Zeit, in den Spiegel zu blicken. Ein Ethnologe zertrümmert die Gewissheiten der Moderne

Zuletzt aktualisiert am 10. März 2020.

Descola_U1Dass Natur und Kultur sich deutlich voneinander unterscheiden, dass erstere vom Menschen unabhängig, letztere ein Erzeugnis des kreativen menschlichen Geistes ist, dass die Welt der objektiven, natürlichen Dinge durch eine unüberbrückbare Kluft von der Welt des menschlichen Bewusstseins und den ausdehnungslosen Schemen des Denkens getrennt ist, halten die meisten Angehörigen des westlich-abendländischen Kulturkreises für eine Selbstverständlichkeit. Diese Überzeugung ist so sehr in unseren kulturellen Genen verankert, dass uns davon abweichende Vorstellungen als irreal, ja unmöglich erscheinen.

Dass es sich bei diesem cartesischen Dualismus, der die Grundlage unserer modernen Gesellschaften bildet, allerdings um einen historischen und kulturellen Sonderfall handelt, und vollkommen andersartige Weltbilder auf der Erde überaus verbreitet sind, zeigt der französische Ethnologe Philippe Descola in seiner großartigen Untersuchung »Jenseits von Natur und Kultur«.

Im Grunde handelt sein Werk von unterschiedlichen Bewusstseinsformen, auch wenn er selbst diesen Begriff nicht verwendet, sondern stattdessen von »Strukturen der Erfahrung« und »Formen der Identifikation« spricht. Dass Descola den Begriff des Bewusstseins nicht als Mittel der Analyse verwendet, dürfte darin begründet sein, dass dieser ein konstitutiver Bestandteil einer jener vier Weltsichten ist, die er untersucht, nämlich der von ihm als »Naturalismus« bezeichneten Haltung, die aus abendländischer Sicht die Moderne kennzeichnet. An die Stelle des durch die abendländische Tradition überbestimmten Begriffs setzt Descola denjenigen der »Interiorität«, der eine Reihe von Merkmalen umschreibt, die alle Menschen kennen: Intentionalität, Subjektivität, Reflexivität, Affekte, die Fähigkeit zu bezeichnen oder zu träumen, aber auch »immaterielle Eigenschaften« wie die belebende Kraft des Atems oder die Lebensenergie, das gemeinsame Wesen, den gemeinsamen Ursprung von Entitäten. »Interiorität« deutet auf jenes »universelle« Prinzip, das für die Identität, Dauer und die typischen Verhaltensweisen eines Seienden verantwortlich ist.

Dieser Interiorität gesellt sich ein zweiter analytischer Begriff hinzu: die »Physikalität«, er bezeichnet die äußere Form, die Substanz, die physiologischen, perzeptiven und sensomotorischen Prozesse des Menschen, sogar sein Temperament und seine Art zu handeln. »Physikalität« umfasst aber nicht nur die bloße Stofflichkeit der belebten oder leblosen Körper, sondern die Gesamtheit der sichtbaren und greifbaren Ausdrucksformen von Entitäten, sofern diese aus ihren wesentlichen morphologischen und physiologischen Merkmalen resultieren. Man sieht: die beiden Begriffe sind weit umfassender als Innerlichkeit und Äußerlichkeit, Subjekt und Objekt. Indem Descola sie mit zwei weiteren: »Identität« und »Differenz« oder »Ähnlichkeit« und »Unterschied« kombiniert, gelangt er zu vier möglichen Ontologien, die den von ihm analysierten vier Weltsichten oder Bewusstseinsformen zugrunde liegen, je nachdem, wie das Verhältnis von Interiorität und Physikalität, Ähnlichkeit und Unterschied in ihnen bestimmt wird. Das Schema ist klar, aber welches Fleisch haftet daran?

Eine der vier Weltsichten, den Naturalismus der europäischen Denktraditionen, haben wir eingangs erwähnt, die drei anderen sind aus der ethnographischen Literatur bekannt, auch wenn Descola sie teilweise neu definiert: es sind der »Animismus«, der »Totemismus« und ein Weltverhältnis, das er als »Analogismus« bezeichnet. Tauchen wir in seine dichten Beschreibungen ein.

Animismus

Der Animismus ist laut Descola dadurch gekennzeichnet, dass er einigen Nichtmenschen eine menschliche Interiorität zuerkennt. Pflanzen und Tiere besitzen eine Seele, die es ihnen erlaubt, sich sozialen und ethischen Normen gemäß zu verhalten und mit Menschen und anderen Nichtmenschen zu kommunizieren. Da die Nichtmenschen eine ähnliche Interiorität besitzen wie der Mensch, gehören sie der Sphäre der Kultur an und pflegen intersubjektive Beziehungen wie dieser. Sie beherrschen spezifische Kulturtechniken und kennen ihre eigenen Rituale und Konventionen. Allerdings erstreckt sich die Menschenähnlichkeit nicht auf ihre äußere Erscheinung, denn im animistischen Kosmos unterscheiden sich Pflanzen und Tiere untereinander und vom Menschen durch ihr Gewand aus Federn, Fell, Schuppen oder Rinde. Der Unterschied ist jedoch äußerlich, nicht substantiell, denn im animistischen Universum sind alle Organismen durch eine materielle Kontinuität vereint.

