Die Akasha-Chronik zwischen Geschichte und Mythos

Zuletzt aktualisiert am 22. April 2015.

Der Kosmos als Bild – Bilder des Kosmos

Der Kosmos als Bild – Bilder des Kosmos

Die Akasha-Chronik tritt das erste Mal in Steiners Werk in einer Reihe von Aufsätzen in Erscheinung, die zwischen Juli 1904 [1] und April 1908 [2] in der Zeitschrift »Luzifer-Gnosis« erschienen ist. Die Einleitung des ersten Aufsatzes [3] weist auf die Begrenztheit des Zugriffs der Historiografie auf die geschichtlichen Fakten hin. Steiner spricht nicht nur vom Problem der Zugänglichkeit der Quellen, sondern auch von der Abhängigkeit ihrer Deutung vom Bewusstsein des jeweiligen Historikers oder den jeweiligen (epochalen) Paradigmen der Geschichtswissenschaft. Er verweist also auf die objektiven, quellenmäßigen und die subjektiven, begrifflichen Bedingungen der Möglichkeit aller Historiographie.

Für die historische Forschung bieten schriftliche Überlieferungen eine scheinbar objektive Quelle, die bei näherer Betrachtung nicht unproblematisch ist, beruhen sie doch auf Einstellungen, Entschlüssen, Urteilen derer, die diese Quellen geschaffen haben. Schon ob die »ursprünglichen Quellen« die »wirkliche Geschichte« erzählen, ist fraglich. Die Auswahl der Quellen und ihre Gewichtung hängt vom Urteil und den Kenntnissen des einzelnen Historikers ab. Bezüge auf andere Texte sind stets Bezüge auf Urteile anderer, nicht auf ursprüngliche Wahrnehmungen.

Erst recht ist die Deutung der Quellen durch die Forschungshypothesen bedingt, von denen sich der einzelne Historiker leiten lässt und durch die hermeneutischen Kategorien, die er bei seiner Rekonstruktion von Geschichte anwendet. Ergebnis all dieser »Zufälligkeiten« sind die jeweils unterschiedlichen »Geschichtsbilder«, die im Verlauf der Geschichte aufeinander folgen, in denen stets »dieselbe Geschichte« auf unterschiedliche Art erzählt wird.

Die Entscheidung für bestimmte Forschungshypothesen und Deutungskategorien findet außerhalb der eigentlichen Geschichtsforschung statt und geht dieser immer schon voraus. Das ist der methodologische Selbstbegründungszirkel. Was Geschichte ist, kann nicht aus der Geschichte abgeleitet werden, da die Erkenntnis von Geschichte immer schon ein Wissen um ihr Wesen voraussetzt.

Diesen grundsätzlichen Problemen aller Geschichtserkenntnis begegnet Steiner durch den Hinweis auf eine Forschungsebene, die jenseits dieser Zufälligkeiten liegt, allerdings durchaus mit ihren eigenen Aporien behaftet ist. Steiner nennt sie »Akasha-Chronik«. Der Begriff dieser »Akasha-Chronik« wird von ihm in der einleitenden Passage des ersten Aufsatzes entwickelt.

Da alles Zeitliche aus dem Ewigen entspringt, kann, wer »das Ewige« wahrzunehmen vermag, aus dem ewigen Ursprung der Zeit das in der Zeit Entstandene erkennen. Das Ewige ist der Geist. Der Geist ist das formative Prinzip der Geschichte. Aus ihm gehen alle Erscheinungen hervor, die wir als geschichtlich, zeitlich bezeichnen können. Sowohl der Natur- als auch der Geistesgeschichte der Menschheit liegen diese formativen Kräfte zugrunde, die den sinnlichen Erscheinungen, dem Inhalt der Zeit, ihre Gestalt geben.

Die Grundlage der Akasha-Chronik: Steiners Philosophie der Zeit

Grundlage dieser Überlegungen bilden die philosophischen Erörterungen über die Idee und den Typus, wie sie in den »Grundlinien …« und in den »Einleitungen zu Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften« enthalten sind. Dass die formativen Kräfte der Geistes- und Kulturgeschichte ideeller Art sind, liegt auf der Hand, denn alle Äußerungen der spezifisch menschlichen Existenz gehen aus dem Bewusstseinsinhalt der handelnden Menschen hervor. Dieser Bewusstseinsinhalt schlägt sich in sinnlich wahrnehmbaren Zeugnissen nieder, zu denen nicht nur Texte, sondern auch die Gesamtheit der von Menschen erzeugten Artefakte gehört.

