Was wollen Anthroposophen wirklich?

Zuletzt aktualisiert am 19. April 2020.

Die Anthroposophen wollen eine andere Welt, eine bessere Welt. Eine Welt, in der nicht verschwenderisch Raubbau an den Ressourcen der Erde getrieben wird. Eine Welt, in der die Menschheit die Erde von der Lithosphäre bis zur Stratosphäre schützt und hegt, weil sie die Grundlage der Existenz aller ist. In der Tiere nicht grausam gequält werden, um einen Teil der Menschheit ungesund zu ernähren und gleichzeitig andere dem Hungertod preiszugeben. Eine Welt, die nicht vergiftet wird, um billige Lebensmittel zu erzeugen, in der Landwirtschaft ein wirklicher Dienst an der Erde und ihren Lebewesen ist, der entsprechend von den Konsumenten der Nahrung gewürdigt wird.

Eine Welt, in der Menschen nicht gezwungen werden, nur um subsistieren zu können, sinnlose Produkte zu erzeugen, die ihrer Gesundheit und der Gesundheit anderer schaden oder menschenunwürdige Arbeiten und Dienstleistungen zu verrichten. Sie wollen eine Ökonomie, die nicht Überfluss, sondern Sättigung schafft, die mit ihrer Wertschöpfung nicht dem Egoismus Weniger, sondern dem Wohl aller dient. In der Menschen nicht als Sklaven von Gruppeninteressen missbraucht werden, sondern die Kapitalressourcen der individuellen und spirituellen Entfaltung der Menschen dienen. Sie wollen eine gerechtere Welt, in der die Schätze der Natur und der Kultur unter allen Völkern und Kulturen brüderlich geteilt werden. Eine Welt, in der die kulturellen und zivilisatorischen Güter gerecht verteilt werden, in der die Zugänge zur Bildung und zu Lebenschancen jedem offen stehen.

Sie wollen eine Gesellschaft, in der wirkliche Freiheit herrscht, Freiheit des Denkens und Handelns, in der sich die kreativen Kräfte der Einzelnen optimal entfalten können und diese Entfaltung durch die Anstrengungen aller gesichert wird. Sie wollen eine Welt, in der Behinderte ihren Lebensbedingungen entsprechend vollwertig in die Gesellschaft integriert sind. In der Kranke wirklich geheilt, statt durch medizinische Behandlung krank werden. In der iatrogene Moribundität nicht in Gesundheit umdefiniert wird, weil ein medizinisch-industriell-politischer Komplex aus dieser Umdefinition schamlos Profit zieht. In der Alte nicht abgeschoben werden, sondern mit ihren Lebenserfahrungen vollwertig an der Gemeinschaft partizipieren dürfen. In der Sterbende würdevoll in ihre geistige Heimat zurückkehren dürfen.

Sie wollen eine Welt, in der es keine Kriege gibt, da die einzelnen Völker oder Bürgerschaften nur danach wetteifern, sich in Friedfertigkeit und Edelmut gegen einander zu übertreffen. Sie glauben, dass eine solche Welt möglich ist, wenn die einzelnen Völker und Kulturen sich in ihren unterschiedlichen Werten und Mythen achten und diesen dieselbe Liebe entgegenbringen, wie den jeweils eigenen. Sie wollen eine pluralistische Gesellschaft, in der die unterschiedlichen Religionen, Weltanschauungen und Wissenschaftsrichtungen gleichberechtigt und friedlich miteinander koexistieren können. Sie wollen eine Gesellschaft, in der das spirituelle Leben nicht ausgeschlossen wird, sondern den Alltag bis in die Wirtschaft durchdringt, und eine Technik erzeugt, die nicht lebensfeindlich, sondern lebensdienlich ist.

Sie glauben, dass die Menschheit eine Aufgabe hat: sich als Gemeinschaft zu begreifen, in der jeder Einzelne, jedes Volk, jede Kultur den anderen die gleiche Liebe und Anerkennung entgegenbringt. Dass sie sich als eine vielfältige, in sich differenzierte und doch in allen ihren Teilen auf einander angewiesene Einheit erkennen kann. Als eine organismische Noosphäre, die den Planeten Erde als Arche inmitten eines unendlichen Kosmos sehen lernt, von dem ihre Existenz abhängt, dem gegenüber sie Ehrfurcht und Selbstlosigkeit bezeugen will. Dass diese bruderschaftlich verstandene Menschheit nicht nach der Maxime verfahren wird, das Glück Weniger auf Kosten Vieler anzustreben, oder das Glück vieler auf Kosten Weniger, sondern das Glück aller. Sie streben eine Welt an, in der biologische oder Herkunftsunterschiede oder sonst irgendwelche äußeren Kennzeichen des Menschen kein Hindernis für den Zugang des Einzelnen zu was auch immer darstellen. In der sich die Menschen, gleich welche Hautfarbe, welche Weltsicht, welche Bildung, welche Religion sie haben, vorbehaltlos als Menschen anerkennen und auch als solche behandeln.

