Wissenschaft und Esoterik II

Zuletzt aktualisiert am 9. Dezember 2015.

moses. schule raffaels

2. Vorgeschichte: Orientalisierender Platonismus

Laut Hanegraaff faszinierte die Renaissanceplatoniker nicht der historische Plato, sondern das Bild Platos, das die religiösen Denker der Spätantike geschaffen hatten. Die Philosophen des Mittel- und Neuplatonismus formten die platonische Philosophie in eine »religiöse Weltsicht mit eigener Mythologie und eigenen Riten« um, und konzentrierten sich auf den Erwerb einer erlösenden Erkenntnis (gnosis), durch die die Seele sich aus der Bindung an die Materie befreien und mit dem göttlichen Geist vereinigen konnte. Dieser Grundzug war für alle gnostischen, hermetischen und theurgischen Strömungen der Spätantike charakteristisch und nach diesem Modell verstanden die Renaissanceplatoniker ihren Platonismus.

Die Umformung der Philosophie in Religion, Mythologie und Ritual war laut Hanegraaff für die Philosophiehistoriker stets ein Stein des Anstoßes. John Dillon sprach von der »Unterwelt des Platonismus«, die von »sub-philosophischen Phänomenen« bestimmt gewesen sei. Dass die okkulten Spekulationen des Neuplatonismus nichts mit Philosophie zu tun hatten, galt als selbstverständlich. Auch Festugière, der Herausgeber des »Corpus Hermeticum«, verbarg seine Verachtung für die »abergläubische Pseudophilosophie« des Hellenismus nicht, in der er eine »Verfallsform des Rationalismus« sah. Und die Einführung theurgischer Rituale in die Philosophie durch Iamblichus bezeichneten Historiker des 20. Jahrhunderts als »unlösbares Rätsel«, obwohl Iamblichus weitaus typischer für seine Zeit war, als Plotin, der auf solche Rituale verzichtete.

Solche »normativen Vorurteile«, die befremdliche religiöse Praktiken mit dem Maßstab der rationalistischen Philosophie messen und moderne Stereotypen des Okkulten anachronistisch in die Vergangenheit projizieren, verunmöglichen nach Hanegraaffs Auffassung ein Verständnis der Ursprünge des Narrativs von der alten Weisheit. Vermieden werden muss auch der Fehler, diesen Traditionen einen seriösen philosophischen Gehalt abzusprechen, nur weil sie als religiös oder, »noch schlimmer«, als »okkult« klassifiziert werden. Dass die meisten Neuplatoniker Theurgie praktizierten oder wenigstens guthießen, disqualifiziert sie nicht als Philosophen. Und man wird die gnostische, hermetische und neuplatonische Form von Religiosität nicht verstehen, wenn man ihre philosophischen Begründungen ignoriert.

Hanegraaff schlägt als Typenbegriff für das zu untersuchende Milieu »platonischen Orientalismus« vor. Für diesen ist die Auffassung des Pythagoräers Numenius von Apamea kennzeichnend, der bei seiner Suche nach philosophischer Erkenntnis nicht bei Plato stehenblieb, sondern zu Pythagoras und jenen Völkern zurückging, die mit Plato angeblich übereinstimmten, nämlich zu den »Brahmanen, Juden, Magiern und Ägyptern«. Diese Ansicht ist typisch für seine Zeit: die ältesten barbarischen Völker besaßen eine reine und überlegene Wissenschaft und Weisheit, die nicht menschlicher Vernunft, sondern unmittelbarem mystischem Zugang zum Göttlichen entsprungen war. Alles, was Plato und die anderen griechischen Philosophen wussten, stammte von diesen Vorgängern. Die gesamte griechische Philosophie stammte aus orientalischen Quellen und den Ägyptern wurde die Ehre zugesprochen, sie begründet zu haben. Philosophie aber wurde nicht als Wissen aus reiner Vernunft verstanden, sondern als göttliche Weisheit und Rettung der Seele.

