Helena Petrowna Blavatsky und die Theosophische Gesellschaft

Zuletzt aktualisiert am 9. Dezember 2015.

Helena Petrowna Blavatsky

Helena Petrowna Blavatsky

Nicholas Goodrick Clarke widmet der Erneuerung der Theosophie durch H.P. Blavatsky in seiner Geschichte der westlichen Esoterik ein ganzes Kapitel. Zu Recht, denn die Theosophische Gesellschaft, die 1875 von Helena Petrowna Blavatsky und Henry Steel Olcott gegründet wurde, spielte bei der Verbreitung dieser Esoterik in der Moderne eine zentrale Rolle. Ihr Erscheinen zusammen mit dem Spiritismus und anderen religiösen Bewegungen wies auf die zunehmende Kluft zwischen dem orthodoxen religiösen Glauben und der Wissenschaft im Westen. Der Fortschritt von Wissenschaft und Technologie forderte den traditionellen christlichen Glauben an die Allmacht Gottes, die Notwendigkeit der Gnade und das Leben nach dem Tode heraus. Die Vorrangstellung des Menschen innerhalb einer göttlichen Ordnung stellte das Erscheinen von Darwins »The Origin of Species« (1859) in Frage. Seine Theorie der biologischen Evolution, welche den Menschen in die Tierreihe stellte, sowie die Bildung der Arten auf den Kampf ums Überleben und die natürliche Selektion zurückführte, stellte die geistige Identität des Menschen und den aus ihr abgeleiteten Sinn des Lebens in Frage. Die moderne Wissenschaft konzentrierte sich auf konkrete, materielle Fakten und ihre Erklärungen der physischen Welt verstärkten nur das wachsende Misstrauen in die Autorität der Bibel. Viele Menschen mit spirituellen Neigungen wurden von der Wissenschaft verunsichert, konnten aber in der orthodoxen Religion keinen Trost mehr finden.

Die moderne Theosophie – im Unterschied zur Theosophie Boehmes und seiner Nachfolger – griff diese Bedürfnisse in einer vorwärtsgewandten Weise auf. Sie adaptierte die zeitgenössischen wissenschaftlichen Ideen und postulierte eine spirituelle Evolution durch zahllose Welten und Ebenen. Auf diese Weise stellte sie die Würde und den Sinn des irdischen Menschenlebens im kosmischen Kontext wieder her. Während der Spiritismus bloß ein Weiterleben nach dem Tode postulierte, verortete die Theosophie das Schicksal des Menschen in einer emanatistischen Kosmologie und Anthropologie, die aus dem Neuplatonismus und orientalischen Religionen abgeleitet waren, sie wiederholte die hellenistische Umarmung exotischer östlicher Ideen, aber diesmal handelte es sich um den Buddhismus und Hinduismus, der in das abendländische Denken aufgenommen wurde. Blavatsky zog mit ihrer Popularisierung von Reinkarnation und Karma, den geheimen Meistern (Mahatmas) und ihren Erzählungen über Tibet als Land zeitloser Weisheit viele spirituelle Sucher in Europa, Nordamerika und Indien in ihre neue religiöse Bewegung.

Die Theosophie war ein entscheidender Faktor bei der Wiederbelebung der esoterischen Traditionen des Abendlandes. Die Schriften Blavatskys stellten Materialien des Neuplatonismus, der Renaissancemagie, der Kabbalah und der Freimaurerei, ägyptische und griechisch-römische mythologische und religiöse Überlieferungen sowie Lehren aus dem Buddhismus und dem Advaita Vedanta als Bestandteile jener uralten Weisheit dar, die seit Urzeiten bestanden habe. Ihre fortgeschrittenen Adepten im Himalaya, Erben einer Tradition, die bis in die atlantische Zeit und noch weiter zurückging, gehörten zu jener Kette von Eingeweihten, die schon die prisca theologia der Renaissance postuliert hatte, die nun durch die romantische Faszination für den Orient eine Erweiterung erfuhr. Schon die Renaissance verstand unter ihrer »uralten Weisheit« eine universelle Form des Wissens, die keine geographischen oder kulturellen Grenzen kannte und eine Synthese aller damals bekannten europäischen und orientalischen Traditionen darstellte. Diese Tendenz zur Globalisierung setzte die Theosophie fort, indem sie den Dialog mit exotischen Weisheitsoffenbarungen wieder aufnahm, durch deren Integration sie nicht nur global attraktiv wurde, sondern auch erheblich zum internationalen Wachstum der Esoterik im 20. Jahrhundert beitrug. Mit ihrer Organisation, ihren Publikationen und Lehren wurde die Theosophische Gesellschaft darüberhinaus zu einem Vorbild für andere rosenkreuzerische, maurerische und okkulte Gesellschaften, die sich der Verbreitung esoterischer Ideen verschrieben.

Blavatskys frühe Reisen und die »Meister«

Helena Petrowna Blavatsky (1831-1891) wurde als Kind des Offiziers Peter von Hahn und Helena Andreyewnas, geborener Fadeyew, einer bekannten Romanautorin, die jung starb, im ukrainischen Ekaterinoslaw (heute Dnjepropetrowsk) geboren. Sie hatte russische, hugenottische und deutsche Vorfahren. Ihre Großmutter mütterlicherseits, Prinzessin Helena Pawlowna Dolgorukow, stammte aus einer der ältesten russischen Familien. Helenas Kindheit war von rätselhaften paranormalen Phänomenen geprägt und sie entwickelte ein frühes Interesse an Esoterik. Sie verbrachte viel Zeit in der großen okkulten Bibliothek des Prinzen Pavel Dolgorukow (gest. 1838), des Vaters ihrer Großmutter, der Ende der 1770er Jahre in eine rosenkreuzerische Loge der russischen Freimaurerei aufgenommen worden war. Ein alter Freund der Familie, Prinz Alexander Golitsyn, ein Freimaurer und Mystiker, ermunterte sie, ins Ausland zu reisen, um nach der alten Weisheit zu suchen.

1849 heiratete Helena mit 17 Jahren Nikifor Blavatsky (geb. 1809), den Vizegouverneur der Provinz Eriwan in Armenien, den sie aber bereits in den Flitterwochen wieder verließ. Danach begann eine Serie ausgedehnter Reisen durch die ganze Welt. Nach ihren widersprüchlichen und unentwirrbaren Schilderungen brachten sie diese Reisen in den folgenden 25 Jahren nach Europa, in den Nahen Osten, nach Nordamerika und möglicherweise nach Indien und Tibet. Diese ausgedehnten Reisen, die für eine Frau, die allein unterwegs war, damals höchst ungewöhnlich waren, bezeugen ihre ruhelose Suche nach Weisen und okkulten Lehrern in exotischen Kulturen.

