Trinität und Engelwesen – 1909 – Zur Christologie Rudolf Steiners (19)

Zuletzt aktualisiert am 7. Mai 2017.

Trimurti. Elephanta. Foto von Christian Haugen, CC By 2.0. Quelle Wikipedia

Der Überblick über das Jahr 1909 wäre nicht vollständig, wenn wir hier nicht auch auf die Vortragsreihe Geistige Hierarchien und ihre Widerspiegelung in der physischen Welt hinwiesen, die vom 12. bis 18. April in Düsseldorf stattfand [1]. Die Vorträge wurden vermutlich von Walter Vegelahn mitstenographiert, verifizieren lässt sich die Vermutung nicht, da weder ein Originalstenogramm noch eine originale Klartextübertragung erhalten ist. Die Reihe wurde im Jahr 1910 als Zyklus 7 von Marie Steiner herausgegeben.

Der auf Steiner zurückgehende Titel könnte dazu verleiten, diese Vorträge als Quelle für seine Christologie außer Acht zu lassen, da er keinen Bezug zum Christentum herstellt. Und in der Tat finden sich in ihnen zwar Ausführungen über die Trinität und die Hierarchien, jedoch keinerlei Äußerungen, die Christus in den kosmologischen Kontext der Widerspiegelung des Geistigen im Sinnlichen einbetten. Die Vortragsreihe ist dennoch aufschlussreich, gerade durch das, was in ihr nicht gesagt wird. So umfassend auch die Behandlung der dreimal drei Glieder der Engelreiche ist, deren Tätigkeit sich auf die eine oder andere Art in der physischen Welt spiegelt, Christus taucht in diesem Zusammenhang nirgends auf. Er gehört also offensichtlich nicht zu diesen hierarchischen Wesen – zumindest nicht im eigentlichen Sinn. Zwar ist auch von ihm in diesen Vorträgen die Rede, aber nur insofern, als sich seine Kräfte auf den Menschen und im Menschen auswirken. Charakteristisch ist hierfür der letzte Vortrag (18.4.1909), in dem die Menschheit als zehnte Hierarchie der Freiheit und der Liebe beschrieben wird, die ihre Würde und ihre Stellung im Kosmos der Menschwerdung Christi verdankt.

Der Vortrag vom 14. April knüpft an die bereits bekannte Erzählung vom Opfer der Sonne an, aus der ein neues Sternensystem entsteht. Den alten Saturn umgab ein Reigen »erhabener« Wesenheiten, die von der »christlichen Esoterik« als Seraphim, Cherubim und Throne bezeichnet werden. Da die Evolution ein universelles Prinzip ist, entstanden diese Wesen nicht aus dem Nichts, sondern entwickelten sich in einem Sonnensystem, das dem unsrigen vorausging. So wie das unsrige sich durch sieben Stufen hindurchbewegt, um zum »Vulkan«, zur »Übersonne« zu werden und damit die »Reife zum Opfer« zu erlangen, so haben sich auch jene erhabenen Wesen, die am Firmament des embryonalen Saturn in Erscheinung traten, in einem früheren Universum entwickelt. Bevor etwas zu einem »System« von Seraphim, Cherubim und Thronen wird, muss es eine Sonne gewesen und zum Tierkreis geworden sein, um aus dem Umkreis durch Opferung eine neue Welt schaffen zu können. Die Seraphim, Cherubim und Throne, die »für uns zunächst höchste Hierarchie unter den göttlichen Wesenheiten«, sind zu einem solchen kosmischen Opferdienst aufgestiegen. Durch ihren Aufstieg sind sie »erst in wirklich unmittelbare Nähe der höchsten Göttlichkeit gekommen, von der wir zunächst überhaupt sprechen können, der Trinität, der dreifachen Göttlichkeit«. »Jenseits der Seraphim« liegt jene »höchste Göttlichkeit«, die sich laut Steiner »bei fast allen Völkern« findet, die vom Hinduismus als »Brahma, Vishnu und Shiva« bezeichnet wird [2], vom Christentum als »Vater, Wort und Heiliger Geist«. »Dieser höchsten Göttlichkeit, der obersten Dreieinigkeit, entspringen gleichsam die Pläne zu einem jeden neuen Weltensystem«. Bevor etwas vom Saturn in Erscheinung trat, reifte in der göttlichen Dreieinigkeit der Grundriss all dessen, was kommen sollte.

