Die sanfte Revolution

Zuletzt aktualisiert am 28. November 2011.

Foto: Troy Mason

In allen Lebensgebieten arbeiten heute Menschen, die durch das Werk Rudolf Steiners inspiriert sind. Ohne ihn wären ihre Leistungen nicht denkbar.

In der Landwirtschaft und Ökologie führen sie die Spiritualisierung der Beziehung des Menschen zur Erde, zum Pflanzen- und Tierreich an. Sie geben den Geschöpfen und der Erde, die sie als beseelte Wesen betrachten, zurück, was sie ihnen entnehmen. In der Medizin vertreten sie ein ganzheitliches Verständnis von Gesundheit und Krankheit. Sie fassen den Menschen als geistiges Wesen auf, für das der Leib ein sensibles Instrument der Individualisierung ist. Sie wenden sich gegen automatisierte Heilverfahren, die auf der Voraussetzung beruhen, der Einzelne sei bloß ein Exemplar seiner Gattung. Sie beziehen die vorgeburtliche und nach­todliche Existenz in den Heilprozess ein und erweitern den Horizont der Medizin über das Sinnlich-Sichtbare hinaus. In der Pädagogik plädieren sie für ein freies, selbstverwal­tetes Schulwesen. Sie betrachten Heranwachsende nicht als intelligente Tiere, die dazu domestiziert werden müssen, die Bedürfnisse der Wirtschaft zu befriedigen, sondern als Botschafter der Zukunft, die gekommen sind, uns – die Lehrer, Erzieher und Eltern zu inspirieren.

Diese Anthroposophen wollen eine andere Welt – eine bessere Welt. Eine Welt, in der die Erde nicht rücksichtslos ausgebeutet, sondern geschützt und gepflegt wird, in der der Mensch seiner Aufgabe als Hüter des Seins gerecht wird. Eine Welt, in der Tiere nicht gequält werden, um einen Teil der Menschheit ungesund zu ernähren und gleichzeitig andere dem Hungertod preiszugeben. Eine Welt, die nicht vergiftet und zerstört wird, um billige Lebensmittel zu erzeugen. Eine Welt, in der Menschen nicht gezwungen werden, sinnlose Produkte zu erzeugen, die ihrer Gesundheit und der Gesundheit anderer schaden, nur um über die Runden zu kommen. Sie wollen eine Ökonomie, die nicht Überfluss, sondern Sättigung schafft, die mit ihrer Wertschöpfung nicht dem Egoismus Weniger, sondern dem Wohl aller dient. Sie wollen eine gerechtere Welt, in der die Zugänge zu Bildung und Lebenschancen jedem offen stehen. Sie wollen eine Gesellschaft, in der wirkliche Freiheit des Denkens und Handelns herrscht, in der sich die kreativen Kräfte der Einzelnen optimal entfalten können und diese Entfaltung durch die Anstrengungen aller gesichert wird.

Sie wollen eine Welt, in der Behinderte ihren Lebensbedingungen entsprechend ganz in die Gesellschaft integriert werden. In der Kranke wirklich geheilt, statt durch medizinische Behandlung krank gemacht werden. In der durch Ärzte verursachtes Siechtum nicht in Gesundheit umdefiniert wird, weil ein medizinisch-industriell-politischer Komplex aus dieser Umdefinition schamlos Profit zieht. In der Alte nicht abgeschoben werden, sondern mit ihren Lebenserfahrungen sinnstiftend an der Gemeinschaft partizipieren dürfen. In der Sterbende würdevoll in ihre geistige Heimat zurückkehren dürfen.

Sie streben nach einer pluralistischen Gesellschaft, in der die unterschiedlichen Religionen, Weltanschauungen und Wissenschaftsrichtungen gleichberechtigt und friedlich miteinander koexistieren können. Einer Gesellschaft, die das spirituelle Leben nicht ausschließt, sondern in den Alltag integriert, bis in die ökonomische und technologische Praxis hinein.

Aus ihrer Sicht sollte die Menschheit sich als vielfältige, in sich differenzierte und doch in all ihren Teilen auf einander angewiesene Einheit begreifen. Als eine lebendige Geistsphäre, die den Planeten Erde als Arche inmitten eines geistigen Kosmos begreifen lernt, von dem ihre Existenz abhängt und der von ihrer Existenz abhängt. Anthroposophen streben eine Welt an, in der biologische, genetische oder sonstige Unterschiede kein Hindernis für den Zugang des Einzelnen zu was auch immer darstellen. In der sich die Menschen, gleich welcher Hautfarbe, Weltsicht, Bildung oder Religion, vorbehaltlos als Menschen anerkennen und als solche behandeln. Sie fassen die Begegnung zwischen Menschen als das Heiligste auf, das uns geschenkt ist. Sie glauben an des Menschen Gottursprünglichkeit und Gottebenbildlichkeit. Sie sehen den Menschen aufgrund dieser Gottebenbildlichkeit im Besitz einer unantastbaren und unveräußerlichen Würde. Sie halten diese Würde für das heiligste Gut des Menschen.

Sie sind der Überzeugung, dass eine rein diesseitsorientierte Zivilisation wesentliche Teile der menschlichen Existenz unberücksichtigt lässt und soziales Unglück heraufbeschwört, weil sie die spirituellen Bedürfnisse des Menschen verneint. Dass eine Wissenschaft, die sich lediglich mit dem Sicht­baren und Messbaren beschäftigt, der komplexen Welt nicht gerecht wird, und Gefahr läuft, eine Wirklichkeit zu schaffen, die die unsichtbare und ungreifbare Dimension des Menschenwesens zerstört.

Sie betrachten spirituelle Erfahrungen und spirituelle Weltbilder als notwendige Konsequenz der conditio humana und erkennen diesen dieselbe Existenzberechtigung zu wie anderen Weltbildern.

Sie betrachten die Kunst als wesentliche Selbstauslegung des Menschen, der eine bedeutende Aufgabe in Bildung, Erziehung und im gesellschaftlichen Leben zukommt, weil sie Ausdrucksformen für jene Aspekte des menschlichen Lebens bietet, die von der wissenschaftlichen Rationalität missachtet werden, wie die Emotionalität oder die Empathie, das Ahnen und die Sehnsucht.

Sie sind der Überzeugung, dass sich die Menschheit durch die Verwirklichung dieser Ideale kollektiv auf eine höhere Evolutionsstufe erheben wird, eine spirituelle Stufe der Evolution, in der uns nicht mehr die ererbten tierischen Instinkte bestimmen, sondern die moralischen Ideale, die wir uns selbst anerziehen. Dieser neue Entwicklungsschub kommt der neolithischen Revolution gleich, ja er wird sie bei weitem übertreffen. Unsere moralischen Kräfte werden uns und mit uns die Erde verwandeln. Wir sind Zeugen des Untergangs eines alten und des Beginns eines neuen Zeitalters.

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