Geistesforschung als Wissenschaft – III – Mittel und Methoden – die Imagination und ihre Organe

Zuletzt aktualisiert am 23. Mai 2019.

Die Rose gibt den Bienen Honig

Die Rose gibt den Bienen Honig

Unter »Einweihung« versteht Steiner, wie er im Kapitel »Die Erkenntnis der höheren Welten« der »Geheimwissenschaft …« erläutert, »die Erweckung der Seele zu einem höheren Bewusstseinszustand«. Der Begriff eines solchen »höheren Bewusstseinszustandes« wird hypothetisch eingeführt. Gegenwärtig kennt der Mensch drei Bewusstseinszustände: Wachen, Schlafen und Träumen.

Der Schlafzustand ist durch den Wegfall sämtlicher Gegenstände des Wachbewusstseins, ja dieses Wachbewusstseins selbst gekennzeichnet. Man stelle sich nun vor, der Mensch würde während des Schlafs erwachen, aber nicht für die Welt der Sinne, sondern für jene andere Welt, in der die Seele sich während des Schlafs aufhält. Vermöchte die Seele etwas zu erleben, obwohl alle Sinneswirkungen und Erinnerungen an solche in ihr ausgelöscht sind, stünde sie möglicherweise einer vollkommen neuen Welt gegenüber. (Es handelt sich um die Welt jener Bildeprozesse und Wesenswirkungen, die der Realität des Alltagsbewusstseins zugrunde liegt, für dieses aber nicht wahrnehmbar ist). Man könnte diese Hypothese auch anders formulieren: die Seele müsste die Kraft erlangen, ihr Bewusstsein aufrecht zu erhalten, obwohl sie im Schlaf versinkt. Kräfte erlangt der Mensch, indem er sie übt. Es käme also darauf an, solche Übungstechniken zu entwickeln bzw. anzuwenden, die ebendiese Kraft in der Seele ausbilden. Solche Übungstechniken versteht die Geisteswissenschaft als Methoden, die zum Auf- und Ausbau ihrer Erkenntnismittel führen.

Die grundlegendste dieser Übungstechniken ist die Versenkung und zwar die Versenkung in sinnbildliche (symbolische) Vorstellungen. Im Unterschied zu den Erinnerungsvorstellungen des gewöhnlichen Bewusstseins stellen diese keine Repräsentationen äußerer Sinneswahrnehmungen dar, sondern müssen erst durch die Seele selbst aus Bestandteilen solcher Repräsentationen gebildet werden. Sie stehen den Phantasievorstellungen nahe, unterscheiden sich von diesen aber durch die Art ihrer Entstehung, ihres Aufbaus und ihrer Verwendung. Bereits die Erzeugung des Gegenstandes der Versenkung verlangt der Seele eine Aktivität ab, die über das Maß ihrer alltäglichen Kraftentfaltung hinausgeht. Bei der Geistesschulung müssen alle Kräfte der Seele, die für gewöhnlich auf vieles verstreut sind, in einem Mittelpunkt gesammelt werden. Und diese Verdichtung der Kräfte, die Versenkung in einen einzigen Inhalt, geschieht aus freiem Willen. Auf den Inhalt der Vorstellungen kommt es nicht an, sondern darauf, dass dieser Inhalt von der Seele frei erzeugt wird.

Den Aufbau einer solchen symbolischen Vorstellung demonstriert Steiner am Beispiel der Rosenkreuzmeditation. Zu diesem Aufbau gehören vorbereitende gedankliche Überlegungen, die von gewissen Gefühlserlebnissen begleitet werden. Man vergleiche Mensch und Pflanze. Die Pflanze ist an den Boden gefesselt, der Mensch vermag sich frei zu bewegen. Letzterer ist aufgrund dieser Freiheit vollkommener als die Pflanze. Gleichzeitig hat er sich diese Freiheit aber durch den Verlust der Leidenschaftslosigkeit erkauft, die das Leben der Pflanze auszeichnet. Sie ist willenlos ihren Wachstumsgesetzen hingegeben und wendet ihre Blüte selbstlos der Sonne zu. Nun stelle man sich den grünen Saft der Pflanze als Ausdruck ihrer Leidenschaftslosigkeit vor, das Blut, das in den Adern des Menschen fließt, als Ausdruck seiner Begierden und Leidenschaften. Man stelle sich vor, dass der Mensch imstande ist, seine Begierden und Leidenschaften zu läutern. »Das Niedere« in diesen Begierden und Leidenschaften wird vernichtet, und diese werden auf einer höheren Stufe wiedergeboren. Das Blut des Menschen erscheint danach als Ausdruck der geläuterten Seele. Das Rot der Rosenblüte kann nun als Sinnbild dieser geläuterten Leidenschaften vorgestellt werden.