Diese ideellen Bildekräfte sind nicht zeitlich, sondern generieren das, was man als Zeit bezeichnet. Die zeitliche Aufeinanderfolge von sinnlichen Erscheinungen ist lediglich Ausdruck ihrer ideellen Abhängigkeit. »Die Zeit ist der sinnenfällige Ausdruck für den Umstand, dass die Tatsachen ihrem Inhalte nach voneinander in einer Folge abhängig sind. Hier sehen wir, dass die Zeit erst da auftritt, wo das Wesen einer Sache in die Erscheinung tritt Das sinnenfällige Weltbild ist die Summe sich metamorphosierender Wahmehmungsinhalte ohne eine zugrunde liegende Materie.« [4]

Das Beharrende im Fluss der Zeit ist das zeitlose, ideelle Wesen, das die Folge seiner essenziell voneinander abhängigen Erscheinungen aus sich generiert. Dass im Fall der Geistes- und Kulturgeschichte die Inhalte des menschlichen Bewusstseins wieder auf das ideelle Wesen zurückwirken, das die Gesetzmäßigkeit des Geschichtsverlaufs bestimmt, widerspricht diesem Gedanken nicht. Denn der Inhalt des menschlichen Bewusstseins ist selbst ideelles Wesen und bestimmt somit sich selbst. Aber dieses selbstbestimmte Bewusstsein ist seinerseits Ergebnis der Geschichte, ein Wesen, das in die Zeit eingetreten ist, diese ergreift und mit seiner Substanz zu durchdringen beginnt.

Das Wesen der Akasha-Chronik

Der fortbestehende, unvergängliche Ursprung der Geschichte wird von Steiner als »Akasha-Chronik« bezeichnet. Sie birgt das Vergangene in seiner unvergänglichen Form in sich. Im ewigen Geist ist es lebendig. Die Ausdrücke »Schrift« und »Chronik« sind Metaphern für »Erinnerung« und »Gedächtnis«. Die »Chronik« ist Metapher für ein kosmisches Gedächtnis, die »Schrift« Sprachbild für die Inhalte dieses Gedächtnisses. Die Schrift ist jene symbolische »Zeichenschrift«, in der die Inhalte des Eingeweihtenwissens tradiert werden, von der Steiner erstmals in »Wie erlangt man Erkenntnisse …« [5] als Inhalt der inspirativen Erkenntnis spricht.

So wie das menschliche Gedächtnis den wesentlichen Gehalt des vergangenen Lebens bewahrt, bewahrt das »Weltgedächtnis« den wesentlichen Gehalt des Weltgeschehens. So wie der individuelle Mensch die Inhalte seiner Erinnerung aus seinem Ätherleib abliest und sie in aktuelle Erinnerungsvorstellungen umformt, kann das inspirative Bewusstsein die Inhalte aus der Substanz des Weltenäthers ablesen und in aktuelle Vorstellungen übersetzen. Gemäß der Analogie müsste ein Wesen oder eine Gruppe von Wesenheiten vorausgesetzt werden, die mit ihren Ätherleibern oder den entsprechenden geistigen Wesensgliedern die Träger dieser kosmischen Erinnerung sind. 1923 hat Steiner die Wesensgrundlage dieser »Akasha-Chronik« angedeutet: sie ist im Bewusstsein der Throne zu sehen, jener Wesen, die seit Anbeginn der kosmischen Geschichte, seit dem »Alten Saturn«, mit der Evolution des Menschen, der Verzeitlichung seines ewigen, makrokosmischen Wesens verbunden sind [6] und deren sinnlicher Ausdruck heute die sogenannte Saturnsphäre ist. Diese ist aber auch im Menschen gegenwärtig, jeder einzelne Mensch trägt die Substanz der Throne, die »Akasha-Chronik«, wenn auch zunächst unbewusst, in sich. Da der menschliche Ätherleib aus der Substanz des Weltenäthers besteht, eine individualisierte, zeitlich begrenzte Verdichtung dieses Weltenäthers ist, trägt dieser Ätherleib nicht nur die individuellen Gedächtnisspuren in sich, sondern auch die Spuren des kosmischen Gedächtnisses.

