Islamische Gnosis

Zuletzt aktualisiert am 26. August 2016.

Kalligrafie, die Ali, den Tiger Gottes darstellt.

Jan Assmann hat in seiner Streitschrift »Die Mosaische Unterscheidung« seine Variante der opferreichen Geschichte des Monotheismus erzählt. Gemeinhin gilt die Auffassung, es gebe nur einen Gott und dieser eine sei der wahre, als Merkmal, das die »großen abrahamitischen« Religionen gemeinsam hätten. Dem Einen wird das Viele gegenübergestellt, das wahlweise verworfen, verurteilt oder verflucht wird – mit all den sozialen und politischen Implikationen solcher theologischen Herrschaftsakte. Der eifersüchtige Gott duldet keinen anderen neben sich, der eifersüchtige Theologe auch nicht. Verbündet sich letzterer mit der weltlichen Macht, dann Wehe über die Vielen, die sich dem Einen nicht beugen wollen oder können, weil ihr Rücken zu steif ist.

Soweit der Mythos. Bei näherem Zusehen zeigt sich jedoch, dass es mit diesem Monon nicht weit her ist. Was soll auch ein Gott ohne Welt, ohne himmlische Heerscharen, ohne Schöpfung und Menschheit, die ihn verehrt und anbetet? Ein striktes Monon ist sehr einsam und mag sich selbst genügen – aber was geht es uns an, zumal wir ohnehin nichts mit ihm zu tun haben können – zu weit, zu groß der Abstand, der uns von ihm trennt. Und so verwundert es nicht, dass alle drei »großen monotheistischen Religionen« der Einzigkeit des Einzigen alles Mögliche »beigesellten«, trotz aller vollmundigen gegenteiligen Beteuerungen: mochte dieses »Beigesellte« nun Sohn, Tochter, Mutter oder wie auch immer genannt werden. Der Vater ist eben nicht Vater ohne eine Mutter und ohne Kinder – er kann also nur relational gedacht werden. Der »für sich seiende Vater« ist eine inhaltsleere Abstraktion, das Produkt einer patriarchalen, pharisäischen, mönchischen, jedenfalls männlichen Phantasie, die sich von der Realität um so weiter entfernt, je mehr Argumente zur Rechtfertigung ihres Herrschaftsanspruchs aufgehäuft werden. – Der Gott des abstrakten Monotheismus ist – eine Abstraktion. Die Kluft zwischen dieser Abstraktion und der Realität der Vielfalt – der Schöpfung, der Menschheit, der Glaubensformen, der Epochen der Geschichte, der vielen Götter – kann und muss überbrückt werden. Das ergibt sich schon aus der Logik: auch das Denken ist trotz seiner Einheit Vielheit – eben Vielheit in der Einheit, Koexistenz von Vielheit und Einheit – und diese Koexistenz, dieses Zusammenbestehen des scheinbar Unvereinbaren, macht das Leben aus, das sein prekäres Gleichgewicht aus dem fortdauernden Ausgleich der Spannungen schöpft, die aus dem realen Widerspruch entstehen. Wir können nicht nur einatmen, wir müssen auch ausatmen. Wenn wir den Atem zu lange anhalten, sterben wir. Wir sind dann zwar des Leidens am Widerspruch enthoben, aber auch tot.

Diese Einsicht Hegels war bereits den Denkern der ismailischen Gnosis vertraut, deren Hintergrund jene gnostischen Strömungen sind, die das Christentum in den ersten Jahrhunderten seiner Geschichte mit Verve bekämpfte, ohne sie gänzlich ausmerzen zu können. Außerhalb der Reichweite der bischöflichen Verfügungsmacht lebte diese Gnosis munter fort, in Syrien, im Iran, in Arabien, in Ägypten, in all jenen Kulturräumen oder Gesellschaften, die vom Christentum unberührt oder undurchdrungen blieben. Als der Islam in diese Räume einströmte, wurde er von der Gnosis aufgesogen und das Produkt dieses Prozesses war unter anderem die ismailische Gnosis, eine Abspaltung vom Hauptstrom des Islam, die im 8. Jahrhundert aus einem Nachfolgestreit entstand. Der Ismailismus lebt bis heute fort; das derzeitige Oberhaupt einer seiner Richtungen, der größten, ist Shah Karim al-Hussaini Aga Khan IV, nach der Zählung dieser Gemeinschaft der 49., rechtmäßige Imām, einer der zehn reichsten Männer der Welt.

Im Folgenden eine erstmalige deutsche Übersetzung der Darstellungen Henry Corbins über den Ismailismus aus seiner »Histoire de la philosophie islamique«. Corbin beschäftigt sich darin mit der »Dialektik des tawhīd«, des Bekenntnisses zur Einheit und Einzigkeit Gottes. Die lebendige Vermittlung der Gegensätze ergibt sich allerdings nicht aus der Dialektik, sondern aus einem Erleben, das die Grenzen der Logik sprengt und in die Welt der Imaginationen vordringt, in jene terra incognita, aus der alles Heilende strömt und in der wir unser Heil finden. Sie ist der letzte unerforschte Kontinent, der uns zwar »näher ist als unsere Halsschlagader«, aber zugleich völlig unbekannt, weil er sich jeder Verfügung entzieht.

Die Bestimmung des Unbestimmbaren

Um die tiefgründige Originalität der ismaīlischen Lehre – der Gnosis des Islam schlechthin – zu verstehen und ihren Unterschied von der hellenisierenden Philosophie zu begreifen, muss man ihre Grundintuition betrachten. Die alten Gnostiker griffen zu rein negativen Bestimmungen, um sicherzustellen, dass der göttliche Abgrund mit nichts von dem vermischt wurde, was aus ihm hervorgegangen war: sie sprachen vom Unerkennbaren, Unnennbaren, Unaussprechbaren, oder eben vom Abgrund. Diese Ausdrücke haben ihre Entsprechungen in der ismaīlischen Terminologie: »das Prinzip« oder »der Urheber«, »das Geheimnis der Geheimnisse«, »derjenige, den die Kühnheit des Denkens nicht zu erfassen vermag«. Man kann ihm weder Namen, noch Attribute, noch Wesenseigenschaften zuschreiben, weder das Sein, noch das Nichtsein. Das Prinzip ist Übersein; es ist nicht; es gibt Sein, es ist das Seingebende.