Dass der Platonismus eine »alte göttliche Weisheit war, die aus dem Orient stammte«, darin bestand die gemeinsame Überzeugung der hellenistischen Mysterienphilosophen. Die alten Perser, so die verbreitete Auffassung im Hellenismus, hatten ihre Philosophen als Magier bezeichnet. Zoroaster war ein persischer Weiser, der irgendwann im sechsten Jahrtausend vor Christus gelebt hatte, manche seiner Schriften existierten immer noch und bewiesen seine Kenntnisse in Astrologie. Er hatte etwas mit den Chaldäern zu tun, denn Pythagoras war bei ihm in Babylonien in die Schule gegangen. Andere Werke bewiesen, dass die alten Perser Meister der okkulten Wissenschaften waren. Ähnliche Auffassungen gab es über Hermes Trismegistos und eine Reihe weiterer Weiser anderer Völker. Dass Plato sein Wissen von den Persern erhalten hatte, darauf deutete eine Bemerkung im Alkibiades, in dem Sokrates von der Magie Zoroasters als einer Form des Gottesdienstes spricht. Viele weitere Quellen unterstützten solche Auffassungen, unter anderem Historiker wie Diodorus Siculus oder Plutarch, aber auch Neuplatoniker wie Iamblichos und Proklos. Die Gelehrten der Renaissance, die diese Traditionen wiederentdeckten, betrachteten die »Chaldäischen Orakel« als authentisches Werk Zoroasters und die hermetischen Schriften als Werke des Hermes Trismegistos. Der Typenbegriff »platonischer Orientalismus« scheint demnach gerechtfertigt.

Es ist daher nicht überraschend, wenn die Platoniker der Renaissance die Vorstellung von der »alten Weisheit« übernahmen. Da all ihre Quellen in der Auffassung übereinstimmten, der Platonismus habe seinen Ursprung im Orient, wäre es geradezu unplatonisch gewesen, nicht von der Existenz einer »prisca theologia« oder einer »philosophia perennis« überzeugt zu sein, oder den rituellen Praktiken und okkulten Künsten der alten Religionen jeglichen Wert abzusprechen. Und da alle alten Weisen ein und derselben zeitlosen und universellen Tradition anzugehören schienen, war es nur logisch, auch die platonischen Dialoge so zu lesen, wie der Mittel- und der Neuplatonismus dies getan hatten. Aus der Sicht Ficinos sprach Plato durch die Abhandlungen Plotins, – ja Plato und Plotin waren beide keine originalen Denker, sondern lediglich Sprachrohre ein und derselben alten Weisheit, deren Urheber letztlich Gott war.

Wie war es möglich, dass die Platoniker der Renaissance ein so uneingeschränktes Bekenntnis zur alten heidnischen Religion mit dem Christentum für kompatibel hielten und sogar als Voraussetzung für ein wirkliches Verständnis des Christentums betrachteten?

3. Vorgeschichte: Christliche Apologetik

Die Gründe dafür sind laut Hanegraaff in der apologetischen Tradition zu suchen. Unter Apologetik versteht man »die polemische Verteidigung der Überlegenheit der eigenen Überzeugungen gegenüber anderen«. Apologetik und Polemik sind nicht voneinander zu trennen. Indem man die eigene Position verteidigt, zieht man die der anderen in Zweifel, indem man die Positionen der anderen als falsch erweist, nimmt man für die eigene in Anspruch, richtig zu sein. Daher ist jede Art von Apologetik implizit polemisch und jede Art von Polemik implizit apologetisch.

Das »symbolische Kapital« um das die Beteiligten stritten, war die »Tradition«. Die antiken Kontrahenten erhoben mit unterschiedlichen Genealogien Ansprüche auf dieses symbolische Kapital. So konnte der eine behaupten, die gesamte griechische Philosophie habe ihren Ursprung in Ägypten (Hekateus von Abdera), während ein anderer diesen Anspruch zurückwies und behauptete, nicht nur die Philosophie, sondern auch die Geschichte der Menschheit habe erst mit den Griechen begonnen (Diogenes Laertios). Andere Autoren beanspruchten die höchste Weisheit für ihr eigenes Volk: Berossus für die Babylonier, Manetho für die Ägypter, Philo von Byblos für die Phönizier. Allen war die Überzeugung gemeinsam, Alter sei mit Überlegenheit gleichzusetzen. Was neu war, war historisch bedeutungslos. Nichts konnte neu und zugleich wahr sein. Das älteste war auch das beste, die Gegenwart eine Phase des Niedergangs, der tiefste Punkt eines Kreislaufs, die Alten standen den Göttern und dem Anfang der Dinge näher und wussten daher auch besser über sie Bescheid.

