Lorenzo Ravagli im Gespräch

Zuletzt aktualisiert am 19. April 2020.

Anthroblog führte mit Lorenzo Ravagli ein Gespräch, um seinen Lesern authentische Informationen über den mythenumwobenen Autor zur Verfügung zu stellen. (Das Interview ist erstmals am 15. Mai 2009 erschienen und wird gelegentlich aktualisiert.)

what nobody sees is true

what nobody sees is true

Anthroblog: Herr Ravagli, wenn man im Internet nach Ihrem Namen sucht, dann findet man je nach Suchmaschine zwischen 130.000 und 150.000 Einträgen. Darunter auch manche, die Ihnen unterstellen, sie hätten Sympathien zum rechten Rand der Gesellschaft. Wie soll man sich unter all diesen Informationen zu Recht finden und sich ein zutreffendes Bild von Ihnen machen?

Lorenzo Ravagli: Das Internet ist, wie jeder weiß, nicht gerade eine Informationsquelle, auf die man sich verlassen kann. Jeder kann heutzutage anonym einen Blog einrichten, und in die Welt setzen, was ihm gerade passt. Manche Blogjunkies und Cyberkriminelle tummeln sich unter multiplen Identitäten im Netz und hinterlassen, wo immer sie können, ihre Duftmarken in Form von Textbausteinen, die nahezu identisch sind. Ein ganz spezieller Freund von mir, ein Cyberstalker, tut dies schon seit Jahren und postet mit penetranter Hartnäckigkeit immer wieder dieselben Inhalte in den unterschiedlichsten Blogs. Wenn irgendwo ein neues Posting mit Formeln wie »der umstrittene Autor« oder »von zweifelhaftem Ruf« oder »Vordenker« auftaucht, dann kann man sicher sein, dass dieser Cyberstalker wieder aktiv geworden ist, egal, wie die Unterschrift unter dem Posting auch lauten mag. Es gibt ja sogar, wie wir wissen, Internetseiten, die das Prädikat »Pranger« verdienen, die allein dazu geschaffen wurden, eine Plattform für anonymen Rufmord und üble Nachrede zu bieten. Da solche Seiten oft irgendwo in einem Dritte-Welt-Land gehostet werden, und deren Betreiber anonym sind, ist es äußerst schwierig, jemanden für die darin enthaltenen Delikte haftbar zu machen. Nur in besonders schweren Fällen ermittelt die Staatsanwaltschaft, wie zum Beispiel im Fall des Portals »esowatch«, in dem der besagte Cyberstalker übrigens auch einen Beitrag zu mir verfasst hat.

Anthroblog: Um so mehr freut es uns, dass Sie uns ein autorisiertes Interview gewähren, in dem wir Sie nach einigen Themen fragen können, zu denen alle möglichen falschen Informationen im Netz kursieren. Zunächst einmal, um das Unappetitlichste vorwegzunehmen: Sind Sie ein Anhänger der NPD?

Lorenzo Ravagli: Gott bewahre! Ich bin weder ein Anhänger noch ein Sympathisant der NPD. Auch nicht irgendeiner anderen rechtsgerichteten Partei. Der Nationalsozialismus war eine der größten Katastrophen des an politischen Katastrophen reichen 20. Jahrhunderts. Die von ihm begangenen Verbrechen sind unverzeihlich. Seine Kombination aus Rassismus und Biologismus, die in der Massenvernichtung von Juden einen Weg zur Erlösung der arischen Rasse sah, ist einfach grauenhaft. Und dass dieser Erlösungswahn dann auch noch in die Tat umgesetzt wurde und ihm sechs Millionen Juden zum Opfer gefallen sind, ist das Äußerste an Barbarei, das man in der kurzen Zeit erreichen konnte, die den Nazis zur Umsetzung ihres Programms zur Verfügung stand. Wer heute an diese schreckliche Episode der Geschichte positiv anknüpft oder die nazistische Ideologie zu rechtfertigen oder zu verharmlosen sucht, hat aus ihr offenbar nichts gelernt. Dasselbe gilt aber auch für Gruppierungen, die sich heute auf den Stalinismus, Maoismus oder Marxismus affirmativ beziehen.

Anthroblog: Warum haben Sie dann zusammen mit einem Neonazi ein Buch verfasst?

