Was heißt Geisterkenntnis in der Anthroposophie? – I

Zuletzt aktualisiert am 23. Mai 2019.

Auch eine Perichorese: Anna, Maria, Jesus. – Bild: Kathleen Anderson.

Auch eine Perichorese: Anna, Maria, Jesus. – Bild: Kathleen Anderson.

Unter »Geisterkenntnis« versteht Rudolf Steiner die systematische Erforschung einer höheren Wirklichkeit, welche die Realität des Alltagsbewusstseins durchdringt, diesem aber nicht gegenständlich wird. »Geist« ist nicht im »Jenseits«, in einer »Hinterwelt«, sondern Geist durchdringt alles, – alles ist Geist, auch wenn dieser nicht auf den ersten Blick als solcher erkennbar ist.

Unser Alltagsbewusstsein beruht auf der Tatsache, dass diese Realität des Geistes durch unsere anthropologische Konstitution unterdrückt wird, damit sich eben dieses Alltagsbewusstsein in seiner Autonomie entfalten kann. Auch unser Alltagsbewusstsein ist geistig, eine bestimmte Form des Geistes, die durch die angedeutete Konstitution zustande kommt. Wie prekär und flüchtig diese Form ist, zeigt sich daran, dass die Aufnahme bestimmter Substanzen dieses Bewusstsein gravierend verändern kann. Es besteht auch lediglich vom Aufwachen bis zum Einschlafen. Einschlafen und Aufwachen verändern die konstitutionellen Grundlagen unseres Wachbewusstseins radikal. Erstaunlicherweise spielt diese fundamentale Tatsache in den Diskussionen der Bewusstseinsphilosophie so gut wie keine Rolle.

Die Wirklichkeit, die wir in unserem Alltagsbewusstsein erleben, ist durch unser Sein, unsere Konstitution bestimmt. Dieses Sein entsteht dadurch, dass die unterschiedlichen Komponenten unserer Konstitution auf gesetzmäßige Art zusammenwirken. Was unser Alltagsbewusstsein erfüllt, ist das Ergebnis dieses Zusammenwirkens, nicht das, wovon dieses Bewusstsein bewirkt wird. Wenn wir nicht nur das Ergebnis dieses Zusammenwirkens erleben und erkennen wollen, sondern auch das, was sie erzeugt, und damit die erzeugende Wirklichkeit, in die das Erzeugte eingebettet ist, müssen wir die Bedingungen unseres Alltagsbewusstseins, d.h. das Zusammenwirken der Komponenten unserer Konstitution – ähnlich wie beim Einschlafen – verändern.

Jeder Versuch, die Bedingungen des Alltagsbewusstseins zu verändern, greift in die menschliche Konstitution ein und verändert damit das Sein, das dem Bewusstsein zugrunde liegt. Es ist das Alltagsbewusstsein, von dem diese Veränderung ausgehen muss, d.h. das Bewusstsein greift in das Sein ein und verändert es. Dies ist deswegen möglich, weil dieses Sein selbst das Ergebnis von Bewusstsein ist, wenn auch eines höheren und umfassenderen Bewusstseins. Bewusstseinserweiterung bedeutet demnach, jene Prozesse bewusst zu machen, die das Alltagsbewusstsein konstituieren und eben, weil sie dies tun, jenseits der fließenden Grenzen dieses Bewusstseins liegen.

Es ist leicht einsehbar, dass diese Prozesse sich erheblich von dem unterscheiden, was normalerweise zu den Inhalten dieses Bewusstseins gehört, so etwa, wie sich die Phänomenologie eines Bewusstseins unter dem Einfluss halluzinogener Drogen vom nüchternen Bewusstsein unterscheidet. Während aber das drogeninduzierte Bewusstsein einer Wirksamkeit ausgesetzt ist, die es nicht durchschaut, und damit den Bedingungen nicht entkommt, die auch das nüchterne Alltagsbewusstsein konstituieren, zielt die Geistesschulung darauf ab, das Wirkende, das der Entstehung des Alltagsbewusstseins zugrunde liegt, bewusst zu machen und die Gesetzmäßigkeiten seines Wirkens zu erkennen. Entscheidend für die Geisterkenntnis, wie Steiner sie versteht, ist, dass die Veränderung der menschlichen Gesamtkonstitution systematisch nach bestimmten Regeln erfolgt und vom Bewusstsein kontrolliert wird. Nur so können, wie bei einer Experimentalanordnung, Wiederholung, Überprüfung und Intersubjektivität sichergestellt werden, die Kennzeichen wissenschaftlicher Methodik auch der Geisterkenntnis sind.

