Der Lebende, der Sohn des Wachenden

Zuletzt aktualisiert am 19. März 2017.

Gabriel trägt Mohammed. Persische Miniatur, 14. JahrhundertEine imaginative Erzählung Avicennas (ca. 980-1037).

Die Erzählung schildert die Einweihung in den Orient – in die Welt der reinen Formen, der Formen des Lichtes, in die Welt der Engel – im Unterschied zum Okzident der irdischen Welt und dem äußersten Okzident des reinen Stoffes. In ihr erscheint der Engel der Erkenntnis in Gestalt Hadsch ibn Jaqzāns, »des Lebenden, des Sohns des Wachenden«. Avicenna beschreibt einen Kosmos, dessen physische Gebilde in Symbole transformiert werden und lädt den Schüler dazu ein, zum Begleiter des Engels zu werden, der durch den Kosmos der Symbole hindurch die Reise in den Orient antritt. Am Ende steht die Aufforderung: Folge mir nach!

1. Eure inständigen Bitten, meine Brüder, für euch die Erzählung von Hadsch ibn Jaqzān, dem »Lebenden, dem Sohn des Wachenden« niederzuschreiben, haben am Ende über meine hartnäckige Weigerung gesiegt, dies zu tun. Eure Bitten haben die Fesseln meiner Entschlossenheit gelöst. Und so finde ich mich nun bereit, euch zu helfen. Möge Gott uns bei unserem Unterfangen beistehen!

2. Einst, nachdem ich mich in meiner Stadt eingerichtet hatte, unternahm ich mit meinen Gefährten eine Wanderung zu einem jener wunderschönen Orte, die sich in ihrer Umgebung befinden. Als wir uns gerade im Kreis niederlassen wollten, erschien unweit von uns ein Weiser. Er war schön; seine Gestalt war von einem übernatürlichen Glanz umgeben. Gewiss hatte er viele Jahre des Lebens hinter sich; er blickte auf lange Zeiten zurück. Aber doch schien er wie ein junger Mann zu sein; keinerlei Schwäche beugte ihn, die Anmut seiner Haltung war makellos. Kurz, abgesehen von der Würde des alten Weisen, die er ausstrahlte, haftete ihm kein Zeichen des Alters an.

3. Kaum hatte ich diesen Weisen gesehen, empfand ich auch schon den Wunsch, mich mit ihm zu unterhalten. In den Tiefen meiner Seele regte sich das Verlangen, ihn kennenzulernen und mit ihm vertraut zu werden. Und so ging ich ihm mit meinen Gefährten entgegen. Als wir bei ihm angelangt waren, tat er den ersten Schritt; er ehrte uns mit einer Begrüßung und wünschte uns Frieden. Dann sprach er uns lächelnd mit Worten an, die unsere Herzen erquickten.

4. Wir hatten schon allerlei gesprochen, als unsere Unterhaltung sich schließlich seiner Person zuwandte. Ich versuchte in Erfahrung zu bringen, wie und wovon er lebte und fragte nach seinem Namen und seiner Herkunft. Da sagte er zu mir: Mein Name ist »der Lebende«; mein Vater ist »der Wachende«; ich komme aus dem himmlischen Jerusalem, dem Allerheiligsten aller Orte. Meine Beschäftigung ist das Reisen, ich wandere in der Welt herum, um sie kennenzulernen. Mein Antlitz ist dabei stets meinem Vater zugewandt und mein Vater ist der Wachende. Von ihm habe ich alles gelernt, er gab mir die Schlüssel zu jeder Art von Erkenntnis. Er zeigte mir die Pfade, die zu den äußersten Grenzen des Kosmos führen, und da ich bereits die ganze Welt bereist habe, scheint es, als ob ich die Horizonte aller Klimazonen durchwandert hätte.

5. Unsere Unterhaltung schritt ohne Unterbrechung voran. Ich fragte ihn über die schwierigsten Wissenschaften aus. Ich lernte von ihm, wie ich ihre Rätsel lösen könne, und am Ende gelangten wir zur Physiognomik, der Kunde von den Antlitzen. Ich bemerkte voller Bewunderung, dass er diese Wissenschaft mit seiner Weisheit durchdrungen hatte; und wieder war er es, der den ersten Schritt tat, als wir auf dieses Gebiet und seine vielfältigen Geheimnisse zu sprechen kamen. Er sagte zu mir: Die Physiognomik ist die vorzüglichste aller Wissenschaften, Du kannst aus ihr für alle anderen unmittelbaren Gewinn ziehen, denn sie verschafft Dir Zugang zu dem, was alle Menschen verbergen, so dass Du Dich dem Wesen eines jeden und jeder Situation gemäß verhalten kannst.