In diesem Sinn hat der Ismaīlismus tatsächlich eine »erste Philosophie« betrieben. Alles, was die Philosophen im Gefolge Avicenas über das notwendige Sein, das erste Seiende aussagen, muss umgedeutet werden, um wahr zu sein; die ismaīlische Metaphysik beginnt damit, dass das Sein gegeben wird, mit dem, der das Sein gibt. Sie kreist um das Seingeben; vor allem Sein steht das Seingeben im Imperativ: der Urheber mit seinem Ausruf »Es sei«. Jenseits des Einen steht das Einende, das die Monaden zu Monaden (zu in sich geschlossenen Einheiten) macht. Die Methode der doppelten Negation (Tawhīd) nimmt daher die Form einer Monadologie an; indem er dieses Einende von den vielen Einen ablöst, die durch es geeint werden, setzt er in ihnen und durch sie hindurch eben dieses Einende.

Die Setzung und Anerkennung des Einenden, muss die doppelte Falle des Agnostizismus (ta’tīl) und der falschen Identifikation (taschbīh, der Angleichung des Manifestierten an seine Manifestation) vermeiden. Daher die Dialektik der doppelten Negation: das Prinzip ist Nichtsein und nicht Nichtsein; nicht in der Zeit und nicht nicht in der Zeit usw. Jede Negation ist wahr unter der Voraussetzung ihrer eigenen Negation. Die Wahrheit liegt in der gleichzeitigen Bejahung dieser doppelten Negation, der eine zweifache gedankliche Operation entspricht: der tanzīh, der darin besteht, alle Namen und Tätigkeiten von der höchsten Gottheit fernzuhalten und sie auf seine himmlischen und irdischen Manifestationen (hodūd), zu übertragen, und der tadschrīd, der ein Bild der Gottheit aus ihren Manifestationen herauslöst und auf sie zurücküberträgt. Auf diese Weise wird die »theophane Funktion« begründet und ihre Bedeutung umrissen. Ein jemenitischer Autor des 12. Jahrhunderts definiert den tawhīd als »die Kenntnis der himmlischen und irdischen hodūd (Mehrzahl von hadd, Grenze, Bestimmung, Stufe, hier auch: Wesen) und die Anerkenntnis der Tatsache, dass ein jedes von ihnen seinem Rang und seinem Grad nach einzigartig ist, ohne dass ihm ein anderes zur Seite steht.«

Dieser esoterische Tawhīd scheint weit vom geläufigen Monotheismus der Theologen wegzuführen. Um ihn zu verstehen, muss man begreifen, was hadd, Grenze, Stufe, Bestimmung, Wesen bedeutet. Der Begriff ist deswegen so wichtig, weil er das Bindeglied zwischen der »monadologischen« Einstellung des Tawhīd und der hierarchischen Ordnung der ismaīlischen Ontologie darstellt. Der Begriff knüpft eine enge Beziehung zwischen dem Akt der gedanklichen Anerkennung des Einenden(Tawhīd) und dem Entstehungsprozess einer Einheit, der Monadisierung einer Monade (tawahhod). Mit anderen Worten, der Schirk, der die Gottheit desintegriert, weil er sie pluralisiert, ist zugleich die Desintegration der menschlichen Monade, der es nicht gelingt, zur wahren Einheit zu werden, weil sie den hadd nicht kennt, dessen mahdūd sie ist, das heißt, die Bestimmung, durch die sie ihren Rang in der Seinsordnung erhält. Die Frage ist also die folgende: An welcher Grenze, welchem hadd, erhebt sich aus dem Übersein die Offenbarung des Seins? Anders gesagt: Wie tritt der erste hadd, das erste Seiende, ins Dasein, d.h., welches ist die Grenze, an der die Gottheit sich aus ihrem Abgrund der absoluten Unerkennbarkeit erhebt, die Grenze an der sie sich wie eine Person offenbart, so dass eine persönliche Erkenntnis- und Liebesbeziehung zu ihr möglich wird? Wie entstehen in Folge der erstursprünglichen göttlichen Epiphanie all die folgenden hodūd? Diese Frage ist zugleich die Frage nach der ewigen Geburt des Pleromas.

Die ältesten Autoren haben sich diese Geburt als Prozession (als Hervortreten, Hervorgehen) des Seins aus der Ersten Intelligenz vorgestellt. Die jemenitischen Autoren sagen, die Intelligenzen, die »Formen des Lichtes« des Engelspleromas, seien auf einen Schlag und gleichrangig ins Dasein gerufen worden, aber dabei habe es sich lediglich um eine »erste Stufe der Vollendung« gehandelt. Die zweite Stufe, durch die sie erst wirklich ins Dasein traten, hing von ihrem Vollzug des tawhīd ab, weil durch ihn die Konstitution eines jeden Wesens (tawahhod) bedingt ist. Durch den tawhīd kommt die Differenzierung, Pluralisierung und Hierarchisierung des Seienden zustande. Wobei der Begriff Ibda’, unmittelbare schöpferische Seinsbegründung, dem ewigen Akt vorbehalten ist, der das Sein des himmlischen Pleromas durch den Ausspruch »Es sei!« ins Dasein ruft. Das Pleroma wird als ’ālam al-Ibdā, ’ālam al-Amr (als Welt des göttlichen Seinsbefehls) bezeichnet. Sie bildet den Gegensatz zur ’ālam al-khalq (zur geschaffenen Welt, zum Reich der Geschöpfe). Schon in der ältesten Darstellung, wie auch in jener der Jemeniten, beginnt die Prozession des Seins, die Emanation, bei der Ersten Intelligenz, der allumfassenden oder universellen Intelligenz.

