Wissenschaft und Esoterik XIV – Jenseits von Religionismus und Aufklärung

Zuletzt aktualisiert am 12. Dezember 2015.

8. Jenseits von Religionismus und Aufklärung

»Richterstuhl der Vernunft«: der Größenwahn der Aufklärung, verkörpert in Kants Kritiken

In der Aufklärung begann sich das kritische Potential einer Rationalität zu entfalten, die von ihrer Bindung an die Theologie befreit war und sich als Kritik der Metaphysik gegen diese Theologie wandte. Diese kritische Rationalität interpretierte die alte Idee einer »Philosophie der Eingeweihten« fortan als »Esoterik« und drängte sie an den Rand der Gesellschaft ab.

Die »uralte Weisheit« wurde von den Intellektuellen nicht weiter ernst genommen, aber die meisten esoterischen Strömungen der Moderne blieben ihr dennoch verbunden. Der orientalisierte Platonismus blieb für das Geschichtsverständnis dieser Strömungen zentral. Die antiheidnische und antiplatonische Tradition der Renaissance verkehrte – beeinflusst durch die Auseinandersetzungen über das Hexenwesen – die Erzählung von der alten Weisheit in eine dunkle Gegenerzählung. Die Esoterik wurde zum düsteren Feind der Aufklärung. Manche Autoren konstruierten eine dämonische Genealogie der Finsternis mit paranoiden und verschwörungstheoretischen Zügen, die bis zur alten Schlange der Genesis zurückreichte. Diese paranoide Verschwörungstheorie der Esoterik als Gegenbild der Aufklärung überlebte in den antiokkultistischen und antisatanistischen Publikationen evangelikaler und fundamentalistischer Autoren, manchmal taucht sie auch in linksgerichteten Publikationen auf, die einem trivialen Verständnis der Aufklärung verpflichtet sind.

Aufgrund ihrer Inkompatibilität mit den Ergebnissen der kritischen Geschichtsforschung haben jedoch beide Interpretationen der Esoterikgeschichte – die verklärende und die dämonisierende Erzählung von der alten Weisheit – in der modernen akademischen Auseinandersetzung laut Hanegraaff allen Kredit verloren. Die heutige Ägyptologie oder Iranologie beginnt, »wo diese Geschichten enden«, und sie weiterhin zu vertreten, gilt als Zeichen von Unwissenschaftlichkeit. Aber um 1700 entstanden aus diesen zwei Erzählungen zwei neue Paradigmen die für das Verständnis der Esoterik nach der Aufklärungsepoche den Grund gelegt haben.

Das erste Paradigma ist der »Religionismus«, der auf Gottfried Arnold zurückgeht. Dieser behauptet von sich, historisch zu sein, weist aber alle Fragen nach möglichen historischen Einflüssen zurück, weil Religion nach seiner Auffassung auf einer unmittelbaren, persönlichen Erfahrung des Göttlichen beruht und nicht aus gesellschaftlichen oder historischen Bedingungen abgeleitet werden kann. Religionistische Akademiker halten soziologische oder historische Verfahren, die die Integrität der Religion in Frage stellen, für inkompatibel mit dem Gegenstand, den sie kritisieren. Aus der Sicht des Religionismus liegt jeder Form von Religion oder esoterischer Weisheit eine Erfahrung des »Heiligen« zugrunde, die nicht auf Faktoren reduziert werden kann, die dieser Erfahrung äußerlich sind.

Das zweite Paradigma ist jenes der »Aufklärung«. Für dieses Paradigma, das im Eklektizismus von Heumann und Brucker deutlich sichtbar wird, sind der »mündige Verstand« und das »gesunde Urteil« grundlegend. Der Verstand oder die Vernunft ist der einzige Maßstab, um die Wahrheit einer Weltsicht zu beurteilen, sei sie nun philosophisch oder religiös. (Kant spricht vom »Richterstuhl«, vom »Gerichtshof der Vernunft«.) Alles, was dieser Form von Rationalität nicht genügt, wird nicht ernst genommen, sondern dem Vorurteil, dem Aberglauben, der Narretei zugeordnet. Alle religiösen und philosophischen Strömungen oder Weltsichten, die dem so definierten Anspruch der Rationalität nicht genügten, wurden stillschweigend aus dem Gebiet der Geschichte ausgeschieden und in unhistorische Universalien umgewandelt, die Ausdruck der (unaufgeklärten) menschlichen Natur sein sollten. Man musste nicht weiter über sie diskutieren, sondern konnte sie fortan schlicht als »irrational« verwerfen.