Für eine neue Religion wie das Christentum war diese in der Antike verbreitete Auffassung natürlich ein Problem. Um den Anspruch der Überlegenheit gegenüber dem Heidentum zu rechtfertigen, mussten die christlichen Apologeten daher das Kunststück vollbringen, die vollkommen neue frohe Botschaft zu verkündigen und gleichzeitig zu leugnen, dass sie neu sei. Ihre Trumpfkarte in diesen Auseinandersetzungen war Moses.

In der heidnischen griechischen Literatur taucht Moses das erste Mal bei Hekateus von Abdera (4. Jh. v. Chr.) auf, der ihn für einen Ägypter hält und als Gründer Jerusalems, Stifter eines religiösen Kultes und Gesetzgeber darstellt. Ihm hielten jüdische Autoren entgegen, Moses sei Jude, mit dem Dichter Musaeus identisch und der Lehrer des Orpheus gewesen (Artapanus). Der jüdische Moses erscheint hier geradezu als Kulturheros der Ägypter, er erfand allerlei technische Innovationen, die Philosophie, organisierte die Religion, gründete Städte und schuf die Hieroglyphen. Weil er diese Hieroglyphen so gut zu deuten wusste (»hermeneuein«), gaben ihm die Priester den Namen »Hermes«. Die Identifikation von Moses und Hermes war ein kluger Schachzug im Streit um Überlegenheit und Priorität: alles, was man Hermes zugeschrieben hatte, ging nun auf Moses zurück, und da dieser auch Lehrer des Orpheus war, hatte die griechische Philosophie einen jüdischen Ursprung. Auf die gleiche Art argumentierte auch Flavius Josephus, der behauptete, Moses sei der älteste Gesetzgeber gewesen, älter als Lykurg, Solon, Zoleukos usw.

Um ihre Zeitgenossen vom großen Alter ihrer Religion zu überzeugen, beriefen sich die christlichen Apologeten ebenfalls auf Moses. Am klarsten zeigt sich diese Argumentation in einem anonymen Traktat aus dem späten dritten Jahrhundert, das fälschlicherweise Justinus Martyr zugeschrieben wurde. Sein Titel: »Ad Graecos de vera religione« (»Von der wahren Religion, an die Griechen«).

Der Autor versucht die Heiden durch Vernunftargumente von der Minderwertigkeit der griechischen Philosophie und Religion zu überzeugen. Die griechischen Dichter hatten abstruse Ideen über die Herkunft der Götter und die Philosophen vor Plato eine noch lächerlichere Theologie. Plato und Aristoteles sind schon ernster zu nehmen, aber sie widersprechen einander. Man muss fragen, wo sie ihr Wissen her hatten, denn selbst haben sie es sich gewiss nicht ausgedacht. Selbst wenn man Plato oder Aristoteles akzeptiert, muss man nach den Ursprüngen ihrer Ideen suchen. Diese Ursprünge liegen bei ihren jüdischen Lehrern. Diese lebten lange vor den Lehrern der Heiden und was sie lehrten, war nicht ihre eigene Erfindung. Sie widersprechen sich auch nicht, sondern überlieferten ihr Wissen, das sie von Gott erhalten hatten, direkt an ihre Nachfolger, die Christen. Mit »einem Mund« und »einer Zunge« haben sie die Menschheit über Gott, den Ursprung der Welt, die Schöpfung des Menschen, die Unsterblichkeit der Seele, das künftige Gericht und vieles mehr belehrt. Unter Berufung auf eine lange Reihe von Historikern wird der Nachweis versucht, Moses sei älter als alle griechischen Philosophen. Alles was Moses und die späteren Propheten lehrten, kam direkt von Gott. Eine solche direkte göttliche Inspiration wurde den Griechen nicht zuteil. Nur weil Männer wie Orpheus, Homer, Solon, Pythagoras und Plato Ägypten besuchten, wo sie die mosaische Weisheit kennenlernten, konnten sie Ideen verbreiten, die sich von ihren früheren vorteilhaft abhoben. Auch Plato las in Ägypten den Pentateuch, und wenn er nicht offener die Lehre vom einen und wahren Gott verbreitete, dann nur, weil er fürchtete, das Schicksal des Sokrates zu erleiden. Aber man finde diese Lehre dennoch im »Timaios« und in der »Republik«. Viele göttliche Wahrheiten seien in Platos Werkens enthalten, wenn auch in einer verschleierten Form und diese verhüllte Lehre stamme von Moses, der sie direkt von Gott erhalten habe.