Aber die Dreieinigkeit realisiert ihren Entwurf nicht selbst. Jene Wesen, die den »unmittelbaren Anblick Gottes« genießen, die Seraphim, Cherubim und Throne, nehmen ihn entgegen und begeben sich an dessen Ausführung. »Menschliche Worte«, so Steiner, sind allerdings ungeeignet, die erhabenen Tätigkeiten dieser Wesen auch nur annähernd zu beschreiben, daher dürfen solche Schilderungen der Uranfänge nicht buchstäblich verstanden werden. Vielmehr sind sie als Bilder, als Vergleiche aufzufassen. Jedenfalls fungieren hierarchische Wesen als Werkzeuge oder Organe der Gottheit. »Was sie vollbringen: Gott tut es durch sie«, heißt es im zehnten Vortrag von der ersten Triarchie. [3] Die Engelwelt ist als Gliedorganismus zu denken, der von einem umfassenden Bewusstsein durchdrungen und umschlossen wird, das als Ganzes durch seine Teile wirkt, auch wenn seine einzelnen Organe dieses Bewusstsein nicht umfassen. [4] Und dieses umfassende Bewusstsein ist das Bewusstsein »Gottes«, ist das »Wort«, durch das dieses Bewusstsein sich artikuliert, so wie der logos prophorikos den logos endiathetos artikuliert. [5] Die höchsten Organe dieses Organismus stellen die Seraphim dar, sie empfangen »die höchsten Ideen, die Ziele eines Weltensystems« von der Trinität. Die Cherubim bauen, was sie »von den höchsten Göttern« entgegengenommen haben, in Weisheit aus. Sie setzen die Schöpfungsideen in »ausführbare Pläne« um. Die Throne wiederum lassen die Schöpfungsvorstellungen der Cherubim zur Tat werden. [6] Im »Herunterfließen der Feuersubstanz« der Throne aus dem Weltall nimmt diese Verwirklichung erste Gestalt an. Sie gießen ihre eigene Substanz, das »ursprüngliche Weltenfeuer«, das »Urfeuer« aus, und setzen die Ereignisse, die folgen, in Gang.

Diese erste Dreiergruppe der himmlischen Hierarchie ist aber nicht die einzige, die ihre Entwicklung in einem früheren Sonnensystem durchlaufen hat, auch die Wesen der zweiten Triarchie stammen aus jener präsaturnischen Welt. Sie stehen nicht so hoch wie die Angehörigen der ersten, sie müssen noch weitere Stufen erklimmen, bevor sie schöpferisch tätig werden, d.h. sich selbst zum Opfer bringen können. Während die erste Triarchie aus dem Umkreis des alten Saturn wirkt, treten die Kyriotetes, Dynamis und Exusiai in jenen geistigen Raum, der von ihnen umschlossen wird. Im ätherischen Urfeuer des Saturn wirken sie. Sie differenzieren, gestalten, plastizieren seine Substanz. Die Kyriotetes (Geister der Weisheit) nehmen auf, was die Throne aus dem Universum heruntertragen und »ordnen es so an«, dass der Weltkörper, der entsteht, »mit dem ganzen Universum zusammenstimmt«. Das Innere des Saturn muss so organisiert werden, dass es dem entspricht, was sich außerhalb befindet, dass die »Befehle« der ersten Triarchie ausgeführt und ihre Impulse verwirklicht werden können. Während die Kyriotetes (»Herrschaften«, Geister der Weisheit) »gleichsam die obersten Anordnungen« treffen, übernehmen die Dynamis (»Mächte«, Geister der Bewegung) die »Ausführung« dieser Anordnungen. Die Exusiai (»Gewalten«, Geister der Form) schließlich geben dem, »was gebaut wird, Bestand«. »Sie sind die Erhalter«.

Die Geschichte der dritten Triarchie wurde von Steiner bereits am 13. April, im dritten Vortrag erzählt. Es ist die Geschichte der Menschwerdung der Archai auf dem alten Saturn, der Erzengel auf der alten Sonne und der Engel auf dem alten Mond.

