Nationalsozialismus als Entfesselung einer Massenpathologie

Zuletzt aktualisiert am 13. Mai 2011.

Auszug aus dem Buch »Unter Hammer und Hakenkreuz«, Stuttgart 2004.

Steiner wies immer wieder auf die Gefährlichkeit und Verderblichkeit der im völkischen Nationalismus angelegten, geistig-politischen Entwicklung hin, die sich für ihn bereits vor dem Ersten Weltkrieg abzuzeichnen begann. Dazu nur ein Beispiel aus einem Vortrag von 1918: «Es ist ein und dasselbe Wort: das ‹Geschlecht›, die zusammengehörige Familie, das Blutsverwandte, und dasjenige, was Verhältnis des Männlichen und Weiblichen ist … Diese Dinge haben sich vergröbert … Zurückgeblieben ist unter anderem auch das begierden- und gefühlsmäßige Hängen am Nationalen. Das Hängen am Nationalen, das chauvinistische Drängen zum Nationalen, das ist der zurückgebliebene Rest … Was drückt sich aus in dem nationalen Pathos? Wenn der Mensch nationales Pathos … entwickelt, was lebt in diesem nationalen Pathos …? Genau dasselbe, was im Sexuellen lebt, nur im Sexuellen auf andere Weise, im nationalen Pathos wiederum auf andere Weise. Es ist der sexuelle Mensch, der sich auslebt durch diese zwei verschiedenen Pole. Chauvinistisch sein, könnte man sagen, ist nichts anderes als gruppenmäßig Sexualität entwickeln.[Kursiv L.R.] Man könnte sagen, wo die sexuellen Essenzen, in dem, was sie zurückgelassen haben, die Menschen mehr ergreifen, da ist mehr nationaler Chauvinismus vorhanden; denn es ist dieselbe Kraft, die in der Fortpflanzung liegt, die auch im nationalen Pathos sich äußert … viel mehr als die Menschen glauben, ist in den heutigen katastrophalen Ereignissen von sexuellen Impulsen vorhanden …! Denn die Impulse zu dem, was heute vorgeht, liegen zum Teil recht, recht tief.

Solche Wahrheiten dürfen in unserer Gegenwart nicht mehr hinter Schloss und Riegel gehalten werden. … Heute … da ist das Appellieren an das bloß Nationale, das chauvinistische Appellieren an das bloß Nationale, also das Geltendmachen eines im eminentesten Sinne Psychisch-Sexuellen, ein zurückgebliebener luziferischer Impuls.»

Bereits 1917 hat Steiner die «Geister der Finsternis», die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts im Unterbewusstsein der abendländischen Menschheit wirkten, im Zusammenhang mit dem nationalen Chauvinismus charakterisiert: «Mehr als man glaubt, ist … das Problem des Volkstums in Beziehung zu setzen mit dem sexuellen Problem. Denn die Zugehörigkeit zum Volkstum beruht auf der gleichen Organgrundlage – dem Gangliensystem –, das auch dem Sexuellen zugrunde liegt. Das ist ja äußerlich schon dadurch zu verstehen, dass man seinem Volkstum durch die Geburt angehört, insoferne als man in der Mutter eines bestimmten Volkes gereift ist … Da sehen sie, durch welche, ich möchte sagen, seelenunterirdischen Untergründe gerade das Nationalitätenproblem schon mit dem Sexualproblem zusammenhängt. Und daher ist in der Erscheinung so viel Verwandtes zwischen diesen beiden Impulsen im Leben. Wer nur offene Augen für das Leben hat, der wird ungeheuer viel Verwandtes finden zwischen der Art und Weise, wie sich der Mensch betätigt aus dem Erotischen heraus, und wie er sich betätigt in seiner Zugehörigkeit zum Volkstume. … Die Erregungen nationaler Art, die insbesondere stark unbewusst wirken, … sind sehr verwandt den sexuellen Erregungen. Man darf über solche Dinge nicht dadurch hinweggehen, dass man aus gewissen Täuschungen und Sehnsuchten heraus eine emotionelle Art des Nationalempfindens zu einer recht vornehmen Empfindung machen möchte und die Sexualempfindung zu einer recht wenig vornehmen …»