Zu Anfang war der Nahe Osten Hauptgegenstand ihres Interesses. Sie reiste in die Türkei, nach Griechenland und Ägypten. Zeitweise begleitete sie Albert Rawson (1828-1902) ein junger amerikanischer Abenteurer, Autor und Künstler. 1850 nahmen die beiden die Belehrungen von Paulos Metamon, einem koptischen Magier in Kairo entgegen. Zu Beginn des Jahres 1851, in dem die große Weltausstellung stattfand, reiste Blavatsky über Frankreich nach London, wo sie im August das erste Mal ihren »Meister« traf. Sie behauptete, er habe sie aufgefordert, sich für eine wichtige Aufgabe vorzubereiten, die einen dreijährigen Aufenthalt in Tibet erforderlich mache. Ihre weitere Pilgerschaft brachte sie durch die Vereinigten Staaten (angeblich erneut zusammen mit Rawson) und Lateinamerika, schließlich 1852 nach Indien. Der Zugang zu Tibet wurde ihr dieses Mal verwehrt. 1854 war sie erneut in den USA, 1856-57 wiederum in Indien, Kaschmir, Burma und Teilen von Tibet. An Weihnachten 1858 kehrte sie zu ihrer Familie nach Russland zurück, wo sie ihre Fähigkeit demonstrierte, psychische Phänomene hervorzurufen (Klopfen, Glockentöne, Möbelrücken, Telepathie). Anfang 1868 erreichte sie in Florenz eine Botschaft ihres Meisters, ihn in Konstantinopel zu treffen und von dort aus reiste sie zusammen mit Rawson über Land nach Tibet.

Von ihrem Meister »Morya« hieß es, er lebe in der Nähe des großen Klosters Tashi Lhunpo in Shigatse, dem Sitz des Pantschen Lama. Hier betrieben Morya und ein anderer Meister, Koot Hoomi, beide Kaschmiris aus dem Punjab, eine beim Kloster gelegene spirituelle Schule. Die Meister waren fortgeschrittene Adepten mit übermenschlichen Fähigkeiten, weder dem Kloster noch dessen Regeln unterworfen, aber mit einem vollständigen Zugang zu dessen Bibliothek und Ressourcen. Blavatsky, so ihre Erzählung, wurde von ihnen als Schülerin (»chela«) angenommen und erhielt jene Belehrung, nach der sie sich stets gesehnt hatte. Sie erhielt eine Einführung in die heilige Literatur des tibetischen Buddhismus, durfte die Schätze des Klosters sehen und wurde zur Missionarin der Meister im Westen ausgebildet. Angeblich hielt sich Blavatsky zwischen 1868 und Ende 1870 in dieser abgelegenen Gegend des Himalaya auf, um sich auf ihre künftige Tätigkeit vorzubereiten. Blavatsky behauptete stets, ihre Berufung, dem Westen spirituelle Erleuchtung zu bringen, gehe auf diese Initiation zurück. Nach ihrer Ankunft im Westen begründete sie Ende 1871 eine kurzlebige Gesellschaft für die Erforschung des Spiritismus in Kairo. Nach weiteren Reisen durch Europa ließ sie sich für kurze Zeit in Paris nieder, wo sie 1873 von Meister Morya die Anweisung erhielt, in die Vereinigten Staaten weiter zu ziehen.

Ob Blavatsky zu diesen Meistern während ihrer Jahre des Reisens und der Initiation Beziehungen unterhielt und wenn ja, welche, lässt sich heute nicht mehr mit Sicherheit ermitteln. Ihre Äußerungen sind nahezu alle retrospektiv und stammen aus ihrer späteren indischen Phase. Die Idee einer Bruderschaft der »Meister« selbst stammt jedoch mit Sicherheit nicht aus einem orientalischen Kontext, auch wenn es dort die Gestalt des »Gurus«, des spirituellen Führers gibt und auch andere Religionen wie zum Beispiel der Islam (Sufismus) solche Meister kennen. Es leitet sich vielmehr über die Hochgradmaurerei von der rosenkreuzerischen Idee unsichtbarer, geheimer Adepten ab, die zum Wohl der Menschheit wirken. Aber bereits das neue Testament spricht Jesus als »Rabbi«, als spirituellen Lehrer oder Meister an. So verstanden ist die Idee der »Meister« ein wesentliches, intrinsisches Merkmal des westlichen Okkultismus. Die Idee einer »großen weißen Bruderschaft«, die die Menschheit auf höhere Stufen der Entwicklung hebt, hat im 20. Jahrhundert die Esoterik erheblich beeinflusst (z.B. Annie Besant, Alice Bailey, H. Spencer Lewis, Elizabeth Clare Prophet, G. I. Gurdjieff) und findet sich in großen Teilen der New-Age-Spiritualität.

Vom Spiritismus zur Alten Weisheit

Henry Steel Olcott

Henry Steel Olcott

Blavatskys öffentliches, besser dokumentiertes Leben begann mit ihrer Ankunft in den Vereinigten Staaten im Jahr 1873. Sie nahm zunächst Kontakt mit der spiritistischen Bewegung auf, die damals in Nordamerika außerordentlich weit verbreitet war. Im Herbst 1874 traf sie den späteren Mitbegründer der Theosophischen Gesellschaft, Henry Steel Olcott (1832-1907), einen bekannten Anwalt mit einem Interesse am Spiritismus, auf dem Bauernhof der Eddys in Chittenden, Vermont, von dem aus er für New Yorker Zeitungen über Séancen berichtete, bei denen Materialisationen von Geistern beobachtet werden konnten. Blavatsky veröffentlichte ebenfalls Artikel über Spiritismus und begann aktiv in dieser Bewegung mitzuwirken. Sie kommunizierte mit einem Geist namens »John King« und verteidigte öffentlich diskreditierte spiritistische Medien.