Was heißt Menschwerdung im Reich der Geister? Es heißt »zum Ich-Bewusstsein« gelangen. Dieses Ich-Bewusstsein erwarben die Archai, indem sie das Feuer des Saturn ein- und ausatmeten und von einer rein seelischen in eine physische Form überführten. »Die Geister der Persönlichkeit«, führt Steiner im dritten Vortrag aus, »hätten ewig nur ihr Ich ausgeströmt, wenn sie nicht etwas draußen gelassen hätten, was ihnen Widerstand geleistet hätte: Das andere ist draußen, ich unterscheide mich von dem objektiv gemachten Wärme-Element. Dadurch sind die Geister der Persönlichkeit zu ihrem Ich, zum Selbstbewusstsein gekommen … Sie sagten sich: ›Ich muss etwas von mir nach außen strömen lassen, damit ich mich davon unterscheiden kann, damit mein Ich-Bewusstsein sich entzündet an diesem Äußeren‹. So hatten sie … ein Reich neben sich geschaffen, sie hatten sich gleichsam ein Spiegelbild ihres Inneren in dem Äußeren geschaffen«.

Auf ähnliche Art: durch Absonderung, Objektivierung und Spiegelung eines Teils ihres Wesens erlangten die Erzengel auf der alten Sonne ihr Ich-Bewusstsein. [7] Sie bildeten ihre Seele aus dem Licht der Sonne, und gliederten diesem Seelenleib die Luft als äußeren Leib an. Ihre Seele war imstande, Licht auszuströmen, ihr Leib bestand aus Luft (oder Gas). Als drittes Element trugen sie das Feuer des Saturn in sich, aus dem Licht und Luft entstanden waren. Durch das Licht lebten sie ein Leben nach außen, sie strahlten in den Umkreis, durch das Feuer lebten sie in sich und durch die Luft lebten sie im Leib der Sonne. »Sie konnten … im Sonnenplaneten von der allgemeinen Sonnensubstanz ihren eigenen Gas-Leib unterscheiden. Sie stießen mit dem anderen zusammen: dadurch entzündete sich für sie eine Art Selbstbewusstsein«. Die Wärme des Saturn wurde von den Kyriotetes zur Luft der Sonne verdichtet, die Luft der Sonne von den Dynamis zur wässrigen Grundsubstanz des Mondes, in der die Engel ihr Ichbewusstsein erlangten. [8]

Im sechsten Vortrag vom 15. April wird geschildert, wie diese der Menschheit zugewandte Triarchie wirkt: die Angeloi (Engel) geleiten die Menschenseelen von Inkarnation zu Inkarnation, sie bewahren die Erinnerung der früheren in den späteren und stiften die Kontinuität zwischen ihnen. Die Archangeloi (Erzengel) sorgen für den Zusammenklang zwischen der Einzelseele und ganzen Seelenfamilien, die äußerlich als Stämme oder Völker (oder Generationen) erscheinen, die Archai (Zeitgeister, Geister der Persönlichkeit) schließlich begleiten das gesamte »Menschengeschlecht« durch die Zeiten, sie geben jeder geschichtlichen Epoche ihren »Sinn«, ihre »Mission«. Die Exusiai aber führen die Menschheit von einem planetarischen Zustand zum nächsten, also vom okkulten Saturn zur okkulten Sonne, von dieser zum Mond usw. Auf einer höheren Oktave kehrt hier die Funktion der Angeloi wieder: während diese die einzelne Menschenseele durch Schlaf und Tod hindurchbegleiten und ihre Kontinuität in der Metamorphose sicherstellen, geleiten die Exusiai die gesamte Menschheit durch Schlaf und Tod (Pralaya) zwischen den einzelnen Metamorphosestufen der Erde und sorgen für die Kontinuität im Wandel.