Lorenzo Ravagli: Sie meinen das Buchprojekt Falsche Propheten, dessen Titel eigentlich schon alles sagte. Dabei handelte es sich um die Dokumentation einer Diskussion mit Andreas Molau in Form eines Briefwechsels, einige Jahre bevor Armin Nassehi in seinem Buch Die letzte Stunde der Wahrheit (2015) dasselbe tat. Nassehi schrieb damals zur Rechtfertigung der Publikation seines Briefwechsels mit Götz Kubitschek: »Dass ich mich entschlossen habe, den Briefwechsel hier zu dokumentieren, hat in erster Linie damit zu tun, dass ich es für falsch halte, das rechte oder rechtskonservative Denken für unberührbar zu erklären. Es ist in der Welt, und das nach meiner Einschätzung derzeit keineswegs wirkungslos – und da es in der Welt ist, muss man sich damit auseinandersetzen, und zwar direkt« (S. 20). Die Einsicht in die Notwendigkeit einer diskursiven Auseinandersetzung mit früher schlicht ignorierten oder geächteten Meinungen hat sich seit dem Erfolg der AfD bei der Bundestagswahl 2017 auch im Feuilleton der deutschen »Leitmedien« durchgesetzt. Vor kurzem ist sogar ein Buch mit dem Titel Mit Rechten reden erschienen, dem das nicht minder lesenswerte Mit Linken leben gegenübersteht. Ich habe die Falschen Propheten im übrigen nicht zusammen mit einem Neonazi verfasst, sondern gegen diesen Neonazi, weil er versuchte, gewisse Sätze aus dem Steinercorpus zu vereinnahmen. Solche (vereinzelten) Fälle gibt es leider immer wieder. Es gibt eine Tradition rechter Anthroposophierezeption – manche erinnern sich vielleicht noch an Haverbecks Rudolf Steiner. Anwalt für Deutschland – ebenso wie es eine linke gibt. Dabei bin ich nach dem Prinzip audiatur et altera pars verfahren, und habe meinen Konterpart seine Argumente vortragen lassen, um sie dann zu widerlegen. Da ließ es sich natürlich nicht vermeiden, seinen Namen auf den Titel des Buches zu setzen. Weil man aber heute schon als Neonazi gilt, wenn man mit Neonazis diskutiert, habe ich von der Veröffentlichung des Buches Abstand genommen. Um es noch einmal zu sagen: Nazis, egal in welcher Form, sind mir ein Graus.

Anthroblog: Was halten Sie davon, dass sich Molau wie die Medien berichten, jetzt vom Rechtsextremismus abwendet?

Lorenzo Ravagli: Für eine gute Einsicht ist es offenbar nie zu spät. Wäre er damals, als ich mit ihm diskutierte, nicht so verbohrt gewesen, wäre ihm vieles erspart geblieben.

Anthroblog: Sind Sie ein Linker?

Lorenzo Ravagli: In meiner Schulzeit war ich einige Jahre in der Marxistischen Liga aktiv. Ich habe aber eingesehen, dass die Ideologie des Klassenkampfes eine Hassideologie ist. Die Beschäftigung mit der Geschichte des Marxismus und Kommunismus hat mich von dieser destruktiven Sozialromantik gründlich kuriert. Mit Hass kann man die Welt nicht ändern, nur mit Liebe.

Anthroblog: Welche Partei steht denn Ihren Auffassungen am nächsten?

Lorenzo Ravagli: Ich interessiere mich nicht für Parteipolitik, sondern für gesellschaftliche und kulturelle Diskurse und die Bedeutung, die sie als Symptome des Bewusstseinszustandes der jeweiligen Gesellschaften haben. Die Parteien beteiligen sich natürlich an diesen Diskursen, aber ihr Problem ist, dass sie stets Kompromissformeln finden und die komplexe Wirklichkeit auf wenige Schlagworte reduzieren müssen, damit sie in Fernsehformate wie z.B. Talkshows hineinpassen. Ich halte das deutsche Grundgesetz für eine der besten Verfassungen, die es gibt, besonders, was die Betonung der Menschenwürde und die Garantie von Freiheitsrechten anbetrifft. Und wie wir wissen, hat es sogar die Möglichkeit offengelassen, die Formen der Bürgerbeteiligung auszuweiten, was ja derzeit in vielen Bundesländern geschieht. Ich denke, wir sind da auf einem guten Weg. Denn je mehr die Bürger die Möglichkeit haben, sich auch durch Gesetzesinitiativen (Bürgerbegehren), Referenden usw. an der Gestaltung der Gesellschaft zu beteiligen, um so besser. Ich finde die Schweiz in dieser Hinsicht vorbildlich.