Aber sie glaubte auch, der amerikanische Spiritismus sei bar jedes realen okkulten Wissens, mochte er den Materialismus noch so sehr in Frage stellen. Bereits im Februar 1875 begann sie ihr Interesse an der westlichen esoterischen Tradition unter Bezug auf die Magier der Renaissance und die Begrifflichkeit der Kabbalah zu bekunden und benutzte erstmals den Ausdruck »Theosophie«. Bald wandte sie sich vom Spiritismus ab. Im März 1875 traten an die Stelle John Kings die Meister Serapis Bey und Tuitit Bey, Mitglieder einer geheimnisvollen Gemeinschaft, die sich »Bruderschaft von Luxor« nannte, die laut Blavatsky einer ägyptischen  Gruppe der universellen mystischen Bruderschaft angehörten. Olcott und Blavatsky bildeten im Mai 1875 eine Gesellschaft mit dem Namen »Miracle Club«, um die Öffentlichkeit über die spiritistischen Phänomene und ihre Medien aufzuklären. Im Juli 1875 begann sie Artikel für das kurzlebige Bostoner Magazin »Spiritualist Scientist« zu schreiben, in denen sie sich auf Gnostiker, Paracelsisten, Alchemisten und Rosenkreuzer bezog. Ihre Quellen waren Eliphas Lévi, Hargrave Jennings und andere zeitgenössische Okkultisten. In diesen Artikeln erwähnte sich auch erstmals die Existenz okkulter Bruderschaften von Adepten.

Olcott empfing im Sommer 1875 mehr als zwanzig Briefe von Serapis Bey, die ihn dazu aufforderten, weitere Anstrengungen zur spirituellen Entwicklung zu unternehmen. Manche dieser Briefe erteilten ihm taktischen Rat über das weitere Vorgehen. Immer wieder fordern die Briefe dazu auf, den Willen zu schulen, das Wissen zu erweitern, höhere Kräfte zu meistern und latente Fähigkeiten zu entwickeln. Sie fassen diese Aufforderung mit dem Motto »Try« zusammen und verdichten damit das Bestreben des Okkultismus, der sich als höhere Form der Erfahrungswissenschaft verstand, in einer kurzen Formel. Dasselbe Motto, »TRY«, verwendete auch der amerikanische »Rosenkreuzer« Paschal Beverly Randolph (1825-1875). Joscelyn Godwin hat die ganze Bewegung der 1870er Jahre, die den Okkultismus fördern wollte, als eine Gegenbewegung zum Spiritismus charakterisiert. Während sich die Spiritisten auf die Offenbarungen von Séancen konzentrierten, zogen die Okkultisten die seelische Erfahrung vor, die sie mit dem Studium alter Bücher über Magie, Hermetik und die Kabbalah verbanden. Blavatskys »Okkultismus« ist ebenso Teil dieser Gegenbewegung zum Spiritismus, wie die »ägyptisch« ausgerichtete Hermetik. (Joscelyn Godwin, »The Theosophical Enlightenment«, 1994).

Die »Entschleierte Isis« und die westliche Esoterik

Im September 1875 begann Blavatsky an ihrem ersten Buch zu schreiben, das 1877 veröffentlicht werden sollte: der »Entschleierten Isis« (»Isis Unveiled: A Master Key to the Mysteries of Ancient and Modern Science and Theology«). Das Werk stellt eine enzyklopädische Übersicht dar und zeugt von ihren weitläufigen Kenntnissen antiker Religionen, Philosophien und Mythologien, aber auch ihrer Bekanntschaft mit der zeitgenössischen Wissenschaft. Ein Grundthema der westlichen Esoterik klingt bereits im Vorwort an: »Unser Werk ist ein Plädoyer für die Anerkennung der hermetischen Philosophie, der alten universellen Weisheits-Religion, des einzigen Schlüssels zum Absoluten in Wissenschaft und Theologie.« Das zweibändige Werk rechnet vom Standpunkt des modernen Okkultismus mit der materialistischen Wissenschaft ab. Der erste Band, »Wissenschaft«, beginnt mit einer Attacke auf Darwins »Ursprung der Arten« und Thomas Huxleys »Physical Basis of Matter«. Weitere Kapitel über Spiritismus, psychische Phänomene, Mesmerismus, die Kabbalah und die überlegene Weisheit und Technologie alter Völker, versuchen die Überheblichkeit der modernen Wissenschaft herauszustellen und deren Herrschaftsanspruch zu untergraben. Der zweite Band, »Theologie«, enthält Polemiken gegen das Christentum, stellt esoterische Formen dieses Christentums, insbesondere die Gnosis dar, diskutiert erneut die Kabbalah, antike und moderne Geheimgesellschaften, unter anderem die Jesuiten und die Freimaurer, und vergleicht das Christentum zu seinem Nachteil mit dem Hinduismus und Buddhismus.

Das Generalthema all dieser Auseinandersetzungen ist die Existenz einer uralten Weisheitsreligion, einer Uroffenbarung. Die vielen Glaubensformen der Menschen sollen alle von einer universellen Religion abstammen, die Plato genauso wie den alten Weisen der Hindus bekannt war. Die Weisheitsreligion wird mit der Hermetik identifiziert, »dem einzigen Schlüssel zum Absoluten in Wissenschaft und Theologie«. Jede Religion fußt auf derselben Wahrheit oder »geheimen Lehre«, die das »Alpha und Omega der universellen Wissenschaft« enthält. Diese alte Weisheitsreligion ist zugleich die Religion der Zukunft. In einigen Jahrhunderten werden die Weltreligionen des Buddhismus, Hinduismus, Christentums und Islam vor den »Fakten« und der»Erkenntnis« der alten, universellen Weisheit weichen. Diese alte Weisheitsreligion ist eine hermetische Philosophie, die auf einer emanatistischen Kosmologie gründet. Im Unterschied zum Darwinismus lehrt diese Weisheit nicht die Evolution des Menschen aus dem Tierreich, sondern dessen »Involution« »aus höheren und spirituelleren Wesen«. Ein »göttlicher Funke« ist in die stoffliche Welt abgestiegen, und nachdem er den tiefsten Punkt der Verdichtung erreicht hat, beginnt er wieder zu seiner Quelle aufzusteigen. Blavatsky integriert so den modernen Evolutionismus in ihren Entwurf, aber lediglich als zweiten Teil, als Zyklus des Wiederaufstiegs und außerdem überwindet sie den biologistischen Imperativ durch spirituelle Begriffe, wenn sie sagt: »Die Menschheit muss am Ende bis in die Physis hinein vergeistigt werden.«