Einige weiterführende Aufschlüsse zur geistigen Wesenskunde finden sich im fünften Vortrag. [9] Der Beschreibung von Engelwesen nach dem Modell der menschlichen Wesensglieder sind wir schon mehrfach begegnet. Hier nun erfolgt eine überraschende Wendung, die sich der Frage nach der »Widerspiegelung« des Geistigen im Physischen verdankt. Wie bekannt, besteht der Mensch auf der Erde aus sieben Gliedern, wobei die drei geistigen aus der Umwandlung der drei leiblichen durch das Ich hervorgehen. Sie befinden sich derzeit – abgesehen vom Geistselbst, das bereits im Keimen begriffen ist, lediglich im Samenzustand. Auch Engeln, Erzengeln und Zeitgeistern können solche Wesensglieder zugeschrieben werden, die jedoch nicht wie die Glieder des Menschen ein zusammenhängendes Ganzes in der physischen Welt bilden. Das »Schema« des menschlichen Gliedorganismus, so Steiner, lässt sich nicht unverändert auf die Engelwesen übertragen. Engel besitzen drei zusammenhängende leibliche Wesensglieder, ihr Ich und ihre geistigen Glieder sind von diesen aber getrennt. Das Ich des Engels durchdringt nicht wie jenes des Menschen seine leiblichen Glieder, sondern schwebt zusammen mit den geistigen in der Astralwelt, im Kosmos. Das Leibliche des Engels, das sich auf der Erde befindet, ist lediglich ein Spiegelbild seiner geistigen Prinzipien.

Wo findet sich der »physische Leib des Engels«? Im »fließenden und rieselnden Wasser«, im »auf- und absteigenden Nebel«, in der »zerstäubenden Quelle«. Viele Engel können in einer einzigen Partie einer Wasserfläche einen gemeinsamen physischen Leib besitzen, oder der physische Leib eines einzelnen Engels kann auf die unterschiedlichsten wässrigen Substanzen verteilt sein. Die Ätherleiber der Engel dagegen sind in der Luft, im »dahinbrausenden Wind« und ihre Astralleiber im Feuer und in den Blitzen zu finden. Wer hellseherisch das Ich und das Geistselbst der Engel sucht, findet diese in der Astralwelt, in der überirdischen Region, die von der Bahn des Mondes umschlossen wird. Bei den Erzengeln wiederum bilden nur physischer und ätherischer Leib auf der Erde eine Einheit, alle anderen Glieder befinden sich in der Astralwelt. Ihr physischer Leib spiegelt sich in den Winden, ihr Ätherleib im Feuer. Ihre höheren Glieder erstrecken sich von der Erde aus gesehen bis in die Sphäre des Merkur. Von den Archai oder »Urkräften« schließlich ist nur der physische Leib auf der Erde oder in ihrer Atmosphäre anwesend, in den »Feuerflammen« und den »dahinzüngelnden Blitzen«, alle höheren Glieder befinden sich in der Astralwelt – bis in die Sphäre, die von der Venus umschlossen wird. [10]

An diese »Herrschaftssphären« schließen sich – geozentrisch gesprochen – jene der höheren Organe des himmlischen Organismus: die Sphäre der Exusiai bis zur Sonne, der Dynamis bis zum Mars, der Kyriotetes bis zum Jupiter, der Throne bis zum Saturn. Anders ausgedrückt: die Throne schließen alle anderen hierarchischen Wesen in ihren Herrschaftsbereich ein und sind selbst in jenen der Cherubim und Seraphim eingeschlossen, die sich im Tierkreis widerspiegeln. Nebenbei werden die Urkräfte und Erzengel als ausführende Organe der Exusiai bezeichnet. Entsprechend können diese Exusiai als ausführende Organe der Dynamis, die Dynamis als ausführende Organe der Kyriotetes usw. betrachtet werden. Auch diese Bemerkung bestätigt wiederum die Auffassung der Engelreiche als eines in sich gegliederten Organismus, in dem manche Engelwesen Organe oder Werkzeuge anderer sind. Das Prinzip, die Kraft, die in einem Organ oder durch es wirkt, ist in diesem Organ anwesend – wenn ein Geist der Form durch einen Erzengel wirkt, ist es der Geist der Form, der wirkt, auch wenn der Erzengel als das Wirkende erscheint. Was sich durch den Erzengel offenbart, ist die »Gewalt« des Geistes der Form. Medium der Offenbarung und Wesen, das sich offenbart, dürften nicht immer leicht zu unterscheiden sein, denn das Feuer ist zugleich Spiegelmedium des Astralleibs der Engel, des Ätherleibes der Erzengel und der physische Leib der Archai. Träger der Offenbarung eines Geistes der Form im Feuer kann also der Astralleib eines Engels, der Ätherleib eines Erzengels oder der physische Leib eines Zeitgeistes sein.

