Wissenschaftstheorie II

Zuletzt aktualisiert am 1. Juni 2011.

Seit langem schon hat die Wissenschaftstheorie es aufgegeben, einen allgemein verbindlichen und normativen Begriff der Wissenschaft zu formulieren. Peter Galison, Pellegrino University Professor in History of Science and Physics in Harvard, bringt diese Tatsache im Gespräch mit Christina Wessely wie folgt zum Ausdruck: »Seit langem schon hat man es in der Wissenschaftsphilosophie aufgegeben, unumgängliche und ausreichende Kriterien zu finden, die Wissenschaft eindeutig definieren. Man muss akzeptieren, dass keine Theorie – sei es die konfirmationistische Theorie eines Rudolf Carnap, der Poppersche Falsifikationismus oder die Reichenbachsche Wahrscheinlichkeitstheorie – es schaffen wird, alles Wissenschaftliche auszulesen und Nichtwissenschaft oder Metaphysik übrig zu lassen. Es gibt keine Möglichkeit, Pseudowissenschaft eindeutig abzugrenzen.«

Wer also eine bestimmte Form der Erkenntnispraxis als »Pseudowissenschaft« tituliert, steht nicht auf der Höhe der wissenschaftsphilosophischen Reflexion. Er bedient sich eines »Kampfbegriffs«, der eine nichtexistente Norm der Wissenschaftlichkeit voraussetzt. Er tut dies, um polemische oder politische Absichten zu verschleiern. Mitchell G. Ash, seit 1997 ordentlicher Professor für Geschichte der Neuzeit und Leiter der Arbeitsgruppe Wissenschaftsgeschichte an der Universität Wien, lässt daran keinen Zweifel: » ›Pseudowissenschaft‹ ist ein Kampfbegriff, dessen Verwendung eine lange Geschichte hat, dessen Gehalt sich jedoch kaum eindeutig fixieren lässt. Er dient der Ein- und Ausgrenzung und kann daher … als mehr oder weniger zuverlässiger Indikator dessen dienen, was in gegebenen zeitlichen und fachlichen Kontexten als Wissenschaft gelten sollte und was nicht. Damit dient er auch als Ressource im Kampf um die Festlegung der jeweils geltenden Grenzen der Migliedschaft in der Wissenschaftlergemeinschaft sowie um die öffentliche Positionierung der Wissenschaftlergemeinschaft als Denkkollektiv.«

Die Verwendung des Prädikats »pseudowissenschaftlich« oder »unwissenschaftlich« gibt also lediglich Aufschluss darüber, wie der jeweilige Akteur, der diese Begriffe verwendet, sich selbst und andere im Wissenschaftsdiskurs seiner Zeit und seines jeweiligen Denkkollektivs verortet. Es sagt aber nichts über die Validität des Gegenstandes aus, dem diese Prädikate zugeschrieben werden. Gemessen an dieser Einsicht, erscheint die Verwendung der Prädikate »wissenschaftlich« und »unwissenschaftlich« im politischen oder medialen Diskurs als inhaltsleeres, tautologisches Ritual. Jeder Fernsehzuschauer kennt die aufklärerischen Formate, in denen »wissenschaftliche Experten« zu Wort kommen, die sich zu diesem oder jenem Gegenstand und seiner Wissenschaftlichkeit äußern. Sowohl der Journalismus, der sich dieser »Experten« bedient, als auch diese selbst, stehen nicht auf dem Reflexionsniveau der heutigen Wissenschaftsphilosophie. Ihre Funktion ist eine gänzlich andere, als sie vorgeben. Sie zielen darauf ab, unorthodoxe Denkweisen zu häretisieren. Sie sind Instrumente im kulturpolitischen Machtkampf, im Streit der Ideologien.

Hören wir noch einmal Ash: »Konkret bedeutet dies …, dass es keine allgemeingültige, überzeitlich geltende Antwort auf die Frage gibt und auch keine geben kann, wie Wissenschaft von Nicht- oder eben Pseudowissenschaft unterscheidbar sein soll. Denn es gibt … keine überzeitlichen Kriterien zur Festlegung dessen, was Pseudowissenschaft heißt und auch keine Möglichkeit, dies ohne Berücksichtigung der intellektuellen und sozialen Ein- und Ausschlusskriterien der wissenschaftlichen Denk- und Handlungskollektive der jeweiligen Zeit zu tun. Diese Ein- und Ausschlusskriterien sind bestenfalls – wenn überhaupt – mittels emmpirischer Untersuchungen festlegbar.«

Für »Experten« der Wissenschaftlichkeit und Unwissenschaftlichkeit bedeutet dies Hartz IV. »Nur dann«, so Ashton, wenn man weiterhin dem »utopischen Ideal einer allgemeingültigen und überzeitlichen Festlegung erkenntnis- und wissenschaftstheoretischer Normen anhängt«, kann man eine konsequente Historisierung der Zuschreibung »Pseudowissenschaft« als Bedrohung empfinden.

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