Welch explosive Mischung sich aus irregeleiteter religiöser Hingabe, Sehnsucht nach sexueller Ekstase und Nationalismus ergab, demonstrierte bis zum Exzess das nationalsozialistische Regime. Hier konzentrierten sich alle religiösen Sehnsüchte und libidinösen Wünsche schließlich auf eine einzige Person, die alles in sich zusammenfasste, was damals von Bedeutung schien. Die auf ihre Weise geniale Formel «Ein Volk, ein Reich, ein Führer» brachte diese nationalsozialistische Synthese auf den Punkt.

Diesen massenpsychologischen, ja politisch-religiösen Aspekt des Nationalsozialismus thematisierte Joachim C. Fest in seiner 1973 erschienenen Hitlerbiografie etwas ausführlicher. Fest schreibt: «Der Zusammenhang ist zu offensichtlich, um übergangen zu werden: er erlaubt es, die rhetorischen Triumphe Hitlers als Ersatzhandlungen einer ins Leere laufenden Sexualität zu deuten. Wohl nicht ohne tieferen Grund pflegte Hitler die Masse schon begrifflich ‹dem Weibe› gleichzusetzen, und es bedarf nur eines Blickes auf die entsprechenden Seiten seines Buches Mein Kampf, auf die durchaus erotische Inbrunst, die Idee und Vorstellung der Masse in ihm wecken …, um zu erkennen, was dieser Kontaktgestörte, Einsame in den immer süchtiger begehrten Kollektivvereinigungen, hoch auf dem Podium über seiner Masse, suchte und fand: In einer enthüllenden Wendung hat er sie dann auch, wenn wir der Quelle Glauben schenken dürfen, seine ‹einzige Braut› genannt.»

Während diese Sätze mehr auf die Individualpsychologie Hitlers deuten, dessen «ins Leere laufende Sexualität» in der Aufpeitschung der Massenemotion und den Ekstasen der Hingebung seine Erfüllung, seine geradezu mystische Verschmelzung mit «dem Volk» fand, beschreiben die folgenden die Gegenseite: «Die Unwiderstehlichkeit seiner triebhaften rhetorischen Selbstentladungen rührte nicht zuletzt gerade daher, dass sie in der von der anhaltenden Not entnervten, auf wenige elementare Bedürfnisse reduzierten, eben ‹triebhaft› reagierenden Masse ein gleichgestimmtes Publikum fanden. Die Tondokumente der Zeit geben den eigentümlichen obszönen Kopulationscharakter der Veranstaltungen deutlich wieder: die atemverhaltende Stille zu Beginn, die kurzen schrillen Aufschreie, die Steigerungen und ersten Befreiungslaute der Menge, schließlich der Taumel, neue Steigerungen und dann die ekstatischen Verzückungen angesichts der endlich enthemmt dahinströmenden Redeorgasmen: Der Dichter René Schickele hat gelegentlich von den Reden Hitlers gesprochen, ‹die wie Lustmorde sind›, und zahlreiche andere zeitgenössische Beobachter haben das scharfe, sinnlich aufgeladene Fluidum dieser Kundgebungen … mit dem Vokabular von Walpurgisnacht und Blocksberg zu fassen versucht.»