Für die Candoshi-Indianer im peruanischen Amazonien etwa bestehen die Entitäten der Welt aus einem universellen Substrat, das allen Lebewesen gemeinsam ist, die Indianer der Nordwestküste Kanadas sind der Auffassung, die Tiere bestünden aus einer inneren Substanz, die im wesentlichen menschlich sei und mittels der Haut in eine tierische Form verwandelt werde. Auch in Papua-Neuguinea werden Menschen, Bäume und Tiere aus denselben Substanzen gebildet und unterscheiden sich nur durch ihre äußerliche Form. Was die menschlichen und nichtmenschlichen Wesen unterscheidet, ist ihr Gewand, nicht die Seele, durch die sie miteinander verwandt sind. Daher beschäftigen sich auch viele amerindianische Mythen mit der zentralen Frage nach der Herkunft dieser Unterschiede. Sie berichten von einer Zeit, in der Menschen und Nichtmenschen noch nicht unterschieden waren, in welcher der Ziegenmelker kochte, die Grille Drehleier spielte, der Kolibri Gärten rodete, in der also die Tiere und Pflanzen alle Kulturtechniken beherrschten und untereinander und mit den Menschen problemlos kommunizierten. Und sie erzählen von den besonderen Umständen, die zu einer Veränderung der Form geführt haben, dazu, dass ein bestimmtes Tier oder eine bestimmte Pflanze, die schon vorher potentiell vorhanden waren, in einem nichtmenschlichen Körper Gestalt annahmen. Sie berichten also nicht von einem nicht mehr rückgängig zu machenden Übergang von der Natur zur Kultur, sondern vom Auftauchen natürlicher Unterschiede aus einem kulturellen Kontinuum, dem Mensch, Tier und Pflanze, ja die gesamte Natur angehörten.

Diese Differenzierung geht allerdings nicht so weit, dass der Zusammenhang zwischen dem Menschen und den übrigen Wesen völlig verlorenginge, denn Pflanzen und Tiere besitzen weitgehend auch noch heute die Fähigkeiten der mythischen Zeit. Die Pflanzen und Tiere sind Personen mit einem Tier- und Pflanzenkörper, den sie manchmal ablegen, um ein soziales Leben ähnlich dem der Menschen zu führen: Tapire bemalen sich mit Pflanzenfarbe, um zu tanzen, Pekaris spielen während ihrer Rituale Trompete oder stellen Maisbier her und der Jaguar bringt seiner Frau die Beute nach Hause, damit sie diese für ihn kocht.

»Lange«, kommentiert Descola, »hat man derartige Behauptungen für Zeugnisse eines der Logik unzugänglichen Denkens gehalten, das außerstande sei, das Reale vom Traum und den Mythen zu unterscheiden, oder für bloße Sprachfiguren, Metaphern oder Wortspiele. Doch die Makuna, die Wari und viele andere amerindianische Völker, die solche Dinge behaupten, sind weder kurzsichtiger noch leichtgläubiger als wir. Sie wissen genau, dass der Jaguar seine Beute roh verschlingt und dass das Pekari die Maispflanzungen verwüstet, statt sie anzubauen. Die Jaguare und die Pekaris selbst, so sagen sie, sehen sich dieselben Gesten ausführen wie die Menschen und stellen sich guten Glaubens vor, dass sie dasselbe soziale System, dieselbe soziale Existenz, dieselben Glaubensinhalte und Bestrebungen haben wie diese. Kurz, in den Mythen wie im täglichen Leben betrachten die Amerindianer das, was wir Kultur nennen, nicht als Privileg der Menschen, da auch viele Tiere, ja sogar Pflanzen sie zu besitzen und nach ihren Normen zu leben glauben. Somit wird es schwierig, diesen Völkern das Bewusstsein oder die Vorahnung eines Unterschieds zwischen Natur und Kultur zu unterstellen, der dem uns vertrauten entspricht, dem jedoch in ihren Denkweisen alles zu widersprechen scheint.«