Bereits in der »Geheimwissenschaft im Umriss« weist Steiner 1909 auf das Wesenhafte, nicht bloß Substantielle der Akasha-Chronik hin. Die geistigen Kräfte, die die körperliche Welt aus sich herausgetrieben haben, verschwinden – im Gegensatz zu ihrer vergänglichen Erscheinung – nicht, sie lassen vielmehr ihre Spuren, »ihre genauen Abbilder in der geistigen Grundlage der Welt zurück … Man kann diese unvergänglichen Spuren … die ›Akasha-Chronik‹ nennen, indem man als Akasha-Wesenheit das Geistig-Bleibende des Weltgeschehens im Gegensatz zu den vergänglichen Formen des Geschehens bezeichnet.« [7]

Der Zugang zur Chronik: Lesen, Entziffern, Übersetzen

Die geistige »Schau« führt über die »historische Quellenforschung« hinaus, weil sie sich nicht auf die zufälligen, sinnenfälligen Residuen bezieht, sondern auf das Wesentliche, das dem Geschichtlich-Zufälligen zugrunde liegt, auf die menschlichen und übermenschlichen Wesen, aus deren Absichten und Handeln Geschichte entsteht. Das »Lesen« der Akasha-Chronik ist ein hermeneutischer Prozess. Das »Entziffern« ist schwierig, »Übersetzungsfehler« sind möglich.

Die Schau will auch nicht »allumfassend« sein, sie erhebt keineswegs »Anspruch auf Totalität«. So spricht Steiner von den Grenzen dieser Schau und zwar im Kapitel »Einige notwendige Zwischenbemerkungen«. [8] Hier weist er darauf hin, dass dem Saturnzustand der Erde weitere vorangegangen seien, die sich in einem »Dunkel« verlieren, »in das geheimwissenschaftliche Forschung nicht hineinzusehen vermag«. [9] Dieses Motiv kehrt auch in der »Geheimwissenschaft im Umriss« [10] und im späteren Vortragswerk [11] wieder.

Die Erforschung der Akasha-Chronik ist laut Steiner mit Irrtumsmöglichkeiten behaftet. [12] Allerdings wohnt der geistigen Beobachtung eine größere Zuverlässigkeit inne, als der sinnlichen Beobachtung, verschiedene Eingeweihte lehrten »im Wesentlichen« über Geschichte und Vorgeschichte dasselbe und »in den Geheimschulen« herrsche seit Jahrtausenden »im Wesentlichen« Übereinstimmung. Hier wird auf die spezifische »scientific community«, auf die Diskursgemeinschaft verwiesen, in deren Erkenntnisgespräch die Forschungen Einzelner diskutiert und einer Prüfung unterzogen werden. Steiner deutet auf die Kontinuität spiritueller Geschichtserkenntnis, die sich bis in die Anfänge der Mythengeschichte zurückverfolgen lässt. Den möglichen Irrtümern des Einzelnen stehen die Zeugnisse von Jahrtausenden gegenüber, die – in unterschiedlichen symbolischen Formen – , im Wesentlichen dasselbe zum Ausdruck gebracht haben. Soweit die Erkenntnisse der »Eingeweihten« ihren Ausdruck in kosmogonischen und anthropogonischen Mythen oder religiösen Überlieferungen gefunden haben, kann eine vergleichende Mythenforschung und Religionswissenschaft die Hypothese dieser wesentlichen Übereinstimmung überprüfen.

Zu den methodischen Problemen der Akasha-Erkenntnis gehört aber nicht nur das Schauen, sondern auch das Lesen, Entziffern und Übersetzen: »Ist schon das Lesen von Dingen und Ereignissen, welche dem gegenwärtigen Zeitalter so fern liegen, nicht leicht, so bietet die Übersetzung des Geschauten und Entzifferten in die gegenwärtige Sprache fast unübersteigliche Hindernisse.« [13]

Also nicht nur die Deutung (Entzifferung) von Wahrnehmungen, sondern auch die Übersetzung des Gedeuteten stellt ein Problem dar. Es handelt sich nicht um die Übersetzung von einer gegenwärtigen in eine andere gegenwärtige Sprache, sondern von einer ungesprochenen, symbolischen Schrift oder Sprache in eine gegenwärtige. Das Übersetzungsproblem kann sich nicht nur auf den Wortlaut, es muss sich auch auf die Vorstellungsart, auf die Begriffsinhalte beziehen. Was Steiner in den Aufsätzen aus der »Akasha-Chronik« bietet, sind Übersetzungen von geistigen Wahrnehmungsinhalten in eine vollkommen andere Sprache und Bewusstseinsform, eine Vergegenständlichung mystischer Anschauungen in den Vorstellungsformen des zeitgenössischen Bewusstseins. Man kann auch hier den Vergleich mit mythischen Erzählungen aus anderen Epochen heranziehen: die Genesis, die kosmogonischen Mythen der Babylonier, der Ägypter, der indianischen oder afrikanischen Völker, sie alle enthalten symbolische Beschreibungen von Entwicklungsvorgängen in den Vorstellungs- und Sprachformen ihrer Zeit und ihrer jeweiligen Kultur, deren Quellen in den jeweiligen spezifischen Einblicken der Mythenschöpfer in die geistigen Grundlagen der Welt zu suchen sind, denn durch Diffusionismus sind die spektakulären Übereinstimmungen der Mythen nicht zu erklären. [14]