Für die Erkenntnismethoden, die in der Geisterkenntnis angewandt werden, hat Steiner technische Begriffe geprägt, die er in seinen Schriften zur Erkenntnisschulung entwickelte. Die Systematik dieser Methoden ist bereits in »Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?« erkennbar, wird aber explizit erst in der (ursprünglichen) Aufsatzreihe »Die Stufen der höheren Erkenntnis« (GA 12) entfaltet. Hier ist erstmals von »Imagination«, »Inspiration« und »Intuition« die Rede.

Die Aufsatzreihe »Die Stufen der höheren Erkenntnis« ist zwischen 1905 und 1908 in der Zeitschrift »Lucifer-Gnosis« erschienen und stellt die Fortsetzung von »Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?« dar. Wie sich aus Steiners Ausführungen ergibt, haftet der Unterscheidung der drei Erkenntnisarten etwas Künstliches an. Denn letztlich sind sie ebensowenig zu trennen, wie die Sinneswahrnehmung, die auf sie bezügliche Vorstellungsbildung und die begriffsbildende Tätigkeit, die alle im Ich des Menschen verankert sind.

Ebenso, wie die »Sinneserkenntnis« aus dem Zusammenwirken dieser vier Faktoren entsteht, spielen auch bei der Geisterkenntnis vier Faktoren eine Rolle. Die Begriffe dieser vier Faktoren werden durch eine stufenweise Abstraktion gewonnen, bei der jeweils ein Faktor, der bei der Sinneserkenntnis eine Rolle spielt, wegfällt. Der begrifflichen Abstraktion liegt jedoch eine Realabstraktion zugrunde, die bei der Ausbildung der höheren Erkenntnisarten zu realisieren ist. Mit anderen Worten: das erkennende Bewusstsein muss sich verändern. Ohne diese existentielle Veränderung, die Veränderung seines Seinszustandes, kann der Geistesschüler diese höheren Bewusstseinszustände nicht verwirklichen. Geisterkenntnis im Vollsinn des Wortes setzt die Entwicklung aller drei höheren Bewusstseinsformen voraus, denn ebensowenig, wie das Leben in bloßen Vorstellungen (Erinnerungs- oder Phantasievorstellungen) wirklich ist, wenn kein Bezug auf real wahrnehmbare Gegenstände besteht, ist auch ein Leben in Bildern, die nicht aus der Welt der Sinneswahrnehmungen stammen (Imaginationen) irreal, solange diese Bilder nicht Ausdruck (Offenbarung) einer geistigen Wirklichkeit (Gegenstandswelt) sind, die sich erst der höchsten Erkenntnisstufe, der Intuition, erschließt.

Das gewöhnliche Erkennen des Menschen, die Sinneserkenntnis (das »materielle Erkennen«), fußt laut Steiner auf vier Elementen: dem Gegenstand der Sinne, dem Bild, das er sich von diesem Gegenstand macht, dem Begriff, durch den er den Gegenstand geistig erfasst und dem »Ich«, das »Bild und Begriff« des Gegenstandes durch seine Tätigkeit hervorbringt.

Damit der Mensch sich ein Bild – eine Vorstellung – von einem Gegenstand machen kann, muss dieser zuvor da sein. Der Gegenstand existiert unabhängig vom Betrachter, er ist »gegeben« und muss lediglich wahrgenommen werden. (Die Frage, ob »der Gegenstand« auch jenseits des wahrnehmenden Bewusstseins in genau der Form existiert, in der er diesem erscheint, wird hier nicht thematisiert. Diese Frage hatte Steiner bereits in der »Philosophie der Freiheit« ausführlich untersucht, mit dem Ergebnis, dass jede Wahrnehmung zwar als Urphänomen zu betrachten ist, das nicht auf etwas anderes reduziert werden kann, aber ohne die begriffliche Ergänzung, die ihr der Mensch durch sein Denken zuteil werden lässt, nicht als »wirklich« bezeichnet werden kann. Im Untersuchungshorizont der »Philosophie der Freiheit« ereignet sich Wirklichkeit im Augenblick des Wahrnehmens beim »Zusammengehen« von Wahrnehmung und Begriff, wird also rein prozessual verstanden, während es sich bei den Vorstellungen, die bei diesem Vorgang entstehen, um in der Zeit stehengebliebene Repräsentationen dieses Ereignisses handelt.)