Sie ist das Seiende, das aus dem göttlichen Ausruf »Es sei« hervorgegangen ist. Als ursprünglich ins Dasein Gerufenes, ist sie selbst der Akt der ewigen Seinswerdung, das schöpferische Wort Gottes (Kalām Allāh), da dieses Befehlswort, das die Epiphanie der Ersten Intelligenz, des ersten Seienden hervorruft, mit diesem als seiner Manifestation eins ist. Die jemenitischen Autoren sagen, die Erste Intelligenz sei das erste Wesen, das den tawhīd vollendet und die anderen Formen des Lichtes ins Dasein gerufen habe. Daher sein Name Sābiq, »der, der vorangeht«. Die alten Autoren konzentrieren sich auf diesen exemplarischen Fall des ursprünglichen tawhīd, den sie als eine Art kosmische Liturgie betrachten, deren Abbild die zwei Aspekte des islamischen Glaubensbekenntnisses darstellen: la ilāha illā’l Lāh. Denn im tawhīd vollendet sich die Bestimmung (Abgrenzung) des Seins der Ersten Intelligenz, die Bestimmung, die aus ihr den ersten hadd, die Epiphanie eines Wesens macht. Der Erkenntnisakt, durch den sie ihr Prinzip erkennt, ist zugleich der einzige Wesenszug Gottes, der für uns erkennbar ist: er ist der bestimmte Gott, der offenbarte Gott.

Mit seinen beiden Phasen bildet der tawhīd das Geheimnis des Seins der ersten Intelligenz. La ilāha: kein Gott (es gibt keinen Gott), absolute Negation. Die göttliche Verborgenheit lässt es nicht zu, eine Gottheit zu denken oder zu postulieren, der man irgendwelche Eigenschaften zusprechen könnte. Auf diese Negation folgt eine Aussage, die sie aufhebt (illā = außer, es sei denn), eine partikuläre absolute Setzung, die aus keiner logischen Voraussetzung ableitbar ist. Zwischen diesen beiden muss der Kreter springen: zwischen den beiden Abgründen des Agnostizismus (ta’tīl) und der falschen Identifikation (taschbīh). Denn insoweit und weil die erste Intelligenz, das erste Seiende, erkennt, dass die Gottheit ihrem Wesen nach jenseits von ihr liegt, und weil sie sich selbst dieses Gottsein abspricht, – genau deswegen wird ihr der höchste Name der Gottheit verliehen und deswegen ist dies der einzige Wesenszug des Prinzips, das wir zu erkennen vermögen. Das ist das ganze Geheimnis der offenbarten Gottheit. Die Affirmation illā’l Lāh (außer Gott), welche die erste Intelligenz durch ihre Anbetung als positive Dimension ihres Seins in ihre spezifische Ohnmacht hineinträgt, ruft das Dasein der zweiten Intelligenz, der Weltseele, hervor, die erste Emanation dieser Intelligenz, die als »jene, die nachfolgt« bezeichnet wird. In jemenitischer Terminologie ausgedrückt: der tawhīd der ersten Intelligenz ermöglicht jenen der zweiten, in dem Sinn, dass diese, für welche die erste die Grenze, der Horizont ist, der ersten die Worte illā’l Lāh zurückruft. Aber die erste Intelligenz hat von Anfang an das Gottsein von sich selbst auf ihr Prinzip abgewälzt. Dies ist der Grund, warum auf gleiche Art von Stufe zu Stufe der tawhīd ohne Agnostizismus oder falsche Identifikation möglich ist, während die orthodoxen Buchstabengläubigen in die Falle der metaphysischen Idolatrie (der Verehrung von Götzenbildern) geraten, die sie angeblich vermeiden.

Die metaphysische Idolatrie vermeiden, heißt anzuerkennen, dass der einzige Wesenszug des Prinzips, den wir zu verstehen vermögen, darin besteht, dass der Erzengel Logos, die erste Intelligenz, durch den Akt seines Seins von einem Prinzip zeugt, das ihn ins Dasein ruft. Aber diese Erkenntnis ist zugleich eine Nichterkenntnis: die Intelligenz weiß, dass sie den Wesensgrund ihres Prinzips nicht zu erkennen vermag. Abgesehen davon hat es keinerlei Sinn, von der Existenz oder Nichtexistenz einer göttlichen Realität zu sprechen, denn das Prinzip gehört weder dem Seienden an, von dem man sagen kann, dass es existiert, noch dem Nichtseienden, von dem man sagen kann, dass es nicht existiert. Aus diesem Grund ist für die gesamte ismaīlische Gnosis die erste Intelligenz der offenbarte Gott, der Schleier und zugleich der Träger ihres höchsten Namens Al-Lāh. Auf die erste Intelligenz beziehen sich alle Verse des Koran, die diesen Namen erwähnen. Man muss aber die besondere Färbung des Namens heraushören, die von der Etymologie der ismaīlischen Denker präzisiert wird. Sie leiten das Wort aus der Wurzel wih ab, in der die Vorstellung der Fassungslosigkeit und Trauer anklingt (wie beim Reisenden in der Wüste): ilāh = wilāh. Die arabische Schrift erlaubt zudem, im Wort olhānīya, Gottheit, das Wort al-hānnīya, Seufzen, Sehnsucht mitzulesen. Darin liegt ein pathetisches Vorempfinden des göttlichen Geheimnisses: die Idee, dass das Wesen Gottes allein in der Negativität Gestalt annimmt, im Seufzen und der Sehnsucht des ersten Erzengels oder der ersten Intelligenz, die ihr Unvermögen zum Ausdruck bringen, das innere Wesen dieser Gottheit zu erfassen, deren Name in ihr wiederklingt, wenn sie erkennt, dass dieses Wesen außer ihr liegt. Sie wird auf diese Weise für alle Wesen, die aus ihr hervorgehen, zum Objekt der Sehnsucht und des Heimwehs. Auf allen Stufen (hodūd) der Hierarchien des Himmels und der Erde wiederholt sich dasselbe Paradox. Welche Stufe (hadd) auch immer erreicht wird, es gibt immer eine Stufe darüber. Die metaphysische Hierarchie der ismaīlischen Gnosis ist im Gefühl dieser unendlichen Weiten verwurzelt, das, wie sich zeigen wird, die gesamte Gemeinschaft der Wesen durchdringt, die Gott zu sich ruft (Da’wat), um sie auf eine allen gemeinsame Aufstiegsbewegung auszurichten.