Später betont Steiner, er habe sich um eine »allgemeinverständliche Darstellungsart« bemüht. [15] Er versuchte also, »Engramme« des Weltgedächtnisses, die in einer zeichenhaften Form vorliegen, in eine Sprache zu übersetzen, die seiner Zeit verständlich sein sollte. Was bedeutet es, wenn Steiner von fast »unübersteiglichen Hindernissen« der Übersetzung spricht? Müssten seine Darstellungen, um richtig verstanden zu werden, nicht eigentlich auf den »Urtext« der Akasha-Chronik zurückbezogen, in diesen zurückübersetzt werden? Eine anthroposophische Hermeneutik müsste fragen, was alles an den Ausdrucksformen für die »Einzeichnungen der Akasha-Chronik« der Übersetzung in die habituelle Begriffs- und Umgangssprache zuzurechnen und worin der substantielle Gehalt besteht, der durch diese Sprachformen zum Ausdruck gebracht wird. Eine solche Hermeneutik hätte auch die Vorstellungs- und Begriffsformen zu untersuchen, die der begrifflichen Umgangssprache der Zeit angehören, in die Steiner die genannten »Einzeichnungen« übersetzt hat. Dies gilt sowohl für die damaligen naturwissenschaftlichen als auch für die theosophischen Sprach- und Denkformen.

Prüfung und Verifizierung

Der Verfasser der Aufsätze »Aus der Akasha-Chronik« betont, ihm sei »jede Korrektur, die auf Sachkenntnis« beruhe, »lieb.«  [16] Ohne entsprechende Sachkenntnis läuft also, nach Steiners Auffassung, jeder Kritikversuch ins Leere. Was ist aber unter Sachkenntnis zu verstehen? Ist damit nur die Kenntnis gemeint, die sich durch eine vergleichbare Geistesforschung gewinnen lässt oder auch jede andere denkbare Sachkenntnis, die möglicherweise aus anderen Quellen geschöpft ist?

Die Vorrede zur »Geheimwissenschaft im Umriss« von 1909 bemerkt zu dieser Frage, das »vernunftgemäße Denken« könne und solle »in vollem Maß« »zum Probierstein des Dargestellten werden«. Wer auf den Inhalt der »Geheimwissenschaft« die vernunftgemäße Prüfung ebenso anwende, »wie sie sachgemäß zum Beispiel auf die Tatsachen der Naturwissenschaft angewendet wird«, der werde entscheiden können, »was die Vernunft bei solcher Prüfung sagt«. Steiner wünscht sich Leser, die »sich bemühen, das Mitgeteilte an den Erkenntnissen der eigenen Seele und an den Erfahrungen des eigenen Lebens zu prüfen.« [17]

Diese Äußerungen, denen viele gleichlautende aus dem Vortragswerk zur Seite gestellt werden könnten, legitimieren und fordern sachgemäße Prüfung durch die Erkenntnisse und Erfahrungen des »Alltagsbewusstseins«. »Sachgemäße Prüfung« kann jedoch nur heißen, dass diese unter Berücksichtigung der methodischen Voraussetzungen und des begrifflichen Rahmens der Geisteswissenschaft zu erfolgen hat, wie dies auch in den Naturwissenschaften der Fall ist. Die Prüfung ist also nicht voraussetzungslos. Prüfung ist aber in keiner Wissenschaft voraussetzungslos. Sie kann nur unter Anerkennung der methodischen Grenzen der jeweils angewandten Prüfungsmethoden erfolgen. Steiner behauptet deswegen auch nicht, der Inhalt der »Geheimwissenschaft« sei durch die Methoden der Naturwissenschaft überprüfbar, sondern er spricht von einer vernunftgemäßen Prüfung, derselben, die auch auf die Tatsachen der Naturwissenschaft angewandt werde.

Manche Inhalte der »Geheimwissenschaft« können durch die Lebenserfahrung, manche durch die Erkenntnisse der eigenen Seele geprüft werden, alle jedoch können zweifellos einer logischen Plausibilitätsprüfung unterzogen werden. Zu einer solchen Plausibilitätsprüfung können auch Texte beitragen, die auf vergleichbaren methodischen Voraussetzungen beruhen, also Texte der Religions- und Mythengeschichte, der esoterischen Traditionen, die aus Erkenntnisquellen hervorgegangen sind, auf die auch Steiner sich beruft.