Aber diese ganze Argumentation löste noch nicht das Dilemma einer neuen Religion, die behauptete, alt zu sein. Wozu das Christentum, wenn all seine Wahrheiten bereits von Moses gelehrt wurden? Die Antwort war: Jesus Christus stellte die alte Religion wieder her, die aufgrund des verderblichen Einflusses der Dämonen, die die Heiden als ihre Götter verehrten, verloren gegangen war. Das Christentum ist keine Neuerfindung, es ist die Wiedergeburt der alten Religion, die der Menschheit durch den Logos zuteil wurde. Dieses Argument findet sich auch in den Schriften des Justinus Martyr: Christus ist der Erstgeborene Gottes, der Logos, an dem alle Menschen Anteil haben. Und die, die gemäß dem Logos lebten, waren Christen, selbst unter den Heiden, solche Menschen wie Sokrates, Heraklit oder Abraham, Elias und viele andere.

Die alte Religion war also, soweit sie wahre Weisheit enthielt, ein »unbewusstes Christentum«. Schon Paulus hatte dieses Argument gegenüber den Griechen in seiner Rede vor dem Altar des unbekannten Gottes in Athen benutzt. Nach demselben Muster konnten die christlichen Platoniker Plato und alle Neuplatoniker als unbewusste Christen identifizieren, die vom Logos inspiriert waren, ohne es zu wissen.

Das Argument folgt der Logik der »philosophia perennis«, kann aber auch im Sinne der »pia philosophia« interpretiert werden: das unbewusste Christentum der »guten Heiden«, die mit dem Logos in Übereinstimmung lebten, wurde durch das Christentum offen und unverschleiert ausgesprochen. Mit anderen Worten: die wahre und universelle Religion fand ihren vollkommensten Ausdruck erst im Christentum. Insofern gehört »Ad Graecos« als Text nicht dem Typus der »prisca theologia« an. Es mag zwar zutreffen, dass das Christentum die alte Weisheit des Moses wiederherstellt, aber im Grunde bedarf es seiner Autorität nicht, und das Judentum ist auch nicht die vollkommenste Offenbarung der wahren Religion. Zwar kommt Moses größere Autorität als den Lehrern der Heiden zu, aber »älter« heißt nicht in jedem Fall »besser«, denn dann hätten die Christen Moses gegenüber Christus vorziehen müssen. Auch wenn also radikale Neuheit Minderwertigkeit gleichkommt, folgt daraus nicht, dass größeres Alter mit Überlegenheit gleichzusetzen ist.

Heidnische Autoren konnten sich vorbehaltloser gegen das Neue stellen. Als Beispiel führt Hanegraaff Celsus an, dessen Polemik gegen das Christentum unter dem Titel »Alethes Logos«, »Das wahre Wort«, Ende des zweiten Jahrhunderts als Antwort auf die Verteidigung des Christentums durch Justinus Martyr erschien. Celsus war überzeugt von der Existenz einer alten Weisheit, die schon immer im Besitz der weisesten Völker und Männer gewesen war. Aber unter all den weisen Völkern, von denen er sprach, kamen die Juden nicht vor. Auch Moses taucht in seiner Liste der inspirierten Theologen nicht auf. Der Grund ist, dass Celsus Moses mit seinem exklusiven Monotheismus für die Korruption der alten Weisheit verantwortlich machte: »Die Ziegen- und Schafhirten, die Moses anführte, wurden von ihm dazu verleitet, zu glauben, es gebe nur einen Gott und ohne vernünftigen Grund gaben diese Hirten die Verehrung der vielen Götter auf.« Immerhin blieben die Juden ihrer verkehrten, aber wenigstens alten Tradition treu, während die Christen noch schlimmer waren: Sie lehnten sich nicht nur gegen die jüdische Religion auf, die schon schlimm genug war, sie brachen auch noch mit allen anderen Traditionen, sie waren »wurzellose Gesellen«, die sich selbst von der übrigen Menschheit absonderten.

