Was heißt Geisterkenntnis in der Anthroposophie? – V – Inspiration und Imagination

Zuletzt aktualisiert am 16. Mai 2018.

Elias als Repräsentant des inspirativen Bewusstseins

Die Botschafter der geistigen Welt nähren das inspirative Bewusstsein

Am Ende des Aufsatzes über die Inspiration (dem dritten Kapitel der Buchausgabe der »Stufen des höheren Erkenntnis«) finden sich einige Sätze, die es verdient hätten, am Anfang des letzten Aufsatzes mit dem Titel »Inspiration und Imagination« zu stehen. Sie enthalten einige grundlegende Aussagen von systematischer Bedeutung.

»Die Erkenntnis durch Inspiration«, so Steiner, führt »zum Erleben der Vorgänge in den unsichtbaren Welten, also zum Beispiel der Entwickelung des Menschen, derjenigen der Erde und ihrer planetarischen Verkörperungen; kommen aber innerhalb dieser höheren Welten nicht bloß Vorgänge, sondern Wesen in Betracht, dann muss die Intuition als Erkenntnisart eintreten.

Was durch solche Wesen geschieht, das erkennt man im Bilde durch die Imagination, den Gesetzen und Verhältnissen nach durch die Inspiration; will man den Wesen selbst gegenübertreten, dann braucht man die Intuition.«

Die drei ursprünglichen Kategorien »Bild, Begriff und Ich«, die den drei höheren Erkenntnisarten im ersten Kapitel zugeordnet wurden, werden durch diese Sätze teilweise erweitert und präzisiert. Das Bild wird zum Bild eines »Geschehens«, der Begriff zu »Vorgang, Gesetz und Verhältnis«, das Ich zum »Wesen«.

Diese vermutlich im August 1907 geschriebenen Sätze stellen so etwas wie eine Miniatur der entsprechenden Ausführungen im ungefähr zwei Jahre später verfassten Schulungskapitel der »Geheimwissenschaft im Umriss« dar. Hier, in der »Geheimwissenschaft im Umriss« wird das »Geschehen« zur »Verwandlung« (des einen in das andere), das »Gesetz« und »Verhältnis« zur »Beziehung« (geistiger Wesen zueinander), das »Wesen« zum »Einswerden« (mit den erkannten Wesen).

In der physischen Welt, so charakterisiert die »Geheimwissenschaft im Umriss« die kategoriale Struktur des imaginativen Bewusstseins im Vergleich zum sinnlichen Gegenstandsbewusstsein, »kann beobachtet werden ein fortwährendes Entstehen und Vergehen der Dinge, ein Wechsel von Geburt und Tod. In der imaginativen Welt tritt an Stelle dieser Erscheinung eine fortdauernde Verwandlung des einen in das andere. Man sieht zum Beispiel in der physischen Welt eine Pflanze vergehen. In der imaginativen zeigt sich in demselben Maße, in dem die Pflanze dahinwelkt, das Entstehen eines andern Gebildes, das physisch nicht wahrnehmbar ist und in welches sich die vergehende Pflanze allmählich verwandelt. Wenn nun die Pflanze dahingeschwunden ist, so ist dieses Gebilde an ihrer Stelle voll entwickelt da. Geburt und Tod sind Vorstellungen, welche in der imaginativen Welt ihre Bedeutung verlieren. An ihre Stelle tritt der Begriff von Verwandlung des einen in das andere«.

Die Zustandsveränderungen der sinnlich wahrnehmbaren Gegenstände sind demnach Folge der Verwandlungen jener übersinnlichen »Gebilde«, die mit den sinnlichen Gegenständen verbunden, jedoch nicht mit ihnen identisch sind. Hier deutet Steiner ein weiteres Merkmal der Imaginationen an: sie sind kraftende Archetypen (die logoi spermatikoi, rationes seminales des Neuplatonismus), die in der sinnlichen Welt, zumal im Lebendigen, Gestaltbildung und Formveränderung bewirken. Diese sinnlich nicht wahrnehmbaren »Gebilde« wurden in den Goetheschriften als »sinnlich-übersinnliche Formen« oder »Typen« bezeichnet: »Die ideelle Form, der Typus der Organismen hat eben das Charakteristische, dass er aus räumlich-zeitlichen Elementen besteht. Er erschien deshalb auch Goethe als eine sinnlich-übersinnliche Form. Er enthält räumlich-zeitliche Formen als ideelle Anschauung (intuitiv)«.

Was hier noch als intuitive »ideelle Anschauung« bezeichnet wurde, differenzierte sich in die höheren Erkenntnisformen aus, deren erste eben die Imagination ist, die, wie man aus den Sätzen der »Geheimwissenschaft …« ersehen kann, an die Stelle der »anschauenden Urteilskraft«, des »intellectus archetypus« getreten ist, der in den Goetheschriften als Erkenntnisfähigkeit des Lebendigen postuliert bzw. nachgewiesen wurde. Während also für die Imagination die Verwandlung oder Metamorphose von Wahrnehmungsinhalten ineinander konstitutiv ist, kennzeichnet die kategoriale Struktur der Inspiration das Erfassen von Eigenschaften, in welchen sich Beziehungen zwischen Wesen artikulieren.