Der Mythos als Erkenntnisquelle

Die mythischen Überlieferungen verweisen auf vorschriftliche Zeiträume der Kulturentwicklung, die sich jedoch nicht genau datieren lassen. Die üblichen Methoden der Geschichtswissenschaft geraten angesichts des Mythos selbst an ihre Grenze. Zwischen den Aussagen über Funde, die durch naturwissenschaftliche Hilfsdisziplinen der Geschichte erforschbar sind und solchen über den geistigen Gehalt vorschriftlicher Geschichtsräume klafft, je weiter diese zurückliegen, ein um so größerer Abgrund. Artefakte wie Steinwerkzeuge, Figurinen, Bestattungsformen und Grabbeigaben, Gebäude, Piktogramme und Malereien bedürfen der Interpretation, sofern sie Aufschluss über den geistigen Inhalt, die Erlebnisse und Bewusstseinsformen ihrer Urheber geben sollen. Solche Deutungen gehen oft weit auseinander. [18]

In diesem geschichtsräumlichen Deutungshorizont kommt dem Mythos eine nicht zu unterschätzende Bedeutung zu, denn er zeugt von Bewusstseinformen, die der Verschriftlichung vorausgegangen sind. Weil die Bewusstseinsinhalte, die geistigen Erlebnisse der Vormenschheit nicht physisch gegenständlich sind, heißt dies nicht, dass sie nicht wirklich waren. Ebensowenig, wie sich die Auferstehung Jesu historisch-kritisch oder naturwissenschaftlich beweisen oder widerlegen lässt, lässt sich die Existenz der Bewusstseinsinhalte der Angehörigen der urindischen Kulturepoche beweisen oder widerlegen. Diese Begrenztheit der Methoden der Geschichtswissenschaft ist aber nicht dem Mythos anzulasten. Vielmehr ist zu fragen, ob nicht die Geschichts»wissenschaft« selbst über die ihr inhärenten Grenzen hinausschreitet, wenn sie Aussagen über Weltinhalte macht, die sie mit ihren Methoden gar nicht beurteilen kann. Die Möglichkeit oder Unmöglichkeit anderer Bewusstseinsformen oder mystischer Erkenntniszugänge zu Weltinhalten, mit denen sie sich unter Anwendung ihrer jeweiligen Methoden auch befasst, vermag sie ohnehin nicht zu beurteilen. Der Mythos gehört nicht der Welt der historisch-kritischen Forschung an. Die Aussage, etwas sei bloßer Mythos, ist trivial. Der Mythos ist nicht nur selbst Teil der Geschichte, er ist auch in eminentem Maß geschichtsbildend. Er ist wirklich, weil er wirksam ist. Er ist aus einer anderen Bewusstseinsform entsprungen, deren Wirklichkeit ihre eigene Rationalität besitzt, die mit jener der historischen Quellenkritik inkompatibel ist.  [19]

Die Akasha-Chronik in Mythos und Mystik Indiens

Otto Willmann schildert in seinem von Steiner sehr geschätzten Werk über die »Geschichte des Idealismus«, [20] die vedischen Vorstellungen über das Schöpfungswort oder die göttliche Stimme, die eine Manifestation der Urgottheit ist. Die göttliche Vaç ist in den Veden, den heiligen Ritualtexten, die auf die Rischis, die Urpriester zurück geführt werden, ausgebreitet. Willmann zitiert seinerseits Paul Deussens Werk über das »System des Vedanta« aus dem Jahr 1883: »Das Vedawort mit seinem ganzen Komplex von Vorstellungen über die Welt und ihre Verhältnisse bildet eine ewige, allen Untergang überdauernde Richtschnur für den Schöpfer. Derselbe ›erinnert sich‹, indem er die Welten schafft, an die Worte des Veda, und somit geht die Welt mit ihren konstanten Formen … aus dem Vedawort hervor.« [21] Der Veda »wird von Brahman ›ausgehaucht‹ und von den Verfassern (rischis) nur ›geschaut‹. Die Welt mitsamt den Göttern vergeht, der Veda aber ist ewig … und besteht im Geiste des Brahman fort; entsprechend den Worten des Veda, welche die ewigen Urbilder der Dinge enthalten, werden zu Anfang jeder Weltperiode die Götter, Menschen, Tiere usw. von Brahman geschaffen, worauf denselben der Veda durch Exspiration [Ausatmung] offenbart wird.« [22] Der Äther, Akasha, ist als »Träger« des Wortes, des Veda, ebenso ewig wie das Wort selbst, ebenso alldurchdringend und allgegenwärtig wie dieses. Der Äther ist Träger des präexistenten Schöpfungswortes, das die Urbilder aller Dinge in sich enthält. Man kann ihn als Träger des Schöpfungsgedächtnisses ansprechen. Dieses Gedächtnis ist mit dem Bewusstsein der höchsten Gottheit identisch, das durch die gesamte Schöpfung ausgebreitet ist. Der Akasha ist das Bewusstsein Brahmas, in dem die gesamte Schöpfung in urbildlicher, geistiger Gestalt präexistiert. Dieser Raum ist jedoch nicht nur ein äußerer Raum, sondern findet sich auch im Innersten der Menschenseele, die damit Zugang zu dem präexistenten Wort des Schöpfers, zu seinem Gedächtnis hat: »Wahrlich, so groß wie dieser Weltraum (akasha) ist dieser Raum innen im Herzen; in ihm sind Himmel und Erde beschlossen, Feuer und Wind, Sonne und Mond, Blitz und Sterne; und was einer hienieden besitzt und was er nicht besitzt, das ist alles darin beschlossen«, lehrt der Veda. [23]