Noch durch etwas anderes zeichnen sich die Wesen im animistischen Kosmos aus: durch ihre Fähigkeit zur Metamorphose oder besser »Anamorphose«. Da Menschen, Tiere und Pflanzen eine gemeinsame Subjektivität und Personalität besitzen, können sie auch ihre Körper miteinander austauschen: ein Mensch kann sich in einem Tier oder einer Pflanze verkörpern, ein Tier die Form eines anderen Tieres annehmen, eine Pflanze oder ein Tier können ihr Gewand ablegen, um in einem Menschenkörper zu erscheinen. Diese Fähigkeiten werden nicht etwa einer unbestimmten mythischen Vergangenheit zugeschrieben, sondern existieren bis heute. Besonders in Träumen oder ekstatischen Zuständen treten die sogenannten mythischen Wesen in ihrer menschlichen Gestalt auf, bringen dem Menschen Botschaften oder lassen ihm etwas von ihren Fähigkeiten zuteil werden. Besonders Schamanen, Zauberern und rituellen Spezialisten wird die Fähigkeit zugeschrieben, die menschliche Form abzulegen und sich bestimmter Tiere zu bedienen, zu denen sie privilegierte Beziehungen unterhalten. Seltener kommt die Metamorphose von Mensch in Pflanze und umgekehrt oder von einem Tier in das einer anderen Art vor, wenngleich auch das nicht ausgeschlossen ist. Gänzlich unbekannt scheint dem Animismus lediglich die Besitzergreifung eines menschlichen Körpers durch die Seele eines anderen Menschen, die Besessenheit, die mit dem Schamanismus der animistischen Welt unvereinbar ist.

Worin besteht nun die Funktion dieser »Vielzahl an körperlichen Instrumenten im Konzert des Lebens«? Sie ermöglicht es den animistischen Personen, einem Übermaß an Verwandtschaft zu entgehen und jenes Quantum an Unterschieden einzuführen, die für die Kommunikation zwischen ihnen unerlässlich ist. Die Unterschiede der Formen und Lebensweisen decken sich mit den unterschiedlichen Kollektivitäten, von denen eine jede Merkmale besitzt, die von der anatomischen Ausrüstung ihrer Mitglieder, ihrem Wohnort und der Nutzung definiert werden. Für jede Art existiert ein »Basiskörper«, der zugleich ein sozialer Körper und ein Körper der Normen ist. Zwischen diesen Körpern finden Wanderungen statt, aber diese Wanderungen zwischen den Arten berühren nicht die innere Identität der Individuen.

Wozu muss man dann einen anderen Körper annehmen? Der Grund für diese Wanderung zwischen den Arten ist laut Descola darin zu sehen, dass sie eine »bequeme, ja die einzige Lösung des Problems der Interaktion zwischen menschlichen und nichtmenschlichen Personen, die anfangs unterschiedliche Physikalitäten besitzen, auf gleicher Ebene ist.« Damit die eigentliche Metamorphose erfolgen und die Eigenschaften der Wesen in einer intersubjektiven Erfahrung bestätigen kann, muss die Barriere zwischen den Formen überwunden werden. Das ist nur bei zwei Gelegenheiten der Fall: wenn die Pflanzen, Tiere oder Geister, die ihre Beschützer sind, die Menschen in deren Gestalt besuchen und wenn Menschen, in der Regel Schamanen, diese Entitäten aufsuchen. Beide Male steht der Besucher seinen Gastgebern von gleich zu gleich gegenüber, wie es für die Kommunikation erforderlich ist. Die Metamorphose ist keine Enthüllung oder Verkleidung, sondern der Höhepunkt einer Beziehung, bei der sich jeder, indem er die Beobachtungsposition verändert, die seine ursprüngliche Physikalität ihm auferlegt, bemüht, mit der Perspektive übereinzustimmen, aus der seiner Meinung nach der andere sich selbst betrachtet. Indem der Mensch versucht, in die Haut des Tieres zu schlüpfen, sieht er es nicht mehr wie gewöhnlich, sondern so, wie es sich selbst sieht und der Mensch wird so gesehen, wie er sich gewöhnlich nicht sieht, sondern so, wie er vom Tier gesehen werden möchte, nämlich als Tier. Die Metamorphose ist also, laut Descola viel weniger ein Gestaltwandel, als eine Wandlung des Blicks, eine Anamorphose. Diese Einsicht führt zu weiteren, tiefschürfenden Erörterungen über den »Perspektivismus« der amerindianischen Kosmologien, der Ausdruck des komplexen Beziehungsgefüges der ineinander verschränkten Blickrichtungen der unterschiedlichen Personen ist, die den animistischen Kosmos bevölkern.

Totemismus

Wenden wir uns der zweiten Ontologie zu, dem »Totemismus«. Die zentrale Heimat des Totemismus ist Australien und dieser selbst ist im Bewusstseinszustand der »Traumzeit« verankert.