Durch die Inspiration, so die »Geheimwissenschaft im Umriss«, »lernt man innere Eigenschaften von Wesen kennen, welche sich verwandeln. Durch Imagination erkennt man die seelische Äußerung der Wesen; durch Inspiration dringt man in deren geistiges Innere. Man erkennt vor allem eine Vielheit von geistigen Wesenheiten und von Beziehungen des einen auf das andere«. Diese Beziehungen sind jedoch nicht wie in der physischen Welt Ausdruck äußerer Einwirkungen, sondern Manifestationen der inneren Beschaffenheit der betreffenden Wesen: »Wenn man ein Wesen in der inspirierten Welt wahrnimmt, so zeigt sich nicht eine äußere Einwirkung auf ein anderes, die sich mit der Wirkung eines physischen Wesens auf ein anderes vergleichen ließe, sondern es besteht ein Verhältnis des einen zum andern durch die innere Beschaffenheit der beiden Wesen«.

Als Veranschaulichung dieser inneren Beziehung dient das Verhältnis von Buchstaben, aus denen Worte bestehen, die gelesen werden. »Wenn man das Wort ›Mensch‹ vor sich hat, so wird es bewirkt durch den Zusammenklang der Laute: Mensch. Es geht nicht ein Anstoß oder sonst eine äußere Einwirkung zum Beispiel von dem M zu dem E hinüber, sondern beide Laute wirken zusammen, und zwar innerhalb eines Ganzen durch ihre innere Beschaffenheit. Deshalb lässt sich das Beobachten in der Welt der Inspiration nur vergleichen mit einem Lesen; und die Wesen in dieser Welt wirken auf den Betrachter wie Schriftzeichen, die er kennenlernen muss und deren Verhältnisse sich für ihn enthüllen müssen wie eine übersinnliche Schrift. Die Geisteswissenschaft kann daher die Erkenntnis durch Inspiration vergleichsweise auch das ›Lesen der verborgenen Schrift‹ nennen«.

Während durch Inspiration die Beziehungen zwischen Wesen erkannt werden, dringt die Intuition schließlich in diese Wesen selbst ein. Im Unterschied zur Sinneserkenntnis, die durch »äußerliches Gegenüberstehen«, durch den Subjekt-Objekt-Gegensatz gekennzeichnet ist, beruht Intuition auf dem Innesein, dem Einswerden des Erkennenden mit dem erkannten Gegenstand, der natürlich längst kein »Gegenstand« mehr ist, sondern vielleicht besser als »Innenstand« oder »Instand« bezeichnet werden könnte. »Ein Sinneswesen erkennen«, so die »Geheimwissenschaft im Umriss«, »heißt außerhalb desselben stehen und es nach dem äußeren Eindruck beurteilen. Ein Geisteswesen durch Intuition erkennen, heißt völlig eins mit ihm geworden sein, sich mit seinem Innern vereinigt haben. Stufenweise steigt der Geistesschüler zu solcher Erkenntnis hinauf. Die Imagination führt ihn dazu, die Wahrnehmungen nicht mehr als äußere Eigenschaften von Wesen zu empfinden, sondern in ihnen Ausflüsse von Seelisch-Geistigem zu erkennen; die Inspiration führt ihn weiter in das Innere der Wesen: Er lernt durch sie verstehen, was diese Wesenheiten für einander sind; in der Intuition dringt er in die Wesen selbst ein«.

Doch kehren wir zu den Stufen der höheren Erkenntnis zurück. Das letzte Kapitel dieses Schriftchens (»Inspiration und Imagination«) fügt einige weitere kategoriale Ergänzungen hinzu. Hier wird die Imagination als »geistiges Schauen« bezeichnet, die Inspiration als »geistiges Hören«. Und es folgt der wichtige Hinweis, dass es sich beim imaginativen Schauen um ein Schauen in der astralen Welt handelt: die astrale Welt ist also die imaginative Welt.

Der Ort des imaginativ schauenden Bewusstseins ist nicht mehr die sinnlich-körperliche Welt mit ihren ausgedehnten Gegenständen, sondern eine Welt flutender Farberscheinungen und Gestalten, denen gerade diese gewöhnliche Raumausdehnung der physischen Welt fehlt. Die kategorialen Bestimmungen des physischen Raumes, die drei Dimensionen (oben-unten, vorne-hinten, rechts-links) werden durch das imaginative Bewusstsein außer Kraft gesetzt. Hier ist zugleich Dort, Oben zugleich Unten, Vorne zugleich Hinten. Mit anderen Worten: die Epiphanien des astralen Raums sind überall. Die imaginative Erscheinung des Planetenengels ist im schauenden Bewusstsein, das schauende Bewusstsein ist im imaginativen Bild des Planetenengels, der Himmelskörper als astrales Gebilde ist in der Seele, die schaut, die schauende Seele ist im Himmelskörper als astralem Gebilde. Es ist geradezu ein Kriterium, das die wahre Imagination vom »Phantasiegemälde« unterscheidet, dass bei ersterer die gewöhnliche Raumausdehnung fehlt, bei letzterer nicht.

»Wer sich … einbildete, dass er imaginative Farbenbilder vor sich habe, wenn er freischwebende Farbenflocken mit gewöhnlicher Raumausdehnung sieht, der ist im Irrtum«. Aber der Weg zur Imagination führt über solche »Phantasiegemälde«. »Wer versucht, sich eine Blume vorzustellen, und dann in seiner Vorstellung alles beiseite lässt, was nicht Farbenvorstellung ist, so dass vor seiner Seele ein Bild schwebt wie die von der Blume abgezogene farbige Oberfläche, der kann durch solche Übungen allmählich zu einer Imagination gelangen«.