In einem Text über die »heiligen Wissenschaften der Griechen« wählte der Neuplatoniker Proklus einen etwas anderen Weg zur Erzeugung einer solchen symbolischen Vorstellung. »Wie wir in der Dialektik der Liebe«, schrieb er, »von der Schönheit der Sinnendinge zum einzigartigen Prinzip der Schönheit und der Ideen aufsteigen, so gehen die Adepten der heiligen Wissenschaft von den Erscheinungen der Dinge und den Sympathien aus, die sie zwischen einander und den unsichtbaren Kräften offenbaren. Indem sie beobachteten, dass alles miteinander zusammenhängt, schufen sie die Grundlage einer heiligen Wissenschaft, die den Erscheinungen Staunen entgegenbrachte, und in ihnen sowohl die letzten Wirkungen als auch die ersten Ursachen bewunderte; Im Himmel die irdischen Dinge nach ihren Ursachen und in einer himmlischen Form, auf Erden die himmlischen Dinge in irdischer Form.

Was für einen anderen Grund könnten wir anführen, dass die Sonnenblume sich in ihrer Bewegung an der Sonne ausrichtet und die Pflanzen, die sich nach dem Mond richten, an eben diesem, um auf diese Weise innerhalb ihrer Möglichkeiten eine Prozession zu bilden, die den Fackeln des Himmels folgt? Denn in Wahrheit betet jedes Ding der Stufe entsprechend, auf der es in der Natur steht, und singt den Lobgesang des Anführers der himmlischen Reihe, der es angehört: einen geistigen oder gedanklichen oder sinnlichen Lobgesang; denn die Sonnenblume bewegt sich, soweit ihre Möglichkeit der Bewegung reicht, und in ihrer kreisförmigen Bewegung könnten wir – wenn wir den Klang der Luft, die von ihrer Bewegung berührt wird, zu hören vermöchten –  ihren Lobgesang auf ihren König vernehmen, soweit es einer Pflanze möglich ist, zu singen«. (Marsilio Ficino übersetzte diesen Text im Jahr 1641).

Beim Aufbau solcher symbolischer Vorstellungen kommt es nun laut Steiner nicht nur auf die Vorstellungsinhalte an. Ebenso wichtig, wie die gedanklichen Überlegungen sind die Gefühle, die diese Überlegungen begleiten: die »beseligende Empfindung« angesichts der Leidenschaftslosigkeit der Pflanze, das »ernste Gefühl«, das die Einsicht hervorruft, dass der Mensch seine Freiheit durch den Verlust dieser Leidenschaftslosigkeit erkauft hat, das »befreiende Glück«, das die Vorstellung hervorruft, das Blut sei Ausdruck geläuterter Leidenschaften.

Wurden diese Gedanken- und Gefühlserlebnisse genügend durchlebt, können sie in einer einzigen Vorstellung zusammengezogen werden: ein schwarzes Kreuz stelle nunmehr das »vernichtete Niedere« der Triebe und Leidenschaften dar, sieben strahlende rote Rosen, die kreisförmig um den Schnittpunkt der Kreuzbalken angeordnet sind, werden zum Ausdruck für die geläuterten Leidenschaften des Menschen. Und in diese symbolische Vorstellung soll sich der Übende versenken, indem er alle anderen Vorstellungen oder Seelenerlebnisse zurückdrängt. Je länger und tiefer die Versenkung, um so größer die Wirkung.

Neben der Versenkung in solche sinnbildlichen Vorstellungen sind auch Versenkungen in »Worte, Sätze oder Formeln« oder in Gefühle möglich, die durch reine Ideen, wie z.B. die »sittliche Idee der Herzensgüte« angeregt werden. Entscheidend bei all diesen Übungstechniken ist, dass sie darauf abzielen, die Seele »von der Sinneswahrnehmung loszureißen« und sie zu einer sinnlichkeitsfreien Tätigkeit anzuregen, die als solche zur Entfaltung schlummernder Fähigkeiten führt.