Die erste, ursprüngliche Beziehung ist also die zwischen dem ersten Wesen (hadd) und seiner Grenze (mahdūd), d.h. die Beziehung zwischen der ersten und der zweiten Intelligenz, die aus der ersten hervorgeht und in der ersten ihre Grenze, ihren Horizont hat. Es ist die Dyade des Sābiq und des Tāli, des gesprochenen Wortes (Kalam) und der Schreibtafel (Lawh), deren irdische Entsprechungen der Prophet und sein Erbe (wasī), der erste Imām einer Zeitperiode sind. Diese zweigliedrige Struktur wird sich auf allen Stufen der himmlischen und irdischen Hierarchie wiederholen, ebenso die Entsprechungen, und sie wird der Maxime: »Wer sich selbst erkennt, erkennt seinen Herrn« ihren spezifisch ismaīlischen Sinn verleihen. Mit dem Hervortreten der dritten Intelligenz jedoch spielt sich ein Drama im Himmel ab, aus dem das Böse entspringt, das daher weit älter ist, als der irdische Mensch.

Das Drama im Himmel und die Geburt der Zeit

Wenn sich die ismaīlische Gemeinschaft selbst als da’wat bezeichnet, als die Gemeinschaft derjenigen, die zur esoterischen Erkenntnis zusammengerufen oder berufen wurden, dann deswegen, weil diese Berufung bereits im Himmel mit der Anrufung begann, die die erste Intelligenz vor aller Zeit an alle Formen des Lichtes des Engelspleromas richtete. Dieser da’wat »im Himmel« ist die ewige Berufung, von der die ismaīlische lediglich ein irdisches Abbild ist, ein Abbild, das der mohammedanischen Zeitperiode des aktuellen Zyklus der Prophetie entspricht. Auf der Erde, d.h. in der Welt der Erscheinungen, beginnt diese Periode mit dem ursprünglichen Adam, weit vor dem Adam unseres Zyklus. Während die zweite Intelligenz (die erste Emanation) diesem Aufruf folgt, stellt sich die dritte, die aus der Dyade der beiden anderen hervorgeht, ihm in Opposition und Weigerung entgegen. Nun, diese dritte Intelligenz war der himmlische, geistige Adam (Adam rūhānī), das Engelsurbild der Menschheit; in seiner Gestalt verdichtet sich für die ismaīlische metaphysische Imagination symbolisch die heilige Geschichte des Menschheitsursprungs.

Der geistige Adam nun verirrt sich in einem Rausch der Verblendung, in dem er gleichsam »erstarrt«; er weist die »Bestimmung«, die Grenze, die ihm vorangeht (die zweite Intelligenz) zurück, da er nicht erkennt, dass dieses Wesen (hadd), das seinen Horizont begrenzt, zugleich über sich hinausweist. Er glaubt, er müsse das unzugängliche Prinzip ohne dieses vermittelnde Wesen erreichen, weil er – das Mysterium des offenbarten Gottes in der ersten Intelligenz missverstehend – meint, eine solche Vermittlung komme einer Identifikation dieser Intelligenz mit der absoluten Gottheit gleich. Um dieser Idolatrie zu entgehen, verabsolutiert es sich selbst und verfällt dadurch erst recht der metaphysischen Idolatrie. Wenn er sich endlich – wie ein Erzengel Michael, der sich selbst besiegt – aus diesem Irrtum befreit, wirft er den dämonischen Schatten des Iblīs (Satan, Ahriman) in die untere Welt hinab, wo er in jeder Zeitperiode eines jeden Zyklus wiederkehren wird. Aber gleichzeitig muss er erkennen, dass er »überholt« wurde, dass er sich »verspätet« hat, dass er durch seine Erstarrung weit hinter sich »zurückgefallen« ist. Aus dem Rang der dritten Intelligenz ist er auf jenen der zehnten herabgesunken. Dieses Intervall umfasst die Zeit seiner Verblendung, die er wieder aufholen muss. Es wird von der Emanation der sieben anderen Intelligenzen, der »sieben Cherubim« oder »sieben göttlichen Worte« ausgefüllt, die dem Adam-Engel dabei helfen müssen, zu sich selbst zurückzufinden. Die Sieben deutet auf das ideelle Ausmaß seines Verlustes. Die Zeit ist seine Verspätung sich selbst gegenüber; es ist wörtlich wahr, zu sagen, die Zeit sei die »verspätete Ewigkeit«. Wegen dieser sieben Stufen seines Falls gibt es sieben Perioden des Zyklus der Prophetie und sieben Imāme, die diesen Perioden zugeordnet sind. In diesen Vorgängen liegen die metaphysischen Wurzeln der Siebener-Schīa oder des Ismaīlismus: die Zahl Sieben ist eine Chiffre für die Verspätung der Ewigkeit im Pleroma, die Verspätung, die der dritte Engel, der zum zehnten geworden ist, für die Seinen und mit Hilfe der Seinen wieder aufholen muss.