Das Bild nun (die Repräsentation, von der eben die Rede war), entsteht auf Grund des Gegenstandes. Solange der Gegenstand im Wahrnehmungsfeld anwesend ist, erfüllt er das Bewusstsein. Das Bild tritt auf, wenn sich der Wahrnehmende von ihm abwendet. Zurück bleibt eine Erinnerung an den Gegenstand (die Erinnerungsvorstellung). Nahezu identische phänomenologische Beobachtungen finden sich bereits in der »Philosophie der Freiheit«.

Die bloßen Erinnerungsbilder reichen allerdings nicht für die Erkenntnis aus. Das Bild vermittelt lediglich die Vorstellung eines bestimmten, wahrnehmbaren Kreises, der Begriff vermittelt die Einsicht in das Gesetz aller Kreise: »Ein Kreis ist eine Figur, bei der alle Punkte von einem Mittelpunkte gleich weit entfernt sind.« Verständnis stellt sich erst mit dem Begriff ein. Der Begriff ist derselbe für alle Kreise, die Vorstellungen sind verschieden. Erst, wer den Begriff erfasst (denkt), vermag zu sagen, was ein Kreis ist.

Das Ich ist der Ort, in dem Bilder und Begriffe zu einer Einheit verschmelzen. Es bewahrt die Erinnerungsbilder in sich. Ohne dieses Fortleben der Bilder im Ich gäbe es keine Kontinuität des inneres Lebens. Es verleiht den Bildern Dauer, verbindet sie miteinander und stiftet den Zusammenhang zwischen ihnen. Ohne das Ich würden die Bilder kommen und gehen, ein Wiedererkennen wäre nicht möglich. Das Ich stiftet diese Einheit auch unter den Begriffen. Indem es sie miteinander verbindet, erlangt es ein Verständnis des Weltzusammenhangs. Diese Tätigkeit des Ich ist das Urteilen. Erst die urteilende Tätigkeit, durch die der Zusammenhang gestiftet wird, ermöglicht Orientierung und Handeln in der Welt.

Das »materielle« Erkennen setzt Empfinden und Sensibilität voraus, die uns die Eindrücke der Welt vermitteln. Die empfangenen Eindrücke können auch als Sensation bezeichnet werden. Die vier Elemente sind also: »Sensation, Bild, Begriff, Ich«. Damit ist nicht mehr vom Gegenstand die Rede, sondern von den Resonanzen, die dieser Gegenstand bei seiner Anwesenheit im Bewusstseinsfeld hervorruft.

Bei der Imagination, der zweiten Stufe der Erkenntnis, fällt nun die Sensation weg. Es sind keine äußeren Sinnesgegenstände mehr vorhanden, lediglich Bild, Begriff und Ich. Die Imagination bewegt sich, formal betrachtet, also auf der Ebene der Vorstellungsbilder, die entweder von Sensationen ausgegangen sind (Erinnerungsvorstellungen) oder spontan vom Ich erzeugt werden (Phantasievorstellungen). Normalerweise treten im Bewusstsein des Menschen Erinnerungs- oder Phantasievorstellungen nur auf, wenn Sinnesgegenstände sie veranlassen. »Wer sich Bilder formt, denen Sinnesgegenstände entsprechen sollen, wo in Wahrheit keine sind, lebt in Phantastik«, schreibt Steiner. Die Betonung liegt allerdings auf »entsprechen sollen, wo in Wahrheit keine sind« – der Irrtum liegt nicht in den Bildern, sondern im Urteil, das sie mit Repräsentationen verwechselt, während sie in Wahrheit Ausdruck der spontanen bildschaffenden Tätigkeit des Bewusstseins und ihrer Eigengesetzmäßigkeit sind.