Anthroblog: Sie engagieren sich für die Anthroposophie Rudolf Steiners, manche sehen in Ihnen sogar einen »Chefideologen«.

Lorenzo Ravagli: Ich weiss wirklich nicht, wie ich zu dieser Ehre komme. Das ist reine Polemik. Wer die anthroposophische Szene kennt, in der jeder auf seiner eigenen Meinung besteht, auch wenn er gar keine hat, kann über die Vorstellung eines anthroposophischen Chefideologen nur lachen. Ich würde mir das selbst auch nie anmaßen. Es gibt ja diesen Anthroposophenwitz: ein Anthroposoph, dreizehn Meinungen. Im übrigen engagiere ich mich auch nicht für die Anthroposophie Rudolf Steiners.

Anthroblog: Wie? Sie haben doch schon eine Menge Bücher geschrieben, die Anthroposophie sogar gegen den Rassismusvorwurf verteidigt …

Lorenzo Ravagli: Das ist auch so ein Gerücht. Erstens weiss ich gar nicht, was die Anthroposophie eigentlich ist, obwohl ich mich schon lange mit dem Werk Steiners beschäftige. Und zweitens habe ich die Anthroposophie nicht verteidigt, sondern mich um die zeitgemäße Reformulierung einiger ihrer Grundideen bemüht. Man sollte das Projekt Anthroposophie nicht mit der Erscheinungsform verwechseln, die es im Werk Steiners angenommen hat.

Anthroblog: Das finde ich schon ein wenig paradox, dass Sie behaupten, Sie wüssten nicht, was Anthroposophie ist.

Lorenzo Ravagli: Ich glaube sogar, es ist ein Kennzeichen dafür, dass man sie nicht verstanden hat, wenn man behauptet, man wüsste, was sie ist. Immerhin glaube ich, eine Ahnung davon zu haben, was Anthroposophie nicht ist. Sie ist kein Ideensystem, keine Ideologie, keine Ansammlung von Meinungen oder Glaubenssätzen, sondern eine geistige Erfahrung. Da sie aber an das einzelne Individuum gebunden ist – diese geistige Erfahrung, meine ich – gibt es mindestens so viele Anthroposophien, wie es Individuen gibt, die diese geistige Erfahrung machen. Deswegen kann man die Anthroposophie weder definieren noch verteidigen. Man kann nur in ein Gespräch über ihre Lesarten treten, über das, was sich die Einzelnen darunter vorstellen. Was Steiner anbetrifft, so denke ich, man hat ihn aufs Äußerste verkannt, wenn man glaubt, er hätte ein Glaubenssystem hervorbringen wollen, zu dem man sich bekennen kann. Anthroposophie ist nicht die »Weisheit vom Menschen« im Sinne eines Systems von abstrakten Ideen, wie manche Lexika behaupten, sondern die Weisheit, die im einzelnen Menschen und mit dem einzelnen Menschen geboren wird, die in ihm und durch ihn lebt. Wie soll man eine solche höchst individuelle Weisheit in ein Credo fassen?

Anthroblog: Aber erheben Sie nicht den Anspruch, eine Interpretation der Anthroposophie zu formulieren, die auch für andere gültig ist?

Lorenzo Ravagli: Ich kann nicht für andere sprechen, sondern nur für mich selbst. Ich halte nichts von allgemein verbindlichen Dogmen, ganz gleich welcher Couleur. Das gilt auch für »anthroposophische Dogmen«. »Rechtgläubigkeit« kann es meiner Meinung nach in der Anthroposophie nicht geben, allein schon deswegen, weil sie keine Religion ist. Daher kann man »Anthroposophen« auch nicht auf die richtige Anthroposophie einschwören oder verpflichten, sich zu einer solchen Phantasmagorie zu bekennen. Jeder Mensch repräsentiert mit seinen Meinungen und Äußerungen immer nur sich selbst. Das ist radikaler Individualismus. Wenn ich etwas von Steiner gelernt habe, dann ist es dieser radikale Individualismus. Jeder Mensch, und das meine ich expressis verbis, ist ein Kosmos für sich, auch wenn diese Millarden von Kosmen in der vielfältigsten Art eineinander verschränkt und verflochten sind. Wie soll man also für einen anderen sprechen können?

Anthroblog: Um noch einmal auf die Verteidigung gegen den Rassismusvorwurf zurückzukommen: manche behaupten, weil sie Steiner gegen diesen Vorwurf verteidigt hätten, seien sie selbst ein Rassist.