6. An Dir offenbart mir die Physiognomik sowohl den vornehmsten Typus aller geschaffenen Wesen, als auch eine Mischung aus Erde und unbelebten Substanzen, die empfänglich für alle Eindrücke ist. Sie zeigt mir, dass Du stets dorthin gehst, wohin Du gezogen wirst. Wenn Du auf den rechten Weg geführt und auf ihn gerufen wirst, dann wirst Du ehrenwert und rein. Doch wenn Dich ein Verführer auf den Pfad des Irrtums führt, dann unterliegst Du ihm und gehst in die Irre. Diese Gefährten, die Dich umgeben und Dich nie verlassen, sind schlechte Gefährten. Man muss befürchten, dass sie Dich verführen und Du in ihren Fesseln gefangen bleibst, sofern Dich nicht der göttliche Ruf erreicht und Dich vor ihrer Arglist beschützt.

7. Jener Gefährte, der Dir immer vorangeht und Dich anstachelt, ist ein Lügner, ein frivoler Schwätzer, der das Falsche verherrlicht und Dich mit erfundenen Geschichten betört; er trägt Dir Kenntnisse zu, ohne dass Du danach verlangst; er vermischt Wahres und Falsches, beschmutzt die Wahrheit mit dem Irrtum, und das, obwohl er trotz allem Dein verborgenes Auge und Dein Erleuchter ist. Durch ihn erfährst Du, was Deine Nachbarn nicht wissen und erhältst Kunde von fernen Dingen. Dir ist die Aufgabe gestellt, das gute Geld von all den falschen Münzen zu unterscheiden, unter all den Lügen die Wahrheit zu entdecken, das Rechte aus dem Gewebe der Irrtümer herauszulösen, da Du auf diesen Gefährten nicht verzichten kannst. Es mag sein, dass Dich bisweilen ein göttlicher Beistand an die Hand nimmt, und Dich von dem Pfad hinwegleitet, der nirgendwohin führt, und dass Du manchmal von Zweifeln wie gelähmt bist; und manchmal wird Dich falsches Zeugnis verführen.

Der Gefährte zu Deiner Rechten dagegen ist gewalttätig; wenn er von Zorn erfüllt ist, wird ihn kein guter Ratschlag bändigen; auch zuvorkommendes Verhalten mäßigt seinen Zorn nicht. Er ist wie das Feuer, das trockenes Holz verzehrt, wie eine Sturzflut, die aus den Höhen herabkommt, wie ein betrunkenes Kamel, wie eine Löwin, dessen Junges getötet wurde.

Der Gefährte zu Deiner Linken schließlich ist ein Schlamper, ein Vielfraß, ein Lüstling; nichts vermag seinen Appetit zu stillen, als die Erde; allein Schlamm und Dreck befriedigt ihn. Er leckt, schmeckt, verschlingt und begehrt. Er ist wie ein hungriges Schwein, das man auf Abfall loslässt.

Und an diese üblen Gefährten, o Unglücklicher, bist Du gefesselt. Es gibt keine Möglichkeit der Befreiung für Dich, es sei denn, Du wirst dem Land, in dem Du lebst, mit Gewalt entrissen, und in ein anderes entführt, dessen Boden von diesen Gefährten nicht betreten werden kann. Aber da die Stunde Deiner Befreiung noch nicht gekommen ist, und Du jenes andere Land noch nicht erreichen kannst, weil Du Dich von ihnen nicht zu trennen vermagst, und es keine Zuflucht für Dich gibt, in der sie Dich nicht finden könnten, verhalte Dich so, dass Du die Oberhand über sie gewinnst und dass Dein Wille den ihrigen bezwingt. Lass sie Dein Königreich nicht erobern, lass nicht zu, dass sie Dich an ihrem Halfter führen, sondern bezwinge sie, indem Du Dich ihnen gegenüber wie ein erfahrener Meister verhältst; führe sie, indem Du sie zwingst, auf dem rechten Pfad zu bleiben, denn immer, wenn Du standhaft bleibst, überwindest Du sie, statt dass sie Dich überwinden; Du wirst sie zu Deinem Reittier machen, statt dass sie Dich zu ihrem Reittier erniedrigen.