Die Imagination, das »wirkliche astrale Erlebnis«, ist durch freischwebende Farb- und Lichterscheinungen und seine gänzliche Unräumlichkeit gekennzeichnet. Mit dem physischen Raum schwindet auch das an ihn gebundene Bewusstsein der Entzweiung, des Gegenüberstehens. Die Gegenstände der imaginativen Wahrnehmung befinden sich nicht »außerhalb« des Wahrnehmenden, sind also in Wahrheit gar keine Gegen-Stände, sondern Zu-Stände des wahrnehmenden Bewusstseins, seine eigenen Zustände, innerhalb derer es sich erlebt, an deren Entstehung es beteiligt ist. Man kann daher auch sagen: die Seele nimmt sich selbst innerlich unmittelbar als Farbe und Licht wahr und all ihre Aktivitäten manifestieren sich als Licht- und Farbzustände. Aber durch diese Aktivitäten manifestiert sich zugleich etwas, das von der Seele unabhängig ist, für dessen Manifestation sie durch ihre Eigenaktivität lediglich die Bedingungen herstellt. Wie sich noch zeigen wird, schwindet für die übersinnliche Wahrnehmung nicht nur die Räumlichkeit der physischen Welt, sondern auch ihre spezifische Zeitlichkeit.

Eine weitere wichtige Ergänzung stellt die Bemerkung Steiners dar, die »Phantasiegemälde«, von welchen die Entwicklung des astralen Schauens ausgeht, stellten »ätherische Abbilder oder Schatten wirklicher astraler Tatsachen« dar, die eine »Brücke zu den wahren astralen (imaginativen) Erlebnissen« bilden können.

Hiermit wird die ontologische Beziehung zwischen Phantasiebildern und Imaginationen klargestellt: Wenn das Phantasiebild der ätherische Schatten der astralen Wirklichkeit – der Imagination – ist, dann geht dieses Phantasiebild aus der Imagination hervor und nicht umgekehrt. Das authentische, ursprüngliche Phänomen ist die Imagination, das Phantasiebild ist das aus ihr abgeleitete Abbild, der Schatten des Lichtes, das die Imagination in das gewöhnliche Bewusstsein wirft. Und die Sinnesvorstellung wiederum ist ein weiteres Schattenbild der Imagination, das vom physischen Gegenstand in das wahrnehmende Bewusstsein zurückgeworfen wird, der die in ständiger Wandlung begriffene Imagination in einer bestimmten Form festhält.

Hier wird erst klar, wovon Steiner in den »Grundlinien einer Erkenntnistheorie …« eigentlich gesprochen hat, als er schrieb: »Man ist so gewohnt, die Welt der Begriffe für eine leere, inhaltslose anzusehen, und ihr die Wahrnehmung als das Inhaltsvolle, durch und durch Bestimmte gegenüberzustellen, dass es für den wahren Sachverhalt schwer sein wird, sich die ihm gebührende Stellung zu erringen. Man übersieht vollständig, dass die bloße Anschauung das Leerste ist, was sich nur denken lässt, und dass sie allen Inhalt erst aus dem Denken erhält. Das einzige Wahre an der Sache ist, dass sie den immer flüssigen Gedanken in einer bestimmten Form festhält, ohne dass wir nötig haben, zu diesem Festhalten tätig mitzuwirken. Wenn der eine, der ein reiches Seelenleben hat, tausend Dinge sieht, die für den geistig Armen eine Null sind, so beweist das sonnenklar, dass der Inhalt der Wirklichkeit nur das Spiegelbild des Inhaltes unseres Geistes ist und dass wir von außen nur die leere Form empfangen. Freilich müssen wir die Kraft in uns haben, uns als die Erzeuger dieses Inhaltes zu erkennen, sonst sehen wir ewig nur das Spiegelbild, nie unseren Geist, der sich spiegelt. Auch der sich in einem faktischen Spiegel sieht, muss sich ja selbst als Persönlichkeit erkennen, um sich im Bilde wieder zu erkennen«.

Der »Beobachter höherer Welten«, der die »wirklichen Imaginationen« von ihren ätherischen Schatten unterscheiden gelernt hat, wird bald auch erkennen, »dass die Bilder der astralen Welt nicht bloße Bilder, sondern die Kundgebungen geistiger Wesenheiten sind«. Und solcher geistigen Wesenheiten gibt es viele. Man steht in der imaginativen Welt einer geistigen Wesenswelt gegenüber, die sich durch ihre astralen Abbilder kundgibt. Und diese Abbilder, die »Farbengebilde«, unterscheiden sich voneinander durch das Maß ihrer Transparenz, ihrer Lichtdurchlässigkeit: es gibt solche, die »wie undurchsichtig« sind, solche, die »ganz durchsichtig und wie in ihrem Innern ganz durchleuchtet« sind und schließlich solche, die »ihr Farbenlicht in ihrem Inneren immer neu erzeugen, … die immerfort in sich selbst aufstrahlen«.

Die undurchsichtigen Gebilde sind undurchsichtig, weil in ihnen der Schatten, die Dunkelheit überwiegt, die transparenten halten zwischen Licht und Schatten das Gleichgewicht und die aus dem Inneren »aufstrahlenden« Gebilde zeichnen sich durch ein Übermaß an Licht aus. Durch die geistige Wesenswelt strömen Kaskaden von Licht. Je näher die Wesen der stofflichen Welt stehen, um so mehr nehmen sie von dieser stofflichen Welt in sich auf, um so mehr vermindert sich die Transparenz ihrer imaginativen Abbilder. Die unterschiedlichen Formen der Lichtoffenbarung sind Manifestationen der in sich gestuften Hierarchienwelt: durch die undurchsichtigen Gebilde offenbaren sich untere, durch die transparenten mittlere und durch die in sich aufstrahlenden höhere Wesenheiten.