Lorenzo Ravagli: Diese Behauptung ist so klug, wie die, ein Rechtsanwalt, der jemanden, dem eine rechtswidrige Handlung vorgeworfen wird, verteidigt, begehe deswegen selbst eine Rechtswidrigkeit. Leute, die solche Vorwürfe vorbringen, können weder denken, noch lesen. Sie können nicht denken, weil sie das Bestreiten der Applizierbarkeit eines Begriffs auf einen Sachverhalt mit der Zustimmung zum Inhalt dieses Begriffs verwechseln. Jemand, der behauptet, eine bestimmte geometrische Figur sei kein Dreieck, ist deswegen noch lange kein Anhänger der Ideologie des Dreiecks. Und lesen können sie ebensowenig. In den beiden Büchlein zu dieser Streitfrage, an denen ich mitgearbeitet habe, die unter dem Titel »Rassenideale sind der Niedergang der Menschheit« vor mehr als einem Jahrzehnt erschienen sind, stehen Sätze, die die Unterstellung, ich sei »Rassist«, Lügen strafen. Im Büchlein zum Antisemitismusvorwurf zum Beispiel kann man lesen: »Der Antisemitismus (und mit ihm natürlich der Rassismus überhaupt) ist Symptom eines geistigen Verfalls, einer sittlichen Verkommenheit, er ist Symptom einer Kulturkrankheit, er gefährdet nicht nur die Juden, sondern alle Menschen. Deswegen ist es die Pflicht aller Menschen, diesen so energisch als möglich zu bekämpfen.« (S. 41) Oder im Büchlein zum Rassismusvorwurf heißt es: »Rassistisch ist gewiss die Diskriminierung von Menschen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Rasse, also die ausdrückliche positive Behauptung, diesen müssten oder dürften aufgrund ihrer Rassenzugehörigkeit bestimmte Menschenrechte nicht gewährt oder entzogen werden.« (S. 65) Im übrigen verweise ich auf folgende Blogbeiträge zum Thema: »Was ist Rassismus?«; »Der Rassismus und sein Doppelgänger«.

Anthroblog: Was hat ihrer Auffassung nach Anthroposophie für eine Aufgabe in der Welt?

Lorenzo Ravagli: Diese Frage ist schon lustig, nachdem ich gerade gesagt habe, dass ich gar nicht weiss, was Anthroposophie eigentlich ist. Aber, wenn ich einmal einen vorläufigen Begriff formulieren darf, dann würde ich sagen, das Kernanliegen einer denkbaren Anthroposophie müsste die Befreiung der individuellen Kreativität sein. Diese Tendenz zur Entfesselung oder Befreiung ist der radikal autonomistische Grundzug auch der historischen Anthroposophie, der Steiner dazu geführt hat, sich als individuellen Anarchisten zu betrachten. Wenn sich heute Menschen als Anthroposophen bezeichnen, dann müssen sie damit meinen, dass sie auf der Suche nach ihrer individuellen Lebensweisheit sind, sonst verstehen sie sich selbst nicht richtig. Noch weniger verstehen sie natürlich diejenigen, die von der Anthroposophie sprechen und meinen, gegen sie polemisieren zu müssen oder sie »bekämpfen« zu können. Man muss sich das einmal klarmachen: was sie meinen, bekämpfen zu müssen, ist die Grundlage ihrer eigenen menschlichen Existenz, – die Möglichkeit, sich durch individuelle Sinngebung geistig in der Welt zu situieren. In der Anthroposophie, so wie ich sie verstehe, geht es um nichts anderes, als um die Befreiung dieses individuellen Vermögens zur Sinnstiftung aus je eigener Erkenntnis. Eine genauere Umschreibung der Aufgabe der Anthroposophie – aus meiner Sicht natürlich – findet man in meinem Blogbeitrag »Was wollen Anthroposophen wirklich?«.

Anthroblog: Und was ist mit der Verteidigung gegen den Rassismusvorwurf?