Die Ausdrücke »Theosophie« und »Theosoph« erscheinen bereits in der »Entschleierten Isis«. Blavatsky erwähnt zwar Boehme nur im Vorübergehen, bezeichnet aber die Paracelsisten oder »Feuer-Philosophen« des 16. Jahrhunderts als »Theosophen«. Durchgehend ist die Theosophie der antiken alexandrinischen Welt ihr Vorbild, zum Beispiel, wenn sie bemerkt, dass die neuplatonische Schule die mystische Theosophie des alten Ägypten mit der verfeinerten griechischen Philosophie verbunden habe. Sie zitiert öfter ihren Mitarbeiter, Professor Alexander Wilder (1823-1908), den Autor von »New Platonism and Alchemy« (1869), der für den Neuplatonismus den Begriff »eklektisches theosophisches System« geprägt hatte. Wilder wird gewöhnlich die Einführung der »Entschleierten Isis« mit dem Titel »Before the Veil« (»Vor dem Schleier«) zugeschrieben. Blavatsky stützte sich ihrerseits durchgehend auf die Ideen Platos, Plotins, Porphyrius’ und Jamblichus’ und fasste deren Ansichten in die Begrifflichkeit der eklektischen Theosophie Wilders. Umgekehrt betrachtete sie die moderne Theosophie als Erbin des alexandrinischen Neuplatonismus und ließ dabei die christlichen Formen der Theosophie völlig außer Acht.

Die Gründung der Theosophischen Gesellschaft

Seit Anfang des Jahres 1875 hatten Blavatsky und Olcott sich überlegt, wie die philosophische und experimentelle Untersuchung spiritistischer Phänomene gefördert werden könnte. Die Meister waren dabei angeblich ebenfalls involviert. Auf Morya anspielend hatte Blavatsky vermutlich Anfang 1875 in das Memorandum »Wichtige Notiz« über ihre Initiative in Philadelphia geschrieben: »M ∴ bringt Anweisung, eine Gesellschaft zu gründen – eine geheime Gesellschaft wie die Rosenkreuzerloge.« Ihre Wohnung am Irving Place 46 in New York wurde zu einem Treffpunkt für Menschen mit okkulten Neigungen. Am 7. September 1875 versammelte sich eine Gruppe, um einen Vortrag von George Henry Felt (1831-1906) über »The Lost Canon of Proportion of the Egyptians« oder »Die Kabbalah« zu hören (je nach Quelle, die den Vortrag referiert). Andere Anwesende hatten verwandte okkulte Interessen. Dr. Seth Pancoast (1823-1889), ein Professor der Anatomie, besaß die größte kabbalistische Bibliothek in den USA und veröffentlichte 1877 und 1883 Bücher über dieses Thema. Emma Hardinge Britten (1823-1899) war ein bekanntes englisches Trancemedium, das in New York wohnte, und schrieb über okkulte Themen. Charles Sotheran (1847-1902) war ein prominenter Freimaurer, der den swedenborgianischen Hochgradritus in den USA repräsentierte und ein Buch über Cagliostro verfasst hatte. Henry J. Newton (1823-1895) interessierte sich für Geisterfotografie und war der Präsident der ersten Spiritistengesellschaft in New York. Charles Carleton Massey (1838-1905) war ein Londoner Anwalt, der später die Britische Theosophische Gesellschaft ins Leben rufen und bei der Gründung der »Society for Psychical Research« mitwirken sollte. Er übersetzte mehrere deutsche Publikationen zu diesem Thema von Friedrich Zöllner, Eduard von Hartmann und Carl du Prel.

Olcott betrachtete die Ausführungen Felts über Mittlerwesen als einen Beweis für die Existenz von Elementargeistern, die seiner Auffassung nach in mancherlei Verkleidungen bei Séancen erscheinen konnten. Blavatsky stimmte Olcott zu, dass sie eine Gruppe gründen sollten, um solche Fragen zu untersuchen. Am nächsten Tag, dem 17. September 1875, wurde eine Gesellschaft ins Leben gerufen, um den »Okkultismus, die Kabbalah usw. zu erforschen«. Bei weiteren Zusammenkünften wurden Funktionäre benannt, Olcott zum Präsidenten und Pancoast und Felt zu Vizepräsidenten gewählt und Blavatsky zur korrespondierenden Sekretärin. Die westlichen esoterischen Traditionen, die in ihren Artikeln und der »Entschleierten Isis« anklingen, sowie die okkulte Wissenschaft und das Experiment, waren das ursprüngliche Aufgabengebiet der Theosophischen Gesellschaft in New York. In einem Brief an den russischen Parapsychologen Alexander Aksakow schrieb Blavatsky: »Olcott organisiert jetzt die Theosophische Gesellschaft in New York. Sie wird aus gelehrten Okkultisten und Kabbalisten, aus hermetischen Philosophen des 19. Jahrhunderts, aus leidenschaftlichen Kennern der Antike und Ägyptologen bestehen. Wir wollen Experimente durchführen, um den Spiritismus und die Weisheit der Antike miteinander zu vergleichen, indem wir wörtlich den Anweisungen der alten Kabbalisten, sowohl der jüdischen als der auch ägyptischen folgen. Viele Jahre habe ich die hermetische Philosophie in Theorie und Praxis studiert … und bin zum Schluss gekommen, dass der Spiritismus mit seinen physischen Manifestationen nichts anderes ist, als die Pythia der Antike oder das Astrallicht des Paracelsus.«

Blavatsky brachte dieses Ziel der Theosophischen Gesellschaft auch in der »Entschleierten Isis« zum Ausdruck: »Das Ziel ihrer Begründer waren praktische Experimente mit den okkulten Kräften der Natur.« Die Präambel der Statuten besagte, die Gruppe hoffe, tiefer als die Wissenschaft »in die esoterischen Philosophien des Altertums« einzudringen und »Wissen von den Gesetzen, die das Universum beherrschen, zu sammeln und zu verbreiten«. Der Glaube an eine universelle Bruderschaft und die asiatischen Religionen wurden 1878 hinzugefügt, nachdem die Theosophische Gesellschaft mit Indern in Kontakt gekommen war.

