Winnenden und das Böse

Zuletzt aktualisiert am 13. Mai 2011.

Der württembergische Kultusminister Helmut Rau hat den Amoklauf von Winnenden als eine Manifestation des Bösen bezeichnet. Der Bischof von Erfurt, Joachim Wanke, stellt in der FAZ die kirchliche Auffassung des Bösen klar. Für ihn ist die Herkunft des Bösen »ein dunkles Rätsel«, vor dem wir »ratlos« bleiben. (FAZ, Nr. 68 vom 21.3.2009) Das Reden vom Teufel ist ein »Festhalten am Geheimnis des Bösen, das letztlich unerklärlich ist«. Da das Christentum eine dualistische, gleichursprüngliche Existenz des Bösen mit dem Guten ebenso ablehnt, wie die Vorstellung, jenes könne seinen Ursprung in Gott haben, bleibt nur die Annahme, es beruhe auf einer freien Entscheidung, das Gute zu verneinen. »Das« Böse ist also eine Negation, die Negation des Guten. Wie verhält es sich aber mit jenem Bösen, das in der Bibel Eigennamen trägt?

Das Böse, so der Bischof, hat immer auch eine personale Dimension, aber die Person des Bösen kann man nicht mit dem menschlichen Person-Sein gleichsetzen, denn wo es nur reine Verneinung gibt, kann es keine Personalität, keine Kommunikation geben. Die Bibel »rechnet mit der Herrschaft Satans, aber dieser ist durch Jesus besiegt«. Sie spricht auch von der »Besessenheit« des Menschen durch »unreine Geister«. Ist das eine zeitbedingte, einem längst überholten Weltbild verpflichtete Rede? Dass ein Mensch »besetzt« sein kann, ist für Bischof Wanke »außerhalb jedes Zweifels«. Aber er warnt auch vor den »furchtbaren Folgen des Hexenwahns«. Das Böse sieht Wanke in der »Rebellion gegen Gottes Schöpfungsordnung« manifest werden, die das Zeitgeschehen durchzieht, in der Täuschung, der Mensch könne sein wie Gott, in Taten der Inhumanität, in Verhältnissen, die die Freiheit unterbinden, die Wahrheit unterdrücken. Das Böse, so der Bischof, ist ein »Epiphänomen«, das das Gute begleitet, ohne es je verschlingen zu können. Nein, müssen wir entgegnen: das Böse ist kein Epiphänomen, sondern ein Urphänomen.

Bischof Wanke blendet, wie so viele andere Christen unserer Tage, die Welt der Engel aus. Wenn es nur Gott und den Menschen gibt und Gott der Inbegriff des Guten ist, bleibt eigentlich für das Böse kein Platz, es sei denn, man verortet es im Menschen allein. Anerkennt man aber die Existenz von Engeln, wie die Bibel dies ja tut, eröffnet sich der Blick auf Heerscharen von personalen Wesen, die zwischen Gott und dem Menschen stehen, die zwischen beiden vermitteln, aber die Beziehung zwischen beiden auch trüben können. Autoren wie Thomas von Aquin oder Albertus Magnus schrieben ganze Enzyklopädien über die »substantiae separatae«, über die Engelwesen, reine, körperlose Geister, die vielfältige Aufgaben im Kosmos und im Leben des Menschen wahrnehmen. Heute sähen sich diese Scholastiker, die auf der Höhe der wissenschaftlichen Rationalität ihrer Zeit standen, dem Vorwurf des Spiritismus oder Okkultismus ausgesetzt, wenn die Glaubenswächter des Säkularismus sie überhaupt lesen würden. Es ist gut biblisch, von Wesen des Bösen zu sprechen. Sie sind im Neuen Testament Legion (man denke nur an die Schweineherde, in die die unreinen Geister fahren, die Jesus austreibt). Die Bibel kennt »Diabolos« und »Satanas«, sie kennt eine Fülle weiterer geistiger Wesen des Bösen. Man nehme sich nur einmal wieder das von aufgeklärten Christen am meisten gemiedene Buch, die Apokalypse des Johannes vor, die zur Diagnostik des 20. und 21. Jahrhunderts verfasst scheint.

Wenn man dem Menschen die Freiheit der Entscheidung zubilligt, muss man auch von jenen Kräften reden, die dieser Freiheit entgegenstehen. Und man muss anerkennen, dass diese Freiheit gerade die Möglichkeit des Irrtums und des Bösen einschließt. Was wäre eine Freiheit, wenn sie nur die Freiheit zum Guten wäre? Sie muss auch die Freiheit zum Bösen sein. Das Böse muss genauso real sein, wie das Gute, sonst stellte es keine wirkliche Alternative dar. Und zwar geistig real.

Besessenheit bedeutet nicht nur Tobsucht, wie der Begriff des »Amoklaufs« nahelegt. Der Mensch kann von Emotionen, Affekten überwältigt werden, die sein klares Urteilsvermögen, seine Selbstbeherrschung mit sich fort reißen, ihn zu Handlungen blindwütiger Gewalt treiben. Er kann aber auch von einer kalten, herzlosen Intelligenz ergriffen werden, die sein Mitgefühl, seine Empathie auslöscht und ihn mit kühler Überlegung Taten des Bösen vollbringen lässt. Die Attentäter des 11. September waren keine blindwütigen Affekttäter, der Amokläufer von Winnenden auch nicht, ebensowenig der Inzesttäter von Amstetten, der seine Tochter 24 Jahre lang im Keller gefangenhielt, und sie mehrere tausend Mal vergewaltigte. All diese Täter waren von einer kalten, seelenlosen Intelligenz besessen, die ihnen ihre Taten als rational, als logisch, als natürlich und gerechtfertigt erscheinen ließ. So auch der »Amokläufer« von Winnenden.

Diese kalte, seelenlose, empathiefreie Intelligenz ist die Macht des Bösen, mit der wir es in unserer Epoche zu tun haben. Nennen wir sie beim Namen: sie ist satanisch.

Lektüre: Rudolf Steiner, Die Apokalypse des Johannes.

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