Lorenzo Ravagli: Der Rassismus ist nicht nur als Bestandteil des Nazismus verabscheuungswürdig, er ist es in jeder Form. Diese Reduzierung des Menschen auf die Perspektive einer Veterinärphilosophie ist intellektuell grenzdebil und vom Standpunkt des Humanismus aus gesehen schlicht würdelos. Von der Anthroposophie aus gesehen – ich meine jetzt den Begriff der Anthroposophie, den Steiner in seinen Grundzügen und Perspektiven entwickelt hat –, ist die Reduktion des Individuums auf irgendwelche kollektiven Identitäten verwerflich. Insbesondere der Versuch, das individuell Einzigartige auf biologische Kollektiveigenschaften zu reduzieren, schlägt der Idee einer aus dem Menschen geborenen, individuellen Weisheit ins Gesicht. Wenn man dem einzelnen Menschen die Fähigkeit zuerkennt, einen Kosmos der Weisheit aus sich zu schöpfen, dann kann man den Kosmos aus dem Menschen ableiten, aber nicht den Menschen aus einem beschränkten Bestandteil des Kosmos. Ich glaube, das ist ganz im Sinne Steiners, so wie ich ihn verstehe. Seiner Auffassung nach gehören alle denkbaren Formen von Kollektiven der Vergangenheit an. Die Menschheit wächst aus allen Kollektiven heraus, indem sie sich immer mehr in den einzelnen Menschen individualisiert. Nach seiner Auffassung ist 1879 ein neues »Michaelzeitalter« angebrochen, das diese Individualisierung radikalisiert. Der Zeitgeist-Erzengel Michael führt die Menschheit zu Christus, d.h. zur Geburt des Göttlichen in jedem einzelnen Menschen. Das wiederum führt zur Anerkennung jeder einzelnen Individualität, weil sie ein Bild Gottes ist. Das ist, wenn man so will, die »metaphysische« Begründung der unveräußerlichen Würde des Menschen. In diesem Sinn hat Steiner von der sozialen Begegnung als einem Sakrament gesprochen.

Anthroblog: Aber es gibt doch nicht wenige Zitate im Werk Steiners, in denen er sich in zweifelhafter Art über die Neger oder über die Rassen auslässt.

Lorenzo Ravagli: Nun, die Anthroposophie besteht nicht aus Zitaten. Die Berufung auf Steinerzitate ist eine kindische Form der Hermeneutik, die von der Unfähigkeit zeugt, die Grundintuitionen zu erfassen, die Steiner seinen Zuhörern im jeweiligen ideellen und historischen Kontext vermitteln wollte. Man sollte sich einmal fragen, inwieweit sich in solchen Zitaten die Bewusstseinsverfassung der Zuhörer widerspiegelt, und nicht diejenige Steiners. Ich muss gestehen, dass ich diese ganze Fixierung von Leuten, die gegen die Anthroposophie agitieren, auf hundert Jahre alte Zitate nicht nachvollziehen kann. Sie reproduzieren eine geistige Haltung, die in der anthroposophischen Szene seit längerem ad acta gelegt wurde: die Dogmatisierung Steiners. Es geht doch immer um individuelle Aneignung, um Interpretation, wenn wir uns mit Texten auseinandersetzen. Und was aus dieser Aneignung entsteht, ist stets aus dem individuellen interpretierenden Bewusstsein zu erheben. Ich lasse mich doch nicht durch Äußerungen eines Autors definieren, der vor hundert Jahren gelebt hat, ich definiere mich selbst – auch in der Auseinandersetzung mit einem historischen Autor. Und ich definiere auch mein Verständnis von Anthroposophie selbst. Etwas anderes bleibt uns doch gar nicht übrig, gerade, wenn wir Steiner ernst nehmen. Und was den Inhalt dieser Zitate anbetrifft, so verfälscht man deren Aussage allein schon dadurch, dass man sie aus ihrem jeweiligen ideellen Kontext reißt und sie einem diskursiven Kanon unterstellt, der nicht derjenige ihres Autors ist. Aber natürlich ist Polemik oder Politik nicht an einer tiefergehenden Hermeneutik interessiert. Schlagworte und Reizassoziationen reichen für Fernsehdebatten völlig aus.

Anthroblog: Nun haben Sie ja auch eine Entgegnung auf Helmut Zanders Anthroposophie in Deutschland geschrieben, in der sie ihm Inkompetenz und Unverständnis vorgeworfen haben. Ist das auch keine Verteidigung der Anthroposophie?