Wie man sieht, ist Celsus Anhänger der »prisca theologia« und interpretiert das Christentum als Dekadenzerscheinung, während Justinus die »pia philosophia« vertritt und in seiner Religion einen Aufstieg zum Besseren erkennt. Eine weitere Position vertritt Tatian in seinem Werk »Gegen die Griechen« Ende des zweiten Jahrhunderts. Die Griechen waren nicht nur nicht die Quelle der höheren Kultur, sie waren bloße Nachahmer. Das Christentum ist die jüngste Erscheinungsform der Gottesweisheit der Heiden, Moses stellt ihren ersten Träger dar. Eine Generation später, bei Clemens von Alexandria, wurden aus den Nachahmern »Diebe«: die Griechen hatten ihre Weisheit von den barbarischen Nationen gestohlen (den Ägyptern, Chaldäern, Druiden, Kelten, Magiern und Indern), die sie ihrerseits von Moses empfangen hatten. Aber die Barbaren verfügten auch über unabhängige Erkenntnisquellen, wie das Beispiel der persischen Magier zeige, deren Sternenweisheit ihnen erlaubte, die Geburt Jesu vorauszusehen, und ihm in Betlehem ihre Huldigung darzubringen.

Die apologetische Literatur gipfelte im 3. Jahrhundert im Buch des Origenes gegen Celsus. Unter Berufung auf orientalisierende Platoniker wie Numenios kritisiert er Celsus dafür, Moses von seiner Liste der inspirierten Theologen gestrichen zu haben. Vielmehr sei er die älteste barbarische Autorität, von der die Griechen abhingen. Auch Origenes hält die direkte Inspiration der Heiden durch Gott für möglich. »Gott hat allen Menschenseelen die Wahrheiten eingepflanzt, die er durch seine Propheten und den Heiland offenbarte«, schreibt Origenes.

Die Attacke des Platonikers Porphyrius gegen das Christentum leitete eine zweite Phase der apologetischen Auseinandersetzungen ein. In seiner Kindheit christlich erzogen, später Schüler Plotins in Rom, verfasste er gegen Ende des 3. Jahrhunderts ein Werk, in dem er die Vorwürfe der Wurzellosigkeit und Rebellion gegen die Christen erneuerte und die Behauptung, Moses sei älter als alle anderen Lehrer, mit präzisen philologischen und historischen Argumenten in Zweifel zog. Ihm antwortete zu Beginn des 4. Jahrhunderts Eusebius mit seiner »Praeparatio Evangelica«.

Eusebius entwickelt eine ganze Kulturgeschichte, um zu beweisen, dass das Christentum nicht nur alt und wahr ist, sondern dass es wahr ist, weil es alt ist. Aber die historischen Argumente des Porphyrios zwingen ihn zu einem erheblich größeren Aufwand als seine Vorgänger. Nach dem Sündenfall lebte die Menschheit in primitiver, ungezügelter Wildheit. Die heidnischen Phönizier und Ägypter erhoben sich aus diesem Zustand der Unwissenheit, ihnen folgten die Griechen. Unter dem zunehmenden Einfluss der Dämonen verfiel die Religion dem Aberglauben, von dem die griechisch-römische Welt voll war. Daneben aber zeigte sich unter dem Einfluss Gottes auch die wahre Religion. Schon zur Zeit der Wilden nach dem Sündenfall erhoben sich die jüdischen Patriarchen von Enoch bis Moses aus diesem Zustand und wandten sich dem einen Gott, dem Schöpfer aller Dinge und wahren Erlöser zu. An der von ihnen begründeten wahren Religion hielten die Juden bis zum Erscheinen Christi fest, die in einem Meer des abergläubischen Heidentums eine rühmliche Ausnahme darstellten. Das Erscheinen Christi und der Evangelien führte zu etwas Neuem und Einzigartigem: zur Vertreibung der Dämonen und damit dem Ende des Heidentums. Trotz dieser Neuerung ist die wahre Religion selbst nicht neu, sie ist eine Wiederverkörperung der alten hebräischen Religion, die schon bestanden hat, bevor Moses das Judentum begründete. Die Hebräer benötigten keine Gesetze, weil sie frei von Leidenschaften in Übereinstimmung mit der Natur lebten, dank der Weisheit, die ihnen von Gott offenbart worden war. Das Christentum stellt diese uralte wahre Religion der Freiheit wieder her. Es benötigt ebensowenig wie die alten Hebräer das mosaische Gesetz und ist deswegen dem Judentum überlegen, ohne dass dieses dadurch minderwertig würde.