8. Was nun die Kunstgriffe und Kampfmittel anbetrifft, die Du gegen sie anwenden kannst, so besteht das eine darin, dass Du den schlaffen und gefräßigen Gefährten mit Hilfe des gewalttätigen unterwirfst und den ersteren zum Rückzug zwingst. Umgekehrt kannst Du langsam die Leidenschaft des unziemlich Zornigen bändigen, indem Du ihn mit Hilfe des freundlichen, zärtlichen Gefährten verführst, bis er völlig befriedet ist. Und was den dritten anbetrifft, jenen eleganten Schwätzer, der im Erfinden von Schweinwahrheiten bewandert ist, so hüte Dich, ihm zu trauen, Dich auf seine Worte zu verlassen, solange er Dir kein gewichtiges Zeugnis vorlegt, das aus Gott stammt. Sollte dies der Fall sein, dann kannst Du seinen Worten trauen und dem Glauben schenken, was er Dir erzählt. Hüte Dich aber davor, all seinen Worten zu misstrauen, indem Du Dich gegenüber allem taub stellst, was er sagt, auch wenn er Wahres mit Falschem vermischt, denn in all seinen Mitteilungen wird manches sein, das nähere Untersuchung lohnt, manches, dessen Wahrheit man nicht übersehen darf.

Nachdem der Weise meine Gefährten auf diese Art beschrieben hatte, fand ich mich nur allzu bereit, seiner Lehre Glauben zu schenken und anzuerkennen, dass seine Worte wahr seien. Als ich meine Gefährten auf die Prüfung stellte und sie fortwährend beobachtete, bestätigte die Erfahrung, was er mich gelehrt hatte. Und nun bin ich ebensosehr damit beschäftigt, sie zu heilen, als mich ihnen zu unterwerfen. Manchmal gewinne ich die Oberhand, manchmal sind sie stärker als ich. Gott möge mir gestatten, dass ich in guter Nachbarschaft mit ihnen lebe, bis die Zeit kommt, mich von ihnen endgültig zu verabschieden!

9. Danach bat ich den Weisen, er möge mein Führer auf dem Pfad werden und mir zeigen, wie ich mich auf die Wanderung begeben könne, auf der er selbst sich befinde. Ich sprach ihn an wie ein Mann, der danach brannte, der das allergrößte Verlangen danach trug, ihm nachzueifern. Er antwortete: Du und all jene, die Dir gleichen – Ihr könnt diese Wanderung nicht unternehmen. Es ist euch nicht erlaubt. Der Pfad ist euch verschlossen, solange euch nicht ein glückliches Geschick in die Lage versetzt, euch von diesen Gefährten zu trennen. Aber die Stunde der Trennung ist noch nicht gekommen; sie wird kommen, aber Du kannst sie nicht herbeizwingen. Im Augenblick musst Du Dich mit einer Wanderung zufriedengeben, die von Ruhepausen und Untätigkeit unterbrochen wird; manchmal wirst Du unterwegs sein, manchmal wirst Du Dich mit Deinen Gefährten herumschlagen müssen. Immer, wenn Du alleine unterwegs bist und mit Hingabe voranschreitest, werde ich an Deiner Seite sein und sie werden Dich nicht behelligen. Immer, wenn Du Dich nach ihnen sehnst, wirst Du zu Ihnen zurückkehren und von mir getrennt werden; so wird es sein, bis die Stunde kommt, da Du Dich endgültig von ihnen trennst.

10. Schließlich fragte ich ihn nach den verschiedenen Weltgegenden oder Klimazonen, die er bereist hatte, über die er weitreichende Kenntnisse besaß. Er antwortete: Die Erde gliedert sich in drei Zonen: den Orient und den Okzident und eine dritte zwischen diesen beiden. Diese dritte kennst Du am besten, vieles hast Du über sie gehört und auch richtig verstanden. Manche Kunde von den wunderbaren Dingen, die sich in dieser Klimazone befinden, ist bereits an Dein Ohr gedrungen. Aber es gibt zwei weitere fremdartige Zonen: die eine liegt jenseits des Okzidents, die andere jenseits des Orients. Beide werden durch eine Schranke abgeschirmt, die den Zutritt aus dieser Welt verhindert, denn niemand vermag dorthin zu gelangen oder seinen Zutritt zu erzwingen, abgesehen von einigen wenigen Auserwählten, die eine Kraft erlangt haben, die der Mensch nicht von Natur aus besitzt.

11. Um diese Kraft zu erlangen, musst Du in jenen Bach untertauchen, der nahe der Quelle des Ewigen Lebens fließt. Wenn der Pilger auf dem Pfad zu jenem Bach gelangt ist, sich in ihm reinigt und von seinem süßen Wasser trinkt, dann durchzieht eine neue Stärke seine Glieder, die ihn dazu befähigt, große Wüsten zu durchqueren. Sie scheinen sich vor ihm zusammenzurollen. Er geht in den Fluten des Ozeans nicht unter; er ersteigt ohne Mühe den Weltenberg Qāf und die Wächter dieses Berges vermögen ihn nicht in die Abgründe der Hölle hinabzustoßen.

