Himmlische Hierarchie. Theosophie XII

Zuletzt aktualisiert am 12. Juni 2013.

Gottfried Arnold bezeichnete die »areopagitischen Grundgedanken« als die Quintessenz aller christlichen Spiritualität. Aber diese »Grundgedanken« sind kein theoretisches Konstrukt, sondern Ausdruck einer realen geistigen Erfahrung. Daher können sie auch ohne historische Anknüpfungspunkte in anderen Kulturen und Religionen auftreten.

Dionysios bleibt dennoch die zentrale Quelle für das christliche Verständnis von Hierarchie, sowohl im Himmel als auch auf Erden. Für Dionysios ist die Hierarchie eine Stufenordnung der Erkenntnis und der Aktivität, die sich so weit als möglich Gott annähert. Hierarchie ist eine vollkommene Ordnung, ein Bild der Schönheit Gottes, die die Geheimnisse ihrer eigenen Erleuchtung in Ordnungen und Stufen unterschiedlichen Verstehens entfaltet und sich ihrer Quelle immer mehr angleicht. Die hierarchische Ordnung auferlegt es manchen, zu reinigen, anderen gereinigt zu werden, manchen zu vollenden, anderen vollendet zu werden, und alle ahmen sie Gott nach, soweit sie irgend vermögen.

Im Zentrum der triadischen Kaskade von Reinigung, Erleuchtung und Vollendung steht die Erleuchtung. Man wird so weit gereinigt, als man das Licht zu sehen vermag, man wird vollendet, in dem Masse, als man erleuchtet wird und andere zu erleuchten vermag. Alle Erleuchtung geht vom göttlichen Licht aus, das den ganzen Kosmos durchdringt, ja, der gesamte Kosmos wird von Gott erleuchtet. Reinigung besteht in durchsichtiger Klarheit, während die Erleuchtung im Empfang und der Weitergabe des Lichtes besteht.

Die Erleuchtung vollzieht sich durch Mittlerschaft. Die Engelshierarchien sind die Mittler des göttlichen Lichtes füreinander und für den Menschen. Würde der Mensch das göttliche Licht unmittelbar sehen, würde er erblinden, wenn nicht gar verbrennen – daher wandte Moses sein Antlitz von Gott ab, daher sah Jesajas das göttliche Licht nicht direkt. Diese Mittlerschaft gibt es auch unter Menschen. Auch der menschliche Hierarch hat die Aufgabe, zu erleuchten und übernimmt damit die Funktion eines Engels: Gott zur Erscheinung zu bringen, für die, die er erleuchtet. Die kirchliche Hierarchie sollte dieser Erleuchtung dienen. Dies tat sie möglicherweise zu Dionysios Zeiten noch. Doch als die deutschen Theosophen auftraten, nach der Reformation, hatte die Kirche diese Kraft verloren. Sie gaben zwar das dionysische Verständnis der Hierarchie nicht auf, paßten es aber den veränderten Zeitumständen an. Was Dionysios noch voraussetzen konnte: die Übereinstimmung des himmlischen Urbildes mit dem irdischen Abbild, mußten die Theosophen der Neuzeit erst wiederherstellen. Und die Quelle dieser Restitution war das Individuum. Im Zeitalter des Individualismus konnte die Quelle der Erleuchtung nicht mehr eine vorausgesetzte Hierarchie sein, sie war im Individuum selbst zu suchen, das von sich aus den Weg zur Hierarchie bahnen mußte. Von Böhme bis Baader und Molitor betonten sie die Notwendigkeit der individuellen spirituellen Entwicklung, die erst wieder zu einer Spiritualisierung der Natur und des Kosmos führe. Gegen die veräußerlichte Institution der Kirche führten sie die Erweckung des Herzens ins Feld, gegen die Wissenschaftsgläubigkeit und das mechanistische Weltbild ein symbolisches Verständnis der Natur.

Oetinger und Molitor fanden in der lurianischen Kabbala eine emanatistische Kosmologie, die der dionysischen Hierarchienlehre entsprach. In beiden geht es um den Aufstieg des Gnostikers, der die Folgen des Sündenfalls beheben muss und mit der Wiederherstellung seiner integren Natur auch die äußere Natur wieder herstellt. Die kabbalistische Lehre von Adam Kadmon, dem himmlischen Urmenschen, betont die Wesensidentität von Mensch und Kosmos und die Erneuerung der Natur durch die Erneuerung des Menschen. Auch die Lehre vom tzim tzum, wonach Gott in sich selbst Raum für die Schöpfung schaffen mußte, wurde von den christlichen Theosophen aufgegriffen, zeigte sie doch, dass die Natur und der Mensch in Gott sind und ihn widerspiegeln. Doch die Betonung liegt bei den neuzeitlichen Theosophen nicht auf der himmlischen Hierarchie, sondern auf der individuellen Erneuerung. Deutlich zeigt dies Böhmes »Weg zur Christosophie«, ein Gebetsweg zur spirituellen Erneuerung des ganzen Menschen. Im Vordergrund steht die Umwandlung des individuellen Menschen. Der Mensch ist imstande, in sich den Himmel und die Hölle zu erschaffen. Dionysios konnte voraussetzen, dass der Leser sich bereits auf dem Weg der Gnosis befand, Böhme mußte unter den Bedingungen der Neuzeit erst das Gestrüpp beiseite schaffen, das den Anfang des Weges verbarg. Der Lebenssituation der Moderne angemessen setzen die modernen Theosophen beim Individuum an, das erst die Voraussetzungen schaffen muss, um einen Weg zur himmlischen Hierarchie zu finden. Ohne dass das moderne Individuum diese Voraussetzungen erfüllt, wird ihm, so Versluis, die initiatische Tradition des christlichen Mittelalters verschlossen bleiben.

Genauso wie die von Versluis beschriebenen »modernen Theosophen« setzt auch Steiner beim Individuum an. Von der »Philosophie der Freiheit« bis zu »Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?« weist er auf die Kräfte hin, die in der Seele jedes Menschen schlummern, die erweckt und entfaltet werden können, damit sich der Mensch durch sie seinen Weg auf der Jakobsleiter zum Allerhöchsten bahnen kann. Auf diesem Weg, den Steiner selbst beschritten hat, eröffnet sich ein neues Verständnis des Christentums, eine Schau der Hierarchienwelt, und eine Quelle moralischer Antriebe, die imstande ist, die Umwandlung der Gesellschaft im Sinne der modernen Theosophen herbeizuführen. Bedauerlich, dass Versluis diesen bedeutendsten Theosophen des 20. Jahrhunderts systematisch ignoriert.

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