Die erste Stufe übersinnlicher Erkenntnis, die durch den hiermit angedeuteten Übungsweg erreicht wird, bezeichnet Steiner als »Imagination«. Imaginationen, so Steiner, sind keine »eingebildeten Vorstellungen«, sondern »Erkenntnisse«, »die durch einen übersinnlichen Bewusstseinszustand der Seele zustande kommen«. In diesem Bewusstseinszustand werden »geistige Tatsachen und Wesenheiten« wahrgenommen. Da dieser Bewusstseinszustand durch Versenkung in »Sinnbilder oder Imaginationen« erzeugt wird, kann die Welt, die sich diesem Bewusstseinszustand erschließt, als »imaginative Welt« bezeichnet werden und die Erkenntnis, die sie ermöglicht, als »imaginative Erkenntnis«. An diesen Bemerkungen Steiners ist hervorzuheben, dass er Imaginationen als »Erkenntnisse« bezeichnet und nicht etwa als »Einbildungen«, dass sie Wahrnehmungen geistiger »Tatsachen und Wesenheiten« vermitteln, also keine Phantasmagorien oder Allegorien, und dass sie den Zugang zu einer anderen »Welt«, zu einer anderen Ebene oder Dimension der Wirklichkeit erschließen, die gewiss nicht weniger wirklich ist, als die des gewöhnlichen Bewusstseins.

Die Meditation (Versenkung) ist dem Schlafzustand vergleichbar, weil in ihr die Sinne zum Schweigen gebracht werden, sie unterscheidet sich von ihm, weil das Bewusstsein nicht schwindet, sondern aufrecht erhalten wird. Durch die Meditation »löst« sich die Seele »vom Leib los« wie im Schlaf, geht aber nicht in Bewusstlosigkeit über, sondern erlebt Inhalte, deren Erscheinen sie durch ihre erhöhte Aktivität erst ermöglicht. In diesem Zustand tritt die Seele »ihrer wahren inneren Wesenheit« gegenüber, während sie im leibgestützten Bewusstsein nicht sich selbst, sondern nur »eine Art Spiegelbild« erlebt, das »die Vorgänge des Leibes« von ihr erzeugen. Der Inhalt des gewöhnlichen Selbstbewusstseins ist also ein Spiegelbild, das durch den Spiegel des Leibes geschaffen wird, während das Wesen, das sich spiegelt, substantiell nicht in diesen Spiegel eingeht. Man erinnere sich an die Ausführungen Steiners in »Die Stufen der höheren Erkenntnis« über die Imagination, die diesem Bewusstseinszustand die Kategorie der »Bilder« zugewiesen haben. Imaginationen waren dort Bilder, durch die geistig Wesenhaftes zum Ausdruck kam. Hier nun wird eine weitere Dimension des Bildbegriffs eingeführt: der Inhalt des gewöhnlichen Selbstbewusstseins ist ein Spiegelbild jenes imaginativen Bildes, in dem die Seele ihr geistiges Wesen erschaut. So wie sich das geistige Wesen der Seele in der imaginativen Welt, in ihrem imaginativen Bild spiegelt, spiegelt sich dieses imaginative Bild im Leib und nimmt durch diese Spiegelung eine »physische Form« an, eine Form, die durch den physischen Leib bedingt ist, und als gewöhnliches Selbstbewusstsein erscheint. Letzteres ist also, seinem Inhalt nach, Bild vom Bild, Spiegelbild eines Spiegelbildes. Das imaginative Bild ist jenes Antlitz der Seele, das sie der Engelwelt zuwendet, sie ist das bildhafte Antlitz, das die Engelwelt der Seele zuwendet, das physische Abbild dieses Bildes ist jenes Antlitz, das sie der sinnlich-stofflichen Welt, das die stoffliche Welt ihr zuwendet.

Steiner präzisiert im weiteren Verlauf seiner Ausführungen, dass die Sinnbilder, in die sich der Meditierende versenkt, die er zuvor als »Imaginationen« bezeichnet hatte (durch »Versenkung in Sinnbilder oder Imaginationen« erlangt der Übende den imaginativen Bewusstseinszustand), noch keine Wahrnehmungen geistiger Tatsachen darstellen. Das ist konsequent, handelt es sich doch lediglich um symbolische Bilder, die von der Seele geschaffen werden, um als Gegenstände der Versenkung ihre Kräfte zu sammeln und zu steigern. Sie dienen der Seele dazu, sich von der Sinneswahrnehmung und vom »Gehirninstrument« »loszureißen«, an das »zunächst« auch ihr Verstand gebunden ist.

Gelingt ihr dies, wird sie tatsächlich frei von jenen physischen Organen, die das Spiegelbild des gewöhnlichen Selbstbewusstseins bewirken. Diese von den physischen Organen frei gewordene Seele erlebt sich als Wesen neben dem, das sie vorher war. Die erste geistige Beobachtung, die der Übende macht, ist – wiederum konsequent – die Beobachtung der auf diese Weise frei gewordenen Seele, die Beobachtung seiner eigenen, »seelisch-geistigen Ich-Wesenheit«. Als ein »neues Selbst« hebt sich diese Wesenheit aus dem Spiegelbild heraus, das der Leib bisher von ihr entworfen hat. Es ist, um im Bild zu bleiben, als träte das Spiegelbild aus dem Spiegel heraus und stellte sich neben jenes Wesen, das sich in diesem spiegelt, um von ihm nun nicht mit Hilfe dieses Spiegels wahrgenommen zu werden, sondern sich in sich selbst zu spiegeln.