12. Wir baten ihn, uns mehr über diesen Bach zu erzählen. Er sagte: Du hast von der Finsternis gehört, die ewig um den Pol herum ausgebreitet ist. Zu einer bestimmten Zeit im Jahr wird er von der aufgehenden Sonne beleuchtet. Wer sich dieser Finsternis nähert und nicht zögert, sich in ihre Tiefen zu stürzen, wird in einen grenzenlosen Raum gelangen, der voller Licht ist. Das erste, was er sieht, ist ein lebendiger Quell, dessen Wasser über den Abgrund des Schattens (barzakh) herabfließen. Wer in dieser Quelle badet, wird so leicht, dass er auf dem Wasser wandeln und ohne Mühe die höchsten Berge erklimmen kann, bis er endlich zu einer jener Grenzen gelangt, von welchen diese Welt umschlossen ist.

13. Da bat ich ihn: Erzähle mir von der Grenze des Okzidents, denn der Okzident liegt näher bei unseren Städten. Er antwortete mir: An der äußersten Grenze des Okzidents liegt ein großes Meer, das im Buch Gottes das »heiße Meer« (oder »Meer des Schlamms«) heißt. Dort geht die Sonne unter. Die Flüsse, die sich in dieses Meer ergießen, kommen aus einem unbewohnten Land, dessen Weite niemand zu ermessen vermag. Niemand lebt dort, nur manchmal tauchen Fremde aus anderen Gegenden unerwartet dort auf. In diesem Land herrscht ewige Finsternis. Jene, die sich dorthin begeben, sehen immer nur, wenn die Sonne sinkt, einen Funken ihres Lichtes. Den Boden dieses Landes bildet eine Salzwüste. Wann immer Menschen versuchen, sich dort niederzulassen und etwas anzubauen, scheitern sie; das Land stößt sie aus und andere treten an ihre Stelle. Wenn jemand versucht, dort etwas auszusäen, verdorrt es. Wenn man versucht, ein Gebäude zu errichten, zerfällt es. Unter den Menschen, die sich dort aufzuhalten versuchen, herrscht ständiger Streit oder besser tödlicher Kampf. Die Stärksten ergreifen von Wohnstätten und Eigentum Besitz und vertreiben die Schwächeren. Sie versuchen zu bleiben; aber sie ernten nur Verlust und Leid. So leben sie. Und sie ändern sich nicht.

14. Die unterschiedlichsten Tiere und Pflanze erscheinen in diesem Land; wenn aber die Tiere sich darin niederlassen, sich von seinem Gras nähren und sein Wasser trinken, nehmen sie plötzlich Formen an, die ihrem Wesen nicht entsprechen. Man sieht dort Menschen, die mit dem Fell eines Vierbeiners bedeckt sind, während auf ihrem Rücken Pflanzen wachsen. Und so ergeht es auch den anderen Arten. Diese Klimazone ist eine Stätte der Verwüstung, eine Salzwüste voller Drangsal, Krieg, Streit und Aufruhr; was dort an Freude und Schönheit existiert, ist nur von einem anderen, weit entlegenen Ort geborgt.

15. Zwischen jener Klimazone und der Deinigen befinden sich manch andere. Wie auch immer, jenseits Deiner Klimazone beginnt bei den Säulen des Himmels eine Zone, die der Deinigen in vielerlei Hinsicht ähnelt. Es handelt sich um eine Wüstenebene; auch sie ist nur von Fremden bewohnt, die von woanders kamen. Diese Zone wird ebenfalls von geborgtem Licht erleuchtet, auch wenn sie dem Fenster des Lichtes näherliegt, als die Zonen, die ich bisher beschrieben habe. Und diese Zone ist das Fundament der Himmel, so wie die zuvor beschriebene der Sitz der Erde, ihr dauerndes Fundament ist. Die Bewohner dieser Zone halten sich dort jedoch nicht nur vorübergehend, sondern dauernd auf. Unter den Fremden, die sich dort niedergelassen haben, herrscht kein Krieg; sie ergreifen nicht von den Wohnungen anderer und deren Eigentum Besitz. Jede Gruppe wohnt in einer bestimmten Gegend, in die keine anderen eindringen, um sie heimzusuchen.

16. In unmittelbarer Nachbarschaft zu Deiner Klimazone befindet sich ein Land, dessen Bevölkerung sehr klein ist und sich sehr schnell bewegt. Seine Einwohner leben in neun Städten.

Nach dieser Region kommt ein Königreich, dessen Bewohner noch kleiner als die vorigen sind, aber sich langsamer bewegen. Sie haben eine Leidenschaft für die Dichtkunst, die Sternenweisheit und die magischen Künste. Sie lieben feinsinnige Beschäftigungen und tiefsinnige Tätigkeiten. Sie leben in zehn Städten.