Fest geht sogar noch weiter. In seiner Beschreibung der nationalsozialistischen Massenveranstaltungen greift er auf Begriffe der Dämonologie zurück und vermutet, Hitler sei während seinen Reden «von einem Geist» ergriffen worden. «Ein Zwischenruf konnte ihn dann unvermittelt inspirieren: zu einer Antwort, einer zuspitzenden Bemerkung, bis der erste begierig erwartete Beifall aufbrandete, der ihm Kontakt verschaffte, ihn rauschhaft steigerte, und ‹nach etwa fünfzehn Minuten tritt ein›, wie ein zeitgenössischer Beobachter bemerkt hat, ‹was sich nur mit dem alten primitiven Bilde sagen lässt: Der Geist fährt in ihn›.»

Den amerikanischen Journalisten H. R. Knickerbocker zitierend, der Zeuge einer Massenversammlung in München war, wagt es Fest sogar, von Besessenheit zu sprechen: «In solchen Zusammenschlüssen vermochte er ‹die eigene Neurose als allgemeine Wahrheit zu erleben und die kollektive Neurose zum Resonanzboden der eigenen Besessenheit zu machen›.» Die nationalsozialistische Bewegung war eben, so Fest, viel mehr eine «charismatische», als eine «ideologische Bewegung», «der Massenerfolg Hitlers war vor allem ein religionspsychologisches Phänomen». Die geradezu mystische Beziehung, die Hitler mit seinem Massenpublikum verband, war konstitutiv für die Stärkung seiner Überzeugung von der eigenen Auserwähltheit. Was ihm seine Anhänger entgegentrugen, die bedingungslose Unterwerfung und Verehrung, das wiederum stärkte ihn in seiner Auffassung, der auserlesene, charismatische Führer einer auserlesenen Nation, einer auserlesenen Rasse zu sein.

Bereits Ende 1922 hatte Rudolf Heß in einem Aufsatz für ein Preisausschreiben der Münchner Universität die Züge Hitlers porträtiert und die Erwartungen zum Ausdruck gebracht, die seine Paladine mit seinem künftigen Wirken verbanden, wenn er schrieb: «Er wird Deutschland wieder zur Vernunft bringen wie der Arzt den Halbirren – wenn nötig, mit brutalster Gewalt … Das Volk lechzt nach einem wirklichen Führer, frei von allem Parteigefeilsche, nach einem reinen Führer mit innerer Wahrhaftigkeit [sic!] … Kraft seiner Rede führt er, wie Mussolini, die Arbeiter zum rücksichtslosen Nationalismus … Bei jeder Gelegenheit beweist der Führer seinen Mut. Das gibt der organisierten Macht blindvertrauende Ergebenheit; durch sie erringt er die Diktatur. Wenn die Not es gebietet, scheut er nicht davor zurück, Blut zu vergießen. … Er hat einzig und allein vor Augen, sein Ziel zu erreichen, stampft er auch dabei über seine nächsten Freunde hinweg … Der mit abschreckender Härte vorgehende Gesetzgeber scheut nicht davor zurück, die, welche die besten Teile des Volkes dem Hunger preisgeben, Schieber und Wucherer, mit dem Tode zu bestrafen … Ein fürchterliches Strafgericht bricht herein über die Verräter an der Nation vor, während und nach dem Kriege … So haben wir das Bild des Diktators: scharf von Geist, klar und wahr, leidenschaftlich und wieder beherrscht, kalt und kühn, zielbewusst wägend im Entschluss, hemmungslos in der raschen Durchführung, rücksichtslos gegen sich selbst und andere, erbarmungslos hart und wieder weich in der Liebe zu seinem Volk, unermüdlich in der Arbeit, mit einer stählernen Faust im samtenen Handschuh, fähig, zuletzt sich selbst zu besiegen. [Kursivsetzungen L.R.]»