In der mystischen Erkenntnislehre des Buddhismus wird der Akasha zu den spirituellen Wahrnehmungsorganen des Menschen, den sogenannten Chakren, in Beziehung gesetzt. Der Mensch selbst trägt als Mikrokosmos den ganzen Makrokosmos in sich, er trägt in seinen spirituellen Erkenntnisorganen nicht nur dessen Struktur, sondern auch dessen zeitliche Dimension, die Geschichte in sich. Lama Anagarika Govinda schreibt in seinem Buch über die »Grundlagen tibetischer Mystik«: »Alles Geformte und Ausgedehnte, in räumliche Erscheinung Tretende offenbart die Natur des Akasha. … Akasha stellt sich in seiner gröbsten Form als Materie dar; in seinen feinsten Formen geht er unmerklich ins Energetische über … Die psychischen Kraftzentren des menschlichen Körpers und ihre Organe entsprechen … den Modifikationen des Akasha … Die vier unteren Kraftzentren repräsentieren in aufsteigender Folge die immer feiner werdenden Aspekte des Akasha in Form der ›Elemente‹ Erde, Wasser, Feuer und Luft … Die höchsten Zentren entsprechen jenen Formen des Akasha, die jenseits der groben Elemente liegen und höhere Raumdimensionen darstellen, in denen schließlich die Qualität des Lichtes identisch wird mit der des Raumes und damit … in die Region der höheren Bewusstheit übergeht. … In den sieben Zentren des menschlichen Körpers ist sozusagen die elementare Struktur und Dimensionalität des Universums dargestellt … Dass die Formpotenzen des ganzen Universums in den Zentren latent vorhanden sind, wird dadurch angedeutet, dass sämtliche Laute des Sanskrit-Alphabets in Form von Keimsilben auf die sieben Zentren verteilt werden.« [24]

Die Akasha-Chronik im mesopotamischen Mythos

Im mesopotamischen Mythenkreis existiert die Vorstellung der »Schicksalstafeln«. In diesem Mythenkreis symbolisiert der nach den vier Himmelsrichtungen orientierte Zikkurat den kosmischen Achsenberg, über dem im höchsten Himmel, umgeben von einer glänzenden Götterschar, ein oberster Gott sitzt. In diesem höchsten Himmel werden das Kraut der Geburt und das Brot und Wasser der Unsterblichkeit aufbewahrt. Unter dieser Sphäre thront im Luftraum der Gott der Königsherrschaft (Enlil, Bel-Marduk, Assur). An seinem Hof voller leuchtender Götter werden Jahr für Jahr die Schicksalstafeln beschrieben, auf denen die vergangenen und künftigen Ereignisse verzeichnet sind. Unter der Sphäre dieses Gottes laufen die sieben Planetensphären um, die zur Zeit Assyriens, zwischen 1100 und 630 v. Chr. durch die sieben Terassenstockwerke des Zikkurat in unterschiedlichen Farben und Materialien abgebildet wurden. Die babylonische Mythologie kennt eine Region zwischen den sieben Planetensphären und den Fixsternen, in der die Schicksalstafeln aufbewahrt werden, in die alle irdischen Geschehnisse eingetragen und die künftigen Ereignisse eingezeichnet sind. Marduk eignet sich in seinem Streit mit Tiamat und ihrem Kriegsherrn Kingu diese Schicksalstafeln an und wird zum Verwalter der irdischen und himmlischen Geschicke. Die Schicksalstafeln sind eine mythische Parallele zur »Akasha-Chronik«.