Nach dieser Region kommt ein Königreich, dessen Bewohner außergewöhnlich schön und bezaubernd sind. Sie lieben Vergnügungen und Feste. Sie sind bar jeder Sorge. Sie besitzen einen ausgeprägten Sinn für Musik und kennen viele Instrumente. Über sie herrscht eine Königin. Sie haben eine natürliche Vorliebe für das Gute und Schöne. Wenn sie von Schlechtem und Hässlichem hören, erfüllt sie Abscheu. Sie wohnen in neun Städten.

Darauf folgt ein Königreich, dessen Bewohner sehr groß und deren Antlitze sehr schön sind. Sie sind gegenüber allen, die weit entfernt wohnen, äußerst wohlwollend, ihren unmittelbaren Nachbarn aber bringen sie Verderben. Sie leben in fünf Städten.

Als nächstes kommt ein Königreich, dessen Einwohner der Erde Zerstörung bringen. Sie lieben es um ihrer Zerstreuung und ihres Vergnügens willen zu verletzen, zu töten, zu verstümmeln und abschreckende Exempel zu statuieren. Über sie herrscht ein rotes Individuum, das immerzu bestrebt ist, zu verletzen, zu töten und zu schlagen. Manchmal wird dieser König, wie ihre Chroniken berichten, von der Königin mit dem schönen Antlitz, die ich eben erwähnte, verführt, die in ihm eine leidenschaftliche Liebe hervorruft. Die Bewohner dieses Reiches leben in acht Städten.

Als nächstes kommt ein Land, das von einem Volk bewohnt wird, dessen Gedanken absonderlich sind und das dem Bösen zuneigt. Wie auch immer, wenn sie dem Guten geneigt sind, dann gehen sie bis zum Äußersten. Wenn sie eine Armee angreifen, dann stürzen sie sich nicht unbesonnen auf die feindlichen Kämpfer, sondern nähern sich wie ein Verführer voller Listen. Sie haben es nicht eilig mit ihren Geschäften und können sich lange gedulden. Sie leben in acht Städten.

Als nächstes kommt ein gewaltiges Königreich mit weit ausgedehnten Ländereien. Es verfügt über eine zahlreiche Bevölkerung, die aber isoliert im ganzen Reich und nicht in Städten lebt. Der Boden dieses Reiches ist eine Wüste, in der nichts gedeiht. Es ist in zwölf Regionen unterteilt, die 28 Siedlungen enthalten. Keine Gruppe macht sich auf, die Siedlung einer anderen zu besetzen, es sei denn, diese hätte die ihrige verlassen; dann eilen sie, von derselben Besitz zu ergreifen. Alle Wanderer, die in den bisher beschriebenen Königreichen exiliert sind, reisen durch dieses Königreich und entwickeln sich hier weiter.

Dieses Königreich wird von einem anderen begleitet, dessen Grenzen noch niemand beschrieben, geschweige denn erreicht hätte. In ihm gibt es weder Städte, noch Dörfer. Niemand, der für körperliche Augen sichtbar ist, findet dort Zuflucht. Seine Bewohner sind Engel. Kein Mensch kann es erreichen oder dort leben. Aus diesem Königreich strömen der göttliche Wille und das Schicksal auf alle herab, die in den bisher beschriebenen Reichen leben. Jenseits dieses Reiches gibt es keine bewohnte Erde. Kurz, diese beiden Klimazonen, an welche die Erde und der Himmel angrenzen, befinden sich auf der linken Seite des Kosmos, jener, die wir als Okzident bezeichnen.

17. Nun, wenn Du in den Orient gehst, dann erscheint zuerst eine Klimazone, die von niemandem bewohnt wird: weder von Menschen, noch von Pflanzen, noch Mineralien. Sie ist eine ausgedehnte Wüste, ein flutendes Meer, ein wütender Feuersturm. Wenn Du sie durchquert hast, dann gelangst Du in eine Zone, in der Du unverrückbare Berge, Ströme lebendigen Wassers, Winde und Wolken findest, die mächtige Regengüsse herabsenden. Dort findest Du Gold, Silber und Mineralien aller Arten, aber Du wirst nichts finden, das wächst. Wenn Du sie durchquerst, gelangst Du zu einer Klimazone, in der Du alles bereits Erwähnte findest, darüber hinaus aber auch alle Arten von Gewächsen, Blumen und Fruchtbäume, die Dir ihre Steinfrüchte oder Samen schenken, aber Du wirst kein einziges Tier finden, das einen Laut von sich gäbe. Wenn Du diese Zone verlässt, betrittst Du eine andere, in der Du alles Erwähnte findest, dazu aber auch Lebewesen aller Arten, sofern sie nicht mit dem Logos begabt sind, solche die schwimmen, solche die kriechen, andere, die gehen oder fliegen, indem sie ihre Schwingen bewegen oder in der Luft dahingleiten, solche, die sich begatten, andere, die brüten, aber keine Menschen. Aus dieser wirst Du in die Welt entfliehen, die die Deinige ist, die Du bereits durch Dein eigenes Sehen und Hören kennst.