Die Theosophische Gesellschaft in Indien

Bis zum Jahr 1878 konzentrierte sich die Theosophische Gesellschaft auf die Betonung des Primats des Geistigen gegenüber der Materie und beschäftigte sich mit Phänomenen des praktischen Okkultismus, insbesondere der Astralprojektion. In der Zwischenzeit lockte der Orient als Heimat spiritueller Geheimnisse. Blavatsky spielte regelmäßig auf ihre Verbindungen zu östlichen Adepten der mystischen Bruderschaft an; die »Entschleierte Isis« und ihre Artikel bezogen sich wiederholt auf den Hinduismus und den Buddhismus. Ihr romantisches Bild des Ostens war ein Produkt des kolonialen Kontaktes mit Indien. Die deutsche Gelehrsamkeit der Romantik hatte in der Nachfolge der britischen Orientstudien zu einer hohen Achtung vor Indien als einer Quelle religiöser und philosophischer Weisheit geführt. Rammohun Roy (1772-1833), der berühmte Hindu-Reformer, verbreitete die Idee eines indoeuropäischen goldenen Zeitalters, behauptete, alle Religionen hätten eine gemeinsame Quelle und verknüpfte das unitarische Christentum mit dem Vedanta. Sir Edward Arnolds »The Light of Asia« (1879) trug zur Verbreitung des Wissens über den Buddhismus im Westen bei. Beide werden in Blavatskys Schriften erwähnt. Blavatsky und Olcott knüpften Kontakte zu Sympathisanten in Indien und Ceylon, die Blavatskys Einsatz für ihre traditionelle Religion und Kultur im Unterschied zur Haltung christlicher Missionare schätzten. Diese indischen Kontakte führten zu einer Zusammenarbeit mit dem »Arya Samaj«, einer hinduistischen Reformbewegung, die 1875 von Swami Dayanand Saraswati in Bombay gegründet wurde, der zu den Lehren des Veda zurückkehren wollte.

In einem Rundbrief formulierte die Theosophische Gesellschaft 1878 ihre Ziele neu, um die Erkenntnis der Naturgesetze, insbesondere ihrer okkulten Manifestationen, die Entwicklung latenter Kräfte im einzelnen Menschen, die Würdigung östlicher Religionsphilosophien und vor allem die Bildung einer Bruderschaft der Menschheit mit aufzunehmen. Diese Ziele wurden schrittweise in der noch heute gültigen Fassung präzisiert:

1. Den Kern einer universellen Bruderschaft der Menschheit zu bilden, ohne Unterschied der Rasse, des Glaubens, des Geschlechts, der Kaste oder Farbe.

2. Das Studium alter und moderner Religionen, Philosophien und Wissenschaften.

3. Die Untersuchung der unerklärten Gesetze der Natur und der latenten psychischen Kräfte im Menschen.

Die Verbindung mit dem Arya Samaj bot Anlass, die Tätigkeit nach Indien zu verlegen und im Dezember 1878 brachen Olcott und Blavatsky über London Richtung Subkontinent auf. Im Februar 1879 trafen sie in Bombay ein. Von Bombay aus warben Olcott und Blavatsky in der Folgezeit durch viele Reisen und mit Hilfe von Beziehungen zu führenden Intellektuellen und Politikern unermüdlich für die Theosophie. Im Oktober 1879 begannen sie mit der Herausgabe einer Zeitung mit dem Namen »The Theosophist«. Besonders gebildete Inder waren vom Einsatz der Theosophen für die indische Religion und Philosophie beeindruckt, was vor dem Hintergrund des wachsenden Widerstandes gegen die Werte und den Glauben der europäischen Kolonialmächte von nicht zu unterschätzender Bedeutung war. Im Mai 1880 bekannten sich Blavatsky und Olcott während einer Reise nach Ceylon offiziell zum Buddhismus. Hier wurden sie von gewaltigen Menschenmengen gefeiert und neue Zweige der Theosophischen Gesellschaft entstanden.

Durch ihre Reisen und Begegnungen und die Mitarbeiter ihrer Zeitschrift kam Blavatsky zunehmend mit der indischen Philosophie in Berührung, insbesondere mit Samkaras Advaita Vedanta, den Upanischaden und der Bhagavad Gita, die in ihren späteren Artikeln und Werken eine herausragende Stellung einnehmen. Ihre Vorliebe für den Advaita Vedanta ging auf dessen Interpretation der höchsten Realität als eines monistischen, nichttheistischen, apersonalen Absoluten zurück. Diese nichtdualistische Sicht des Parabrahman als eines universellen göttlichen Prinzips sollte zur ersten fundamentalen These der »Geheimlehre« werden, an der sie 1883 zu schreiben begann. Zur gleichen Zeit nahm Blavatsky auch buddhistische Ideen in ihre Theosophie auf , um schließlich den Buddhismus und den Advaita Vedanta als die gemeinsame Quelle ihrer esoterischen Lehre zu interpretieren.

Die Mahatmas und der Esoterische Buddhismus

Alfred Percy Sinnett

Alfred Percy Sinnett

Alfred Percy Sinnett (1840-1921), der angloindische Herausgeber der einflussreichen Tageszeitung »The Pioneer«, war ein bedeutender theosophischer Konvertit in Indien. Ein anderer war Allan Octavian Hume (1829-1912), der ehemalige Sekretär der englischen Kolonialregierung. Blavatsky besuchte Sinnetts Familie ab September 1880 regelmäßig in ihrer Sommerresidenz in Simla. Während ihres ersten Besuchs rief sie eine Reihe beeindruckender paranormaler Phänomene hervor. Zu dieser Zeit begannen Mitglieder der geheimen Bruderschaft (die bald als Meister Koot Hoomi und Morya identifiziert waren) eine umfangreiche Korrespondenz, die hauptsächlich an Sinnett gerichtet war, anfangs auch an Hume. Diese sogenannten Mahatma-Briefe, die sich meist aus dem Nichts materialisierten, sollten zwischen 1880 und 1885 zu mehr als hundert Sendschreiben anwachsen. Sinnetts Zugang zur Presse und seine eigenen Bücher ließen die Theosophie dem englischsprachigen Publikum in Indien und England schnell bekannt werden. Sein erstes Buch, »Die okkulte Welt« (»The Occult World«, 1881) machte Blavatskys Fähigkeiten und die Mahatma-Briefe zur Sensation und zog das Interesse der Londoner »Society for Psychical Research« auf sich. Sein zweites Buch »Esoteric Buddhism« (Esoterischer Buddhismus«, 1883) verbreitete die grundlegenden Lehren der Theosophie in ihrem neuen asiatischen Gewand in Anlehnung an die philosophischen und kosmologischen Erläuterungen, die in den Mahatma-Briefen enthalten waren. 1883 kehrte Sinnett nach England zurück, wo er Vizepräsident und Sekretär der Londoner Loge der Theosophischen Gesellschaft wurde.