Diese »Verspätung« fügt einem Lichtwesen aber auch eine Dimension ein, die ihm fremd ist, und die sich wie eine »Verdichtung« des Lichtes ausnimmt, aus dem es besteht. Man mag sich daran erinnern, dass in der zervānitischen Theologie des alten Iran die Finsternis (Ahriman) aus einem Zweifel hervorging, der sich in Zervān, der höchsten Gottheit, erhob. Daher ist bei den Zervāniten, die Schahrāstanī im 12. Jahrhundert beschrieben hat, Zervān auch nicht mehr die höchste Gottheit, sondern ein Engel des Pleromas. Man kann sagen, dass der geistige Adam, der dritte Engel der ismaīlischen Kosmogonie, diesem Engel Zervān des Neozervānismus entspricht.

Jede Erzengel-Intelligenz des Pleromas enthält ihrerseits eine unbegrenzte Fülle an Lichtformen. Die Lichtformen, die dem Pleroma des himmlischen Adam angehören, verfangen sich mit ihm in derselben »Verspätung«. Auch sie müssen auf die ewige Anrufung (da’wat) hören. Aber die meisten von ihnen weisen, in unterschiedlichen Graden der Verstockung und der Raserei befangen, diese Anrufung zurück und bestreiten sogar ihre Rechtmäßigkeit. Und diese Weigerung verdunkelt ihr Wesen, das ursprünglich reines Licht war. Der Engel-Adam begreift, dass sie sich niemals von dieser Finsternis befreien können, wenn sie in der rein geistigen Welt verbleiben. Deswegen wird er zum Demiurgen der physischen Welt, des Ortes, an dem die einstigen Lichtformen zu ihrem Heil zurückfinden können.

Diese symbolische Geschichte weist deutliche manichäische Bezüge auf. Unter anderem nimmt die dritte Intelligenz, die zur zehnten geworden ist, in der ismaīlischen Vorstellungswelt denselben Rang ein, wie die aktive Intelligenz bei den Schülern Avicennas und in der Philosophie der Erleuchtung Suhrawardis. Sie spielt auch dieselbe Rolle wie diese aktive Intelligenz, die, wie bekannt, mit dem Heiligen Geist, Gabriel, dem Engel der Erkenntnis und der Offenbarung identifiziert wird. Der Unterschied besteht darin, dass die ismaīlische Theosophie diese Intelligenz nicht einfach als zehnte Emanation betrachtet, sondern aus ihr die zentrale Gestalt eines »Dramas im Himmel« macht, das den Prolog und die Erklärung unserer irdischen menschlichen Existenz darstellt.

Alle Angehörigen des Pleromas dieser Intelligenz wurden von einem panischen Schrecken ergriffen, als sie sahen, wie die Finsternis in ihr Wesen eindrang. Aus der dreifachen Bewegung, mit der sie ihr zu entfliehen suchten, entstanden die drei Dimensionen des kosmischen Raumes. Der dichteste Stoff konzentrierte sich im Zentrum, während der übrige Raum sich in verschiedene Gebiete gliederte: jenes der Himmelssphären und jenes der Elemente. Jeder der Planeten übt während eines Jahrtausends seine Herrschaft über eine schwangere Welt aus, bis zu Beginn des siebten Jahrtausends, dem Zyklus des Mondes, von seinen Gefährten begleitet, der erste irdische Mensch erscheint, wie eine Pflanze, die aus der Erde hervorwächst.

Die zyklische Zeit: heilige Geschichte und Hierarchien

Dieser irdische Mensch wird als ursprünglicher, universeller Mensch bezeichnet. Man muss ihn von seinem himmlischen Archetyp, dem geistigen Adam, dem dritten Engel, der zum zehnten geworden ist, unterscheiden. Und man muss ihn vom partiellen Adam unterscheiden, der unseren aktuellen Zyklus in Gang setzt. Der ursprüngliche, universelle Mensch wird als »physische Personifikation des ursprünglichen Pleromas« charakterisiert. Er hat gewiss nichts mit dem primitiven Menschen unserer philosophierenden Paläontologen gemeinsam. Er erscheint in Ceylon (Sarandīb), dem Ort mit den besten klimatischen Bedingungen, zusammen mit 27 Gefährten, von denen er sich deutlich unterscheidet, so wie seine Gefährten sich von der restlichen Menschheit unterscheiden, die zu gleicher Zeit erscheint – »so wie sich der rote Hyazinth von den übrigen Steinen unterscheidet«. Diese 27 Gefährten bilden mit ihm zusammen das physisch sichtbare Abbild des ursprünglichen Engelspleromas, weil sie jener Teil der Menschheit sind, der dem Pleroma des zehnten Engels die Treue hält und auf seine Anrufung (da’wat) antwortet. Ihre Treue »zum Himmel« zeigt sich auch in ihrer geistigen und physischen Überlegenheit über den Rest der Menschheit, der im selben Prozess der Anthropogonie in Erscheinung getreten ist.

Der ursprüngliche, irdische Adam ist die epiphane Form des himmlischen Adam und zugleich sein Schatten oder sein Schleier; dieser ist sein ursprünglicher Gedanke, der Gegenstand seiner Erkenntnis, die Substanz seines Handelns, das Bild, das die Strahlen seiner Lichter in sich zusammenfasst. Wie der Adam der jüdisch-christlichen Prophetologie ist er »anamartetos«, immun gegen jede Unreinheit, jede Sünde, und diese Auszeichnung hat er auf alle heiligen Imāme in jedem einzelnen Zyklus übertragen. Sein Zyklus ist ein Zyklus der Epiphanie (der Offenbarung), eine Zeit der Glückseligkeit, in der die Beschaffenheit des Menschen bis in die physischen Eigenschaften paradiesischer Natur war. Die Menschen nahmen die geistigen Tatsachen unmittelbar wahr und nicht durch den Schleier der Symbole. Der erste Adam begründete in dieser Welt die »edle Versammlung« (Gemeinschaft); er schuf die Hierarchie des heiligen Kosmos, die jener des Pleromas und jener des Makrokosmos entspricht. Er sandte zwölf seiner 27 Gefährten in die zwölf Gegenden der Erde und bestimmte zwölf Hoddschat (Zeugen), die herausragendsten unter seinen Gefährten. Kurz, er gründete jene fortdauernde esoterische Hierarchie, die durch alle Zyklen und alle Zeitperioden dieser Zyklen bis zum Erscheinen des Islam und auch nach ihm niemals unterbrochen wurde.

