweis auf das »gemeinsame Urwesen, das alle Menschen durchdringt«, von dem in der »Philosophie der Freiheit« die Rede ist, hat mich an ein Aperçu erinnert, das an einer entlegenen Stelle in der Literatur zu finden ist. In Thomas Meyers Dokumentation über die Zusammenarbeit zwischen Walter Johannes Stein und Rudolf Steiner (1985) ist ein Aufsatz Steins aus dem Jahr 1924 wieder abgedruckt, in dem letzterer von einem Gespräch mit Steiner berichtet. Stein erzählt: »Da durfte ich an Rudolf Steiner einmal die Frage richten nach diesem Wesen [dem gemeinsamen Urwesen], und er gab mir zur Antwort: ›Das ist eine Art Gruppenseele der Menschheit, das ist der älteste der Archai, der eben auf dem Wege ist, ein Geist der Form zu werden‹« (S. 284).

Hier haben wir es mit einem schönen Beispiel einer Übersetzung einer philosophischen in eine geisteswissenschaftliche Aussage zu tun. Aus philosophischer Perspektive kann man zur Einsicht gelangen, dass das menschliche Denken ein »gemeinsames Urwesen ist, das alle Menschen durchdringt«, dass es das geistige Gemeinsamkeitswesen aller denkenden Menschen ist. Um was für ein Wesen es sich dabei handelt, wird man philosophisch allerdings schwerlich erkennen können. Indem Steiner den geisteswissenschaftlichen Blick auf dieses Wesen richtet, erfährt der philosophische Begriff des »Wesens«, der sich der Empirie des Denkens bis zu einem gewissen Grad erschließt, eine ungeahnte Vertiefung und Konkretisierung. Es handelt sich tatsächlich um ein Wesen und zwar ein hierarchisches Wesen, einen Zeitgeist, an dessen Substanz wir Menschen, insofern wir denken, Anteil haben. Das ist die spezifische Form von Mononoismus, zu dem schon die »Philosophie der Freiheit« führt. Dass die Autonomie des Menschen nicht außer Kraft gesetzt wird, dafür sorgt die Bestimmung der denkenden Individualität, des Ich, das dieses Denken tätig zur Erscheinung bringt. Aber was tun wir dabei? Wir, als geistige Individualitäten, als Geistwesen, leben und weben in der Wesenssubstanz dieses Arche, wenn wir denken, und schnüren gewissermaßen durch unsere Tätigkeit Teile dieses Wesens ab, um sie auf dem Schauplatz unseres Bewusstseins zur Erscheinung zu bringen. Dass wir dabei nicht aus dem geistigen Weltzusammenhang herausfallen, dafür sorgt eben unsere Teilhabe an der Wesenssubstanz dieses Arche, der ja nicht nur unsere denkende Seele durchdringt, sondern auch die Natur und den gesamten sichtbaren Kosmos in ihrem Sein und Werden.

Wir individualisieren durch unsere Denktätigkeit den Leib dieses Arche, bei dem es sich bekanntlich um einen Wärmeleib handelt (daraus erklärt sich die spezifische Wärmequalität der Denkprozesse) – ja, wir individualisieren durch diese Tätigkeit auch die Zeit, denn die Zeit ist der Leib dieses Arche. Wenn wir erkennend zum Wesen dieses Wesens vordringen wollen, müssen wir allerdings eine Zeitreise antreten, genauer gesagt, bis in die Mitte der lemurischen Zeit zurückgehen (GA 156, 6.10.1914). In einem Aufsatz, der 1995 im »Jahrbuch« erschienen ist, habe ich den Versuch unternommen, einige mit diesem Problem zusammenhängende Fragestellungen zu erörtern (http://www.anthroweb.info/trithemius-verlag/jahrbuch1995-zeit.html ).

Dieser Hinweis Rudolf Steiners, dass es sich beim »gemeinsamen Urwesen« um einen Zeitgeist handelt, eröffnet eine Fülle von philosophischen Fragen und Forschungsperspektiven, über die wir noch nicht einmal angefangen haben, nachzudenken (wenn man einmal von Ihrem Buch über den Doppelstrom der Zeit absieht). Ähnlich verhält es sich auch mit Steiners Hinweisen auf die ontologischen und epistemologischen Beziehungen des Menschen zu den Erzengeln oder Engeln. Durch diese werden die gewöhnlichen Kategorien des philosophischen Denkens so durcheinander gewirbelt, dass sich hier der Ausblick auf eine ganz neue Art von Philosophie eröffnet, die sich aus dem Einbezug der geisteswissenschaftlichen Forschungsergebnisse in das Denken ergeben könnte.

Ein Kommentar

  1. …eine Aussage,die Rudolf Steiner gegenueber seiner esoterischen Schuelerin Maria Roeschl gemacht hat, als diese ihn einmal fragte, »…ob es zu seiner Zeit Eingeweihte gebe, die so hoch und weit zu schauen vermoechten wie er. Seine Antwort war…Das wohl, aber keinen, der das Erschaute in die Gestalt von Gedanken zu kleiden vermag, die es anderen ermoeglichen, es im eigenen Denken nachzuvollziehen. Denn das verlange, das geistig Wahrgenommene bis in das Gehirn hineinzutragen, und das sei ein Opfer, das keiner sonst zu bringen vermöchte.«
    (Ernst Lehrs, Gelebte Erwartung, Kapitel XXIII, Merke auf, Stuttgart 1979).

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