Die geistige Schulung besteht nun darin, genau dies zu tun: Vorstellungsbilder zu formen, die nicht von Sinnesgegenständen veranlasst oder hervorgerufen werden. Sie steigert also die Autonomie des Bewusstseins (des Ich) gegenüber dem Alltagsbewusstsein. Während dieses in bezug auf die Inhalte seiner Vorstellungen von den Wahrnehmungen abhängig ist, die ihm gegeben werden, erzeugt das Bewusstsein, das die Imaginationsfähigkeit entwickelt, diese Bilder selbst. Die Fähigkeit, solche Bilder zu erzeugen, muss erst entwickelt werden und zwar durch Meditation. Der »imaginative Mensch« »lebt in Bildern«, die aus ihm selbst und jener Welt entstehen, aus der das Alltagsbewusstsein hervorgeht. Diese Bilder sind »ebenso lebhaft und wahr wie die Sinnesbilder«, stammen aber aus Seelischem und Geistigem. Sorgfältige Schulung muss die Unterscheidung zwischen Täuschung und Wirklichkeit gewährleisten. Worin liegt hier das Problem der Täuschung? Wiederum im Urteil, das Bilder als Ausdruck von etwas auffasst, während sie tatsächlich auf etwas anderes verweisen. Nicht im Bild selbst also liegt der Irrtum, sondern im durch das Urteil hergestellten Bezug. In diesem Sinne sind auch Halluzinationen real, denn sie stellen Tatsachen des Bewusstseins dar, die diesem Bewusstsein gegeben sind. Die Täuschung entsteht erst, wenn sie als Repräsentationen realer Wahrnehmungen gedeutet werden.

Wie kann die Unterscheidung zwischen Täuschung und Wirklichkeit gewährleistet werden? Gibt es ein unabhängiges Kriterium, das sie ermöglicht? Laut Steiner ist das einzige denkbare Kriterium der Unterscheidung zwischen Wirklichkeit und Illusion auf »höherem« Erkenntnisgebiet die »Erfahrung«. Diese Erfahrung muss sich der Geistesschüler aneignen. Sie wird zunächst darin bestehen, die genannte Unterscheidung zu üben. Tagträume oder Traumreisen sind spontane Bilderreihen, die nicht vom Ich erzeugt werden, als Quellen der Geisterkenntnis kommen sie daher nicht in Betracht. Es geht vielmehr gerade darum, vollkommen bewusst Bilder zu erzeugen, in diesen Bildern zu leben und sich der Tatsache bewusst zu sein, dass man sie erzeugt. Die Hingabe an Bilder, die man selbst erzeugt, ist auch mit einer Schulung der Aufmerksamkeit verbunden. Durch den Umgang mit ihnen lernt man aus Erfahrung zwischen Bildern zu unterscheiden, die von selbst im Bewusstsein auftreten, ohne dass man deren Quelle kennt, und solchen, die man eben selbst erzeugt. Ohne dass die Tätigkeit des Erzeugens selbst in den Fokus der Aufmerksamkeit tritt, ist diese Unterscheidung kaum möglich. Schon hier scheiden sich die Geister. Wer über diese innere Erfahrung nicht verfügt, kann schwerlich mitsprechen; je größer die Erfahrung, um so besser in der Regel auch die Urteilsfähigkeit, die aus der Gewöhnung schöpft. Das ist ein inhärentes Problem der Erfahrung. Auch die Kunst, Röntgenbilder zu interpretieren, will gelernt sein. Die Fähigkeit erwirbt man sich nur durch Erfahrung, durch regelmäßigen Umgang mit solchen Bildern unter Anleitung eines erfahrenen Röntgenologen und durch ständiges Üben. Wer über diese Erfahrung nicht verfügt, sieht auf den Bildern bestenfalls nichts, schlimmstenfalls das Falsche. Sein Urteil ist Geschwätz. Das Gerede von Ungeübten über die innere Bilderwelt und den Umgang mit ihr, über die unterschiedlichen Grade ihrer Intensität, über die Techniken der Urteilsbildung, die sich auf ihre Struktur oder Deutung beziehen, ist Geschwätz. Das ist leider nicht zu ändern.