Von 1881 an entfalteten Blavatsky und ihre »Meister« (Brüder, Mahatmas) schrittweise ein komplexes philosophisches Gebäude, das eine Kosmogonie, den Makrokosmos, spirituelle Hierarchien und Mittlerwesen einschloss, wobei die letzteren zu einer hierarchischen Interpretation des Mikrokosmos in Beziehung standen. Ein Hauptmotiv der Theosophie ist die siebenfältige Struktur des Seins, eine Struktur, die den Makrokosmos ebenso wie den Mikrokosmos durchdringt. Die erste Darstellung des siebenfältigen Prinzips im Menschen wurde im Oktober 1881 von A.O. Hume auf der Grundlage von Mitteilungen veröffentlicht, die er von Koot Hoomi erhalten hatte.

Gliederung der Spiritisten Gliederung der Okkultisten
1. Körper 1. Physischer Körper, gebildet aus Materie in ihrer gröbsten und greifbarsten Form.
2. Das Lebensprinzip (oder Jiv-Atma) – eine Art von Kraft, unzerstörbar und wenn von einer Gruppe von Atomen getrennt, augenblicklich Verbindung mit anderen suchend.
2. Die animalische Seele oder der »perisprit« (Allan Kardec) 3. Der Astralleib (Linga Sharira), zusammengesetzt aus ätherisiertem Stoff, in seinem gewöhnlich passiven Zustand das vollkommene, aber schattenhafte Abbild des Körpers; seine Aktivität, Festigung und Form völlig vom Kama Rupa abhängig.
4. Der astrale Schatten (Kama Rupa) oder Wunschkörper, ein Prinzip, das die Gestalt der
5. animalischen oder physischen Intelligenz, des Bewusstseins oder Ego bestimmt; proportional höher als Verstand, Instinkt, Gedächtnis, Imagination, die in höheren Tieren vorkommen.
3. Geistseele oder Geist 6. Die höhere oder geistige Intelligenz, das höhere Bewusstsein, das spirituelle Ego, in dem das Bewusstsein des vollendeten Menschen seinen Sitz hat, auch wenn das dumpfere tierische Bewusstsein in 5. mit ihm koexistiert.
7. Der Geist, eine Emanation des Absoluten; ungeschaffen; ewig; eher ein Zustand als ein Wesen.

Reinkarnation, Karma und spirituelle Evolution

In der »Entschleierten Isis« hatte Blavatsky nicht nur vom dreieinen Prinzip im Menschen (Leib, Seele, Geist) gesprochen, das sowohl Plato als auch Paulus kannten, sie verneinte auch die Möglichkeit einer Reinkarnation auf der Erde.

Ende 1882 hatte sie jedoch ihre Sicht im Kontext der siebenfältigen Konstitution des Menschen revidiert, die nun zum integralen Bestandteil der Reinkarnation wurde. Die drei niederen Prinzipien – der Körper, das Lebensprinzip und sein astrales Gegenstück – werden beim Tod zurückgelassen, und die vier höheren Prinzipien begeben sich auf die nächste spirituelle Ebene, den Astralplan (kama loka), der eine Art von Fegefeuer darstellt. Am fünften Prinzip, Manas, sind ein höherer und ein niederer Teil unterscheidbar, und nach einem langandauernden Kampf schließen sich die besten, erhabensten und geistigsten Teile dem sechsten Prinzip, Buddhi an, während sich der verbleibende Rest mit dem Wunschkörper (kama rupa) verbindet und schließlich auflöst. Das höhere Prinzip, Manas, das Ego der reifen irdischen Persönlichkeit, folgt dem sechsten und siebten Prinzip in einen spirituellen Zustand namens Devachan. Das Devachan entspricht dem christlichen Himmel, einem Zustand individueller Glückseligkeit, dessen Dauer und Intensität durch das Verdienst und die Spiritualität des Lebens auf der Erde vor der Reinkarnation der drei höheren Prinzipien in eine neue irdische Existenz bestimmt ist. Von der Wiedergeburt heißt es, sie finde durchschnittlich alle 1500 Jahre statt, während der Aufenthalt im Devachan als Belohnung für das positive Karma viel länger dauern kann.

Die Weiterentwicklung der Vorstellung von der Dreieinheit aus Leib, Seele und Geist zu der siebenfältigen Konstitution des Menschen und zur Reinkarnation war nicht durch die Rezeption hinduistischer Lehren bedingt, die in der Regel fünf Prinzipien voraussetzen, sondern geht auf die Inspiration durch siebenfältige Motive der westlichen Esoterik zurück, die in der Astrologie, Alchemie und Kabbalah vorherrschen. Sieben Prinzipien erlaubten eine differenziertere Betrachtung der spirituellen Konstitution des Menschen. Diese sieben Prinzipien und ihre Funktion sind höchstwahrscheinlich durch das Motiv der »aufsteigenden Metempsychose« motiviert, welche die spirituelle Entwicklung ermöglichen soll. Da die Darwinsche Evolution eine zentrale Idee der westlichen Wissenschaft in den 1860er und 1870er Jahren war, versuchte Blavatsky, ihre esoterische Philosophie mit der modernen Wissenschaft zu versöhnen. Wenn die Seelen lediglich durch viele Leben gingen, wie konnte dieser Prozess in wissenschaftlichen Begriffen erklärt werden und für ein westliches Publikum irgendeine Bedeutung haben? Wouter Hanegraaff meint, Blavatsky habe dieses Problem bei der Abfassung der »Entschleierten Isis« noch nicht gelöst, aber 1882 mit der Idee des Karma eine Antwort gefunden. Karma und Reinkarnation bieten mit ihrer Erzählung von den nachtodlichen Zuständen eine Idee, die der progressiven, optimistischen, westlich-aufklärerischen Auffassung entgegenkommt und greifen zugleich die protestantische Moral der Selbstentwicklung und Selbstverantwortung auf, indem sie die Reinkarnation aus ihrem Zusammenhang mit dem orientalischen Fatalismus befreien.