Nachdem er seinen Nachfolger eingesetzt hatte, wurde er ins Pleroma entrückt, wo er zum Nachfolger des zehnten Engels (des himmlischen Adam) wurde, der seinerseits zusammen mit seiner gesamten Hierarchie an Geistwesen in einen höheren geistigen Rang erhoben wurde. Diese Aufstiegsbewegung wird niemals aufhören, bis die dritte Engel-Intelligenz, die durch ihre Verwirrung erstarrte und auf den Rang der zehnten abstürzte, wieder in die Region der zweiten Emanation oder der zweiten Intelligenz aufgestiegen ist. Dasselbe geschieht mit jedem Imām, der auf den ursprünglichen Adam in diesem ersten Zyklus der Epiphanie folgt. Auf diesen Zyklus der Epiphanie folgt ein Zyklus der Verborgenheit; auf diesen wieder ein Zyklus der Offenbarung usw.. Die Zyklen folgen in schwindelerregendem Wechsel aufeinander, bis zur letzten Auferstehung der Auferstehungen, in der unser Äon zu Ende gehen und die Menschheit mit ihrem Engel wieder in ihren ursprünglichen Zustand zurückkehren wird. Manche Hinweise der heiligen Imāme bestimmen sogar die Zeitdauer dieses großen Zyklus und zwar auf 360.000 mal 360.000 Jahre.

Es versteht sich von selbst, dass unsere ismaīlischen Theosophen sich insbesondere für jene Vorgänge interessierten, durch die der Zyklus der Epiphanie, der dem unseren voranging, in unseren Zyklus der Verborgenheit überging. Die ismaīlische Exegese hat sich mit außerordentlichem Tiefgang an der koranischen und biblischen Geschichte Adams abgearbeitet, die nicht von einem absoluten Anfang berichtet, sondern die Geschehnisse am Vorabend schrecklicher Katastrophen aufgreift. Im Verlauf der letzten drei Jahrtausende des vorangehenden Zyklus der Epiphanie veranlassten gravierende Schwierigkeiten die hohen Würdenträger dazu, die »Arkandisziplin« ins Leben zu rufen. Die hohen Wissenschaften des Geistes zogen sich ins Schweigen zurück, die Menschheit wurde der Offenbarung der Mysterien unwürdig. Ein religiöses Gesetz, eine scharīa’t musste geschaffen werden, von dem die esoterische Auslegung nur jene befreien wird, die sie zur Auferstehung einer neuen Geburt in der Nacht der Symbole zu führen vermag. Dies ist der Sturz, der als »Vertreibung aus dem Paradies« bezeichnet wird. Seither gibt es nur noch das »potentielle Paradies«, das heißt, die esoterische Bruderschaft, den ismaīlischen Da’wat (die Gemeinschaft der von Gott Berufenen).

Die koranische Geschichte Adams wird als Geschichte der Einsetzung des jungen Imām Adam durch seinen Vater Honayd gelesen, wobei Honayd der letzte Imām des vorangehenden Zyklus der Offenbarung war. Alle »irdischen Engel« (die Mitglieder des Da’wat) anerkannten ihn, außer Iblīs-Satan und die Seinen. Iblīs war ein Würdenträger des vorangehenden Zyklus, und in ihm kehrte nun jene Finsternis wieder, die im Urbeginn vom himmlischen Adam auf die Erde geschleudert worden war. Und das Erscheinen des Iblīs veranlasste Adam dazu, den Menschen jene »Erkenntnis der Auferstehung« zu offenbaren, die der eine oder andere im vorangehenden Zyklus der Offenbarung bereits besessen hatte. Aber Adam enthielt der Menschheit all das vor, was allein der letzte Imām unseres Zyklus, der Imām der Auferstehung zu offenbaren vermag.

Die Beschaffenheit des Zyklus der Verborgenheit, der durch unseren Adam in Gang gesetzt wurde, kann man am Beispiel jener Einrichtung erläutern, die vom ersten Adam, dem ersten Imām auf Erden, geschaffen wurde, die mit dem Unterschied zwischen den sichtbaren und den unsichtbaren Himmeln vergleichbar ist. Wie bereits gesagt, werden die Stufen der himmlischen und irdischen Hierarchien als »Grenzen« (hadd) bezeichnet; die Grenze definiert für jede Stufe den Umfang ihres Bewusstseins, die Form ihrer Erkenntnis, die ihrer Form des Seins entspricht. Jede untergeordnete »Grenze« ist so gesehen das, was durch das Begrenzende (mahdūd) bestimmt wird, das ihr unmittelbar vorangeht. Diese Struktur ist nicht nur wesentlich für das Verständnis der »esoterischen« Auslegung, sondern auch für den gesamten Prozess der Anthropogonie.

Auch wenn die vollständige Bedeutung der esoterischen Hierarchie, die sich über die gesamte Zeit der ismaīlischen Epochen erstreckt, uns noch nicht völlig zugänglich ist, ist uns deren Grundbedeutung aufgrund der Erläuterungen Hamīd Kermānis (gest. ca. 1017) doch vollständig klar. Es gibt eine himmlische Hierarchie (die hodūd in der Höhe) und eine irdische Hierarchie (die hodūd in der Tiefe), die sich gegenseitig entsprechen. Beide bestehen jeweils aus zehn Stufen, die sich in eine Dreiheit (die höheren Stufen) und eine Siebenheit gliedern.