Durch diesen systematischen Umgang mit der inneren Bilderwelt werden allmählich »die Quellen der Phantastik« verstopft, wie Steiner sich ausdrückt. Er führt letztlich, wenn das imaginative Bewusstsein ausgereift ist, zur Gewissheit, »dass die Welt, in die man in solcher Art eintritt, nicht nur so wirklich ist wie die sinnliche, sondern dass sie eine gewöhnlich viel wirklichere ist.« Da die Wirklichkeit – auch des Alltagsbewusstseins – ohnehin aus dem Bewusstsein hervorgeht, ihr Kriterium also nicht außerhalb desselben liegt, trägt das Bewusstsein den Quell der Wirklichkeit sowie ihr Kriterium in sich. Durch die Steigerung des Bewusstseins kann es also auch zu einer Steigerung des Grades der Wirklichkeit kommen. Die Unterscheidung von »Wirklichkeitsgraden« setzt ein dynamisches Verständnis der Wirklichkeit voraus, deren Garant und Kriterium offenbar die Intensität, der Wirksamkeitsgrad dieses Bewusstseins ist. Je höher der Anteil der Eigentätigkeit des Bewusstseins, desto höher der Wirklichkeitsgrad. Die Übergänge sind fließend. Das Bewusstsein des Schläfers ist von diesem Gesichtspunkt aus vollkommen unwirklich (oder potentiell – denn er hat ja überhaupt kein Bewusstsein von sich), das Bewusstsein des Träumers ist schon etwas wirklicher, wenn auch die Inhalte nicht von ihm selbst erzeugt werden. Erst das Wachbewusstsein aktualisiert aber auf einer ersten Stufe die Realität des Bewusstseins, da es sich selbst im Wahrnehmen, Vorstellen, Begriffebilden usw. in unterschiedlichen Intensitätsgraden verwirklicht. Noch wirklicher ist in bezug auf die Erzeugung seiner Inhalte das Bewusstsein, das unabhängig von gegebenen Sinneswahrnehmungen seine Bildinhalte selbst erzeugt und sich dieser Tatsache vollkommen bewusst ist. Das klingt aristotelisch und ist es auch. Das autonom bilderzeugende Bewusstsein entfaltet einen höheren Grad von energeia, als das Bewusstsein, das seine Bildinhalte von den äußeren Wahrnehmungen aktualisieren lässt.

Nun spricht Steiner noch von weiteren »Erkenntnisstufen«. Die dritte ist die der »Inspiration«. Hier fallen nun die Bilder weg, genauer gesagt, sie werden vom Bewusstsein autonom aus diesem zurückgedrängt. Im Bewusstsein anwesend sind nur noch »Begriff« und »Ich«. Auf der zweiten Stufe ist das Bewusstsein noch von Bildern erfüllt, die es selbsttätig erzeugt. Formal ist es mit einem Hingegebensein an lebhafte Erinnerungen oder mit einer intensiven Phantasietätigkeit vergleichbar, die spontan die erlebten Bewusstseinsinhalte erzeugt. Aber auf der Stufe der Inspiration entledigt sich das Bewusstsein all dieser Bilder. Hinsichtlich der Bilder kann man von einem leeren Bewusstsein sprechen. Aber diese Leere ist nur scheinbar. Denn das Bewusstsein ist nun von bildlosen Begriffen erfüllt und bewegt sich in diesen, wie es sich zuvor in seinen selbsterzeugten Bildern bewegt hat. Gegenüber der bilderzeugenden Tätigkeit erscheint hier die Intensität der Wirksamkeit noch einmal erhöht. Wenn es schon schwierig ist, voll konzentriert in bewegten Bildern zu leben, die man selbst erzeugt, so ist es noch weit schwieriger, in selbsterzeugten Begriffen zu leben, die frei von Vorstellungsinhalten sind. Der Mensch der sich in reinen Begriffen bewegt, lebt laut Steiner »in einer rein geistigen Welt«. Schon die gesteigerte Phantasietätigkeit lässt unter Umständen die sinnliche Wahrnehmungswelt »blass« erscheinen. Erst recht gilt dies für die von Energie und Kraft erfüllten Bilder, die das Bewusstsein mit gesteigerter Willenstätigkeit selbst erzeugt. »Die Bilder der Imagination sind von einer Lebhaftigkeit und Inhaltsfülle, mit der sich nicht nur die schattenhaften Erinnerungsbilder der Sinnenwelt nicht vergleichen lassen, sondern sogar nicht einmal die ganze bunte, wechselreiche Sinnenwelt selbst. Auch diese ist gegen das Reich der Imagination nur ein Schatten.«

Während für die Sinneserkenntnis die Sensation die Quelle der Eindrücke ist, für die Imagination die imaginierende Tätigkeit der Seele, ist es für diese dritte Stufe die inspirierende Tätigkeit der Seele, die dem Ich seine Inhalte zuträgt. Während die Inspiration als Organ den ideellen oder geistigen Stoff vermittelt, bildet das Ich die Begriffe, bringt die Gesetze des Denkens hervor und erfasst sie, indem es sie dem Stoff der Inspiration einprägt. Aber hier durchdringen sich Selbsttätigkeit und Getätigtwerden, denn schließlich wird auch hier etwas erfahren, das trotz der gesteigerten Eigentätigkeit des Ich von diesem als objektiver Weltinhalt entgegengenommen werden muss.