Es ist sicher nicht falsch, hierin einen Hinweis auf die neun Stufen des Engelreiches zu sehen, die sich in dreimal drei Gruppen gliedern. Die erste Hierarchie, die Seraphim, Cherubim und Throne, steht der Quelle alles Lichts, dem Licht der Lichter, am nächsten und ist selbst unerschöpflich ausstrahlende Wesensoffenbarung des Lichtes, die zweite Hierarchie, die Kyriotetes, Dynamis und Exusiai, steht zwischen der ersten und der dritten und ist sowohl der oberen Dreiheit zugewandt, als auch der unteren, daher ihre Transparenz, während die dritte, die Archai, Archangeloi und Angeloi der stofflichen Welt nahestehen und zugleich am weitesten von der Quelle des Lichts entfernt sind. Man könnte stattdessen auch von den drei Seelengliedern der Weltseele, der anima caelestis, sprechen, die im Kosmos – also in der astralen Welt – ausgegossen sind: ihr dunkler, gestaltender Wille reicht bis in die stoffliche Welt hinab und offenbart sich in dieser als natura naturans, als Gebärmutter der immerfort in Bildung und Umbildung begriffenen Natur, ihr aus Licht und Finsternis gemischtes Gefühl steht zwischen diesem dunklen Willen und ihrem sternenlichtdurchglänzten Gedankenleben, das die Weisheitsoffenbarung aus dem Ungrund der Geistgottheit in sich aufnimmt und von sich abstrahlt.

Nun deutet Steiner mit einigen wenigen Sätzen noch auf ein weiteres großes Kapitel der spirituellen Anthropologie: »Will man die Wahrheit der imaginativen Welt treffen«, schreibt er, dann »darf man den Begriff des geistigen Schauens nicht zu eng fassen. Denn es finden sich in dieser Welt nicht etwa bloß Licht- und Farbenwahrnehmungen, die sich also den Gesichtserlebnissen der physischen Welt vergleichen lassen, sondern auch Eindrücke von Wärme und Kälte, von Geschmack und Geruch, ja noch andere Erlebnisse der imaginativen ›Sinne‹, für die es etwas ähnliches in der physischen Welt nicht gibt.«

Die Seele besitzt nicht nur einen »Gesichtssinn«, dem sich »Gesichte« zeigen, sondern eine Reihe weiterer »imaginativer Sinne«. Diese Bemerkung erscheint nicht abwegig, wenn man bedenkt, dass die Fähigkeiten der Sinneswahrnehmung den leiblichen Sinnen so vorausgehen, wie die Imaginationen den Phantasiebildern vorausgehen. Den leiblichen Sinnen liegen selbst Imaginationen, die Imaginationen der Weltseele, zugrunde, die den Leib des Menschen schöpferisch im Stoff erbildet. Da die Menschenseele ihrerseits ein individualisierter Teil der Weltseele ist, trägt sie Abbilder dieser Sinnesurbilder in sich, tätige Abbilder, die dem Stoff der Wahrnehmung ihren Inhalt aufprägen. Der Inhalt der Wirklichkeit ist im wörtlichen Sinn das Spiegelbild des Inhaltes unseres Geistes. Gesicht, Geschmack, Geruch usw. geht das Sehen, Schmecken, Riechen usw. voraus, deren Grund in den tätigen Imaginationen der Seele liegt, die das leibliche Sehen, Schmecken, Riechen erst ermöglichen. Von diesen imaginativen Sinnen war bereits in »Wie erlangt man Erkenntnisse ..?« die Rede: der sechzehnblättrigen Lotusblume in der Nähe des Kehlkopfes wurde die Wahrnehmung von »Gestalten«, von »Gedankenarten und Naturgesetzen« zugeschrieben, der zwölfblättrigen in der Nähe des Herzens die Wahrnehmung von »Seelenwärme und -kälte«, von »Gesinnungsarten«, der zehnblättrigen in der Nähe der Magengrube die Wahrnehmung von »Fähigkeiten und Talenten«, der »Bedeutung der Naturwesen im Gesamthaushalt des Kosmos«.

»Die Eindrücke des Warmen und Kalten« schreibt Steiner in die »Stufen der höheren Erkenntnis«, »sind in der imaginativen (astralen) Welt die Offenbarungen des Willens und der Absichten seelischer und geistiger Wesen. Ob ein solches Wesen etwas Gutes oder Böses bezweckt, das kommt in einer bestimmten Wärme- oder Kältewirkung zum Vorschein. Auch ›schmecken‹ und ›riechen‹ kann man die astralen Wesenheiten«.

Nur eine dieser Sinnesmodalitäten – und mit dieser Wendung geht die Darstellung zur Inspiration über – sucht man in der imaginativen Welt vergebens, aus dem einfachen Grund, weil diese Modalität der Inspiration vorbehalten ist: jene des Tones, des Hörens. Man könnte in der imaginativen Welt höchstens die Imagination des Tones finden, nicht jedoch diesen selbst. Insofern kann man die imaginative Welt als Welt des Schweigens bezeichnen; sie ist von einer gespenstischen Stille erfüllt, die erst von »Klang«, von Harmonie und Disharmonie durchdrungen wird, wenn sich die inspirativen Organe des spirituellen Suchers öffnen. Durch die Inspiration tritt der Erkennende in jene Welt ein, die einst als Welt der Sphärenharmonien bezeichnet wurde. Die Astralseelen bewegen nicht nur die Planeten, ihre Bewegung ist zugleich Klang oder Ton, ist Laut oder Wort des »Weltenwortes«. Und mit diesem Hören in den Bildern tritt auch das Verstehen der Bedeutung der Bilder ein. Steiner vergleicht dieses »Hören« mit der unmittelbaren Wahrnehmung von Gedanken eines anderen Menschen, also der Telepathie, einer Wahrnehmung, die nicht darauf angewiesen wäre, dass der Betreffende seine Gedanken physisch zum Ausdruck bringt.