18. Wenn Du nun aber geradezu nach Osten weitergehst, dann wirst Du auf die Sonne stoßen, die zwischen den beiden Hörnern des Dämons emporsteigt. Denn der Dämon besitzt zwei Hörner oder Truppen, von denen die eine fliegt, die andere dahintrottet. Die Truppe, die dahintrottet, besteht aus zwei Stämmen: der eine besitzt die Wildheit von Raubtieren, der andere gleicht pflanzenfressenden Vierbeinern. Zwischen beiden herrscht ewiger Krieg und beide bewohnen die linke Seite des Orients. Die Dämonen, die fliegen, wohnen hingegen auf der rechten Seite des Orients. Sie sind nicht alle gleicher Art. Im Gegenteil, jeder Einzelne von ihnen besitzt seine eigene Natur, durch die er sich von allen anderen unterscheidet, manche besitzen zwei, andere drei, wieder andere vier Wesensbestandteile, wie zum Beispiel ein fliegender Mensch oder eine Viper mit dem Kopf eines Ebers. Manche von ihnen bestehen auch nur aus einer Hälfte, andere aus nur einem Bruchteil eines Wesens, wie ein Mensch, der nur aus der rechten Hälfte bestünde, oder einem Handballen, oder einem einzelnen Fuß oder irgendeinem anderen Glied eines Lebewesens. Man könnte fast glauben, dass die zusammengesetzten Wesen, die manche Maler abbilden, aus dieser Klimazone stammen!

Der Regent, der die Geschehnisse in dieser Klimazone beherrscht, hat fünf große Straßen geschaffen. Diese fünf Straßen sind zugleich fünf Festungen seines Reiches. Diese fünf Festungen werden von bewaffneten Männern bewacht. Sobald sich Bewohner dieser Welt zeigen, werden sie von den Männern festgenommen. Sie durchsuchen ihr ganzes Gepäck und übergeben sie dann einem Wächter, dem Befehlshaber der fünf bewaffneten Männer, der an der Schwelle dieser Klimazone steht und Ausschau hält. Die Nachrichten, die die Gefangenen mitbringen und die weitergeleitet werden sollen, werden in einem Brief aufgeschrieben, der versiegelt wird, ohne dass der Wächter weiß, was in dem Brief steht. Die Aufgabe des Wächters besteht darin, den Brief an einen gewissen Kämmerer weiterzuleiten, der ihn dem König übergibt. Dieser Kämmerer übernimmt auch die Gefangenen; ihre Besitztümer übergibt er einem weiteren Kämmerer. Und jedes Mal, wenn sie irgendwelche Truppen aus unserer Welt gefangen nehmen, seien es nun Menschen oder Tiere oder irgendwelche anderen Wesen, vermehren sich diese Wesen, entweder durch glückliche Fügungen, in welchen ihre Formen erhalten bleiben, oder aber, indem sie Missgeburten erzeugen.

19. Manchmal macht sich eine Gruppe aus diesen beiden Dämonentruppen in Deine Klimazone auf; hier überraschen sie Menschen, und dringen durch den Atem in ihr Herz ein. Der trottende Stamm, der Raubtieren gleicht, liegt auf der Lauer und wartet auf den Moment, wenn jemand einem anderen auch nur das kleinste Unrecht antut. Dann stachelt er ihn auf und lässt ihm die schlimmsten Verhaltensweisen wie Töten, Verstümmeln, Zertrümmern oder die Zufügung von Leid im schönsten Licht erscheinen. Diese Dämonen nähren den Hass in den Tiefen unseres Herzens; sie drängen uns, zu unterdrücken und zu zerstören. Der zweite Stamm redet unentwegt zum Menschen und färbt Sünden, unwürdige Handlungen und schurkisches Verhalten schön; er flößt ihm das Verlangen nach solchen Handlungen ein und lässt ihn Gefallen daran finden; das Reittier der Verbohrtheit reitend, lässt er nicht eher ab, als bis er ihn überredet hat. Die fliegenden Dämonen schließlich verführen den Menschen dazu, alles, was er nicht mit seinen leiblichen Augen sehen kann, für irreal zu erklären; sie überreden ihn, allein die Werke der Natur oder des Menschen zu bewundern; sie reden ihm ein, nach dem Tode gebe es keine Wiedergeburt in eine andere Welt, und Gut und Böse hätten keinerlei Konsequenzen, schließlich auch, es gebe kein Wesen, das ewig im himmlischen Königreich regiert.