Steiner vergleicht das inspirative Erleben in der Nacht der Bilder mit dem Hören. Natürlich hört man nicht sinnliche, sondern geistige Töne. So wie Töne durch ihre Anordnungen Melodien bilden und damit musikalischen Bedeutungsgehalt vermitteln, vermitteln die Töne, die das inspirative Bewusstsein hört, den Bedeutungsgehalt der Welt. »Man beginnt zu hören, was im Innern der Dinge vorgeht.« Nicht nur die Melodie bietet sich als Vergleich an, sondern noch mehr das Wort. Das Wort ist in der sinnlichen Welt der unmittelbare Träger von Bedeutung. Ihm ist stets ein Begriff inhärent, wenn es mit Verstand ausgesprochen wird – und selbst dann, wenn dieser abwesend ist, kann ein anderer noch den Sinn eines Wortes erfassen. Dieses bedeutungstragende Wort wohnt offenbar den Dingen inne und das inspirative Bewusstsein vermag es zu vernehmen. So wie der Mensch durch das Wort sein inneres Wesen ausspricht, also das, was er denkt, fühlt und will, so spricht sich für das inspirative Bewusstsein im Wort der Natur das innere Wesen dieser Natur aus. Das inspirative Bewusstsein führt also nicht aus der Sinneswelt heraus, sondern tiefer in sie hinein.

»Die Welt beginnt der Seele gegenüber ihr Wesen wirklich selbst auszusprechen. … Man vernimmt die Form des Kristalles als Klang; die sich öffnende Blüte ›spricht‹ da zum Menschen. Der Inspirierte vermag das innere Wesen der Dinge zu künden; alle Dinge werden in neuer Art vor seiner Seele auferstehen. Er spricht eine Sprache, die aus einer anderen Welt stammt, und welche doch erst die alltägliche Welt begreiflich macht.« Von diesem Wort der Dinge spricht Steiner bereits in »Die Mystik im Aufgang des neuzeitlichen Geisteslebens …« wenn er Johannes Tauler zitiert, für den die heilige Schrift zu einer Kundgebung des Schöpfungswortes im Menschen geworden ist: »Aber diese Schrift wird in seiner Vorstellungswelt doch zu einem Ausdrucksmittel für die innersten Erlebnisse seiner Seele. ›Gott wirket alle seine Werke in der Seele und gibt sie der Seele, und der Vater gebiert seinen eingeborenen Sohn in der Seele, so wahrlich er ihn in der Ewigkeit gebiert, weder minder noch mehr. Was wird geboren, wenn man spricht: Gott gebiert in der Seele? Ist es ein Gleichnis Gottes, oder ist es ein Bild Gottes, oder ist es etwas Gottes? Nein, es ist weder Bild, noch Gleichnis Gottes, sondern derselbe Gott und derselbe Sohn, den der Vater in der Ewigkeit gebiert und nichts anderes, denn das minnigliche göttliche Wort, das die andere Person in der Dreifaltigkeit ist, den gebiert der Vater in der Seele… und hievon hat die Seele also große und sonderliche Würdigkeit‹«.

Und in das »Christentum als mystische Tatsache …« verweist Steiner ausdrücklich auf den substantiellen Gehalt dieses Wortes, wenn er die Auferweckung des Lazarus mit Hilfe Platos interpretiert: »Wo ist das Grab, aus dem das ›Wort‹ geboren ist? Man braucht, um auf diese Frage Antwort zu erhalten, nur an Plato zu denken, der den Leib des Menschen ein Grab der Seele nennt. Und man braucht sich nur zu erinnern, dass auch Plato von einer Art Auferstehung spricht, wenn er auf das Lebendigwerden der geistigen Welt in dem Leibe deutet. Was Plato die geistige Seele nennt, das bezeichnet Johannes als das ›Wort‹. Und Christus ist ihm das ›Wort‹. Plato hätte sagen können: Wer geistig wird, der hat ein Göttliches aus dem Grabe seines Leibes auferstehen lassen. Und für Johannes ist das, was durch das ›Leben Jesu‹ geschehen ist, diese Auferstehung. Kein Wunder, wenn er also Jesum sagen lässt: ›Ich bin die Auferstehung‹«.