Die Akasha-Chronik in der jüdischen Mystik

Andere Parallelen finden sich in der Merkaba-Mystik des ersten nachchristlichen Jahrtausends im Judentum. Hier schildert der Offenbarungsengel Metatron Rabbi Ismael den kosmischen Schleier oder Vorhang vor dem Thron Gottes, der diesen von den Engelscharen, die die planetarische Welt bevölkern, trennt. Die Kunde von einem solchen Vorhang lässt sich bereits in agadischen Redewendungen im 2. Jahrhundert nach Christus nachweisen. Von der Existenz solcher Vorhänge in der Lichtwelt der Äonen berichtet auch das in koptischer Sprache erhaltene gnostische Werk »Pistis Sophia«, auf das Steiner sich gelegentlich in seinen Vorträgen bezieht. [25] Nach dem Henochbuch enthält der kosmische Vorhang die Urbilder aller Dinge, die seit den Tagen der Schöpfung in der himmlischen Welt präexistieren. Alle Generationen und ihre Taten auf Erden sind in diesen Vorhang eingewoben. Wer ihn schaut, dringt damit zugleich in das Geheimnis der messianischen Erlösung ein. Der Verlauf der Geschichte, die Kämpfe der Endzeit und die Taten des Messias sind in den Einzeichnungen dieses Vorhangs bereits präformiert. Nach Scholem ist diese Verbindung zwischen Merkaba- und Hechaloth-Mystik mit der Vision des messianischen Endes, mit Apokalyptik und Eschatologie, sehr alt. Sie findet sich im Buch Henoch, in der Abraham-Apokalypse und beherrscht noch die fünf bis acht Jahrhunderte später entstandenen verschiedenen Hechaloth-Traktate. [26] Auch im deutschen Chassidismus des Mittelalters waren Kenntnisse oder Theorien über diesen Vorhang verbreitet. Scholem schreibt darüber in seinem Werk »Die jüdische Mystik«: »Alles Untere, auch das Leblose, hat sein Urbild … Die Urbilder sind in den Vorhang vor dem Thron der Glorie eingewirkt oder eingezeichnet. Nach der Meinung der Chassidim ist dies ein Vorhang aus blauem Feuer, der den Thron von allen Seiten, außer von Westen her, umgibt. Die Urbilder stellen eine besondere Sphäre der unkörperlichen, gottnahen Existenz dar. In anderen Zusammenhängen wird geradezu von einem okkulten ›Buch der Urbilder‹ [kursiv L.R.] gesprochen. Das Urbild ist der tiefste Quell der verborgenen Seelentätigkeit. Die Schicksale sind in den Urbildern schon enthalten, ja sogar jede Veränderung im Zustand eines Wesens hat ihr eigenes Urbild. Nicht nur die Engel und Dämonen schöpfen ihr Vorwissen vom menschlichen Schicksal aus der Wahrnehmung dieser Urbilder, sondern auch der Prophet wird mit ihrer Schau begnadet. [kursiv L.R.] Von Moses wird ausführlich berichtet, dass ihm Gott die Urbilder gezeigt habe. Sogar Schuld und Verdienst haben, wie dunkel angedeutet wird, ›Zeichen‹ [kursiv L.R.] in den Urbildern.« [27]

Auch Steiner hätte die Existenz dieser Lehren über okkulte Bücher des Himmels, in denen die Geschichte der Vergangenheit und Zukunft verzeichnet ist, aus seiner Lektüre von Otto Willmanns »Geschichte des Idealismus« vertraut sein können, denn Willmann zitiert aus Molitors »Philosophie der Geschichte« eine Stelle, die von diesen Lehren handelt: »Ein Ausspruch in Esarah Maimeroth lautet: ›Das allgemeine Buch, worein alle Handlungen des Menschen … eingeschrieben werden, ist … der saphirartige umkreisende Äther. In ihn graben sich alle einzelnen Bewegungen des Menschen ein, sowohl die Blicke des Auges als die Öffnung des Mundes zum Guten wie zum Bösen … Sogleich entsteht eine Auslegung der guten Werke als Kleinode vor dem Höchstgebenedeiten in dem Äther des Paradieses. Denn der Äther des Paradieses geht nach außen und kleidet sich in den Äther dieser Welt, um alle guten Taten in sich aufzunehmen bis zum Tage des Gerichts.‹« [28]

All diese mythischen und mystischen Traditionen sind deutliche Indizien dafür, dass die mystische Erkenntnis, die sowohl den Mythen als auch der historischen Gnosis und der jüdischen Überlieferung zugrunde liegt, immer schon die Anschauung von einer »geistigen Grundlage der Welt« besessen hat, in der die Geschichte des Vergänglichen wurzelt.