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Anmerkungen:

[1] GA 110, Dornach 1972.

[2] Brahma, Vishnu und Shiva, die dreigestaltige Gottheit des Hinduismus (Trimurti), besitzt in der Tat Ähnlichkeiten mit der dreigestaltigen Gottheit des Christentums. Die drei göttlichen Personen können als Prosopa (Antlitze) des einen, gestaltlosen, unkategorisierbaren und unaussprechlichen Brahman betrachtet werden, das sich in ihnen und durch sie offenbart. Brahma, als der Erschaffer der Welten, entspricht dem Vatergott. Vishnu ist der in der Schöpfung tätige, in sie eingreifende Gott, der in Gestalt verschiedener Avatare auf Erden erscheint und das göttliche Weltgesetz, das durch Dämonen und Menschen verletzt wird, von neuem zur Herrschaft bringt, also das Geschaffene in seiner Idealform wiederherstellt, so wie der Logos, der die Schöpfung des Vaters durchdringt, um durch Tod und Auferstehung die apokatastasis ton panton, die Erneuerung der aus dem Lot geratenen Schöpfung herbeizuführen. Der letzte Avatar Vishnus, Kalki, soll am Ende des Kali Yuga erscheinen. Nach Steiner endete dieses Finstere Zeitalter im Jahr 1899 nach Christus. Er deutete den Kalki-Avatar im Sommer 1903 als Christus-Prophetie. Für die Rosenkreuzer, führte er damals aus, ist Kalki »der, der da kommen wird«. Die von ihm interpretierte geheimnisvolle Rosenkreuzer-Chronik sage über ihn: »Wenn aber die Zeiten erfüllt sind, das Auge öffnet sich, und Menschenschicksal wird leuchtend im Innern, die leuchtende Gestalt wähle zum Führer; dann wird dir Schicksal selbst Gesetz und liebesvolles Wirken. Wes Auge sich öffnet, der sieht lebende Rosen dem Kreuze erwachsen« (GA 88, siehe weiter oben). Shivas Verwandtschaft mit dem Heiligen Geist ist schwer zu erkennen, wenn man in ihm hauptsächlich als »Zerstörer« der Welten sieht. In Wahrheit ist er der Gott der Transformation, der Umwandlung, der durch die Auflösung und Vergeistigung der entstandenen Formen deren Neugestaltung ermöglicht. Sein kosmischer Tanz hält die ewige Metamorphose der Welterscheinungen in Gang, und insofern ist er der Gott der Wiedergeburt, von dem man sagen könnte: »Per Shivam reviviscimus«.

[3] GA 110, 18.4.1909, S. 161.

[4] Diese Auffassung der Engelwelt als Gliedorganismus ergibt sich aus dem hermetischen Prinzip: »Wie oben, so unten« – der Makrokosmos spiegelt sich im Mikrokosmos und umgekehrt. So wie der in sich gegliederte Organismus des Menschen von einem einheitlichen Bewusstsein durchdrungen ist, das sich bei näherer Betrachtung als vielschichtig erweist, wird auch der Makrokosmos der Hierarchien von einem einheitlichen Bewusstsein durchdrungen, das nicht weniger vielschichtig ist.

[5] Die Unterscheidung stammt aus der Stoa: der logos endiathetos ist das innere Wort, das als Gedanke im Bewusstsein existiert, der logos prophorikos das ausgesprochene Wort. Wenn Gott spricht »es werde« oder »es sei«, tritt das Wort aus ihm hervor, das ihm zuvor unausgesprochen inexistierte. Das Wort, der Logos, ist also das artikulierte Wesen Gottes. Die islamische Mystik spricht von den Namen Gottes. Jeder Name oder jedes Wort repräsentiert eine Gattung von Geschöpfen, alle Namen zusammen drücken aber nicht das gesamte Wesen Gottes aus, nicht nur, weil stets mehr unausgesprochen bleibt, als ausgesprochen wird, sondern auch, weil jeder Name begrenzt und beschränkt, während das Wesen, das sich selbst ausspricht, jenseits aller Beschänktheit liegt.