Abgesehen von der letzten Illusion, Hitler sei imstande, sich selbst zu besiegen – es sei denn, man sieht in Hitlers Suizid einen solchen Akt der «Selbstbesiegung» – , nehmen die von Heß aufgezählten Attribute mit einer geradezu prophetischen Hellsicht das spätere Wirken des Diktators vorweg. Unschwer ließen sich die einzelnen Etappen seines Aufstiegs und die ihr parallel laufende Entfaltung der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft als Verwirklichung der von Heß umrissenen Erwartungen deuten: die Kraft der Rede, die den nationalen Chauvinismus, die Hoffnungen und den Hass der Massen ekstatisch enthemmt, die blinde Ergebenheit seiner Paladine, seiner Partei und später großer Teile der Nation, die Bereitschaft zum Blutvergießen, das Hinwegstampfen über die nächsten Freunde beim Handstreich gegen die SA-Führung, die Ausmerzung der «jüdischen Schieber und Wucherer», das fürchterliche Strafgericht über die «Volksverräter» «während und nach dem Krieg» durch industrialisierte Massentötung, die hemmungslose, gehetzte Raserei des genozidalen Vernichtungsfeldzugs bis in die letzten Tage des Krieges, die rücksichtslose Unterwerfung der eigenen Person, des eigenen und fremder Völker unter einen erbarmungslosen Machtwillen, der sich mehr durch ihn als aus ihm entfaltete, die stählerne Faust, die jeden Widerstand mit militärischer Gewalt hinwegfegte, und schließlich die Bereitschaft, das eigene Volk, die mystische Braut, in der Apotheose der Selbstvernichtung mit in den Abgrund hinabzureißen.

Der von Hitler zum Propagandaminister ernannte Goebbels sollte später diese religiösen Erwartungen systematisch nähren, bis er selbst an den von ihm genährten Wahn glaubte, Hitler sei der Heiland der Deutschen. So schrieb er bereits am 20.9.1924 in der Völkischen Freiheit über Hitler: «Nicht die Masse trägt den Gedanken der Zukunft in sich, sondern der starke Einzelne, der den Mut und den Willen zum Leben und zum Opfern hat. Die Masse ist tot; wie kann sie neues Leben gebären? Aber der starke Mann lebt. Er hat Leben und formt Leben. Er hat die Kraft, Tote zu wecken [!]. Uns kommt es zu, an diese Kraft zu glauben und ihr zu vertrauen, ihr willig und uneigennützig zu dienen.» Nicht zufällig religiöse Metaphern zitierend zeichnete er ihn in der Öffentlichkeit als «Propheten», als «Abgott», als «Messias». Zentral für den nationalsozialistischen Führerkult ist die Vergottung eines Menschen und nicht die Vergöttlichung des Menschen. Dieser Führer bildete aber angeblich mit seinem Volk eine «auserwählte Einheit»: Hitler wurde zu jenem «Starken von Oben», dessen Ankunft Guido von List verkündet hatte, er war die Gestalt, die die Massen zu Stürmen der kollektiven Begeisterung hinzureißen vermochte, denn er «redete wie ein Drache» und durch sein Maul der Lästerung quoll der Pesthauch der Lüge, der wie ein belebender Atem in die taumelnde Menge fuhr. Nicht zufällig griff Hitler in besonderen Momenten blasphemisch zu religiösen Formeln, um die Form der mystischen Vereinigung zu charakterisieren, die ihn mit seinen Getreuen verband. So rief er 1936 in an das hohepriesterliche Gebet des Johannes-Evangeliums anklingenden Worten SA-Angehörigen zu: «Alles, was ihr seid, seid ihr durch mich, und alles, was ich bin, bin ich nur durch euch allein.»