Anmerkungen

[1] Heft Nr. 14.

[2] Heft Nr. 35.

[3] GA 11, 1969, S. 21-26.

[4] GA 1, Kap. XVI, Goethe als Denker und Forscher, 1977, S. 273-274.

[5] Luzifer-Gnosis, Heft 17, Oktober 1904.

[6] GA 228, 27.7.1923.

[7] GA 13, 1977, S. 142.

[8] GA 11, 1969, S. 129 ff.

[9] GA 11, 1969, S. 131.

[10] GA 13, 1977, S. 170-171

[11] Zum Beispiel in GA 132, 31.10.1911, Dornach 1999, S. 17. Hier ist die Rede davon, die Wahrnehmungssphäre sei vor der Geburt der Zeit auf dem Alten Saturn für den Hellseher wie »mit Brettern verschlagen«, »als ob das Gehirn einfrieren« würde.

[12] »Um einem möglichen Irrtum vorzubeugen, sei hier gleich gesagt, dass auch der geistigen Anschauung keine Unfehlbarkeit innewohnt. Auch diese Anschauung kann sich täuschen, kann ungenau, schief, verkehrt sein.« GA 11, 1969, S. 23.

[13] GA 11, 1969, S. 58.

[14] Von unterschiedlichen Standpunkten aus befassen sich mit diesen Übereinstimmungen James George Frazer, Der goldene Zweig, Hamburg 1989, Mircea Eliade, Geschichte der religösen Ideen Freiburg 1978 und Joseph Campbell, Die Masken Gottes, München 1991.

[15] GA 11, 1969, S. 100.

[16] GA 11, 1969, S. 100.

[17] GA 13, 1977, S. 15.

[18] Konkurrierende Deutungen kultureller Artefakte findet man auf vielen Gebieten der Archäologie, von den Höhlenmalereieren bis zu den frühen Hochkulturen. Selbst die Datierung bedeutender architektonischer Ensembles wie der Tempelstadt Teotihuacan oder der Sphinx und der drei großen Pyramiden in Gizeh ist umstritten. Siehe dazu insbesondere: Graham Hancock: Fingerprints of the Gods, New York 1995 und Robert Bauval, Graham Hancock: Keeper of Genesis. A Quest for the hidden Legacy of Mankind, London 1996.

[19] Eine kosmologische Deutung der Sprache des Mythos schlagen vor: Giorgio de Santillana und Helga von Dechend, Hamlets Mill, Boston 1969.

[20] Otto Willmann, Geschichte des Idealismus, Werke, Band 8-1, Aalen 1973.

[21] Das Gedankenmotiv der Erinnerung des Schöpfers, aus dem die Schöpfung hervorgeht, findet sich auch in Steiners Deutungen des Schöpfungsmythos in seinen Vorträgen über die biblische Schöpfungsgeschichte, GA 122. Hier ist vom produktiven Sinnen der Elohim die Rede, das mit einem Aufwachen aus dem Schlaf verglichen wird, aus dem die gegenwärtige Erde Gestalt annimmt. Vortrag vom 17.8.1910.

[22] Otto Willmann, Geschichte des Idealismus, Werke 8-1, S. 71.

[23] Frauwallner, Geschichte der indischen Philosophie, Band I, Salzburg 1953, S. 64.

[24] Lama Anagarika Govinda, Grundlagen tibetischer Mystik, S. 158-163. Ähnlich wie die tibetische Mystik aus den Keimsilben, leitet die Kabbala die Schöpfung aus den Buchstaben des Alphabetes, des Schöpfungswortes ab, das Gott »sprach«.

[25] Siehe z.B. GA 165, 27.12.1915.

[26] Gershom Scholem, Die jüdische Mystik, Frankfurt a. M., 1967, S. 77/78.

[27] Gershom Scholem, Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, Frankfurt a. M., 1967, S. 127.

[28] Franz Jos. Molitor, »Philosophie der Geschichte III«, 1839, S. 705 nach Otto Willmann, »Geschichte des Idealismus I«, Werke, Bd. 8, 1973, S. 136. Nicht zu vergessen ist auch das »Buch des Lebens«, von dem die Apokalypse des Johannes spricht, die selbst eine symbolische Form der Akasha-Chronik darstellt.

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