Und so, wie in der physischen Welt der Mensch durch sein Sprechen seinen Wesensinhalt zum Ausdruck bringt, bringen nun die »Farb- und Lichteindrücke« ihren Wesensinhalt zum Ausdruck – sie selbst beginnen zu sprechen: »In dem Aufglänzen und Verlöschen, in der Farbenwandlung der Bilder offenbaren sich Harmonien und Disharmonien, welche die Gefühle, Vorstellungen und Gedanken seelischer und geistiger Wesenheiten enthüllen«.

»Und wie sich der Ton beim physischen Menschen zum Worte steigert, wenn sich ihm der Gedanke einprägt, so steigern sich die Harmonien und Disharmonien der geistigen Welt zu Offenbarungen, welche wesenhafte Gedanken selbst sind. Dazu muss es allerdings ›dunkel werden‹ in dieser Welt, wenn der Gedanke in seiner Unmittelbarkeit sich offenbaren soll.«

»Das hier auftretende Erlebnis stellt sich so dar: Man sieht die hellen Farbentöne, das Rot, Gelb und Orange, ersterben und nimmt wahr, wie sich die höhere Welt durch Grün hindurch abdunkelt zum Blauen und Violetten; dabei erlebt man in sich selbst eine Steigerung der inneren Willensenergie«.

Die »herrliche Fülle der Bilder« muss also verlöschen, wenn sich die Bedeutung dieser Bilder offenbaren soll, es muss »dunkel« werden in der imaginativen Welt, so wie es vor der Offenbarung des Tones still in ihr war. Und im Abklingen des Lichtes und der Farben beginnt das Geistig-Wesenhafte, das zuvor in die imaginierende Seele strahlte, der »wesenhafte Gedanke«, der sich den Bildern »einprägte«, selbst zu sprechen, sich selbst auszusprechen. Der Ton steigert sich zum Wort, das Wort ist die unmittelbare Wesensoffenbarung, die nicht mehr durch das Bild, das Abbild erfolgt, sondern sich selbst als Wesen ausspricht.

Bild (eikon) und Wort (logos) bezeichnen zwei unterschiedliche Qualitäten der geistigen Erfahrung: während das Bild eine Repräsentation des Wesens ist, das sich in ihm verbirgt, indem es sich offenbart, ist das Wort eine Offenbarung seines Inneren, das im Wort selbst gegenwärtig ist, das sich ausspricht, indem es das Wort ausspricht. Und doch ist das Wesen, das sich durch das Wort ausspricht, nicht dieses Wesen selbst, auch wenn es als Wesen im ausgesprochenen Wort gegenwärtig ist, denn es ist das ausgesprochene Wesen, nicht das Wesen selbst, es ist eine bestimmte und begrenzte Manifestation seiner Fülle, während diese Fülle selbst vor allem Sprechen und jenseits aller Worte liegt. Daher muss das Wesen selbst als Wesen durch eine dritte Erkenntnisform erfasst werden, die unmittelbar eins mit dem erkannten Wesen wird.

Die folgenden Sätze lesen sich wie eine Tagebuchaufzeichnung, wie Protokolle aus einem Forschungstagebuch, unmittelbar, authentisch, direkt aus der Erfahrung gesprochen:

»Man erlebt eine völlige Freiheit in bezug auf Ort und Zeit; man fühlt sich in Bewegung. Es sind gewisse Linienformen, Gestalten, die man erlebt. Doch nicht etwa so erlebt man sie, dass man sie vor sich in irgendeinem Raume gezeichnet sähe, sondern so, als ob man in fortwährender Bewegung mit seinem Ich jedem Linienschwung, jeder Gestaltung selbst folgte.

Ja man fühlt das Ich als den Zeichner und zugleich als das Material, mit dem gezeichnet wird. Und jede Linienführung, jede Ortsänderung sind zugleich Erlebnis dieses Ich. Man lernt erkennen, dass man mit seinem bewegten Ich hineingeflochten ist in die schaffenden Weltenkräfte. Die Weltgesetze sind nun dem Ich nicht mehr etwas äußerlich Wahrgenommenes, sondern ein wirkliches Wundergewebe, an dem man spinnt«.

»So stellt sich die inspirierte Welt in die imaginierte hinein. Wenn die Imaginationen beginnen dem Beobachter in ›stummer Sprache‹ ihre Bedeutungen zu enthüllen, dann geht innerhalb des Imaginativen die Welt der Inspiration auf«.

Man erlebt eine völlige Freiheit in bezug auf Ort und Zeit: im Übergang zur Inspiration tritt der Wanderer zwischen den Welten auch aus dem Gehäuse der Zeit heraus, dessen erbarmungsloser Herrschaft er diesseits des Stromes unterworfen ist. Man erlebt eine völlige Freiheit: von Raum und Zeit befreit, an allen Orten, zu allen Zeiten gleichzeitig. Man bewegt sich in einer Wirklichkeit, die nicht Raum und Zeit unterworfen ist, aus der vielmehr Raum und Zeit hervorgehen, man lebt in einer Wirklichkeit, die Raum und Zeit schaffend hervorbringt. Man ist mit seinem »bewegten Ich hineingeflochten ist in die schaffenden Weltenkräfte«, »die Weltgesetze« sind ein »wirkliches Wundergewebe, an dem man spinnt«: so wie die Spinnenfrau der Hopi alle Gestalten des Lebens aus sich herausspinnt.