In der Traumzeit begegnen diejenigen, die in sie eintreten, jenen Wesen, die einst aus den Tiefen der Erde an bestimmten Orten auftauchten, um sich auf gefahrvolle Reisen zu begeben, deren Wegstrecken und Zwischenstationen noch heute in Form von Felsen, Wasserstellen, Gehölzen und Ockervorkommen sichtbar sind. Diese Wesen verschwanden wieder, nachdem sie jeweils einen Teil der Menschen, Tiere und Pflanzen auf der Erde hinterlassen hatten, zusammen mit ihren totemistischen Verwandtschaften, ihren Namen, Riten, Kultgegenständen und den ihnen verbundenen organischen und anorganischen Bestandteilen der Landschaft. Die Wesen der Traumzeit sind Prototypen und Geburtshelfer der sozialen und physischen Welt, meist Zwitterwesen zwischen Mensch und Nichtmensch, und treten bereits bei ihrem ersten Erscheinen als totemistische Gruppen auf. An Menschen erinnern ihre Sprache, ihr Verhalten, ihr absichtsvolles Handeln und die sozialen Codes, die sie beachten und einführen, aber sie erscheinen in Gestalt von Pflanzen oder Tieren und tragen auch deren Namen. Die Traumwesen haben außerdem an den Stätten, an denen sie verschwanden, einen Vorrat von Geistern hinterlassen, die sich seitdem in den Individuen der Spezies oder dem Objekt, das sie repräsentiert, sowie in den Menschen verkörpern, die diese Spezies oder dieses Objekt zum Totem haben.

Die Traumzeit oder »Morgenröte der Welt« ist aber nicht vergangen, sondern dauert bis heute an, denn immerzu verkörpern sich die an bestimmten Stätten hinterlassenen Geistwesen aufs Neue, dank der Riten, durch welche die Aborigines sich ihre Anwesenheit bewusst machen. Die Traumzeit ist »weder erinnerte Vergangenheit, noch rückwirkende Gegenwart, sondern Ausdruck der erwiesenen Ewigkeit im Raum, ein unsichtbarer Rahmen des Kosmos, der die Fortdauer seiner ontologischen Unterteilungen gewährleistet.« Die Wesen der Traumzeit sind keine Heroen der mythischen Vorzeit, sie sind auch keine Vorfahren, weil jedes Existierende mit seinem Prototyp auf unmittelbare Weise und nicht über den Umweg durch die vorangehenden Generationen verbunden ist. Der Totemismus in Australien stellt einen fortdauernden Prozess der Erneuerung von Wesen und Lebensformen dar, die soziale und physische Komponenten vermengen.

Dabei gibt es eine Vielzahl unterschiedlicher Formen des Totemismus. Zum Beispiel den »individuellen« Totemismus, der auf einer besonderen Beziehung zwischen einem Zauberer und einer Tierart, meist einem Reptil, beruht. Die Vertreter der Tierart wirken als Hilfskräfte des Zauberers, sie bringen Krankheit und Heilung oder spionieren für ihn. Manchmal trägt der Zauberer den Geist einer bestimmten Tierart in sich, vermag diesen aus sich herauszusetzen und in einem gezähmten Tier zu materialisieren. Ein Zauberer vermag ein Tier seiner Totemart einem Kranken anzuvertrauen, das diesen daraufhin heilt; Wunden, die einem Totemtier zugefügt werden, bereiten auch dem Zauberer Schmerzen. Während im Animismus die Beziehungen zwischen Mensch und Tier stets Individuen betreffen und nicht Arten, sind es gerade die Arten, zu denen der totemistische Zauberer eine Beziehung unterhält. Außerdem unterscheiden sich Mensch und Tier im Animismus deutlich, während der australische Zauberer mit der Tierart seines Totems verschmolzen ist: die Wesenheit der Art wird zu seiner eigenen Wesenheit, er fühlt in seinem Körper alles, was einem einzelnen Tier seiner Art angetan wird.

Eine weitere Form ist der »konzeptionelle« Totemismus. Das Totem eines Kindes hängt hier nicht von seinem Geschlecht oder seinen Eltern ab, sondern vom Ort, an dem der Mutter bewusst wurde, dass sie schwanger ist. Tatsächlich oder im Traum kann sie bestimmte totemistische Stätten aufsuchen, an denen Wesen der Traumzeit Kinderseelen ihrer Totemart zurückgelassen haben, und eine dieser Seelen dringt in die Gebärmutter der Frau ein, um den Embryo zu formen.