Es ist erschütternd, zu sehen, dass Steiner bereits 1916 den satanischen Weg beschrieb, den die völkische Bewegung mit ihrem Führerkult und der Beschwörung der Blutsgemeinschaft sich zu beschreiten anschickte, indem er diese Vergottung eines Menschen der Art und Weise gegenüberstellte, wie die gegenwärtige Menschheit aufgerufen sei, sich in zeitgemäßer Art zu Christus in Beziehung zu setzen: «Der Christus verlangt in Wirklichkeit: Wenn du einem Menschen gegenübertrittst, dann sollst du ihn so ansehen, dass dasjenige, als was er dir in der äußeren Welt erscheint, nicht der ganze, volle Mensch ist … Man muss sich klar sein darüber, dass mit jedem Menschen uns etwas gegenübertritt, das überirdischer Natur ist und mit irdischen Menschenmitteln nicht begriffen werden kann. Dann stellt sich für jeden Menschen jene intime Ehrfurcht vor allem Menschlichen ein … Denn in dem Augenblicke – fassen Sie diesen Satz wohl!–, wo sich der Mensch wie ein römischer Cäsar als Gott verehren lässt, verliert er seine Menschlichkeit und sinkt in die Unmenschlichkeit herunter. Er hört auf, Mensch zu sein, wenn er sich als etwas Übermenschliches verehren lässt im sozialen Leben. [Kursivsetzungen L.R.].»

Während sich die Deutschen immer mehr nach dem Untergang in einem völkischen Kollektiv zu sehnen begannen, das von einem großen Führer, von einem «Volkskaiser» gelenkt werden sollte, betonte Steiner, die von ihm erstrebte soziale Erneuerung könne sich nur aus den Initiativen der Einzelnen und ihrem freien Zusammenschluss ergeben. Denn die Initiationswissenschaft «wendet sich schlechterdings immer nur an den einzelnen Menschen. … Sie muss so sprechen, dass sie zu jedem einzelnen Menschen spricht und dass sie an die Überzeugungskraft [gemeint ist Urteilskraft] jedes einzelnen Menschen appelliert … Damit ist zugleich ein wichtiges soziales Prinzip gegeben … Wenn man nur mit ethischen, mit moralischen Impulsen an den Einzelnen appellieren will …, dann kann man nicht Gruppen von Menschen wie Herdentiere zusammenfassen, um ihnen irgendeine gemeinsame Direktive zu geben … Auf ein anderes Prinzip als auf dieses … kann die Sozialmoral der Zukunft gar nicht begründet werden …»

Das absolute Gegenteil der von Steiner angestrebten sozialen Ordnung ist der völkische Kollektivismus, der in dem Fall wirklich wird – wie Steiner 1920 ausführt –, «wenn es nicht gelingen sollte, die Menschen zu wirklichen Menschen zu machen, d.h., wenn die Menschen durchaus ‹Untermenschen› sein wollen, wenn sie durchaus unter solchen Gesichtspunkten zusammengehalten werden wollen, wie die Glieder einer Tiergruppe zusammengehalten sind. … aber die Entwicklung der Menschheit geht dahin, dass nicht Menschengruppen, weder unter Blutsorganisationsbanden noch auch unter ideellen Organisationsbanden in der Zukunft organisiert werden sollen wie Hammelherden, sondern dass tatsächlich das, was im Zusammenwirken der Menschheit entsteht, aus der Kraft der Individualitäten heraus geschieht. [Kursivsetzungen L.R.]»

Doch kehren wir zu Fests Analyse des oratorischen Wirkens des deutschen Diktators zurück. Er fasst seine Ausführungen in folgendem Satz zusammen: «Nie wieder kamen Erlösungssehnsucht, das persönliche Bewusstsein charismatischer Bekehrungskraft, die äußerste Anspannung auf ein Ziel hin und der Glaube an die eigene Erwähltheit vor einer pathetischen Elendskulisse zu einer so ‹alchemistischen› Verbindung zusammen» wie in Hitlers Wirken als Volkstribun. Der Erschöpfungszustand, der «eigentümliche Zustand taumeliger Dumpfheit», in den Hitler nach seinen Reden verfiel, rundet nach Fests Auffassung den «Ausschweifungscharakter» der Hitlerschen Reden erst ab. Leider verfolgt er diesen Gedanken nicht weiter, denn er hätte ihn zum Einbezug des unbewusst magischen Aspekts des Nationalsozialismus geführt, den dafür Steiner umso deutlicher und unmissverständlicher zum Ausdruck brachte, für den der Begriff der Besessenheit bekanntlich kein bloß «primitives Bild» war, sondern eine geistige Realität. Immerhin hat Fest mit seinen Ausführungen den Blick auf einen Tatbestand gelenkt, der durch eine geisteswissenschaftliche Analyse erst wirklich verstanden werden kann.