Diese beiden Paradigmen, das »religionistische« und das »aufklärerische«, haben laut Hanegraaff mehr gemeinsam, als es auf den ersten Blick scheint. Beide sind »ideologisch«, nicht »empirisch«. Sie gehen nicht von historischen Beweisen aus, sondern setzen a priori absolute Kriterien der Wahrheit fest, und was diesen Kriterien nicht genügt, ist nicht weiter von Interesse. Beide Paradigmen sind als Methoden der Geschichtsforschung gleich ungeeignet. Der »Religionismus« neigt dazu, die westliche Esoterik als eine einzigartige spirituelle Tradition zu mystifizieren, während der »aufklärerische Rationalismus« deren Existenz entweder schlicht ignoriert oder sie als Paria des abendländischen Denkens behandelt.

Aus der Sicht Hanegraaffs hat der antiapologetische Diskurs dennoch die Grundlage für eine »historische, empirische« und damit »nicht ideologische« Erforschung der Esoterik geschaffen. Hanegraaff ist überzeugt, dass die empirische und historische Methode, die sich eines »methodischen Agnostizismus« befleißigt, die Esoterikforschung vor den gleich schlechten Alternativen des Religionismus und Reduktionismus bewahrt. Das scheint auf den ersten Blick befremdlich, waren doch die beinharten protestantischen Anti-Apologeten erklärte Feinde alles Esoterischen und an seiner Anerkennung als eigenständiges Forschungsfeld nichts weniger als interessiert. Es ist ebenfalls richtig, dass die unhistorische Perspektive der Aufklärung auf das Esoterische, die den Untergang des orientalisierten Platonismus und seine Ausgrenzung aus dem akademischen Diskurs vorbereitete, aus dieser Anti-Apologetik hervorging. Aber man sollte, so Hanegraaff, das Kind nicht mit dem Bade ausschütten, denn die Anti-Apologetik führte zu einer bleibenden Errungenschaft: einer Methode der historischen Kritik, die sich auf die Hellenisierung des Christentums, als den historischen Ursprung all dessen, was heute als Esoterik bezeichnet wird, konzentrierte.

Dass diese Strömungen vom intellektuellen, akademischen Establishment unterdrückt und verachtet wurden, ist laut Hanegraaff keine unmittelbare Folge der theoretischen und methodischen Grundsätze des anti-apologetischen Diskurses. Im Gegenteil, dieser verlangte eine genaue historische Untersuchung der Begegnung des antiken Heidentums und des Christentums und der geschichtlichen Folgen dieser Begegnung. Dass die esoterischen Strömungen marginalisiert wurden, ist vielmehr eine Folge der »normativen und ideologischen Vorurteile« der Hauptvertreter der Anti-Apologetik und ihres Publikums: sie ist eine Folge der protestantischen Stereotypisierung alles Heidnischen und der nicht weniger dogmatischen Behauptung der Aufklärung, Historiker dürften nur rationale Überzeugungen ernst nehmen. Das Aufklärungsparadigma stach die historische Kritik aus, was Generationen von Historikern zur Folge hatte, die bedauerten, dass die Gegenstände ihrer Untersuchung nicht den modernen Anforderungen von Rationalität entsprachen. Aber dieses »Befremden der Historiker« beruht auf anachronistischen Projektionen und trägt gar nichts zum Verständnis der historischen Realität bei. Wenn eine der bedeutendsten Forderungen der Aufklärung die Überwindung von Vorurteilen ist, dann muss dieser Grundsatz konsequenterweise auch auf die antiheidnischen, antimystischen und antireligiösen Vorurteile der Aufklärung angewendet werden.

Nach diesen Überlegungen kann Hanegraaff ein neues Methodenideal für die Esoterikforschung formulieren: die antieklektische Geschichtsforschung. Diese stellt die »selektiven Prozeduren« in Frage, durch die die Historiker seit der Aufklärung die Erforschung der Philosophie, des Christentums, der Wissenschaft und sogar der Religion und Kunst auf das eingegrenzt haben, was ihnen als real und rational erschien. Antieklektik will die »ideologisch bestimmten Bilder« der Geschichte korrigieren, die durch den Eklektizismus entstanden sind, indem sie die Aufmerksamkeit auf eben jene Ideen und Gedankenströmungen lenkt, die seit der Aufklärung im Sammelbecken des zurückgewiesenen Wissens (»rejected knowledge«) landeten. Sie stellt den »Kanon der modernen intellektuellen und akademischen Kultur« in Frage und betont, dass das gemeinsame Erbe des Abendlandes weitaus komplexer ist, als die Lehrbücher vermuten lassen. In der »antieklektischen« Geschichtsforschung geht es weder um eine »Apologie« des Heidentums oder der westlichen Esoterik, noch darum, Heidentum oder Esoterik anzugreifen, vielmehr will sie sicherstellen, dass der bedeutende Anteil dieser Strömungen an der Geschichte des Abendlandes aus der Verdrängung befreit und anerkannt wird.

Fortsetzung

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