Was unterscheidet die Wesen der Traumzeit und die Totems von den animistischen Seelenwesen der Natur? Die Wesen der Traumzeit sind die Träger eines unerschöpflichen kreativen Potentials, die Totems das geistige Band zwischen den Menschen und den Entitäten des Kosmos, die aus den Traumwesen emanierten. Der Mensch ist durch sein Totem mit den Traumwesen unmittelbar verbunden, in diese eingebettet, ja seinem Wesen nach mit diesen identisch. Die Seelenwesen des Animismus sind miteinander verwandt und unterscheiden sich nur durch ihre Gewänder, aber sie treten einander als individuelle Personen gegenüber. Die amerindianischen Mythen beschreiben die Ereignisse, die zu den Unterschieden der Erscheinungsformen von Menschen und Tieren geführt haben, die australischen Mythen erzählen, wie ursprünglich hybride Wesen, die Wesen der Traumzeit,  durch Jungfernzeugung eine Vielzahl von Prototypen aus sich emanieren ließen, die sich stets aufs Neue in allen möglichen Arten von Lebewesen verkörpern. Die Wesen der Traumzeit sind keine Pflanzen oder Tiere, die sich in Menschen verwandeln, oder Menschen, die sich in Pflanzen oder Tiere verwandeln, sondern von Anfang an Mischformen, geistig-natürliche Träger physischer und geistiger Eigenschaften, die ihre Attribute auf beliebig viele Einzelwesen übertragen können. Für den Angehörigen einer totemistischen Art stellt ein derselben Art angehöriges Einzelwesen keine Individualität dar, mit der er eine Beziehung von Person zu Person unterhalten könnte, wie das im Animismus der Fall ist. Ein solches totemistisches Einzelwesen ist lediglich Ausdruck bestimmter materieller und ideeller Eigenschaften, die sich nicht verändern, wenn dieses Einzelwesen aus der Erscheinungswelt verschwindet, da letzteres nur eine vorübergehende Erscheinungsform seines Prototyps ist. Als Emanationen eines beiden gemeinsamen Prinzips nehmen sich die Einzelwesen desselben Totems nicht als Subjekte wahr, die in einer sozialen Beziehung stehen, sie sind lediglich Materialisierungen von Eigenschaften, die über ihre besondere Existenz hinausragen.

Unschwer ist aus diesen Schilderungen eine gewisse Verwandtschaft zum Platonismus herauszuhören und so verwundert es nicht, wenn Descola in seiner Auseinandersetzung über den abendländischen Naturalismus einen australischen Aborigine sagen lässt: »Warum soviel Wert auf die Wörtlichkeit der Dinge legen? Warum sich bei oberflächlichen Unterschieden der Formen und Fähigkeiten zwischen den Existierenden aufhalten, wenn es doch einfacher ist, etwa wie jener griechische Philosoph zu denken, von dem ihr soviel Aufhebens macht, dass nämlich die Welt von jeher in ein Ensemble physischer und geistiger Prototypen geteilt ist, die spezifische Eigenschaften hervorbringen, stets fruchtbare Brennpunkte, von denen jene großen Aggregate von Menschen und Nichtmenschen herrühren, die ihr als Hybride bezeichnet, weil sich eure ontologischen Klassifizierungen von den unseren unterscheiden?

Analogismus

Naturalismus und Animismus sind zwei umfassende Schemata der Welterfahrung und der Praxis mit umgekehrter Polarität: im ersteren steht die allen Wesen gemeinsame Physikalität den Zufälligkeiten ihrer Interiorität gegenüber (der Mensch soll sich zum Beispiel von allen anderen Wesen durch seine Intelligenz und seine Fähigkeit zur Moralität auszeichnen), im letzteren stellt die allen Wesen gemeinsame Interiorität ein Mittel dar, um die Unterschiede der physischen Erscheinung abzuschwächen. Der Totemismus wiederum ist durch eine doppelte Verwandtschaft der physischen und geistigen Merkmale gekennzeichnet. Ihm steht daher ein anderes, viertes Schema gegenüber, das auf beiden Seiten Diskontinuitäten sieht. Dieses Identifikationsschema ist der »Analogismus«, der »die Gesamtheit der Existierenden in eine Vielzahl von Wesen, Formen und Substanzen aufsplittert, die durch geringfügige Abweichungen getrennt und zuweilen in einer Stufenleiter angeordnet sind, so dass es möglich wird, das System der anfänglichen Kontraste wieder zu einem dichten Netz von Analogien zusammenzufügen, das die inneren Eigenschaften der unterschiedenen Entitäten miteinander verbindet.« Das »dichte Netz der Analogien« entfaltet sich zu einem universellen Gewebe von Entsprechungen, zum Beispiel zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos, wie sie sich in der chinesischen Geomantie oder auch der medizinischen Lehre von den Signaturen findet. Die Analogie ist aber nicht Voraussetzung, sondern Folge einer Bewusstseinsform, welche die Glieder, die sie in Beziehung setzt, zuerst voneinander unterscheiden und trennen muss. Dieser Analogismus gehört auch zur Geschichte Europas, nahm er doch im Mittelalter und in der Renaissance eine geradezu hegemoniale Stellung ein.