Sie wollen die Menschen insgesamt von ihrer Abhängigkeit von Macht und Besitz befreien. Sie würden sich wünschen, die Begegnung unter Menschen könnte wie ein religiöses Sakrament aufgefasst werden, als das Heiligste, das uns geschenkt ist. Sie glauben an die Heiligkeit des menschlichen Lebens, an seine Gottursprünglichkeit, aber auch die Gottebenbildlichkeit des Menschen, eines jeden Menschen, möge er welche Hautfarbe auch immer und was für Vorzüge oder Behinderungen auch immer besitzen. Sie sehen den Menschen aufgrund seiner Gottebenbildlichkeit im Besitz einer unantastbaren und unveräußerlichen Würde. Sie halten diese Würde des Menschen für ein heiliges Gut, das sie mit religiöser Ehrfurcht achten.

Sie sind der Überzeugung, dass der Mensch mit Verstand und Vernunft begabt ist, um bis in die letzten Gründe und Ursachen des Weltgeschehens vorzudringen. Dass er seine Erkenntnisfähigkeiten anwenden kann, um eine pluralistische, freiheitliche Gesellschaft autonomer Individuen zu schaffen, in der zugleich der Individualismus durch gegenseitige Liebe und Solidarität nicht nur unter den Nächsten, sondern auch den Fernsten ausgeglichen wird. Sie sind der Überzeugung, dass eine rein diesseitsorientierte Zivilisation wesentliche Teile der menschlichen Existenz unberücksichtigt lässt, und soziales Unglück heraufbeschwört, weil sie die spirituellen Bedürfnisse des Menschen verneint. Dass eine Wissenschaft, die sich lediglich dem Sichtbaren und Messbaren zuwendet, der komplexen menschlichen Existenz nicht gerecht wird, und Gefahr läuft, wenn sie Dominanz über die politischen Entscheidungen erlangt, eine soziale Wirklichkeit zu schaffen, in der der unsichtbaren und ungreifbaren Seite des Menschenwesens die Existenzberechtigung aberkannt wird. Ganz zu schweigen von der Intoleranz und dem sozialen Unfrieden, die eine solche Dominanz erzeugen würde.

Sie betrachten spirituelle Erfahrung und spirituelle Weltbilder als notwendige Konsequenz der conditio humana, aus deren spirituellen Dimensionen sie sich naturgemäß ergeben und erkennen diesen dieselbe Existenzberechtigung zu, wie unspirituellen Weltbildern. Sie plädieren für Toleranz zwischen den Weltanschauungen und Religionen, die die fremde Andersartigkeit ebenso achtet wie die eigene. Sie sind der Ansicht, dass ein Friede zwischen den Religionen nur erreicht werden kann, wenn diese sich nicht mit ausschließlichen Wahrheitsansprüchen bekämpfen, sondern ihre jeweiligen Welterklärungsweisen und aus ihnen entspringenden Lebensformen als legitime Selbstauslegung des spirituellen Menschenwesens gelten lassen.

Sie verabscheuen jede Ideologie, die danach trachtet, das Fremde oder Andersartige auszulöschen, weil sie alleinige Geltung beansprucht. Jede Form von Totalitarismus ist ihnen zuwider, weil sie ihrem höchsten Ideal, der individuellen Freiheit widerspricht. Sie befürworten eine absolute Religionsfreiheit. Sie betrachten ebenso die Kunst als eine wesentliche Selbstauslegung des Menschen, der eine bedeutende Aufgabe in der Bildung, Erziehung und im gesellschaftlichen Leben zukommt, weil sie auch Ausdrucksformen für jene Aspekte des menschlichen Lebens bietet, die von der wissenschaftlichen Rationalität missachtet werden, wie die Emotionalität oder die Empathie, wie das Ahnen und die Sehnsucht.

Sie sind der Überzeugung, dass die Menschheit, wenn sie diese Ziele anstrebt, nicht nur ein friedliches Leben auf dieser Erde führen kann, sondern dass sie durch die Verwirklichung dieser Ideale sich kollektiv auf eine höhere Evolutionsstufe erheben wird, eine spirituelle Stufe der Evolution, in der nicht mehr die ererbten tierischen Urinstinkte die Geschichte bestimmen werden, sondern die moralischen Instinkte, die sich der Mensch selbst anerzogen hat. Dieser neue Entwicklungsschub kommt jenem der neolithischen Revolution gleich, ja wird ihn bei weitem übertreffen. Die Menschheit wird dann nicht mehr die Erde für sich beanspruchen, sondern sich ihr hingeben. Die moralischen Kräfte werden die Menschheit und mit ihr die Erde in eine Form erheben, die dem göttlichen Ursprung näher steht, als die gegenwärtige. Denn letztlich schließt die Gottebenbildlichkeit des Menschen eine Perspektive der Entwicklung ein, in der der Mensch durch Freiheit zur theosis gelangen kann. Für all diese Ziele setzen sich die Anthroposophen überall auf der Welt ein, weil es ihnen Ernst mit der besseren Welt ist. Sie arbeiten im Bildungswesen, im medizinisch-therapeutischen Bereich, im Kulturwesen, in der Wirtschaft, in den Wissenschaften, um die sanfte Revolution voranzutreiben, die ihnen vor Augen schwebt.


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