Wer so hineingeflochten ist in die »schaffenden Weltenkräfte«, der weiß aus unmittelbarer Erfahrung, was die Worte des Erdgeistes in Faust I bedeuten: »so schaff ich am sausenden Webstuhl der Zeit und wirke der Gottheit lebendiges Kleid«. Man erlebt sich in Bewegung – einer Bewegung, die nicht an Ort oder Zeit gebunden ist – einer Bewegung, die Gestalten, Linien zeichnet, man erlebt sich als Linie, die gezeichnet wird und als Zeichner, der zeichnet, als sich selbst knüpfende Verbindung, durch die sich das Verknüpfende ausspricht, so wie sich der Sinn durch die im Wort verknüpften Laute ausspricht. Jede Linienführung, jede Ortsänderung sind zugleich Erlebnis des Ich: im Ich, das selber spricht, offenbart sich das Weltenwort, im Ich, das die einzelnen Lautwesen, die das Weltenwort bilden, miteinander verknüpft, indem es ihre sich selbst aussprechende Verknüpftheit mitvollzieht, im Ich, das sein eigenes Wesen ausspricht, indem es durch das Weltenwort ausgesprochen wird, offenbaren sich die schaffenden Weltenkräfte, in die es hineingeflochten ist.

Es dürfte schwerfallen, angesichts dieser Sätze über das Hineingeflochtensein in die »schaffenden Weltenkräfte«, über das »Wundergewebe der Weltgesetze, an dem man spinnt«, die These aufrecht zu erhalten, Steiner habe das alles gar nicht so gemeint, er habe lediglich Allegorien gesponnen, literarische Metaphern gedrechselt, um etwas poetisch auszuschmücken, was sich auch nüchtern mit abstrakten Begriffen für jedermann verständlich hätte sagen lassen. Warum hat er dann nicht dieses andere gesagt? Er hat es deswegen nicht gesagt, weil er genau das sagen wollte, was er tatsächlich gesagt hat. Er war nicht unfähig, die richtigen Worte zu finden, er hat vielmehr sehr genau beschrieben, was er erlebt hat, er hat wie ein Augen- und Ohrenzeuge gesprochen, von dem was er geistig gesehen und gehört hat. Und er hat das, was er gesehen und gehört hat, auch nicht etwa missverstanden, sondern so exakt als möglich beschrieben.

Zeichen und Bilder, symbolische Schemata kennt die Geisteswissenschaft auch: »Die Geheimwissenschaft entwirft allerlei sinnbildliche Zeichnungen und Bilder. Wenn diese den Tatsachen wirklich entsprechen und nicht bloße ausgedachte Figuren sind, so liegen ihnen Erlebnisse des Beobachters in höheren Welten zugrunde, die in der oben beschriebenen Art anzusehen sind«. Solche »sinnbildlichen Zeichnungen und Bilder« bedürften der Übersetzung durch eine spirituelle Hermeneutik, nicht aber die eben besprochenen Sätze, die wortwörtlich zu verstehen sind, nicht allegorisch oder tropologisch oder anagogisch.

Aufschlussreich sind auch die folgenden Bemerkungen Steiners über das Verhältnis der unterschiedlichen Welten, in denen sich die verschiedenen Bewusstseinsarten bewegen, die sowohl eine gnoseologische als auch eine ontologische Bedeutung haben. Die den Sinnen und dem auf sie beschränkten Verstand zugängliche physische Welt, die Welt des gewöhnlichen Wissenschaftsbetriebes, mögen seine Techniken auch noch so elaboriert sein, ist eine Offenbarung jener Welt, in die der geistige Beobachter auf die beschriebene Art eindringt. Erstere stellt lediglich eine Außenseite der letzteren dar.

Am Beispiel einer Pflanze verdeutlicht Steiner das Gemeinte: was von ihr durch die physischen Sinne und den physischen Verstand beobachtbar ist, ist nicht die ganze Pflanze. Das physisch Wahrnehmbare verhält sich zur Wahrnehmung des ganzen Menschen wie ein Fingernagel zum ganzen Menschen. Der Fingernagel muss aus dem ganzen Menschen verstanden werden, die Pflanze aus dem ganzen Wesen der Pflanze, das aber nicht in der physischen Welt aufzufinden ist. Die ganze Pflanze ist ein übersinnliches Wesen, das sich der Imagination in der astralen Welt als bewegtes Bild und der Inspiration in der »geistigen Welt« als Wort offenbart. Das physische Wesen der Pflanze ist die Offenbarung einer Wesenheit, die durch Imagination und Inspiration zu begreifen ist.