Diese »seelisch-geistige Wesenheit« ist natürlich auch schon vorhanden, bevor sie sich auf diese Weise anzuschauen vermag. Solange sie aber jene Organe noch nicht besitzt, die sie erst durch die Versenkung entwickeln muss, kann sie sich selbst nicht als objektives geistiges Bild anschauen. Was sie sich selbst »anerschafft«, das nimmt die Seele auch zuerst wahr. Das erste übersinnliche Erlebnis der Seele ist daher Selbstwahrnehmung.

»In den Bilderwelten«, die durch die Imagination auftreten, nimmt die Seele »zuerst ihr eigenes Bild wahr«; dieses Bild ist die Widerspiegelung ihres eigenen, durch die Übungen verstärkten Wesens. Da sie aus dem physischen Leib herausgetreten ist, der ihr bisher ihr Bild zurückgeworfen hat, bedarf sie eines anderen Spiegels, der dieses neue Bild von ihr erzeugt. Dieser Spiegel ist der Ätherleib. Im Ätherleib oder Bildekräfteleib des Menschen strömt das Leben jener lebendigen Bilder fort, die durch die Sinneswahrnehmung zu abstrakten (»abgetöteten«) Vorstellungen herabgelähmt werden (vgl. »Von Seelenrätseln«, Kapitel »Anthroposophie und Anthropologie«). Er ist jener Ort lebendig-quellender, gestaltender Bilder (rationes seminales), an dem ihr nun das bewegte Bild ihrer selbst gegenübertritt, jener Zauberspiegel des Mythos, in welchem der Heros seine eigene Vergangenheit und Zukunft anzuschauen vermag. (Von diesem Ätherleib heißt es im 1908 erschienenen Aufsatz »Philosophie und Anthroposophie« [GA 35]: »Der Ätherleib ist nichts anderes, als ein zusammengedrängtes, die Weltgesetzlichkeit in sich spiegelndes Bild« des Makrokosmos. Damit ist auf die Spiegelfunktion des Ätherleibes hingedeutet, der seinerseits Bild ist, Bild, in dem sich etwas anderes zu spiegeln vermag. Auch in der »Geheimwissenschaft im Umriss« ist im Kapitel »Schlaf und Tod« von diesen ineinander gespiegelten Bildern die Rede: »Der Ätherleib ist der Bildner, der Architekt des physischen Leibes. Er kann aber nur im richtigen Sinne bilden, wenn er die Anregung zu der Art, wie er zu bilden hat, von dem Astralleibe erhält. In diesem sind die Vorbilder, nach denen der Ätherleib dem physischen Leibe seine Gestalt gibt … Seine Wachleistung vollbringt der Astralleib innerhalb des physischen Leibes; im Schlafe arbeitet er an diesem von außen … Wie dem physischen Leibe … die Nahrungsmittel aus seiner Umgebung zukommen, so kommen dem Astralleib während des Schlafzustandes die Bilder der ihn umgebenden Welt zu. Er lebt da in der Tat außerhalb des physischen und des Ätherleibes im Weltall. In demselben Weltall, aus dem heraus der ganze Mensch geboren ist. In diesem Weltall ist die Quelle der Bilder, durch die der Mensch seine Gestalt erhält«).

Man könnte daher auch sagen, durch die Meditation eigne die Seele sich die Fähigkeit an, ihr eigenes Spiegelbild – und im weiteren Verlauf auch Spiegelbilder anderer Wesen – im Ätherleib zu erzeugen und anzuschauen. Genau genommen handelt es sich nicht nur um ein Bild, sondern um eine ganze Reihe von miteinander zusammenhängenden Bildern, in welchen sich ihr gegliedertes Wesen spiegelt. Der Übende darf diese Tatsache nicht verkennen. Und er muss die Fähigkeit entwickeln, diese Bilder »jederzeit« wieder aus seinem Bewusstsein zu entfernen. Er muss in dieser Bilderwelt »völlig frei und vollbesonnen walten« können. Lediglich »eine Gruppe von Bildern« lässt sich auf dieser Stufe der Geistesschulung nicht auslöschen: sie entspricht dem geistigen Wesenskern der Seele, dem »Grundwesen«, das sich »durch die wiederholten Erdenleben hindurchzieht«. Bereits auf der Stufe der Imagination beginnt der Übende also etwas von seinem ewigen geistigen Wesenskern, jenem höheren Ich, jenem himmlischen Zwilling, zu erleben, der durch alle Veränderungen seiner Erscheinungsformen hindurch sich selber gleich bleibt.