Diese Analyse liegt in Umrissen bereits seit 1947 vor. Karl Heyer hat in seiner Studie über Wesen und Wollen des Nationalsozialismus den psychopathologischen Charakter dieser geistig-politischen Bewegung und die von ihr ausgebildeten objektiven Strukturen eingehend untersucht. Wir ziehen hier lediglich seine Überlegungen zur Psychopathologie des totalitären Bewusstseins heran. Nach seiner Auffassung besitzt diese Pathologie eine individualpsychologische und eine massenpsychologische Dimension.

Der Nationalsozialismus als Erscheinungsform des Totalitarismus ist als Kampf gegen das menschliche Ich, als Desintegration der menschlichen Seele zu begreifen. Das Ich des Menschen, die höchste moralische Instanz, der Sitz der Freiheit und tätige Ursprung der Erkenntnis, dessen Aufgabe darin besteht, Herrschaft über die Seelenkräfte des Denkens, Fühlens und Wollens auszuüben, wurde im Nationalsozialismus systematisch entthront. Der «Führer» selbst, der zur Inkarnation des Volkswillens stilisierte Heiland und Erlöser, «hatte keinerlei Organ für das menschliche Ich». Er war «ein Besessener». Der Kult der Entichung und Besessenheit drückte sich in der Sprache des Nationalsozialismus ebenso aus, wie in seinen politischen und sozialen Erscheinungsformen. Hitler begrüßte, dass ihm das deutsche Volk «verfallen» sei, «Besessenheit» erhielt einen hohen ethischen Stellenwert, ebenso der «Fanatismus» und der «blinde Gehorsam».

Das tiefste Wesen des Nationalsozialismus offenbart sich für Heyer in seiner Grundanschauung, dass das menschliche Ich nur von außen bestimmt und bestimmbar sei: durch Blut und Boden, durch Vererbung und Umwelt. Dies führte dazu, dass Erziehung sich in Abrichtung verkehrte, dass Information durch Propaganda und Lüge ersetzt wurde, dass der Zwang an die Stelle der freien Entscheidung trat. Die Erzeugung von Furcht wurde zur wichtigsten Waffe des Regimes: «Der Inbegriff und Sammelpunkt all dieser Arten der Furchterregung [war] das Konzentrationslager, das eigentliche unmittelbare Fundament, auf dem das ganze System ruhte.» Wenn das Ich unterdrückt wird, dann verselbständigen sich die Seelenkräfte, das Denken wird durch den Willen vergewaltigt, das Fühlen wird ausgetrieben, und der Wille wird zügellos.

In der Vergewaltigung des Denkens durch den Willen sieht Heyer geradezu das «psychologische Urphänomen des Nationalsozialismus». Der Wille (der Fanatismus, die Leidenschaft, die Begierde) schreibt dem Denken die Richtung vor und macht den Menschen unfrei. Die «hemmungslose Unduldsamkeit» wird zum herrschenden Prinzip erhoben, ein kurzer Weg führt von der geistigen Unduldsamkeit zum physischen Mord, der durch unermüdliche Propaganda herangezüchtete Rassenhass bildet den geistigen Keim zu der späteren «grauenhaften Massenmordpraxis in Auschwitz und anderen Menschenvernichtungslagern». Wenn der Wille das Denken vergewaltigt, dann ergreift die «Wunschnatur» des Menschen das Denken. Die Folge sind Illusionen, die im Nationalsozialismus gigantische Ausmaße angenommen haben, sich zu Wahnvorstellungen, ja, «zum vollendeten Wahnsinn» steigerten. Dieser Wahnsinn verbreitete sich in großen Teilen des Volkes und konstituierte den spezifischen «Massenwahnsinn» des Dritten Reichs, den Rassenwahn, den Führerwahn, den nationalen Größenwahn. Zwischen der Illusion, die sich bis zum Wahnsinn steigerte, und der Lüge pendelte der Mensch hin und her: Illusion, Wahnsinn und Lüge sind die Psychopathologie des Denkens. Diese Psychopatholoie ist eine Folge der «Entthronung der Logik», die Steiner bereits 1901 als psychologische Ursünde des Antisemitismus diagnostizierte.