Aus dem Grab der Bilder aufersteht das Wort der Inspiration, dessen Gehalt der Sinn der Schöpfung ist, aus dem der Kosmos mitsamt dem Menschen entstand und fortwährend entsteht. Im Wort der Inspiration spricht sich der Logos aus, der in der Natur verborgen ist, das fortklingende Urwort, aus dem alles Lebendige sein Leben schöpft. Das Bewusstsein, das sich auf die Stufe der Inspiration erhebt, spricht dieses Urwort hörend mit und wird von ihm ausgesprochen und indem es sein eigenes Wesen ausspricht, spricht sich in ihm der Allzusammenhang des Sinns aus, der in ihm lebendig wird.

Nun unterscheidet Steiner aber noch eine vierte Erkenntnisstufe, die »Intuition«.

Auf dieser »hört die Inspiration auf«. Nachdem auf den vorhergehenden Stufen bereits die Sensationen der Sinne und die selbsterzeugten Bilder weggefallen sind bzw. aus dem Bewusstsein entfernt wurden, werden nun auch noch die Begriffe zurückgedrängt. Was übrig bleibt, ist das »Ich«. Auch jetzt versinkt das Ich – das offenbar der Träger des Bewusstseins ist, da es allein noch übrig bleibt, – nicht im Nichts, wie man vielleicht erwarten könnte, es löst sich nicht im Allgeist oder im Nirwana auf, sondern steigert noch einmal die Intensität seiner Wirksamkeit, es wird, um es aristotelisch auszudrücken, zu reiner energeia. An einer bestimmten Erfahrung, die jetzt auftritt, »bemerkt« der Geistesschüler, dass er diese Stufe erreicht hat: »Diese Erfahrung drückt sich darin aus, dass er das Gefühl hat: er stehe jetzt nicht mehr außer den Dingen und Vorgängen, welche er erkennt, sondern innerhalb derselben. Bilder sind nicht der Gegenstand; sie drücken ihn bloß aus. Auch was die Inspiration gibt, ist nicht der Gegenstand. Sie spricht ihn nur aus. Das aber, was jetzt in der Seele lebt, ist wirklich der Gegenstand selbst. Das Ich hat sich ergossen über alle Wesen; es ist mit ihnen zusammengeflossen. Das Leben der Dinge in der Seele ist nun die Intuition. Es ist eben ganz wörtlich zu nehmen, wenn man von der Intuition sagt: man kriecht durch sie in alle Dinge hinein.«

Steiners Ausführungen nehmen eine überraschende Wendung, wenn er im nächsten Absatz auf das Alltagserleben des Menschen zurückblickt, und darauf hinweist, dass diese Qualität der Intuition auch in diesem anzutreffen ist. Denn bereits im Alltagsbewusstsein verfügt der Mensch über eine intuitive Erfahrung, die Erfahrung seines eigenen Ich: »Im gewöhnlichen Leben hat der Mensch nur eine Intuition, das ist diejenige des ›Ich‹ selber. Denn das ›Ich‹ kann auf keine Weise von außen wahrgenommen werden, es kann nur im Innern erlebt werden … Kein anderer kann zu mir ›Ich‹ sagen, für jeden anderen bin ich ein ›Du‹. Ebenso ist jeder andere für mich ein ›Du‹. Nur er selbst kann zu sich ›Ich‹ sagen. Das rührt davon her, dass man nicht außer, sondern in dem ›Ich‹ lebt. Und so lebt man durch die intuitive Erkenntnis in allen Dingen. Die Wahrnehmung des eigenen ›Ich‹ ist das Vorbild für alle intuitive Erkenntnis. Um so in die Dinge hineinzukommen, muss man allerdings erst aus sich selbst heraustreten. Man muss ›selbstlos‹ werden, um mit dem ›Selbst‹, dem ›Ich‹, einer anderen Wesenheit zu verschmelzen.«