Die Fähigkeit, jene Bilder auszulöschen, die Abbilder der veränderlichen Anteile der seelischen Organisation sind, ist Voraussetzung dafür, dass sich durch die Imaginationen eine »seelisch-geistige Außenwelt« zu offenbaren vermag. Solange sich der Schleier ihrer eigenen Spiegelbilder vor diese Außenwelt legt, nimmt die Seele nur sich selbst wahr. Erst, wenn sie diesen Schleier beiseite schiebt, vermag sie die objektive, seelisch-geistige Außenwelt zu sehen. An die Stelle des Ausgelöschten, an die Stelle der Schleier tritt etwas anderes, »in dem man die geistige Wirklichkeit erkennt« (hier wird auf die inspirative Erkenntnis hingedeutet).

Drei markante Erlebnisse kennzeichnen den Fortgang der Geistesschulung: das Erlebnis, dass die Seele ein »neues Wesen«, eine Art »zweites Ich« als ihren »Wesenskern« aus sich gebiert, das Erlebnis, dass dieses zweite »Ich« gegenüber dem ersten eine gewisse Selbstständigkeit erlangt, und das Erlebnis, dass dieses zweite Ich durch die geistigen Sinne, die es in sich entwickelt, »um sich herum geistige Tatsachen und Wesenheiten« wahrzunehmen beginnt.

Es folgt ein Hinweis auf die mit der Geburt dieses »höheren Ich« verbundenen Gefahren, denn wenn der Mensch aus seinem gewöhnlichen Ich »ein höheres herauszieht«, wird jenes in gewisser Weise selbstständig und sich selbst überlassen. Die Folge ist, dass es in diesem – nunmehr »niederen« Ich – zu einer Entfesselung der Selbstsucht, zu Entgleisungen der sich selbst überlassenen Seelenkräfte kommen kann, wenn dieses »niedere« Ich nicht einer energischen Selbsterziehung unterzogen wird. Steiner spricht von einer notwendigen moralischen Entwicklung der Seele, die Hand in Hand mit der Ausbildung der höheren Erkenntnisfähigkeiten gehen muss, aber auch von einer Ausbildung der Urteilsfähigkeit, einer Regelung des Gefühlslebens, einer Zügelung der Willenslebens. »Alles Reden darüber, dass die wahre Geistesschulung nicht zugleich eine moralische Schulung sei, ist … unsachgemäß«.

Ziel der Versenkung (Meditation) ist die Heranbildung höherer Wahrnehmungsorgane in der Seele (im »astralischen Leib«). Damit wendet sich Steiner den Werkzeugen, den Organen der Erkenntnis zu. Diese Wahrnehmungsorgane werden »aus der Substanz des astralischen Leibes« geschaffen: die Tätigkeit wirkt auf das Tätige zurück und verändert dieses. Eine Tätigkeit, die darauf abzielt, die bilderzeugende Kraft der Seele zu verstärken, wirkt auf jene seelischen Organe zurück, die Bilder erzeugen, so wie der Muskel durch seinen Gebrauch verstärkt wird. Die Seele (der Astralleib) ist ein übersinnliches Gebilde, eine in sich gegliederte Gestalt, die über Kräfte und Organe verfügt, auf die durch regelmäßige Tätigkeit eingewirkt wird. Was bereits im gewöhnlichen Leben geschieht, indem der Mensch beispielsweise habituell aus Begierden handelt, die zu diesen Kräften des Astralleibs gehören, geschieht auch hier: Die Begierde nach dem Sinnlichen ruft in der Seele die Organe hervor, die das Sinnliche ergreifen und bildet ihr die Objekte ein, die diese Begierde befriedigen und wiederum die Seele formen; die Begierde nach dem Übersinnlichen ruft in der Seele die Organe des Übersinnlichen hervor und bildet ihr die Gegenstände des Übersinnlichen ein, die wiederum die Seele formen.