[6] Leser der »Philosophie der Freiheit« werden in diesen drei Stufen der Konzeption, Konkretisierung und Ausführung eines Weltenplanes die drei Komponenten des freien Handelns: die moralische Intuition, moralische Phantasie und moralische Technik wiedererkennen.

[7] Auf ähnliche Art erlangt übrigens der Mensch auf der Erde sein Ichbewusstsein: durch Spiegelung seiner seelisch-geistigen Tätigkeit am physischen Leib. Präzise sollte Steiner dies in einem Vortrag auf dem philosophischen Kongress am 8. April 1911 in Bologna formulieren, der im selben Jahr als Sonderdruck erschien: »Man wird … zu einer besseren Vorstellung über das ›Ich‹ erkenntnistheoretisch gelangen, wenn man es nicht innerhalb der Leibesorganisation befindlich vorstellt, und die Eindrücke ihm ›von außen‹ geben lässt; sondern wenn man das ›Ich‹ in die Gesetzmäßigkeit der Dinge selbst verlegt, und in der Leibesorganisation nur etwas wie einen Spiegel sieht, welcher das außer dem Leibe liegende Weben des Ich im Transzendenten dem Ich durch die organische Leibestätigkeit zurückspiegelt … Will man erkennen, nach welchen Gesetzen das Spiegelbild entsteht, so ist man an die Gesetze des Spiegels gewiesen. Von diesem hängt es ab, wie der Beschauer sich spiegelt. Es geschieht in verschiedener Art, ob man einen Planspiegel, einen konvexen oder einen konkaven Spiegel hat. Das Wesen dessen, der sich spiegelt, liegt aber außerhalb des Spiegels«. GA 35, Dornach 1984, S. 139-140.

Schon im März 1910 erklärt er in einem öffentlichen Vortrag in Berlin: »Damit dieser Astralleib und das Ich wahrnehmen können ihre eigenen Erlebnisse, sind sie darauf angewiesen, dass sich diese inneren Erlebnisse äußerlich spiegeln; und spiegeln können sie sich nur, wenn des Morgens beim Aufwachen das Ich mit dem Astralleib untertaucht in den Äther- und physischen Leib. Da wirkt für alles das, was der Mensch innerlich erlebt, für alle Lust und alles Leid, für Freude und Schmerz und so weiter der physische, aber namentlich der Ätherleib wie ein Spiegel, der zurückwirft, was wir im Innern erleben. Wie wir uns selber in einem Spiegel sehen, so sehen wir dasjenige, was wir im Astralleib erleben, aus dem Spiegel unseres physischen und unseres Ätherleibes …« GA 52, 14.3.1910, Dornach 1984, S. 149.

Vom Leib als Spiegel des Seelenlebens war aber bereits 1903 die Rede, z.B. in einem Vortrag vom 18.11. in Berlin: »Alles, was das Bewusstsein bietet, ist nur ein Spiegelbild des höheren Selbstes. Der Mensch sieht sich selbst nur als Spiegelbild, sein Gehirn ist der Spiegel. Was das Gehirn als Spiegelbild zurückwirft, ist nicht der wirkliche Mensch; dieser schlummert tief in uns und kann nicht unmittelbar gesehen werden«. GA 88, Dornach 1999, S. 62.

Der Begriff der »Spiegelung« ist in der Geheimwissenschaft im Umriss von zentraler Bedeutung für die Erklärung des Ichbewusstseins welcher Wesen auch immer. Hier wird der Spiegelungsvorgang (in der Ausgabe 1913) sogar zu einem Grundgesetz aller Entwicklung erklärt: »Darauf beruht ja alle Entwickelung, dass erst aus dem Leben der Umgebung selbständige Wesenheit sich absondert; dann in dem abgesonderten Wesen sich die Umgebung wie durch Spiegelung einprägt und dann dies abgesonderte Wesen sich selbständig weiter entwickelt«. GA 13, S. 192. Durch die Spiegelung entsteht Selbstbewusstsein im Wesen, das gespiegelt wird, gleichzeitig entwickelt sich das Spiegelbild im Wesen, das spiegelt, selbstständig fort. Ein Beispiel dafür ist das kleine Kind: erst sondert es sich, indem es geboren wird, von seiner Umgebung – der Mutter – ab, alsdann spiegelt sich seine Umgebung – im ersten Jahrsiebt – in ihm, und aufgrund dieser Spiegelung entwickelt es sich selbständig weiter. Zur Umgebung, die sich im Kind spiegelt, gehören die Eltern. Indem sie sich in ihm spiegeln, wirkt es auf sie zurück, sie werden durch die Spiegelung zu etwas anderem. Die vielschichtigen Wechselbeziehungen zwischen Umgebung und abgesondertem Wesen können hier nicht näher untersucht werden. Das genannte Gesetz bildet den Keim der geisteswissenschaftlichen Soziologie.