1.) Auf der Erde gibt es den Propheten, der eine scharīa’t verkündet, das göttliche Gesetz, das ihm durch den Engel mitgeteilt wird (dieser Prophet wird als Nātiq bezeichnet). Das Gesetz ist der Buchstabe des Buches, der in exoterischer Form als Kodex der positiven Religion ausgesprochen wird. Dieser Prophet ist die irdische Entsprechung der ersten Intelligenz (jener, die die große Versammlung [da’wat] im Himmel einberufen hat).

2.) Es gibt den Imām als direkten spirituellen Erben des Propheten, den Wasī, den Begründer des Imāmats (das Fundament, Asās), den ersten Imām eines Zeitalters. Seine Aufgabe als Bewahrer des Geheimnisses der prophetischen Offenbarung ist die esoterische Exegese, die das Exoterische auf seinen »verborgenen Sinn«, seine wahre Bedeutung, seinen Archetyp zurückführt. Dieser Imām entspricht der zweiten Intelligenz, dem ersten Emanierten, der universellen Seele.

3.) Schließlich gibt es den Imām als Nachfolger des Begründers des Imāmats, der für das Gleichgewicht zwischen dem Esoterischen und dem Exoterischen während eines Zyklus sorgt, das nicht verloren gehen darf. Er entspricht der dritten Intelligenz (dem geistigen Adam). Daher muss es in jeder Zeitperiode eine Siebenheit oder mehrere Siebenheiten von Imāmen geben, die das Intervall der »Verspätung« repräsentieren, die Zeit, die der himmlische Adam mit Hilfe der Seinen wieder aufholen muss, um seinen spirituellen Rang wieder zu erreichen. Von den sieben anderen Stufen stellt jede eine Entsprechung der einen oder anderen Formen des Lichtes oder der Intelligenzen des Pleromas dar: den Bāb oder die Schwelle des Imām; den Hoddschat, Zeugen (Beweis) oder Garanten; drei Stufen von Predigern (Dā’i, wörtlich Einberufer oder Ausrufer) und zwei weitere niedere Stufen: den höheren Beauftragten, der dem neuen Adepten den Eid abnehmen kann und den niederen Beauftragten, der neue Neophyten werben kann.

So stellt sich der vertikale Aufbau der esoterischen Hierarchie dar, die durch alle Zyklen hindurch bestehen bleibt. Dieser Aufbau des heiligen Kosmos im Raum findet seine Entsprechung in einer Zeitform, die den Inhalt der heiligen Geschichte bildet. Jede Epoche eines Zyklus der Prophetie, d.h. einer Epoche der Verborgenheit, wird durch einen Propheten und seinen Imām in Gang gesetzt (Nātiq und Wasī), auf die eine oder mehrere Siebenheiten von Imāmen folgen; sie wird von einem letzten Imām abgeschlossen, der als Qā’im bezeichnet wird, d.h. als Imām der Auferstehung, der die vorangehende Epoche abschließt und das Erscheinen des neuen Propheten ermöglicht. Die Summe der sieben Epochen bildet die Totalität des Zyklus der Prophetie. Die sechs großen Propheten unseres Zyklus sind: Adam, dessen Imām Seth war; Noah, dessen Imām Sem war; Abraham, dessen Imām Ismael war; Moses, dessen Imām Aron war; Jesus, dessen Imām Simon (Petrus) war; Mohammed, dessen Imām ’Alī war. Der siebente Prophet ist der Imām der Auferstehung (der dem 12. Imām der Imāmiten entspricht). Er wird keine neue scharīa’t verkünden, sondern den verborgenen Sinn der Offenbarungen, unter all den Konflikten und Umwälzungen, die das nach sich zieht, und er wird den Übergang zu einem neuen Zyklus der Offenbarung einleiten.

Imāmologie und Eschatologie

Man begreift die Bedeutung der Imāmologie und das eschatologische Ethos, das den Schīismus beherrscht, besser, wenn man sich daran erinnert, dass die ismaīlische Imāmologie, so gut wie die schīitische Imāmologie im allgemeinen, sich vor Probleme gestellt sieht, die jenen der Christologie der ersten Jahrhunderte unserer Zeitrechnung entsprechen – und wenn man sich daran erinnert, dass die schīitischen Lösungen stets dem gnostischen Denkmuster folgen, das von der offiziellen Christologie zurückgewiesen wurde.

Wenn sie von der menschlichen Seite des Imām sprechen, legen die ismaīlischen Autoren Wert darauf, zu betonen, dass er keinen Körper aus Fleisch besaß, wie die gewöhnlichen Menschen. Der Körper des Imām entsteht aus einer kosmischen Alchemie, die auf die »Ätherleiber« der getreuen Adepten einwirkt. Ihre ätherischen Überreste erheben sich von Himmel zu Himmel, um schließlich gereinigt mit den Strahlen des Mondes zurückzukehren, und sich, für die körperlichen Augen unsichtbar, wie ein himmlischer Tau auf der Oberfläche klaren Wassers oder gewisser Früchte niederzulassen. Das Wasser und die Früchte werden vom gegenwärtigen Imām und seiner Gemahlin aufgenommen, und der himmlische Tau wird zum Keim des subtilen Körpers des neuen Imām. Er ist eine bloße Hülle und besitzt die Subtilität und die Farbe von Kampfer. Dieser Körper stellt die menschliche Seite des Imām dar. Wenn man hier überhaupt von »Doketismus« sprechen kann, dann handelt es sich jedenfalls nicht um ein »Phantasma«, sondern um den Versuch, wie in der gnostischen Christologie, »spirituelles Fleisch« (caro spiritualis) zu denken. Aus diesem Grund führt auch die Vereinigung des Menschlichen und des Göttlichen in der Person des Imām niemals zur Idee einer »hypostatischen Union zweier verschiedener Naturen«, mit all den philosophischen, historischen und sozialen Konsequenzen, die dieser Gedanke einschließt.