Worum genau handelt es sich bei diesen neuen Beobachtungsorganen des Übersinnlichen? Es dürfte unmittelbar einsichtig sein, dass diese Organe nicht sinnlich – erst recht natürlich nicht körperlich – sind, da sie ja das Übersinnliche ergreifen. Wenn also von »Geistesaugen«, »Geistesohren« und »Lotusblumen« gesprochen wird, muss ebenso unmittelbar einsichtig sein, dass es sich bei diesen Ausdrücken um Sprachbilder, also Metaphern handelt, aber dennoch um Metaphern, welchen auf der Gegenseite eine Wirklichkeit entspricht. Denn diese Organe nehmen »im übersinnlichen Bewusstsein« eine imaginative Form an, die mit jener von Lotusblumen »verglichen werden kann« (sie könnte, nebenbei gesagt, auch mit Seerosen verglichen werden; die abendländische Esoterik kennt auch das Bild der inneren Planeten [Gichtel, 17. Jh.], während die Sufimystik von den »sieben Propheten deines Wesens« oder sieben »farbigen Lichtern« spricht [Semnānī, 14. Jh.] und die Kabbala von den »Hechaloth«, den sieben Hallen oder Palästen des Himmels bzw. den »Sephirot«).

Gemäß dem Grundsatz, dass sich in imaginativen Bildern »geistige Tatsachen und Wesen« ausdrücken, offenbart sich also durch die Imagination der Lotusblume mit ihren Blättern, die auf der Oberfläche eines Sees – des Sees der Seele – schwimmt, das Wesen dieser Organe. Man darf nicht aus Furcht vor »unzulässigen« »Vergegenständlichungen« oder »Versinnlichungen« (welche Instanz erklärt diese eigentlich für unzulässig?) in den entgegengesetzten Irrtum verfallen, die Realität der symbolischen imaginativen Bilder selbst zu leugnen. Der Vorgang der Metaphernbildung bedarf eines tertium comparationis, einer Brücke, über die das Übertragene von einem Ufer zum anderen getragen wird (»metapherein« bedeutet dem Wortsinn nach »Hinübertragen«; die Brücke ist die Ähnlichkeit oder Analogie). Wenn daher Steiner die Verwendung des Bildes der Lotusblumen mit dem Satz kommentiert: »Selbstverständlich muss man sich klar sein darüber, dass solche Bezeichnung mit der Sache nicht mehr zu tun hat als der Ausdruck ›Flügel‹, wenn man von ›Lungenflügeln‹ spricht«, dann muss man ergänzen, dass die metaphorische Verwendung des Ausdrucks »Flügel« im Zusammenhang mit der Lunge ihren realen Grund darin hat, dass die beiden Teile dieses Organs tatsächlich wie Vogel- oder Schmetterlingsflügel aussehen, auch wenn sie zweifellos keines davon sind.

Im Unterschied zu den körperlichen Sinnesorganen (Augen, Ohren etc.) sind die Wahrnehmungsorgane der Seele tätige Organe, sie »bestehen in einer bestimmt geformten Seelentätigkeit«, ja, »sie bestehen nur insofern und so lange, als diese Seelenbetätigung geübt wird«. Die geistig-seelischen Wahrnehmungsorgane befinden sich in Tätigkeit, während sie wahrnehmen, sie ergreifen ihre »Gegenstände und Tatsachen«, ja, man darf wohl sagen, sie bringen ihre Gegenstände und Tatsachen mit hervor – so wie das Denken als Organ der Auffassung der Denkinhalte diese Denkinhalte mit hervorbringt. (Verwandte Charakterisierungen der »Geistorgane« der Seele finden sich in Steiners Buch »Von Seelenrätseln« 1918, in dem es im ersten Kapitel heißt: »Die einzelnen Geistorgane … werden nur in dem Maße der Seele als ihr Besitz bewusst, in dem sie dieselben zu gebrauchen vermag. Denn diese Organe sind nicht etwas Ruhendes; sie sind in fortwährender Beweglichkeit. Und wenn sie nicht im Gebrauche sind, kann man sich auch ihres Vorhandenseins nicht bewusst sein. Für sie fällt also Wahrnehmen und im Gebrauche Stehen zusammen«).