[8] GA 110, 14.4.1909, S. 84 f.

[9] GA 110, 16.4.1909.

[10] Hier erheben sich zwei Fragen oder Einwände. Es scheint widersinnig, Geistwesen wie Engeln, Erzengeln usw. »physische Leiber« zuzusprechen. Leser, die sich an die bisherigen Darstellungen zur Ontologie der Engelreiche erinnern, werden sich wundern, dass hier von leiblichen »Gliedern« der Engel die Rede ist, die ihnen ziemlich genau ein Jahr früher abgesprochen wurden. Laut Ausführungen vom 20. April 1908 in Berlin (Das Hereinwirken geistiger Wesenheiten in den Menschen, GA 102), besitzen die Angeloi keinen physischen Leib, vielmehr ist ihr unterstes Wesensglied ein Ätherleib, während das unterste Glied der Erzengel ein Astralleib und das der Archai ein Ich ist (siehe weiter oben), erstere also auch keinen Ätherleib und letztere auch keinen Astralleib besitzen. Hier nun ist ausdrücklich von »physischen Leibern« der Engel, »Ätherleibern« der Erzengel und »Astralleibern« der Zeitgeister die Rede.

Die schlichteste Antwort, die man auf diesen Widerspruch geben könnte, wäre, dass die Wirklichkeit offenbar erheblich komplexer ist, als der Verstand erwartet. Damit ist aber diese Komplexität noch nicht erklärt. Die Lösung liegt vermutlich im Begriff der Widerspiegelung, oder wie Steiner auch sagt, der »Offenbarung«: das zerstäubende Wasser, der Wind und das Feuer sind Offenbarungen von Engelwesen. Der leitende Gesichtspunkt ist die Widerspiegelung dieser Wesen in den vier sublunaren Elementen. Die physische Offenbarung der Archai, deren Spuren sonst nirgendwo in der elementarischen Welt anzutreffen sind, ist das Feuer, das zugleich die ätherische Offenbarung der Erzengel und die astralische Offenbarung der Engel ist – die physische Offenbarung der Erzengel ist die Luft, die zugleich die ätherische Offenbarung der Engel ist – und die physische Offenbarung der Engel ist das Wasser. (Die physische Offenbarung des Menschen, könnte man hinzufügen, ist die Erde, daher ist er auch aus Erde – adamah, Adam, humus, Homo – gemacht). Die Archai wirken (spiegeln sich) nur im sublimsten Element des Feuers, die Erzengel in Feuer und Luft, die Engel in Feuer, Luft und Wasser, während der Mensch in allen vier Elementen wirkt: in der Wärme seines Blutes spiegelt sich sein Ich, in der strömenden Atemluft sein Astralleib, in den kreisenden Säften seines Organismus sein Ätherleib, im mineralisch-erdigen Element offenbart sich sein physischer Leib. Aber das, was sich spiegelt, ist seinem Wesen nach nicht im Spiegel: zwar spiegeln sich die Sterne in der glatten Oberfläche eines Sees, aber die Sterne befinden sich nicht im Wasser, sondern am Himmel – obwohl sie in Gestalt ihrer Abbilder gleichzeitig im Wasser sind. Genauso, wie die Sterne in ihren Spiegelbildern gegenwärtig sind, sind die Engelwesen in den physischen Elementen gegenwärtig.