Kosmologie und spirituelle Hierarchien

Sinnetts Korrespondenz mit den Mahatmas aus dem Jahr 1882 bezog sich auf Lehren über periodische Zyklen der Manifestation (manvantaras) und der Ruhe (pralaya) des Universums. Zu diesem Zeitpunkt begann die Entfaltung der charakteristischen, weitläufigen theosophischen Kosmologie mit der Emanation des vedantischen Parabrahman oder des Adibuddha, der alles durchdringenden, höchsten, absoluten Intelligenz gemäß den Lehren des nördlichen Buddhismus. Ihre Vermittler sind die sich periodisch manifestierende Gottheit Avalokiteshvara, die von sieben aktiven Intelligenzen, den Dhyani Chohans unterstützt wird, die stufenweise Atome, Moleküle, Elemente, Minerale, Pflanzen, Tiere und Menschen formen und zwar durch eine absteigende Involution, bei der sich spirituelle Substanz vermaterialisiert. Sinnetts Ausführungen bieten eine klare Darstellung der Emanationen und sukzessiven siebenfältigen Manifestationen, die so zentral für die theosophische Kosmologie sind. In ihnen geht es um die Konstitution des Menschen, die Planetenkette, die Perioden der Weltentwicklung, die nachtodlichen Zustände des Ego im Kama Loka und Devachan, um den Fortschritt der Menschheit, die buddhistische Kosmologie und die Zyklen des Universums. Sowohl die »Mahatma-Briefe« als auch der »Esoterische Buddhismus« zeigen, wie spirituelle Kosmologien und Hierarchien, mit denen wir aus den westlichen Traditionen des Neuplatonismus, der Gnosis und Hermetik vertraut sind, eine Verbindung mit den komplexen östlichen Hierarchien des nördlichen, tibetischen Buddhismus eingehen und sich mit zeitgenössischen wissenschaftlichen Ideen der planetarischen, paläogeografischen und biologischen Evolution zusammenschließen. Die Mahatmas Morya und Koot Hoomi nehmen ebenso wie Blavatsky fortlaufend auf diese modernen Wissenschaften Bezug, insbesondere auf die Theorien von Charles Darwin, Sir Archibald Geikie, William Boyd Dawkins und John Fiske.

Blavatsky beschrieb die zyklische Manifestation und den Rückzug oder die Ruhephasen des Universums mit Hilfe der Kosmologie des nördlichen Buddhismus, der eine fortschreitende spirituelle Evolution annimmt. Der Adibuddha emaniert den ersten Logos (Vajradhara, entsprechend dem Purusha), den zweiten Logos (Vajrasattva, entsprechend der Prakriti) und den dritten Logos (Mahat). Der Adibuddha emaniert sieben Dhyani-Buddhas (oder Dhyan-Chohans), die sieben Söhne des Lichtes oder Logoi des Lebens. Diese kosmologischen Wirkmächte sind unmittelbar für den Aufbau und die Gesetze des Universums verantwortlich. Die emanatistische Kosmologie wird als eine »Hierarchie des Mitleids« beschrieben, da jede der absteigenden Hierarchien (Adibuddha, die drei Logoi, die Dhyani-Buddhas, die Dhyani-Boddhisattvas, die überirdischen Boddhisattvas, die irdischen Buddhas und die Menschen) mit der zunehmenden Erleuchtung der Welt in Beziehung steht. Ihre Manifestation in den unterschiedlichen Zeiten und geografischen Räumen besitzt eine soteriologische Bedeutung. Die Erwartung des Maitreya, des künftigen Buddha der sechsten »Wurzelrasse«, besaß eine mächtige heilende Kraft und wurde zu einer Kernidee späterer Bewegungen, die sich von der Theosophie inspirieren ließen.

Die »Geheimlehre«

Blavatsky widmete den Rest ihres Lebens unermüdlich dem Schreiben. Sie kehrte aus Indien nach Europa zurück und lebte von August 1885 bis Mai 1886 in Würzburg, wo sie die Arbeit an ihrem Hauptwerk, der »Secret Doctrine« fortsetzte. Nach einem Aufenthalt in Ostende 1886-87 ließ sich Blavatsky in London nieder und umgab sich mit loyalen Schülern. Im Oktober 1888 gründete sie die Esoterische Abteilung der Theosophischen Gesellschaft als Schule für ihre Anhänger in London, denen sie eine Reihe esoterischer Instruktionen gab. Eine kleinere Gruppe persönlicher Schüler empfing ihre fortgeschrittenen Unterweisungen bis zu ihrem Tod im Mai 1891.

»Die Geheimlehre« ist ein zweibändiges Werk von etwa 1500 Seiten und erhebt den Anspruch, das grundlegende Wissen zu enthalten, aus dem alle Religionen, Philosophien und Wissenschaften entstanden sind. Es behauptet, auf den »Dzyan-Strophen« zu fußen, einem mysteriösen Text, der in der unbekannten Senzar-Sprache geschrieben ist, von der kein Linguist je gehört hat. Blavatskys reife Lehre fußte auf drei Prinzipien: (1) der Existenz einer absoluten Realität, der unendlichen und ewigen Ursache von allem; (2) der Periodizität des Universums: seinem zyklischen Erscheinen, Wachstum, Welken und Verschwinden; (3) der Identität »aller Seelen mit der Universal-Seele: der Pilgerschaft jeder Seele oder jedes Funkens durch den Zyklus der Inkarnation«. Von diesen Prinzipien inspiriert, enthält die Geheimlehre vier fundamentale Ideenkomplexe: die Evolution, des Menschen siebenfältige Konstitution, Karma und Reinkarnation und Lehren über die Zustände nach dem Tod.

Auch wenn Blavatsky nun ihre Kosmologie in einer Terminologie vortrug, die aus dem Sanskrit, dem Tibetischen und dem Buddhismus geschöpft war, blieb sie doch tief in der hermetisch-kabbalistischen Weltsicht verwurzelt, dass das Untere wie das Obere ist. Ihr Panorama der zyklischen Schöpfung des Universums beschreibt die Entfaltung des universellen Geistes in einer komplexen Hierarchie göttlicher Mächte, die allen Aspekten der Schöpfung im manifesten Universum ihre Form geben. Der Mikrokosmos des Menschen enthält Analogien zum Makrokosmos. Der gesamte Inhalt der höheren Welten wird kartografiert und mit Hilfe von Analogien zu den Inhalten der unteren Welten in Beziehung gebracht. Die Theosophie präsentiert das Universum als belebtes, beseeltes Ganzes, das von geistigen Mittelwesen erfüllt ist (Dhyan Chohans, Jivas, Intelligenzen, Gestalter, Planetengeister, Lipikas). Diese mythischen Wesen verleihen den aufeinanderfolgenden Schichten des geordneten, hierarchischen Kosmos ihre Formen. Als ewige, geistige Komponenten des Seins wandern die Atma-Buddhi-Monaden, die zwei höchsten Prinzipien des Menschen, durch zahlreiche Inkarnationen, vergeistigen ihre vorübergehenden Träger und ermöglichen so eine spirituelle Evolution.