Noch einmal kommt Steiner auf den möglichen Vorwurf bzw. die Gefahr der Vergegenständlichung oder Versinnlichung zurück, wenn er sagt, man dürfe sich diese Beobachtungsorgane nicht wie etwas vorstellen, »das in der Vorstellung seines sinnlichen Bildes ein Abdruck seiner Wirklichkeit ist«. In der Vorstellung des »sinnlichen Bildes« wohl nicht: in der Vorstellung des »imaginativen Bildes« aber schon. Im Unterschied zum sinnlichen Bild (der sinnlich wahrnehmbaren Lotusblume) ist das imaginative Bild der Lotusblume tatsächlich ein Abdruck seiner Wirklichkeit, der übersinnlichen »Tatsache und Wesenheit« nämlich, die sich in ihr verbildlicht. Die zitierte Bemerkung richtet sich sowohl an »Bekenner des Übersinnlichen«, die sich das Übersinnliche wie etwas Sinnliches vorstellen wollen, als auch an »Gegner der übersinnlichen Erkenntnis«, die dem Geistesforscher partout unterstellen wollen, er spreche von Lotusblumen »wie von feineren sinnfälligen Gebilden«. (Vgl. »Die Anthroposophie: Rückfall in den Mythos?« – Wenn man den Zusammenhang zwischen geistigem Wesen, Imagination, Vorstellung eines sinnlichen Bildes und Sinnesgegenstand etwas genauer betrachtet, könnte man sogar behaupten, die sinnlich wahrnehmbare Lotusblume sei ebenso Abbild ihrer Imagination wie die imaginative Vorstellung im imaginierenden Bewusstsein. Die Vorstellung des sinnlichen Bildes könnte man entweder als Abbild des sinnlichen Abbildes der Imagination oder aber als Abbild des imaginativen Bildes selbst auffassen. Wir erinnern wir uns an Steiners Ausführungen über die Pflanze in »Die Stufen der höheren Erkenntnis«. Dort hieß es von der »ganzen Pflanze«, diese sei ein »übersinnliches Wesen«, das sich der Imagination in der astralen Welt als bewegtes Bild und der Inspiration in der »geistigen Welt« als Wort offenbare. Das physische Wesen der Pflanze wurde als »Offenbarung einer Wesenheit« bezeichnet, die durch Imagination und Inspiration zu begreifen ist).

Und so heißt es kurz darauf: »Die geistig-seelischen Organe, die Lotusblumen, bilden sich so, dass sie dem übersinnlichen Bewusstsein an dem in Schulung befindlichen Menschen wie in der Nähe bestimmter physischer Körperorgane erscheinen«, die Namen ›zwei-‹ oder ›sechzehnblättrig‹ können gebraucht werden, weil die betreffenden Organe sich mit Blumen mit entsprechender Blätterzahl vergleichen lassen«. Wieso lassen sie sich vergleichen? Weil ihre Beschaffenheit diesen Vergleich tatsächlich ermöglicht, weil ein Analogon in der Erscheinungsform existiert (Blumen, Blätterzahl), das eine reale Grundlage für diese Übertragung darstellt.

Die unterschiedlichen seelisch-geistigen Organe werden durch unterschiedliche Arten der Versenkung – durch unterschiedliche seelisch-geistige Tätigkeiten – »im Astralleib« hervorgerufen (der, insofern er als Leib bezeichnet wird, seinerseits eine Metapher ist, die auf eine übersinnliche Realität verweist). Die Übungen, die zur Ausbildung der Organe durchgeführt werden, dienen der »Reinigung« (katharsis) der Seele von allem, was aus der sinnlichen Wahrnehmungswelt stammt. Die Seele muss zum reinen Spiegel werden, in dem sich die Tatsachen und Wesenheiten der geistigen Welt abbilden können, ohne dass der Spiegel selbst diese Abbilder verformt oder verfälscht; die Schleier der Sinnesvorstellungen vor diesem Spiegel der Seele müssen beiseite gezogen werden. Die Reinigung der Seele dient der Vorbereitung auf die »Erleuchtung« (photismos), die dann eintritt, wenn die durch geduldige Arbeit ausgebildeten Organe tatsächlich Wahrnehmungen erzeugen. Dass es sich um Wahrnehmungen von Farben und Lichtern, Kompositionen aus Farbe und Licht handelt, darauf deutet der Ausdruck »Erleuchtung«. Erleuchtung setzt etwas voraus, das leuchtet, etwas das beleuchtet wird und etwas, das dieses Leuchten wahrzunehmen vermag. Das Licht beleuchtet die Gegenstände der geistigen Schau und macht das geistige Auge sehend. Sehend wird aber die Seele, in der das Licht des Geistes aufgeht, deren Auge durch dieses Licht sehend wird, ja, das selbst dieses Licht ist, das seinerseits die Gegenstände beleuchtet, die es sieht. In der vom Licht des Geistes erleuchteten Seele sieht der Geist sich selbst, so wie die Seele sich in ihm sieht. Das Sehende und das Gesehene sind eins.