Wenn man verstehen will, was die Göttlichkeit des Imām für die ismaīlische Gnosis bedeutet, muss man von der »geistigen Geburt« ausgehen, in der man einen engen Bezug zur manichäischen Gnosis findet. Der bereits zitierte jemenitische Autor präzisiert: ›Wenn der neue Adept seine Zustimmung erklärt, dann verbindet sich im Augenblick, in dem er die Formel ausspricht, wenn seine Absichten rechtmäßig und rein sind, mit seiner Seele ein Lichtpunkt, der an ihrer Seite verbleibt, ohne sich mit ihr zu vermischen.‹ Von seinem Denken und Verhalten hängt es ab, ob dieser Lichtpunkt zu einer reifen Lichtform heranwächst. Gelingt ihm dies, dann wird im Augenblick seines Todes die Lichtform des treuen Adepten durch den »Magnetismus der Lichtsäule« in die Richtung der Lichtform seines Gefährten gezogen, der eine Stufe höher in der mystischen Entwicklung steht (und auch nach dem Tode für ihn verantwortlich ist). Gemeinsam erheben sie sich bis zu jenem Wesen, das ihnen beiden übergeordnet ist. In der Folge bilden sie alle zusammen mit den geistigen Lichtwesen den »Tempel des Lichtes«, der eine menschliche Form besitzt, auch wenn es sich um einen rein geistigen Tempel handelt. Dies ist der Tempel des Lichtes, den das Imāmat darstellt, und dieses wiederum stellt die Göttlichkeit des Imām dar.

Vom Augenblick seiner Einsetzung an wird der junge Imām zum Träger dieses Tempels des Lichtes. Sein Imāmat, seine «Göttlichkeit«, ist jener mystische Leib der aus der Gesamtheit der Formen des Lichtes seiner Adepten gebildet ist. Wie der ursprüngliche Adam, besitzt jeder Imām einen eigenen »allerheiligsten Tempel des Lichtes«, der auf diese Weise entsteht. Alle Imāme zusammen bilden den »Sublimen Tempel des Lichtes«, in gewisser Weise die Kuppel des Tempels des Lichtes. Wenn ein Imām diese Welt verlässt, erhebt sich sein Tempel des Lichtes mit ihm in die Sphäre des zehnten Engels (des geistigen, himmlischen Adam) und alle warten in dieser Sphäre versammelt auf das Erscheinen des Qā’im, des Auferstehungs-Imāms, der den Zyklus abschließt, um bei seiner Ankunft mit ihm zusammen die Nachfolgeschaft des zehnten Engels anzutreten.

Bei jeder großen Auferstehung, die einen Zyklus der Verborgenheit oder der Offenbarung beschließt, erhebt sich der letzte Imām, der Qā’im, mit dem mystischen Tempel all seiner hodūd in das Pleroma, wo er die Nachfolge des zehnten Engels, des geistigen Adam, des Demiurgen der irdischen Welt antritt. Der zehnte Egel erhebt sich seinerseits um eine Stufe im Pleroma, das ihn seinerseits als Ganzes bei seinem Aufstieg begleitet. Jede große Auferstehung, jede Vollendung eines Zyklus, erlaubt es so dem Engel der Menschheit, und allen, die ihm angehören, sich ihrem ursprünglichen Rang anzunähern. Auf diese Weise holt die Aufeinanderfolge der Zyklen und der Jahrtausende die Zeit, jene »verspätete Ewigkeit« wieder ein, die einst aus der Verdunkelung des Engels entstanden ist. Und auf diese Weise bereitet sich die Lösung des »Dramas im Himmel« vor. Kosmogonie und Soteriologie sind zwei Aspekte ein und desselben Prozesses, der zu dieser Lösung führt. Sinn und Ziel der Entstehung des Kosmos ist die Schaffung eines Organes (Werkzeugs), durch das der himmlische Adam seinen verlorenen Rang wieder gewinnen kann. Er gewinnt ihn von Zyklus zu Zyklus wieder, mit Hilfe all jener, die bereits vor ihrem irdischen Dasein auf seinen Ruf im Pleroma gehört haben, oder die in diesem Leben dem Anruf (da’wat) der Propheten und der Imāme folgen.

Die Schattengestalt der böswilligen Leugner jedoch erhebt sich bei ihrem Tod in die Region des »Drachenhauptes und Drachenschwanzes« (dorthin, wo die Bahn des Mondes jene der Sonne schneidet), in jene Region der Finsternis, in der sich die ganze »Masse der Verdammnis« aller Dämonen der Menschheit versammelt, die Masse der bösartigen Gedanken und Vorhaben, die zusammenwirken, um die Katastrophen heraufzubeschwören, die die Welt der Menschen heimsuchen.

Daher lassen sich die irdischen Ereignisse nur aus ihrer esoterischen Realität verstehen, d.h., indem man sie auf das Drama im Himmel bezieht, dessen Auflösung sie in der Tat vorbereiten. In dieser »Geschichtsphilosophie« kommt die grandiose Vision einer prophetischen Philosophie zum Ausdruck, die das spezifische Eigentum des ismaīlischen Denkens ist. Tatsächlich enthält die ismaīlische Version des Schīismus Züge, die all seinen Zweigen gemeinsam sind: die eschatologische Ethik, die beherrschende Gestalt des Qā’im, der mit dem vom Johannes-Evangelium angekündigten Parakleten identifiziert wird. Daher sah Abū Ya’qūb Sedschestānī (10. Jahrhundert) in den vier Balken des christlichen Kreuzes und den vier Worten des islamischen Glaubensbekenntnisses das Symbol ein und desselben Geheimnisses: er sah in beiden die Parusie des Imām angedeutet, der sich am Ende der Nacht des Schicksals erhebt, denn diese Nacht des Schicksals ist die Nacht der Menschheit in diesem Zyklus der Verborgenheit.

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