Dies alles erklärt aber nicht, wieso Steiner von Ätherleibern und Astralleibern der Archai oder Ätherleibern der Erzengel spricht, es sei denn, diese wären ebenfalls Formen der Offenbarung dessen, was er im Vortrag als »geistiges Gegenstück« oder »geistiges Gegenbild« einer solchen Offenbarung bezeichnet. Da er 1908 den Archai das »Ich« als unterstes Wesenglied zuschrieb, den Erzengeln den »Astralleib« und den Engeln einen »Ätherleib«, müsste es sich bei Astralleib und Ätherleib der Archai ebenfalls um Spiegelungen oder Offenbarungen handeln, analog beim Ätherleib der Erzengel. Was aber wäre in diesem Fall das Medium der Spiegelung? Worin, wenn nicht in den Erzengeln und Engeln könnte sich – abgesehen von der Wärme – das Ich der Archai spiegeln? Genauer gesagt: der Astralleib der Erzengel und der Ätherleib der Engel wären die Spiegelungsorgane des Ich der Archai, dann könnte im übertragenen Sinn auch von einem Astralleib und Ätherleib der letzteren gesprochen werden. Allein im Feuer würde sich das Ich der Archai unmittelbar spiegeln, der Astralleib der Erzengel in der Luft und der Ätherleib der Engel im Wasser. Der Astralleib der Erzengel wiederum würde sich ebenfalls im Ätherleib der Engel spiegeln, womit auch von einem Ätherleib der Erzengel im uneigentlichen Sinn gesprochen werden könnte.

Noch etwas fällt auf. Die Tafelskizze, die der Vortragende am 16.4.1909 anfertigte (GA 110, S. 110), zeigt die unterschiedliche Verteilung der Wesensglieder von Mensch bis Archai. Allein beim Menschen bilden alle sieben eine ineinandergefügte Einheit. Beim Engel befinden sich die drei leiblichen Glieder als Einheit in der physischen Welt, beim Erzengel zwei und beim Zeitgeist nur eines. Anders ausgedrückt: das unterste Wesensglied der Engel in der Astralwelt ist das Ich, das der Erzengel der Astralleib und das der Archai der Ätherleib. Gegenüber der Darstellung von 1908 erscheinen hier die Positionen der Engel und der Archai vertauscht, denn tatsächlich bildet Figur 2 (von links) – zumindest teilweise – die Archai ab, Figur 4 – ebenfalls teilweise – die Engel.

Vielleicht muss bei all diesen Überlegungen eine methodische Bemerkung beherzigt werden, die Steiner zu Beginn des 8. Vortrags vom 17. April einflicht: »Bei dieser Gelegenheit darf … gesagt werden, dass mancherlei von dem, was auch hier in diesen Vorträgen gesprochen wird, von anderer Seite her beleuchtet worden ist, sagen wir im Vortragszyklus von Stuttgart [GA 105, 1908], von Leipzig [GA 106, 1908], und wer äußerlich diese Zyklen nimmt und sie vergleicht, der kann wirklich manchen Widerspruch finden zwischen dieser oder jener Aussage. Das rührt einzig und allein davon her, dass es meine Aufgabe ist, in diesen Vorträgen nicht über spekulative Theorien zu sprechen, sondern über die Tatsachen des hellseherischen Bewusstseins, und dass allerdings Tatsachen sich anders ausnehmen, wenn man sie von der einen und wenn man sie von der anderen Seite ansieht [Es folgt das häufig verwendete Beispiel eines Baumes, der von unterschiedlichen Seiten betrachtet höchst unterschiedlich aussieht] … Freilich, wenn von ein paar Begriffen ausgegangen und daraus ein System konstruiert wird, dann ist es leicht, von vornherein ein abstraktes System aufzustellen; aber wir arbeiten von unten auf, und die harmonische Einheit wird sich dann als Krönung ergeben. Insbesondere aber muss immer nachgedacht werden bei einer jeden Aussage, in welchem Sinn und in welcher Richtung sie gemacht wird«. GA 110, S. 123-124.

Die Arbeit des Nachdenkens über jede Aussage hat Steiner seinen Zuhörern nicht abgenommen, sondern auferlegt. Es genügt also keinesfalls, Steiner zu zitieren, es kommt darauf an, ihn zu interpretieren.

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