Die Organe der Geistwahrnehmung werden in der Seele bewusst, sobald sie ausgereift sind, »man fühlt, dass man sich ihrer bedienen kann und dass man durch ihren Gebrauch in eine höhere Welt wirklich eintritt«. Nun aber »gleichen die Eindrücke«, die man in der imaginativen Welt erhält, »in mancher Beziehung« noch den physisch-sinnlichen. Auch hier wieder ist von Ähnlichkeiten, von Analogien die Rede, Analogien, die den realen Grund jener metaphorisierenden geistigen Bewegungen darstellen, die zwischen bildlichen Vorstellungen und symbolischen Bildern geistiger Tatsachen fortwährend hin und her oszillieren und die Darstellungen dieser Stufe des Schulungsweges charakterisieren. »Wer imaginativ erkennt«, fährt Steiner fort, »wird von der neuen höheren Welt so sprechen können, dass er die Eindrücke als Wärme- oder Kälteempfindungen, Ton- oder Wortwahrnehmungen, Licht- oder Farbenwirkungen bezeichnet. Denn wie solche erlebt er sie«.

Allerdings drücken diese Wahrnehmungen, die er so erlebt wie sinnliche, in der imaginativen Welt etwas anderes aus, als in der sinnlichen. Ihre Ursachen sind nicht physisch-stofflich, sondern seelisch-geistig. Ein Wärmeeindruck etwa ist »Ausfluss eines seelisch-geistigen Vorganges«, nicht eines stofflich-energetischen Prozesses. Man könnte diese Sachverhalt vielleicht auch so formulieren, dass das Sinnliche auf eine höhere Stufe der Bedeutung gehoben, dass es vergeistigt wird. Insofern wäre die imaginative Welt tatsächlich jene Welt, von der Henry Corbin sagt, in ihr werde das Geistige versinnlicht und das Sinnliche vergeistigt.

Es besteht also eine Ähnlichkeit zwischen der imaginativen und der physischen Welt, aber jede Ähnlichkeit impliziert auch Unterschiede. Einen dieser Unterschiede thematisiert Steiner wiederum am Beispiel der Pflanze. Während die physische Welt durch das fortwährende Entstehen und Vergehen, den Wechsel von Geburt und Tod bestimmt ist, kennzeichnet die imaginative Welt die fortdauernde Verwandlung des einen in das andere. Während die physische Pflanze vergeht, geht in diesem Vergehen aus dem Vergehenden ein imaginatives »Gebilde« hervor, dessen vollständige Entwicklung mit dem Dahinschwinden der sichtbaren Pflanze zusammenfällt. Geburt und Tod verlieren als Grenzen der Wahrnehmung für das imaginative Bewusstsein ihre Bedeutung, da es jenes »imaginative Gebilde« wahrzunehmen vermag, das der physischen Geburt vorausgeht und nach dem physischen Tod weiterbesteht. Was physisch durch die Geburt in Erscheinung tritt, ist demnach die Metamorphose eines imaginativen Gebildes, das auch alle weiteren Metamorphosen seiner physischen Erscheinung bewirkt, um schließlich mit dem Tod wieder in rein imaginativer Form, unvermischt mit der physischen Stofflichkeit, in Erscheinung zu treten. Steiner spricht hier offenbar vom Ätherleib, dem »Architekten und Erbauer« des physischen Leibes.

Während die physische Wahrnehmung auf die Geburt und Tod unterworfene physische Gestalt beschränkt ist (an der in Wahrheit das durch sie verschleierte Übersinnliche, das sie aufbaut und im Dasein erhält, mitwahrgenommen wird), vermag die imaginative Wahrnehmung eben jenes Übersinnliche unverschleiert anzuschauen, dessen Abbild die physische Gestalt ist. Zu diesem Übersinnlichen gehören – im Falle des Menschen – nicht nur der Ätherleib, sondern auch seine Seele und sein Ich. Diese sind dem imaginativen Erkennen zugänglich. In der imaginativen Welt finden sich nicht nur imaginative Bilder des Ätherleibes, sondern auch solche des Astralleibes und des Ich.

Nun kann das spirituelle Erkennen nicht bloß bei der Anschauung in Verwandlung begriffener Wesenheiten stehenbleiben, sondern muss diese Verwandlungen auch als Ausdruck von etwas verstehen, das sich wandelt. Die imaginative Welt ist eine Welt permanenter Unruhe, Beweglichkeit, Umgestaltung, eine Welt quellender, sich metamorphosierender Farben- und Lichtgestalten. In dieser Welt müssen »Ruhepunkte« gefunden werden, auf die bezogen werden kann, was sich wandelt, damit das in Wandlung begriffene als Ausdruck eines sich nicht wandelnden Wesens erscheint. Dazu ist jedoch die Ausbildung der Inspirationsfähigkeit erforderlich.

Vorheriger Beitrag: Geistesforschung als Wissenschaft – II – Erfahrung, Experiment, Beweis

Folgender Beitrag: Geistesforschung als Wissenschaft – IV – Mittel und Methoden – Inspiration und Intuition

Kommentare sind geschlossen.

Kommentare sind geschlossen