Die kosmische Apersonalität dieser Erzählungen dient lediglich als Hintergrund für das zentrale Thema der Geheimlehre, das ihre herausragende Bedeutung für religiöse Sucher verbürgt. Das individuelle Schicksal des Menschen und die moralischen Probleme der individuellen Entwicklung sind die Hauptthemen des Buches, das von der Reinkarnation der individuellen Seele nach Maßgabe ihres Karmas, des Gesetzes von Ursache und Wirkung, in jedem einzelnen Leben erzählt, während sie unablässig bestrebt ist, sich spirituell weiter zu entwickeln. Das letzte Ziel des Menschen ist die Emanzipation der Seele. Der physische Leib und der Astralleib lösen sich nach dem Tode auf, aber die höhere Dreiheit von Manas, Buddhi und Atma überlebt den Tod. Viele Reinkarnationen sind nötig, bevor diese Dreiheit sich in einem physischen Leib manifestieren kann. Wenn es einmal so weit ist, wird die Menschheit zu den Göttern aufgestiegen sein.

Blavatskys Kosmologie trägt alle wesentlichen Züge der Faivreschen »westlichen Esoterik«: Korrespondenzen zwischen dem Makrokosmos und dem Mikrokosmos, eine lebendige Natur als komplexes, pluralistisches, hierarchisches und beseeltes Ganzes, Imagination und Mediation in Form von vermittelnden Geistwesen, Symbolen und Mandalas und die Erfahrung der Transmutation der Seele durch Reinigung und Aufstieg.

Blavatskys Vermächtnis

Annie Besant

Annie Besant

Der Hauptbeitrag der Theosophie zur westlichen Esoterik besteht in einigen wichtigen Neuerungen: (1) der Assimilation von Elementen orientalischer Religionen aus der Perspektive vergleichender Religionswissenschaft, die auf frühere okkultistische Autoren wie Hargrave Jennings und Godfrey Higgins verweist; (2) der Ausarbeitung des Prinzips der Siebenheit und seiner vielfältigen Beziehungen zu gnostischen, hermetischen, kabbalistischen und buddhistischen Kosmologien und Hierarchien; (3) dem Bezug dieses Prinzips zu Reinkarnation und Karma und seiner Anwendung auf die Idee der spirituellen Evolution; (4) der Präsentation esoterischer Ideen im Kontext der modernen Wissenschaft, wozu Evolution, Geologie, Anthropologie und Rassentheorien gehören. Innerhalb dieser Innovationen gehören die Perspektiven der Theosophie für die vergleichende Religionswissenschaft und ihre evolutionären Ideen zu den wichtigsten Beiträgen. Die spirituellen Führer Blavatskys, die Brüder, Meister oder Mahatmas, stehen in der Tradition der rosenkreuzerischen geheimen Adepten, die den spirituellen Fortschritt der Menschheit fördern und hegen. Indem sie die Idee des Adepten mit jener der spirituellen Entwicklung verband, schuf Blavatsky die wirkmächtige Vorstellung eines zuhöchst entwickelten Adepten, dessen Bewusstsein weit über das des Durchschnittsmenschen hinausreicht. Die Meister und die große weiße Bruderschaft haben das ganze zwanzigste Jahrhundert hindurch neue religiöse Bewegungen inspiriert.

Rudolf Steiner

Rudolf Steiner

Blavatskys Einfluss auf ihre Zeitgenossen und die Nachwelt war nachhaltig. Die Wirkungen der Theosophischen Gesellschaft in Indien und im Westen sind beträchtlich. Die spätere Geschichte der Gesellschaft unter der Präsidentschaft Annie Besants, die zugleich dem Indischen Nationalkongress vorstand, unterstreicht die Rolle, welche sie bei der Stärkung des indischen Selbstbewusstseins gegenüber dem Kolonialherrn gespielt hat; sowohl Gandhi als auch Nehru fanden durch die Theosophie ihr eigenes religiöses und philosophisches Erbe wieder. Im Westen war die Theosophie vielleicht der bedeutendste Einzelfaktor beim Wiederaufleben des Okkultismus. Sie lenkte das modische Interesse am Spiritismus auf eine kohärente Lehre, die Kosmologie, moderne Anthropologie und die Theorie der Evolution mit der spirituellen Entwicklung des Einzelmenschen verband. Sie schöpfte aus den traditionellen Quellen der westlichen Esoterik und globalisierte diese, indem sie sie in der Begrifflichkeit der asiatischen Religionen neu formulierte. Dadurch bereitete die Theosophie den Weg für die vergleichende Religionswissenschaft, was erstmals durch das Weltparlament der Religionen 1893 in Chicago sichtbar wurde. Indem sie die Bedeutung des Bewusstseins als einer Kraft der spirituellen Entwicklung hervorhob, überwand sie materialistische und mechanistische Modelle der Natur und führte zugleich eine moderne, dynamische Dimension in das traditionelle hermetische Weltbild der Korrespondenzen von Mikro- und Makrokosmos ein.

Zwischen 1880 und 1930 stimulierte die Theosophie auf signifikante Weise das Interesse an der esoterischen Tradition unter den Gebildeten Europas und Amerikas. Theosophische Publikationen beleuchteten viele Aspekte der Tradition, von der Antike bis zur Renaissance und befruchteten Bewegungen des modernen Okkultismus (z.B. Orden der zeremoniellen Magie, wie den Hermetischen Orden der Goldenen Dämmerung und seine vielen Abkömmlinge im 20. Jahrhundert).

G.R.S. Mead (1863-1933) und Rudolf Steiner (1861-1925), die beide zu den frühen Vertretern der Theosophie gehörten, betonten später ihre westlichen Quellen, indem sie die Beiträge der Gnosis, Hermetik, des Neuplatonismus, des Rosenkreuzertums und der Wissenschaft Goethes zur esoterischen Tradition unterstrichen. Mead beeinflusste entscheidend C.G. Jung, dessen Theorie der Psychoanalyse der esoterischen Tradition der romantischen Naturwissenschaften Wesentliches verdankt, während Steiners Anthroposophie die esoterische Tradition mit zeitgemäßen Anwendungen in der Pädagogik, Landwirtschaft und Medizin verband. Das kulturelle Vermächtnis der Theosophie ist vielfältig; sie beeinflusste die moderne Kunst, die Quantenphysik und in jüngster Vergangenheit auch das New Age.

Fortsetzung

Kommentare sind geschlossen.

Kommentare sind geschlossen