Angriff auf die Individualität II – abgewehrt?

Zuletzt aktualisiert am 16. Mai 2011.

Der Bundestag hat am 24. April das Gendiagnostik-Gesetz beschlossen, das während drei Legislaturperioden diskutiert worden ist. Das Gesetz regelt den Umgang mit diagnostischen Verfahren, die sich in den letzten Jahren rasant entwickelt haben. Während im Jahr 2002 210.000 solche Tests durchgeführt wurden, waren es 2004 bereits 300.000 und heute sollen es mehr als 400.000 sein.

Das Gesetz schützt die Rechte des Einzelnen auf genetische Selbstbestimmung und baut einem möglichen Missbrauch der Gentechnologie durch Wirtschaft oder Politik vor. Es darf keinen Zwang zur Gendiagnose geben, weder aus wirtschaftlichen, noch aus politischen Gründen. Damit bezieht der Bundestag klar Position gegen Tendenzen, die jüngst im EU-Gesundheitsausschuss artikuliert worden sind (siehe den Blogbeitrag »Wiederkehr der Rassenhygiene?«).
Genetische Untersuchungen dürfen laut Gesetz nur durchgeführt werden, wenn der Betroffene rechtswirksam zugestimmt hat und nur von Ärzten, die den Untersuchten zuvor genetisch beraten haben. Auch nach der Probenentnahme kann sich der Patient noch gegen die Kenntnisnahme der Ergebnisse entscheiden, Probe und Daten müssen dann vernichtet werden. Pränatale genetische Untersuchungen sind nur aus medizinischen Gründen erlaubt, um Eigenschaften festzustellen, die die Gesundheit des Ungeborenen vor oder nach der Geburt beeinträchtigen können. Pränatale Tests auf Krankheiten, die erst im Erwachsenenalter ausbrechen können, werden verboten. Vaterschaftstests sind nur erlaubt, wenn die betroffene Person diesen zustimmt. Heimliche Vaterschaftstests werden mit einer Geldstrafe von 5000 Euro geahndet.

Arbeitgeber haben kein Recht, genetische Untersuchungen zu verlangen. Sie dürfen Ergebnisse solcher Untersuchungen weder erfragen, noch annehmen oder verwenden. Niemand darf zur Teilnahme an einem Gentest gezwungen werden und Nachteile dürfen aus einer Verweigerung nicht erwachsen. Versicherungen dürfen bei Vertragsabschluss keine genetischen Untersuchungen verlangen oder Auskunft über solche Untersuchungen einholen. Eine Ausnahme gilt bei Policen über 300.000 Euro oder jährlichen Rentenzahlungen von 30.000 Euro und mehr. Zulässig sind genetische Vaterschaftstests dagegen bei Zuwanderern, um Verwandtschaftsverhältnisse zu klären.

Allerdings enthält das Gesetz einen Pferdefuß: Zwar untersagt es pränatale Tests auf Krankheiten, die möglicherweise erst im Erwachsenenalter auftreten (was bei »Dispositionen« ohnehin kaum zweifelsfrei festgestellt werden kann), es untersagt aber nicht die Feststellung genetischer Eigenschaften, die die Gesundheit des Ungeborenen vor oder nach der Geburt beeinträchtigen können. Hier hängt alles davon ab, wie die Gesundheit des Un- oder Neugeborenen definiert wird. Sind Menschen mit Down-Syndrom »gesund«? Das Gesetz bestimmt nicht, was gesund oder nicht gesund heißt. Es überlässt diese Entscheidung Eltern. Die Zwänge, die sich aus der Möglichkeit pränataler gentechnischer Untersuchungen ergeben, mögen nach der Verabschiedung des Gesetzes nicht rechtlicher, sie können aber wohl politischer oder sozialer Natur sein. Die ethischen Dilemmata, die durch die Technologie erst geschaffen werden, können kaum durch ein Gesetz geregelt werden. Ein Gesetz könnte aber verhindern, dass solche Dilemmata überhaupt erst entstehen.

Sieht man die genetische Identität eines Menschen als Ausdruck seiner Individualität, die bereits pränatal existiert, müssen durch diagnostische Verfahren ermöglichte Entscheidungen gegen die physische Verwirklichung dieser Individualität, unter was für konkreten Umständen auch immer, als Angriff auf die Selbstexplikation der Individualität betrachtet werden. Zwar schreibt das Gesetz die Verhinderung »ungesunder« Selbstexplikationen nicht vor, es verbietet sie aber auch nicht. Das ist sein mephistophelischer Pferdefuß.

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