Arthur Lovejoy folgend sieht Descola den Ursprung dieser Weltsicht – zumindest, soweit es das Abendland anbetrifft – bei Plato und dessen »Prinzip der Fülle«. Der unendlichen Vielzahl ewiger Ideen, welche die unwandelbaren Archetypen bilden, von denen jedes materielle oder ideelle Einzelwesen nur ein verkleinertes Abbild ist, steht die verbindende Einheit der Idee des Guten gegenüber, die das Sein der Welt begründet und allem etwas von ihrer Vollkommenheit, der Fülle ihres Seins, zuteil werden lässt. Aristoteles fügt diesem mit allen denkbaren Wesen gesättigten Kosmos die strengen Hierarchien seiner Naturgeschichte hinzu: die Gattungen sind festgelegt, die Arten unteilbar, die lebenden Wesen je nach dem Grad ihrer Vollkommenheit auf einer scala naturae, einer Leiter der Natur, aufgereiht. Der Neuplatonismus vollendet diese Kette des Seins, die vom vollkommensten Wesen durch alle denkbaren Stufen abnehmender Vollkommenheit bis zum gerade noch dem Nichtsein entgangenen niedersten Glied reicht, das dennoch zu jener Vollkommenheit aufstrebt, die ihm so fern steht.

Die Analogie ist laut Descola das einzige Mittel, um in diese »chaotische und aufgeblähte Welt«, die unendlich viele verschiedenartige Dinge enthält, Ordnung hineinzubringen. Solche Verbindungen können metaphorisch sein, wenn sie auf einer Ähnlichkeit einzelner Glieder beruhen, metonymisch, wenn sie auf Ähnlichkeiten der Beziehungen fußen. Zu den ersteren zählt die räumliche Verknüpfung, die aufgrund unmittelbarer Nachbarschaft Verwandtschaft stiftet, ebenso die Nachahmung, die einander fern liegende Dinge verbindet, weil sie sich spiegelbildlich entsprechen. Die metonymischen Verbindungen beruhen auf Ähnlichkeiten der Beziehungen, etwa der Symmetrie, der Inversion, der Einschließung oder Verdoppelung. Dieser Gruppe gehört auch die Sympathie zu. Natürlich müssen die unsichtbaren Ähnlichkeiten erkennbar sein, was Zeichen, Signaturen erforderlich macht, welche die Vielzahl der äußeren Erscheinungen auf geheime Eigenschaften zurückführen, die sich nach den Polaritäten des Identischen und Verschiedenen gruppieren.

Solche analogischen Ontologien finden sich nicht nur im China der Han-Zeit oder in Indien, sondern – wie gesagt – auch im Europa vor dem Anbruch der Moderne und bemerkenswerterweise auch in Mesoamerika. Die Nahua-Völker, die zu Beginn der spanischen Konquista das mexikanische Zentralplateau bewohnten, wiesen in ihren Auffassungen des Universums und ihrer Überzeugung von den Entsprechungen zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos eine große Homogenität auf. »Die Etagen des Kosmos«, schreibt Descola, »die sichtbaren und unsichtbaren Teile und Komponenten der Menschen, der Pflanzen und der Tiere, die Beziehungen zwischen den Mitgliedern der Familie, die sozialen Schichten, die Beschäftigungen und die Spezialitäten, die Meteore, die Nahrungsmittel und die Medikamente, die Gottheiten, die Himmelskörper, die Krankheiten, die Zeiteinteilungen, die Orte und die Himmelsrichtungen, alles diese Elemente waren bei den alten Nahua durch ein dichtes Netz von Entsprechungen und wechselseitigen Determinationen miteinander verknüpft, wie sie es bei vielen Völkern Mesoamerikas noch heute sind.«

Das analogische Denken, das alles umfasst und durchdringt, stellt laut Descola ein Gegengewicht gegen die unendliche Vielfalt und die Gefahr der Zersplitterung in zahllose Singularitäten dar, welche die Voraussetzung seiner Anwendung sind. Was dies bedeutet – oder bedeuten kann – verdeutlicht er am Beispiel der Anthropologie der Nahua. Diese sahen im Menschen kein undifferenziertes, einheitliches Gebilde, sondern setzten ihn aus vier Hauptkomponenten zusammen.