Lorenzo Ravagli: Nein! Man kann die Anthroposophie nicht verteidigen, weil es die Anthroposophie, um es noch einmal zu unterstreichen, gar nicht gibt. Es gibt immer nur Anthroposophie in der Mehrzahl. Die gibt es zum Beispiel auch in einem Muslim, denn ich würde einem Muslim nicht diese spezifische Form menschlicher Weisheit, die aus ihm selbst geboren wird, absprechen, insbesondere nicht den mystischen Ausprägungen des Islam. Worauf es ankommt, ist dieses Potential der geistigen Kosmoserzeugung als solches zu erkennen und daraus das ihm angemessene Selbstverständnis als Mensch abzuleiten. Man kann natürlich sehen, dass manche Weisheitssysteme, die einzelne Menschen über ihre individuelle Kreativität stülpen, sie eher daran hindern, diese Kreativität anzuerkennen und ihr gemäß zu leben. Aber das ist ein Problem der Selbsterkenntnis, nicht ein Problem der Anthroposophie. Wenn man einmal begriffen hat, dass es heute nur darum gehen kann, das schöpferische Potential, das jedem Menschen eingeboren ist, freizulegen, dann leitet sich daraus natürlich eine kritische Haltung gegenüber Ideologien ab, die die Entfaltung dieses Potentials behindern, weil sie die Freiheit nicht zulassen wollen. Leider muss ich auch in Zanders Denken eine solche Struktur wahrnehmen, die sich bei ihm in die Attitüde der »aufklärerischen Kritik« kleidet, in Wahrheit aber das Interesse der Demaskierung und Denunziation verfolgt. Diese Attitüde Zanders ist eine Strategie zur Verhinderung der individuellen Kreativität. Darum geht es in meiner Entgegnung, die im Grunde gar keine Entgegnung ist, sondern, wie es im Untertiel heißt, eine Analyse.

Anthroblog: Aber eine kritische Analyse.

Lorenzo Ravagli: Nun, eine Analyse ist immer kritisch. Insofern ist dieser Untertitel eigentlich eine Tautologie. Die Leute, die mich heute gerne zum Dogmatiker und Chefideologen stilisieren, sollten einmal meine Bücher lesen, insbesondere meine Beiträge im »Jahrbuch für anthroposophische Kritik«, das ich 12 Jahre lang herausgegeben habe. Man kann all diese Titel durch eine simple Recherche bei amazon.de oder auf meiner Webseite anthroweb.info finden, wo meine Beiträge im übrigen online zugänglich sind. Aber die Bereitschaft zu lesen und über das Gelesene auch nachzudenken, nimmt bedauerlicherweise immer mehr ab. Neuerdings kann man sogar das durch das Internet begünstigte Phänomen beobachten, dass es Leute gibt, die schreiben können, ohne dabei zu denken. In Abwandlung eines Satzes von Kleist könnte man von einer progressiven Inhibierung des Denkens während des Schreibens sprechen.

Anthroblog: Eine ganz andere Frage. Sind Sie religiös?

Lorenzo Ravagli: Wenn Sie in der permanenten Feier einer menschenwürdigen Existenz einen religiösen Akt sehen, dann bin ich religiös.

Anthroblog: Und was halten Sie von den verschiedenen Religionen?

Lorenzo Ravagli: Was soll man auf eine solche Frage antworten? Ich werde hier nicht das Christentum, den Islam oder den Buddhismus taxieren, wenn Sie mit Ihrer Frage auf so etwas abzielen. Religionen sind Weisheits- oder Wissensformen, die mehr oder weniger geeignet sind, den individuellen Menschen zu seiner einzigartigen Kreativität zu befreien.

Anthroblog: Und wie sehen Sie das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Religion?

Lorenzo Ravagli: Ich glaube nicht an das Märchen vom Gegensatz zwischen Religion und Aufklärung. Die historischen Religionen tragen ihre jeweils spezifischen Aufklärungen in sich und die Wissenschaften ihre spezifischen Religionen. Jeder, der sich ein wenig intensiver mit Wissenschaftsgeschichte oder der Geschichte der Aufklärung befasst hat, weiß, dass diese weit weniger rational sind, als die dogmatischen Rationalisten behaupten. Das ist seit Thomas S. Kuhns Publikation nicht mehr von der Hand zu weisen. Es ist ja nicht zu übersehen, dass diejenigen, die sich die Aufklärung und die Wissenschaft auf die Fahnen geschrieben haben, um gegen den Irrationalismus der Religionen zu Felde zu ziehen, nicht nur imitieren, was sie bekämpfen, sondern es auch noch schlecht imitieren. Die hochentwickelte Rationalität eines buddhistischen Sutra oder einer scholastischen Quaestio ist einem gebildeten Geschmack weitaus bekömmlicher als die Platitüden einer Trivialreligion des Rationalismus.


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