Das Ich »kann auf keine Weise von außen wahrgenommen werden«, »wir leben nicht außer dem Ich, sondern in ihm«. Mit anderen Worten: Ich bin mit mir selbst identisch. Und diese Identität erfahre ich unmittelbar, indem ich in mir lebe, sie erlebe. Kein anderer Inhalt der Welt vermag mir diese Erfahrung zu vermitteln, denn kein anderer Inhalt der Welt ist mit mir identisch. Stets handelt es sich um etwas anderes, als das Ich. Der Ausdruck Ich (und entsprechende Ausdrücke in anderen Sprachen, noch stärker das französische »moi«) verweist auf diese unvermittelte, durch nichts außer mir begründete Selbstbezüglichkeit, dieses ontologische und gnoseologische a priori, das jede Orts- oder Identitätsbestimmung in welcher Hinsicht auch immer voraussetzt. Von meiner nicht weiter zu ergründenden Tiefenidentität kann ich stets nur in der ersten Person sprechen, so wie ich mit mir selbst identisch bin, bin ich mit nichts identisch. Wunderbar drückt dies die Formel aus: »Wir leben nicht außer dem Ich, sondern in ihm«. Nicht in den Gegenständen lebe ich, nicht in den Bildern, nicht in den Worten, durch die sich mir der Sinngehalt der Welt mitteilt, sondern in mir.

Was aber geschieht in der Intuition, die sich nicht auf das Ich im Alltagsbewusstsein erstreckt, sondern auf den restlichen Weltinhalt? »Das Ich hat sich ergossen über alle Wesen; es ist mit ihnen zusammengeflossen«. Das Ich, das intuitiv in sich lebt, lebt nunmehr, nachdem es die Bilder und Worte aus sich herausgesetzt hat, in dem, was ichhaft am Weltinhalt ist. Es wird eins mit dem Ich jedes Dinges und Wesens, es lebt so in den Dingen, wie es zuvor in sich lebte, es hat sich zum Weltinhalt erweitert, es ist Wesen unter Wesen und Wesen in Wesen, ohne dass es mit diesen ununterscheidbar verschmölze, denn die Voraussetzung der Identität mit dem anderen Ich ist die Identität mit mir selbst. Was ist das für eine Bewusstseins- und Erkenntnisform? Es ist eine Seinsform, die höchste Selbstlosigkeit mit höchstem Selbstsein verbindet, denn nur ein Wesen, das die Identität mit sich selbst bewahrt, kann als solches in andere Wesen untertauchen, als wären sie es selbst. Der Philosoph Herbert Witzenmann hat für diese Seinsform den Begriff »Wesenstausch« geprägt, aber besser wäre es, von »Wesensdurchdringung« zu sprechen, denn es findet eine Durchdringung, aber kein Austausch der Wesen statt. Die griechische Theologie hat für diese Seinsform den Begriff der »Perichorese« geschaffen. Die Wesen existieren ineinander, solange sie sich intuitiv gegenseitig durchdringen, sie vermögen die Welt mit den Augen des anderen zu sehen, als wären es die eigenen Augen. Der intuitive Seinsgrund meiner eigenen Existenz ist das unhintergehbare Fundament der Weltwirklichkeit. Letztlich gründet der Kosmos auf Intuition, auf dieser nicht weiter ableitbaren Identität mit sich selbst, die allem Seienden seine unverwechselbare Bestimmtheit und Bestimmung verleiht. Am Anfang des Kosmos steht nicht der Urknall, diese Phantasmagorie einer naturalistischen Metaphysik, sondern die Urintuition, die integrale Intuition, die alles Seiende umfasst und den identischen Wesensgrund seiner unausschöpfbaren Differenz darstellt.

Siehe auch: Der esoterische Schulungsweg der Anthroposophie

Folgender Beitrag: Was heisst Geisterkenntnis in der Anthroposophie? – Die Imagination

2 Kommentare

  1. Wesens tausch not the right term? I like the image of exchanging Valentines. Wesensdurchdringung is nice, but what about something that brings out the quality of an ongoing process of mutual creativity? Dauer und Steigerung? Do you imagine this state relates to the Buddhist Pratitya Samutpada concept of interdependent co-arising?

    • Die Kette des bedingten Entstehens stellt einen Meditationsweg dar, der zur Erkenntnis dessen führen könnte, was in der Anthroposophie als »geistige Individualität« bezeichnet wird. Mit der Beziehungsqualität hat er deswegen zu tun, weil die Bedingungen des Entstehens stets auch andere betreffen. »Mutual creativity« ist bei Wesensdurchdringung genauso möglich wie bei Wesenstausch. Goethe spricht von »Polarität und Steigerung«.

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