Die physische Welt insgesamt – und die Gesamtheit der begrifflichen Kategorien des von ihr abhängigen Verstandes – ist also die Offenbarung einer Wesenheit (oder eines Pleromas von Wesenheiten), die durch Imagination und Inspiration erfasst werden muss. Die physische Wirklichkeit, die das Abendland seit dem 15. Jahrhundert zu verabsolutieren begonnen hat, und die heute als Inbegriff der Wirklichkeit verstanden wird, ist bestenfalls eine Teilwirklichkeit, so wie der Fingernagel im Verhältnis zum ganzen Menschen. Die Vorstellung, die physische Wirklichkeit sei die ganze Wirklichkeit, beruht auf einer Illusion, auf der systematischen Ausblendung aller höheren oder tieferen Aspekte der Wirklichkeitserfahrung, auf der Verdrängung jener Aspekte der Wirklichkeit aus dem sinnesgestützten Bewusstsein, die ihr – ontologisch betrachtet – vorausgehen und zugrunde liegen. Allerdings handelt es sich um eine Illusion, die auf ihrer eigenen ontologischen Realität beruht und diese fortzeugt, einer Realität die durch die Konstitution ebenjenes Bewusstseins bedingt ist.

Nun könnte man vom Standpunkt dieses neuzeitlichen Bewusstsein aus behaupten, die geistige Wirklichkeit, die der physischen zugrunde liegen solle, sei nichts als eine Doublette der physischen. Dieses Argument setzt aber voraus, was es beweisen will, denn um das Geistige aus dem Physischen ableiten zu können, muss man die Existenz des diese Ableitung vollziehenden Geistigen voraussetzen, nicht aber umgekehrt. Man kann geistig das Physische aus dem Geistigen ableiten, nicht aber physisch aufzeigen, wie das Geistige aus dem Physischen hervorgeht. Außerdem enthält die geistige Welt »viel mehr«, als die physische. Denn man findet innerhalb der imaginativen und inspirativen Welt »auch Wesenheiten und Tatsachen, welche sich gar nicht in der physischen Welt offenbaren. Man darf also nicht glauben, dass man auf diese Art nur diejenigen Wesenheiten der höheren Welten kennenlernt, welche ihre Offenbarungen in der physischen Welt haben. Wer einmal die imaginative Welt betreten hat, der lernt eine Fülle von Wesen und Ereignissen kennen, von denen sich der bloße physische Beobachter nichts träumen lässt«.

Offenbar hegte Steiner die Absicht, sich in einer weiteren Folge dieser Aufsatzreihe auch der Intuition zuzuwenden, wozu es, wie bereits erwähnt (wegen Arbeitsüberlastung), nicht gekommen ist. Daher finden sich gegen Ende dieses Kapitels (Aufsatzes) nur einige wenige Bemerkungen über diese dritte Erkenntnisart oder Bewusstseinsform.

Wie zuvor Imagination und Inspiration setzt Steiner nun Inspiration und Intuition zueinander in Beziehung. In der Inspiration lebt der Beobachter »in den Eigenschaften und Taten der Wesen« der höheren Welten, er wird sich der »Offenbarungen ihres Willens« bewusst, lebt jedoch nicht in diesen selbst. Erst in der Intuition »verschmilzt« er mit ihnen. Betont wird, dass diese Verschmelzung (die weiter oben als »Wesensdurchdringung« bezeichnet wurde, siehe: »Was heißt Geisterkenntnis in der Anthroposophie? – I«) nicht mit einer »Auslöschung« der verschmelzenden Wesen einhergeht, sondern »unter völliger Aufrechterhaltung« des eigenen (erkennenden) Wesens stattfindet. Nur ein Ich, das »in hohem Grade in sich gefestigt ist, kann ohne Schaden in ein anderes untertauchen«. Erst dann hat man etwas »intuitiv erfasst«, wenn man empfindet, es äußere sich in ihm ein Wesen, das »von derselben Art wie das eigene Ich« sei. Dieses intuitive Erfassen ist gegenüber dem gesamten Weltinhalt möglich, z.B. auch einem Stein gegenüber. Der physischen Welt liegt etwas zugrunde, das sich letztlich nur intuitiv als in sich geschlossene geistige Individualität (oder Pleroma geistiger Individualitäten) erfassen lässt.

Mit den Sätzen: »Von der gesetzmäßigen Anweisung, welche die Geheimwissenschaft für die Intuition gibt, wird in weiteren Aufsätzen noch die Rede sein«, endet das Fragment. Die weiteren Aufsätze wurden nicht mehr geschrieben, das Heft der Zeitschrift »Lucifer-Gnosis«, in dem dieser Aufsatz erschien (Nr. 34, Mai 1908), war das letzte Heft der Zeitschrift. Entsprechende Ausführungen finden sich in der »Geheimwissenschaft im Umriss« bzw. bereits im ersten Aufsatz dieser Reihe, der weiter oben behandelt wurde (siehe: »Was heißt Geisterkenntnis in der Anthroposophie? – I«).

An dieser Stelle sei lediglich an ein Motiv aus diesem ersten Aufsatz erinnert: das Vorbild aller intuitiven Erfahrung, das der Mensch bereits in seinem Alltagsbewusstsein vorfindet, die Erfahrung seines eigenen Ich: »Im gewöhnlichen Leben hat der Mensch nur eine Intuition, das ist diejenige des ›Ich‹ selber. Denn das ›Ich‹ kann auf keine Weise von außen wahrgenommen werden, es kann nur im Innern erlebt werden … Das rührt davon her, dass man nicht außer, sondern in dem ›Ich‹ lebt. Und so lebt man durch die intuitive Erkenntnis in allen Dingen. Die Wahrnehmung des eigenen ›Ich‹ ist das Vorbild für alle intuitive Erkenntnis«. Steiner fügt jedoch eine Bemerkung hinzu, die man nicht überlesen sollte: »Um so in die Dinge hineinzukommen, muss man allerdings erst aus sich selbst heraustreten. Man muss ›selbstlos‹ werden, um mit dem ›Selbst‹, dem ›Ich‹, einer anderen Wesenheit zu verschmelzen.«