20. Nun gibt es aber manche Gruppen, die sich von diesen Dämonen trennen, und die Grenzen einer gewissen Klimazone heimsuchen, die unmittelbar an die beschriebene angrenzt, jene, die von den irdischen Engeln bewohnt wird. Wenn sie von diesen Engeln geführt werden, finden sie den rechten Pfad; auf diese Weise befreien sie sich von den Irrtümern der Dämonen und wählen den Pfad der himmlischen Engel. Wenn diese Dämonen sich unter die Menschen mischen, dann nicht, um sie zu verderben oder in die Irre zu führen; im Gegenteil, sie unterstützen sie dabei, rein zu werden. Bei diesen Wesen handelt es sich um die »Feen« oder »Genien«, die im Arabischen als »Jinn« oder »Hinn« bezeichnet werden.

21. Wem es gelingt, diese Klimazone zu verlassen, der tritt in das Gebiet der Engel ein. Jene Zone, die sich mit der Erde bewegt, ist die, welche die irdischen Engel bewohnen. Diese Engel bilden zwei Gruppen. Die eine steht auf der rechten Seite: das sind die Engel, die erkennen und anordnen. Ihnen gegenüber stehen die Engel zur Linken, es sind jene, die gehorchen und handeln. Manchmal steigen diese Engel zur Klimazone der Menschen und Feen herab, manchmal steigen sie zum Himmel auf. Man sagt, zu ihnen gehörten auch die beiden Engel, welchen der Mensch anvertraut sei, der »Schutzengel und der Edle Schreiber« – der eine zur Rechten, der andere zur Linken. Jener, der zur Rechten des Menschen steht, gehört zu den Engeln, die anordnen; ihm fällt die Aufgabe zu, zu diktieren. Jener, der zur Linken des Menschen steht, gehört zu den Engeln, die handeln; ihm fällt die Aufgabe zu, zu schreiben.

22. Jener, der auf einen gewissen Pfad geführt wird, der aus dieser Klimazone herausführt und dem Beistand gewährt wird, seinen Exodus zu vollenden, wird Zugang zu jenen Gebieten finden, die jenseits der Himmelssphären liegen. Dann wird er mit einem flüchtigen Blick die Nachkommenschaft der ursprünglichen Schöpfung wahrnehmen, über welche als König der Eine herrscht, dem alle gehorchen.

Dort wird das erste Gebiet von Vertrauten dieses erhabenen Königs bewohnt, die immerzu emsig jenen Tätigkeiten hingegeben sind, die sie in die Nähe ihres Königs bringen. Sie sind ein äußerst reines Volk, das keinerlei Versuchung der Völlerei, der Lust, Gewalt, Eifersucht oder Lässigkeit zugänglich ist. Ihre Aufgabe besteht darin, die Schutzwälle jenes Königreiches zu bewachen, und dort wohnen sie auch. Daher wohnen sie in Städten; sie leben in stolzen Burgen und erhabenen Gebäuden, deren Material mit solcher Sorgfalt geformt wurde, dass die Gebäude nichts gleichen, was wir hier auf Erden kennen. Diese Gebäude sind dauerhafter als Diamanten oder Hyazinthe, als alles, was bei uns von großer Dauer ist. Diesem Volk ist ein langes Leben verliehen; sie werden vom Tode lange Zeit verschont; er kann sie erst nach langer Zeit berühren. Ihr Leben besteht darin, die Schutzwälle des Königreichs aufrecht zu erhalten, so wie es ihnen befohlen wurde.

Über ihnen steht ein Volk, das engeren Umgang mit dem König pflegt und das unablässig damit beschäftigt ist, ihm zu dienen. Es empfindet diesen Dienst nicht als Demütigung, es ist vor allen Anfechtungen gefeit, und geht nie einer anderen Beschäftigung nach. Die Angehörigen dieses Volkes wurden zu Vertrauten erwählt, und sie haben die Kraft empfangen, den höchsten Palast anzuschauen und sich in dessen Nähe aufzuhalten. Ihnen wurde gewährt, das Antlitz des Königs ununterbrochen anzusehen. Ihnen wurde eine süße Anmut zuteil, die ihr Wesen schmückt, Güte und alldurchdringende Weisheit erfüllt ihre Gedanken, und sie sind das letzte Ziel, auf die alles Erkennen ausgerichtet ist. Sie wurden mit leuchtenden Gewändern bekleidet und mit einer Schönheit ausgestattet, die den Betrachter vor Bewunderung erzittern lässt, mit einer Gestalt, die vollendet ist. Einem jeden wurde ein bestimmter Bezirk zugeteilt, der ihm alleine gehört, ein bestimmter Rang, eine göttlich verfügte Würde, die ihm kein anderer streitig macht, und in der ihm kein anderer gleichkommt, da alle anderen entweder über ihm stehen oder aus seinem untergeordneten Rang seine Glückseligkeit schöpft. Bei ihnen gibt es einen, der dem König am nächsten steht und er ist ihr »Vater« und sie sind seine Kinder und Enkel. Durch ihn erfahren sie die Worte und Anordnungen des Königs. Und zu all den Wundern, die ihr Leben ausmachen, gehört auch das Folgende: der Lauf der Zeit lässt sie nicht altern oder hinfällig werden. Im Gegenteil, jener, der unter ihnen der »Vater« und damit der Älteste von allen ist, überragt sie alle an jugendlicher Kraft und sein Antlitz strahlt mehr als alle anderen von der Schönheit der Jugend. Sie alle leben in der Wüste; sie bedürfen keines Hauses oder Unterstandes.

