Die Erzählungen der Neith

Zuletzt aktualisiert am 10. März 2020.

Seit Beginn der 1990er Jahre schreibt er die Evangelien aus dichterisch-imaginativer Erfahrung fort und gilt als Geheimtipp unter Liebhabern esoterischer Literatur: der deutsch-amerikanische Schriftsteller Patrick Roth. Was mit den drei Kurzgeschichten der sogenannten »Christus-Trilogie«, mit »Riverside«, »Johnny Shines« und »Corpus Christi« begann, gipfelt nun in einem umfangreichen »Roman« von rund 500 Seiten.

»Roman«? Man muss den Ausdruck schon in seinem ursprünglichen, mittelalterlichen Wortsinn nehmen, wie bei den französischen »Chansons de Geste«, dem »Rolandslied« und anderen Epen. Denn Roths Roman hat nichts mit dem heute verbreiteten unflätigen Realismus gemein, der vielfach als Dichtung ausgegeben wird. Wie die mittelalterlichen Epen, wie ein Parzival- oder Gralsepos, kreist die Erzählung Roths um eine mythisch-spirituelle Realität, deren verborgenes Zentrum die Gestalt des Auferstandenen ist. Und auch dem Wort »Dichter« gibt Roth seine tiefere Bedeutung zurück: jene Bedeutung, die in dem klassischen Ausspruch anklingt, die Dichter hätten »den Griechen ihre Götter gebildet«.

Um das Göttliche und dessen Gegenwart im Menschen geht es auch in Roths neuem Werk: »Sunrise. Das Buch Joseph«. Schon der Titel des Buches ist vielschichtig, wie alles in Roths Texten. Von einem Sonnenaufgang spricht dieser Titel – aber im Buch selbst ist nirgends von diesem Sonnenaufgang die Rede, zumindest nicht im äußerlich-realistischen Sinn, ebensowenig wie in der »Aurora Consurgens«, der »Morgenröte im Aufgang« Jacob Boehmes. Aber dennoch handelt es von der aufgehenden Sonne, der spirituellen Sonne der Menschheit, die im Bewusstsein des Dichters aufgeht, während er mit seinen Worten in den Abgründen seiner Seele schürft, wie ein Goldgräber oder Höhlenforscher. Und man hat das Gefühl, während man diesen »Roman« liest, als tauche man mit dem Autor in die dunkle Nacht der Seele hinab, die heller wird, je tiefer man taucht. Und ein »Buch« soll es sein, ein Buch also, das zu jenem Heiligen Buch hinzugefügt werden könnte, das aus »Büchern« besteht, ein apokryphes Buch, das, wie die Schriftrollen von Qumran, erst heute ausgegraben worden ist, wenn auch nicht aus dem Wüstensand – oder in einem metaphorischen Sinne vielleicht doch.

Im wüsten Sand der zeitgenössischen Seele gräbt Roth nach den heiligsten Mysterien der Menschheitsgeschichte. Aus den bodenlosen Abgründen der kollektiven Erinnerung holt Roth seine Imaginationen herauf, gewaltige Bilder, wie das des Joseph, des Vaters Jesu, der im Traum an den »Ragebildern« seiner Vorfahren entlang in einen unterirdischen Tempel hinabsteigt, bis er Adam gegenübersteht und vom Schöpfer aufgefordert wird, den »Tiegel« zu zerbrechen, der die uferlose Gestalt Gottes in eine dem Geschöpf fassbare Form bringt. Oder jenes andere Bild – des Joseph, der seinem ertrinkenden ersten Kind, das ebenfalls den Namen Jesus trägt, nachtaucht, in die Fluten des aufgewühlten Sees, dem sich im Tauchen ein Meer auftut, ein Meer unter dem Meer, in dem er an den Skeletten der ertrunkenen ägyptischen Verfolger seines Volkes vorbeischwimmt, in dessen lichtlosen Tiefen ein gewaltiger Baumstamm auftaucht, der seinen Sohn verschlingt und das Bild des ertrinkenden Kindes in sich einbildet, ohne es auszugebären. Oder schließlich jene jubelnde Symphonie von Bildern, in die das Buch ausklingt, als Joseph, nach langen Irrwegen, die das Schicksal ihn führte, in Jerusalem mit zwei Gefährten das Grab des Joseph von Arimathäa aus dem Kalkfelsen von Golgotha meißelt, dort aber, im Grab, der ägyptischen Magd Neith als Geburtshelfer zur Seite steht, um ihr Kind auf die Welt zu bringen und dann, nachdem sie Zwillinge zur Welt gebracht hat, im Grab einen Tisch stehen sieht, an dem die ganze Menschheit sitzt, einen Tisch, der sich in die Vergangenheit dehnt, bis zu Adam zurück und in die Zukunft bis zum «Heutigen« – lauter Gäste, die da des Bräutigams harren, der zum Hochzeitsmahl erwartet wird. Und als dann der Bräutigam kommt und sich zur Rechten der Braut, der Erzählerin Neith setzt, da ist des Wartens ein Ende, da ist Abendmahl und Hochzeit zugleich und an der Tafel, da fällt in Eins das Entzweite, Leben und Tod, da »sitzen Mensch und Gott, sehend, gesehen, zugewandt Auge in Auge.«