Die Psychopathologie des Fühlens zeigt sich in der Ablenkung und Austreibung des Gefühls. In der Ablenkung der Verehrungsgefühle auf Scheinwerte: im Hitlerkult, im nationalen Heroismus, in der Ersatzreligion von Blut und Boden. Die Austreibung des Gefühls zeigt sich in der Ausmerzung von Mitleid und Mitgefühl gegenüber dem leidenden Mitmenschen. Beides hatte Brutalisierung und Primitivierung des Gefühlslebens zur Folge. Die seelische Leere, die durch die Unterdrückung aller subtilen Gefühlsregungen entstand, wurde durch «untermenschliche Rauschzustände» und «Paroxysmen des Hasses» ausgefüllt, wie sie auf Reichsparteitagen und öffentlichen Weihefeiern zelebriert wurden. Schließlich ist die Besessenheit selbst ein Ergebnis der Abspaltung des Gefühlslebens. Besessenheit setzt aber eine Kraft oder ein Agens voraus, das imstande ist, Besitz zu ergreifen. In die seelische Leere tritt «eine fremde geistige Macht dämonischer Natur ein». Der Dämon, der die Seele ausfüllt, erzeugt in ihr den Fanatismus.

Der Wille aber, der sich der Herrschaft des Ich entrissen hat, wird unbändig und ungezügelt. Hitler selbst hatte vor der Machtergreifung angekündigt, dass sein Wille «unbändig» sein werde. Die «Entfesselung ungebändigter Willensenergien» charakterisierte die ganze nationalsozialistische Bewegung. Dieser Wille war aber ein Wille ohne Ich, ohne moralische Instanz. Er war so mächtig, weil ihm die «Hemmungen des gesunden Denkens fehlten». Aus der Hypertrophie des Willens «ergibt sich der hemmungslose Impuls, den anderen mit allen nur möglichen Mitteln gewaltsam zu beeinflussen und zu dirigieren». Die zu diesem Zweck eingesetzten Mittel sind die Magie der Propaganda, der Suggestion, der ständigen Wiederholung, des Bildes, des preudoreligiösen Kults. Der vom Ich und vom Denken nicht gezügelte Wille wird verbrecherisch. «Zerstörungen gigantischen Ausmaßes» waren die Folge. Sie begannen «im Geistigen» mit «moralischen Verwüstungen», mit der «Herrschaft der Primitivität», sie verwandelten «im Politischen ganz Deutschland in ein einziges riesiges Zuchthaus oder Konzentrationslager …» Die Psychopathologie des Nationalsozialismus ist im Denken durch Wahnsinn gekennzeichnet, im Fühlen durch Besessenheit und im Wollen durch das Verbrechen. Das deutsche Volk in Wahnsinn, Besessenheit und Verbrechen zu stürzen, und durch es «Tod und Zerstörung» in die Welt zu bringen war das Ziel jener dämonischen Mächte, die im Nationalsozialismus wirkten.

Die Anmerkungen und Nachweise finden sich in der Printausgabe.

Lorenzo Ravagli, Unter Hammer und Hakenkreuz. Der Kampf der völkisch-nationalsozialistischen Bewegung gegen die Anthroposophie

Kommentare sind geschlossen.