Aus dem Körper tonacayo (»all unser Fleisch«) und drei Seelengliedern, die allerdings – ebenso wie den Körper –, nicht nur dem Menschen zugesprochen wurden. Neben dem Körper besitzt der Mensch das tonalli, das im Kopf angesiedelt ist, seinen Einfluss aber im ganzen Körper verbreitet. Manchmal materialisiert es sich im Atem, es kann sich auch vorübergehend vom Körper trennen, nimmt dann die unsichtbare Kontur desselben an, muss aber Zuflucht in Tieren oder Pflanzen suchen. Tonalli lässt sich mit »Ausstrahlung« übersetzen und kann, je nach Zusammenhang, das Schicksal einer Person, entsprechend dem Tag ihrer Geburt, oder etwas, das jemandem besonders zu eigen ist bedeuten. Das tonalli ist eine Kraft oder Wesenheit, die sich in der Welt als Licht oder Wärme äußert. Es ist bei der Geburt des Menschen noch nicht mit diesem verbunden, sondern muss ihm erst mit Hilfe eines rituellen Bades einverleibt werden. Dieser Träger der individuellen Signatur und des Schicksals wirkt auch als Prinzip der Beseelung und der geistigen Fähigkeiten. Es verleiht Kraft, Mut und Wachstum, reguliert die Körpertemperatur und schafft das Selbstbewusstsein. Es kann sich, wie gesagt, vorübergehend von Körper trennen, etwa bei Trunkenheit, Krankheit, während des Schlafs oder beim Koitus, oder ihn auch für immer verlassen, was allerdings unweigerlich zum Tode führt. Das tonalli ist kein ausschließlicher Besitz des Menschen, auch Götter, Pflanzen und Tiere, sogar leblose Gegenstände besitzen ihr tonalli.

Neben diesem Seelenglied besitzt der Mensch das im Herzen angesiedelte teyolia, das fortgeht, wenn der Mensch stirbt. Es ist jener Teil der Seele, der sich in die Welt der Toten begibt. Im Unterschied zum tonalli verlässt es den Körper während des Lebens nicht, vielmehr nistet es sich bereits im Embryo ein und entwickelt sich später zum Träger seiner Empfindungen, seines Gedächtnisses, seiner Seelenzustände, ja sogar zum Prinzip, das seine Ideen formt. Es beherrscht die Affekte, das Temperament, das sich im Verhalten des Menschen niederschlägt, kurz, es bildet den Seelenkern der Person, sein Herz, das hart, bitter, sanft, roh, kalt oder traurig sein kann. Ebensowenig wie das tonalli ist das teyolia allein dem Menschen eigen, alle anderen Wesen besitzen ebenfalls ein solches Seelenprinzip.

Schließlich sprechen die Nahua von einem dritten Prinzip, dem ihiyotl, das seinen Sitz in der Leben hat. Es kann als dichtes, leuchtendes Gas wahrgenommen werden, das aus einem Menschen ausströmt und seine Umgebung an sich heranzieht oder auf diese einwirkt. Es ist schon im Embryo vorhanden und besteht auch nach dem Tod als gefährliche Ausdünstung fort. Es erzeugt und lenkt Affekte, die sich auf besondere Gegenstände richten, wie Begehren, Zorn, Hunger, Lust und wird durch die eingeatmete Luft und die aufgenommene Nahrung fortwährend am Leben unterhalten.

Entscheidend ist in analogischen Ontologie, dass jedes Existierende, das über solche unterschiedlichen Prinzipien verfügt, diese auf bestmögliche Weise koordiniert, denn allein dadurch vermag es seine individuelle Identität zu sichern. Es gibt eine große Vielfalt möglicher Typen von Seelengliedern und unbegrenzt viele Kombinationen zwischen ihnen, sodass im Endeffekt jedes Einzelwesen der Welt zu einem einzigartigen Exemplar wird.

Da jede Entität aus einer Vielzahl unterschiedlicher Komponenten zusammengesetzt ist, die sich in labilem Gleichgewicht befinden, fällt diese prekäre Einheit aber auch leicht auseinander: Seelenwanderung, Reinkarnation, Metempsychose und vor allem Besessenheit sind für analogische Ontologien typisch. Das Eindringen einer fremden Interiorität in ein anderes Wesen, und die vorübergehende oder dauernde Herrschaft über diese, sind in solchen Ontologien, im Gegensatz zu den animistischen, weit verbreitet. Tobsuchtsanfälle schreiben die Nahua dem Eindringen von Regengottheiten zu, das teyolia der im Kindbett gestorbenen Frauen kann von anderen Besitz ergreifen und in ihnen Lähmungen hervorrufen. Eine Reihe von Psychotechniken dienten bzw. dienen der Herbeiführung solcher Zustände: Bei der Einnahme von vergorenem Agavensaft (pulque) dringt eine der 400 Kaninchengottheiten in den Körper des Trinkers ein und überträgt die unterschiedlichsten Fähigkeiten oder Charaktereigenschaften auf ihn. Der Peyotl oder psychoaktive Pilze werden von Gottheiten bewohnt, die beim Konsum Besitz vom Körper des Menschen ergreifen. Im Unterschied dazu geht es bei ähnlichen Praktiken im Animismus (Ayahuasca) nicht darum, fremde Seelen oder Geister vom Körper Besitz ergreifen zu lassen, sondern darum, die Seele vom Joch des Körpers zu befreien und ihre Hellsicht zu steigern, damit sie mit ihresgleichen um so leichter kommunizieren kann (beispielsweise den Jagdtieren und ihren Seelen bzw. Schutzgeistern).