23. Der König aber lebt von allen am meisten zurückgezogen in der Einsamkeit. Wer immer ihn mit einem Anfang in Verbindung bringt, irrt. Wer immer behauptet, ihm ein Lob darzubringen, das ihm angemessen sei, ist ein eitler Schwätzer. Denn der König übersteigt alle Fähigkeiten der Klugen, ihn durch Eigenschaften zu bezeichnen, ebenso wie alle Vergleiche ihm gegenüber versagen. Möge daher niemand so verwegen sein, ihn mit was auch immer zu vergleichen. Er besitzt keine Glieder, die ihn teilen: er ist ganz Antlitz ob seiner Schönheit, ganz Hand ob seiner Großzügigkeit. Und seine Schönheit lässt alle andere Schönheit verblassen. Seine Großzügigkeit stellt jede andere Großzügigkeit in den Schatten. Wenn einer seiner Untergebenen versucht, seine Unermesslichkeit zu betrachten, blinzeln seine Augen vor Benommenheit und er geht geblendet von dannen. Ja, seine Augen werden ihm fast entrissen, schon bevor er sich ihm zugewendet hat. Es scheint, als ob seine Schönheit der Schleier seiner Schönheit ist, seine Offenbarung der Grund seiner Verborgenheit, seine Erscheinung der Grund seiner Unauffindbarkeit. So, wie die Sonne besser betrachtet werden kann, wenn sie sich ein wenig verbirgt, und die Fülle der Erscheinung ihres gewaltigen Lichtes unsere Augen daran hindert, sie zu sehen, so dass ihr Licht der Schleier ihres Lichtes ist. Wahrlich, der König offenbart seine Schönheit an den Horizonten derer, die ihm gehören; ihnen gegenüber geizt er nicht mit seinem Anblick; jene, die seines Anblicks entbehren, sehen ihn aufgrund ihrer dürftigen Fähigkeiten nicht. Er ist mild und barmherzig; Er fließt über von Großherzigkeit; Seine Güte ist unerschöpflich; Seine Geschenke überwältigend; Sein Hofstaat unermesslich; Seine Gunst allumfassend. Wer auch nur eine Spur Seiner Schönheit gewahrt, dessen Blick ist auf immer von ihr gebannt; niemals mehr, auch nicht für die Dauer eines Augenzwinkerns, lässt er sich von diesem Anblick ablenken.

24. Manchmal nehmen ausgewählte Menschen den Weg zu ihm auf sich. Ihnen lässt er so viel Anmut zuteilwerden, dass sie unter der Last seiner Gnade seufzen. Ihnen wird die Armseligkeit der Annehmlichkeiten Eurer irdischen Klimazone bewusst. Und wenn sie aus seinem Palast zurückkehren, dann sind sie beladen mit mystischem Reichtum.

25. Darauf sagte der Weise Hadsch ibn Jaqzān, der Lebende, der Sohn des Wachenden zu mir: Würde ich nicht, während ich mich mit Dir unterhalte, mich diesem König nähern, indem ich Dich zum Erwachen bringe, müsste ich meinen anderen Pflichten ihm gegenüber nachgehen, die mich von Dir fortführen. Nun aber, folge mir, wenn Du willst, begleite mich auf meinem Weg zu Ihm. Friede sei mit Dir.

Übersetzung aus der englischen Version des Buches von [amazon_textlink asin=’0691600708′ text=’Henry Corbin, Avicenna and the Visionary Recital’ template=’ProductLink’ store=’anthroblog-21′ marketplace=’DE’ link_id=’04b0f655-0ccb-11e7-a56e-37ea5bc84e12′], Princeton 1960 durch Lorenzo Ravagli.

Siehe auch: Die Engel Avicennas I-IV | Die Erzählung vom Vogel | Salaman und Absal

Siehe auch den Kommentar zu dieser Erzählung!

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