Es dürfte klar ein, dass dieses »Ich«, von dem hier die Rede ist, nicht mit irgendwelchen Inhalten des Alltagsbewusstseins verwechselt werden darf. Keine jener Eigenschaften, die wir an uns selbst wahrnehmen und zur Vorstellung unserer irdischen, wandelbaren Persönlichkeit zusammenfassen, erfüllt die Bedingung, dass sich das Ich unmittelbar mit ihr identisch weiß, vielmehr unterscheidet es sich gerade von ihnen. Und dieses Ich, das im Alltagsbewusstsein präsent ist, für das alles präsent ist, ist gerade das, was dieses alles nicht ist. Von diesem »Ich« gilt, was die Theologie oder Theosophie religiöser Zeiten vom eigentlichen Wesen der Gottheit sagte, dass es ineffabile, unsagbar sei. Es ist der Träger aller Eigenschaften, aber selbst keine Eigenschaft, der Träger aller Namen, aber selbst kein Name, die Substanz aller Kategorien, aber selbst keine Kategorie. Nicht einmal, dass es ist, kann man behaupten, denn es ist die Quelle alles Seins, die über allem Sein und der Kategorie des Seins steht. Bestimmte man es als »reines Sein«, als »unbestimmtes Unmittelbares«, wie Hegel dies in seiner »Logik« getan hat, stünde ihm das Nichts, das Nichtsein gegenüber und es selbst wäre nicht grenzenlos, unbestimmt. Auch wenn man das Nichts als immanente dialektische Bestimmung des Seins begreift, gibt es doch ein Drittes, das jenseits dieser Dialektik von Sein und Nichts und ihrer gegenseitigen Abhängigkeit steht. Man muss vollkommen selbstlos werden, um dieses wahre Selbst erfassen zu können, muss sich seines Selbstes vollkommen entäußern, um seines wahren Selbstes ansichtig zu werden und mit diesem in das wahre Selbst eines anderen Wesens untertauchen zu können.

Was Steiner hier als kategoriale Eigenart der intuitiven Erkenntnisform beschreibt, ist nichts anderes als die Liebe. Denn die Liebe beruht auf Selbstlosigkeit, die Liebe ist dieses Untertauchen in ein anderes Wesen, ohne dass das untertauchende Wesen seine Identität verliert, diese Wesensdurchdringung, deren Voraussetzung eben die Selbstlosigkeit ist, weil das Selbst, das sich nicht verliert, nicht in das andere Selbst unterzutauchen vermag, weil ein Selbst, das sich nicht aufgibt, kein anderes Selbst in sich aufzunehmen vermag. Die Vereinigung der Liebenden ist nur durch Verschmelzung möglich, aber wenn sie damit ihre individuelle Wesensdistinktion verlören, bliebe nichts übrig, das das Glück der Verschmelzung zu empfinden vermöchte. Die Kraft, die in der Intuition, der höchsten, dem Menschen erreichbaren Erkenntnisart, zur Anwendung kommt, ist also die Liebe, jene Liebe von der es in der »Philosophie der Freiheit« heißt, dass sie »warm in alle Welterscheinungen untertaucht« und der Quell dieser Liebe ist das »innerste Wesen« des Menschen, denn in diesem innersten Wesen wirkt dieselbe Kraft, die den Kosmos, das Pleroma der geistigen Wesenswelt, zusammenhält. Diese Liebe ist der »Sinn der Erde«, der »Sinn des Kosmos«, der im innersten Wesen des Menschen präsent ist, denn der Mensch ist als geistiges Wesen aus dieser Liebe hervorgegangen und existiert allein durch sie.

Von diesem innersten Wesen des Menschen wird es in der »Geheimwissenschaft im Umriss« heißen:

»Die nächsten Zustände nach dem Tode wären noch einigermaßen durch die imaginative Erkenntnis zu beschreiben. Was aber dann vorgeht, wenn der Mensch weiter kommt in der Zeit zwischen dem Tode und einer neuen Geburt, das müsste der Imagination ganz unverständlich bleiben, wenn nicht die Inspiration hinzukäme. Nur die Inspiration kann erforschen, was von dem Leben des Menschen nach der Läuterung im ›Geisterland‹ gesagt werden kann. Dann aber kommt ein Etwas, für welches die Inspiration nicht mehr ausreicht, wo sie gewissermaßen den Faden des Verständnisses verliert. Es gibt eine Zeit der menschlichen Entwickelung zwischen dem Tode und einer neuen Geburt, wo das menschliche Wesen nur der Intuition zugänglich ist.

Dieser Teil der menschlichen Wesenheit ist aber immer in dem Menschen; und will man ihn, seiner wahren Innerlichkeit nach, verstehen, so muss man ihn auch in der Zeit zwischen der Geburt und dem Tode durch die Intuition aufsuchen. Wer den Menschen nur mit den Mitteln der Imagination und Inspiration erkennen wollte, dem entzögen sich gerade die Vorgänge des innersten Wesens desselben, die von Verkörperung zu Verkörperung sich abspielen. Nur die intuitive Erkenntnis macht daher eine sachgemäße Erforschung von den wiederholten Erdenleben und vom Karma möglich. Alles, was als Wahrheit über diese Vorgänge mitgeteilt werden soll, muss der Forschung durch intuitive Erkenntnis entstammen.

Und will der Mensch sich selbst seiner inneren Wesenheit nach erkennen, so kann er dies nur durch Intuition. Durch sie nimmt er wahr, was sich in ihm von Erdenleben zu Erdenleben fortbewegt.«

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