Descola beschränkt sich nicht darauf, nur die einzelnen Bewusstseinsformen zu analysieren und die habituellen Schemata zu beschreiben, mittels derer sie ihre jeweiligen Erfahrungen strukturieren, er wendet seine Analyseinstrumente in den weiteren Teilen seiner Untersuchung auch auf die sozialen Formen an, die sich aus den charakterisierten Bewusstseinseinstellungen ergeben und auf die unterschiedlichen Beziehungen zwischen Mensch und Natur bzw. Menschen und Nichtmenschen. Er spricht von den artgemäßen Kollektiven des Animismus, der asozialen Natur und den exklusiven Kollektiven des Naturalismus, den komplementären, hybriden Kollektiven des Totemismus und den inklusiven, hierarchischen Kollektiven des Analogismus. Unter der Überschrift »Ökologie der Beziehungen« charakterisiert er schließlich die unterschiedlichen Formen der Verbundenheit, die sich aus den beschriebenen Bewusstseinsformen ergeben, entlang der Begriffe Geben, Nehmen, Tauschen und Produzieren, Schützen, Übermitteln. Auf diesen weiterführenden Teil seiner Untersuchung ebenso ausführlich einzugehen, wie auf den ersten Teil, würde den Rahmen dieser Besprechung sprengen, sie seien aber allen Lesern anempfohlen, bergen sie doch eine Fülle erhellender Einsichten.

Auch wenn Descola keine Geschichte der Bewusstseinsformen schreibt, sondern ausdrücklich nur ihre Strukturen analysieren will, ist leicht zu erkennen, dass sie eine historische Reihe bilden: vom Totemismus über den Animismus und Analogismus führt der Weg zum Naturalismus  – und wieder zurück. Der Totemismus steht der Welt der schöpferischen Urbilder noch am nächsten, welche die Natur ebenso wie den Menschen durchdringen. Er unterscheidet am allerwenigsten zwischen ideellen und materiellen Aspekten der Welt, sondern erlebt die Ingredienzien des Kosmos als große Einheit, deren wohlunterschiedener, aber vollkommen integrierter Teil er ist. Der Animismus erkennt deutlich die Unterschiede der physischen Erscheinungen, betrachtet diese aber lediglich als sekundäre Phänomene und hält an der großen Einheit des Seelenlebens von Natur und Mensch fest. Der Analogismus beruht auf der unterscheidenden Arbeit des Verstandes, der die erlebte Einheit der Welt zertrümmert hat und nun nach einem Zusammenhang der disparaten Teile sucht. Er findet diesen im ideellen Band der Analogie, das aber in bedrohliche Nähe zur Abstraktion rückt. Der Naturalismus schließlich hat jeden Bezug zur Realität des Ideellen verloren und ordnet dieses sogar der alles umfassenden Physikalität unter. Der unausweichlich mit dieser Entwicklung verbundene Reduktionismus schafft eine neue soziale und natürliche Wirklichkeit, und wirkt, seinen eigenen Voraussetzungen widersprechend, sehr wohl geistig auf die Natur ein, nur um diese den simplifizierten Schemata seiner Abstraktionen zu unterwerfen. Der Naturalismus der Neuzeit, der einer autonomen Natur eine autonome Kultur gegenüberstellt, ist nicht das Endstadium einer Entwicklung, sondern nur eine Durchgangsstufe. Das aus der Vormundschaft der Traumwesen und Seelenwesen des Kosmos entlassene neuzeitliche Individuum muss sich mit jenem Seelischen und Geistigen wieder verbinden, das es hinter sich gelassen hat, um sich seine Autonomie zu erringen. Tut es dies nicht, versinkt es im Abyss eines weltgeschichtlichen Solipsismus und reißt die Natur aufgrund der zerstörerischen Dynamik, die es entfaltet, mit sich.

Philippe Descola, Jenseits von Natur und Kultur, suhrkamp taschenbuch wissenschaft, Frankfurt 2013, 638 S., 26,– Euro

Empfohlene Lektüre:

Lorenzo Ravagli, Aufstieg zum Mythos: Ein Weg zur Heilung der Seele in apokalyptischer Zeit

Lorenzo Ravagli, Prometheus und die Heilige Erde

2 Kommentare

  1. ich bedanke mich recht herzlich für diese Anregung und werde mich damit befassen
    gruß
    Hartwig ehlers

  2. Herzlichen Dank, Lorenzo, für diesen außerordentlich interessanten und anregenden Hinweis. Ein Buch, das ich mir umgehend besorgen werde…
    Gruß
    Nothart

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