Eusebius schrieb in Caesarea und stützte sich auf die Bibliothek des Origenes, die eine Fülle von Werken orientalisierender Platoniker enthielt. In diesen Werken sehr bewandert, hielt er zwar die heidnische Religion für eine Erfindung von Dämonen, führte aber die platonische Philosophie auf hebräische Quellen zurück und war von ihrer essentiellen Übereinstimmung mit dem Christentum überzeugt. Durch ihn ist das berühmte Numenios-Zitat über Plato erhalten: »Was ist Plato anderes als ein Moses, der attisches Griechisch spricht?«

In den folgenden Jahrhunderten wurden all diese Motive vielfach variiert. Laktanz betonte, die hebräischen Propheten seien älter als die Lehrer der Griechen und Augustinus gesteht zwar Hermes ein höheres Alter als den griechischen Weisen zu, lässt ihn aber zeitlich auf Moses folgen. Im achten Buch des »Gottesstaates« spricht er davon, dass niemand dem Christentum näher gekommen sei, als die Platoniker, schließt aber auch die Weisen anderer Völker von dieser Wahrheit nicht aus. Überall wo die wahre Erkenntnis Gottes zutage trat, gab es auch vor dem Erscheinen Christi auf Erden »Christen«. Er vertritt also eine Variante der »philosophia perennis«: die wahre Religion war auch den Heiden bekannt und nahm den Namen Christentum an, nachdem der Logos im Fleisch erschienen war.

Alles in allem, so Hanegraaff, konnten sich die Renaissanceplatoniker auf die Autorität der Kirchenväter berufen, solange sie Moses als die letzte Quelle der wahren Religion betrachteten. Die »Weisheit der Heiden« konnte vom Logos inspiriert sein, auf Moses zurückgehen oder die wahre Religion vorankündigen. Und der Platonismus in seiner orientalisierten Form konnte eine besondere Rolle bei der Vermittlung zwischen der philosophischen Vernunft und der Offenbarungsreligion spielen. Aber um den Diskurs über alte Weisheit im 15. Jahrhundert zu ermöglichen, mussten noch einige Aspekte hinzukommen. Von entscheidender Bedeutung war die Tatsache, dass sich die Machtverhältnisse grundlegend geändert hatten. Die früheren Apologeten mussten das Christentum in einem feindseligen heidnischen Umfeld verteidigen, während die italienischen Platoniker zu Verteidigern heidnischer Weisheit in einem intoleranten christlichen Umfeld wurden. Außerdem stritten sie nicht über dasselbe »symbolische Kapital«. Die alten Apologeten mussten beweisen, dass ihre Religion die Autorität einer alten ehrwürdigen Tradition beanspruchen konnte, während die Renaissancehumanisten zu zeigen hatten, dass die heidnischen Quellen nicht im Widerspruch zur theologischen Orthodoxie standen. Schließlich mussten sich die christlichen Apologeten mit einer reichen heidnischen Literatur auseinanderzusetzen, während die Renaissancehumanisten eine lange verschollene und eben erst wieder entdeckte Literatur verarbeiten mussten. Diese Wiederentdeckung der alten Weisheit barg ein revolutionäres Potential in sich: die heidnische Weisheit konnte innerhalb des Christentums wiederaufleben, in friedlicher Koexistenz mit ihm oder auch in Konkurrenz. Dies waren die Rahmenbedingungen für die Entstehung der westlichen Esoterik.

Fortsetzung

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