Wie in Stein meißelt Roth – eine späte Antwort auf Nietzsches »Zarathustra« – seine Worte und doch sind sie in ständigem Fluss, schildern sie ein Geschehen, das in lebendigen Bildern webt, die, kaum haben sie sich geformt, sich in andere auflösen, als reichten sich die wandelnden Archetypen die Hand, um von jener Vergangenheit zu erzählen, die uns aus der Zukunft entgegenkommt, die ewig gegenwärtig und immer zugleich ist, weil sie nicht aus der Zeit, sondern die Zeit aus ihr hervorgeht.

Wer sich auf diese Erzählung einlässt, begibt sich auf eine Seelenwanderung, die ihn wandelt. Er muss gleich zu Beginn den »Schwarzbach«, den Kidron, den Fluss, in dem die Toten schwimmen, überschreiten, wie die Jünger, die in das belagerte Jerusalem ausgesandt sind, nach dem Grab des Auferstandenen zu suchen. Zwar finden sie am Ende durch die Erzählungen der Neith, die als ägyptische Totengöttin aus der Nachtwelt der Seele, als Seele der Menschheit, zu ihnen spricht, das Grab, aber im Grab finden sie auch das Leben. »Sunrise. Das Buch Joseph« ist Initiationsdichtung, wie die Evangelien, eine Dichtung, die zur Initiation, zu den Göttern im Innern der Seele, zum Gott des Menschen führt.

Aber Roth wäre kein Dichter der Postmoderne, wöbe er nicht in seine Erzählung Spuren der Reflexion, die sich wie eine Selbstrechtfertigung der dichterischen Imagination angesichts missverstandener Zeitzeugenschaft lesen. Und so antwortet Neith, die Erzählerin, auf die Frage der Jünger, ob noch andere ihre Erzählungen des spirituellen Romans der Menschheit bezeugen könnten: »Was für Seelenkrüppel sind das, die von anderen sich bestätigen lassen, was sie – wenn sie’s erfahren – nur erfahren in der Seele innerster Höhle? Denn wer dorthin nicht gezwungen ist Zuflucht zu nehmen, findet nicht hin. Und wer nicht hinfindet, erfährt’s nicht. Und wer’s nicht erfährt, dem – und nur dem ! – sollen es andere bestätigen! Denn da war es einsam, und war grausam im Innersten jener Höhle, in der Hand des lebendigen Gottes. Und es graut ihnen, die je dort hingefunden, zu reden davon. Und sie bleiben ihr fern, solcher Höhle. Bleiben fern jenem Ort und lassen sich’s lieber von anderen bestätigen. Was nämlich? Dass es ihn gibt, diesen Ort. Dass wahr ist, dass es ihn gibt. Dass wahr und wahrhaftig davon berichtet, wer davon herkommend spricht. Selbst aber wissen sie’s nicht. Selbst wollen sie nicht hin, ich kann sie verstehen. Denn, glaubt mir, ich selbst war dort. Und brauche niemanden, mir zu bestätigen. Wenn ihr den Ort nicht findet, ihn aber wirklich sucht, umgeht alle Bestätigung! Flieht die Bestätiger! Meidet die Menge derer, die Bestätigung wollen! Lasst euch den, diesen einzigen Ort, von niemandem bestätigen! Denn er ist euer Ziel. Und verfehlt ihr das Ziel, nehmt Anlauf von neuem!«

Was also nützen all die Erzählungen von spirituellen Erfahrungen, wenn sie nicht imstande sind, jene, die sie hören, in Bewegung zu versetzen, und selbst die Welten und Reiche mit eigenen Augen zu sehen, von denen sie sprechen? Was nützen uns noch so viele Erzählungen und Bestätigungen, wenn wir nicht selbst erfahren, wovon die Rede ist? Aber die Zeugen bezeugen genau dies: dass diese Erfahrung möglich ist. Nur müssen wir uns auf den Weg begeben, in die Abgründe hinabsteigen, in die Gräber, um den Toten zu begegnen, in den Mutterschoß, um den Ungeborenen gegenüberzutreten, hinabsinken in die Nacht, um jenes Licht zu sehen, das kein Auge sehen kann, jene Stimmen zu hören, die kein Ohr zu hören vermag. »Sapere aude«, ruft uns der Dichter mit Horaz zu, aber er gibt diesem Aufruf eine vollkommen andere Bedeutung als Kant. Schließlich ist er auch kein Philosoph, sondern ein Dichter, ein »poeta vates«, der aus ebenjener Erfahrung schöpft, vor der alle Bestätigung eitel wird.

Patrick Roth, Sunrise. Das Buch Joseph. Wallstein Verlag Göttingen 2012, 509 S., Euro 24,90

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