Die wahren Gotteskrieger oder: Wer hat dem Kreuze Rosen zugesellt?

Zuletzt aktualisiert am 28. März 2020.

Ottheinrich Evangeliar 1430

Ottheinrich Evangeliar 1430

»Auf die Frage nach der Bedeutung der Zusammenkunft zwölf hoher Gottesfreunde mit dem schon hochbetagten Gottesfreund vom Oberland zur Osterzeit des Jahres 1380 soll Rudolf Steiner geantwortet haben: Da haben Sie den Übergang zum Rosenkreuzertum. Es handelt sich um dasselbe, worauf Goethe in seinem Gedicht ›Die Geheimnisse‹ hingedeutet hat. Seither ist Christian Rosenkreutz die führende Wesenheit im abendländischen Geistesleben. Er ist seitdem in jedem Jahrhundert inkarniert, ebenso wie auch der Meister Jesus, der Gottesfreund vom Oberland. Beide lösen einander in jedem Jahrhundert ab und der Meister Jesus wirkt seither auch im Sinne von Christian Rosenkreutz«.

Nach einem Gespräch, das Wilhelm Rath am 16. Oktober 1922 mit Rudolf Steiner in Stuttgart führte. GA 264, 1984, S. 238. Im Text steht versehentlich das Jahr 1830 statt 1380.[1]

Zu den mit diesen Sätzen angedeuteten Geheimnissen der Metageschichte finden sich einige lesenswerte Ausführungen in Corbins Werk über den iranischen Islam. Sie werden hier, leicht gekürzt, erstmals auf Deutsch veröffentlicht.

Das Motiv eines spirituellen Rittertums, einer spirituellen Elite, die auf der Erde die Liebes-Werke der Engel vollbringt, ist den drei Zweigen der abrahamitischen Tradition gemeinsam, weil ihre Ethik aus denselben Quellen entspringt und auf dieselbe Höhe des Horizontes zielt.

Die spirituelle Berufung des Iran ist es, das Band zwischen dieser abrahamitischen Tradition, die er durch den Islam zur seinigen machte, und der zoroastrischen Tradition zu knüpfen, die er seit jeher bewahrt hat. Wir sehen diese Idee des spirituellen Rittertums in der zoroastrischen Ethik aufleuchten, inspiriert durch den Kampf der Fravarti, die sich dafür entschieden haben, in diese Welt herabzusteigen, um hier die Schöpfung des Ōhrmazd zu verteidigen, so wie sie in ihren Festungen des Lichtes gegen die ahrimanischen Mächte Wache hielten (das ist jener primordiale Kampf, von dem im mazdäischen Buch der Genesis, dem Bundahishn erzählt wird). Durch Suhrawardī (gest. 1191), der im iranischen Islam die Theosophie der alten Perser wieder auferstehen ließ, wurden wir Zeugen der Metamorphose der heroischen Epopöe des alten iranischen Rittertums in die Epopöe der Pilger Gottes des iranischen Sufismus. Die Kontinuität findet sich bis in die Terminologie, etwa, wenn vom »Licht Espahbod« die Rede ist, in dem ein alter iranischer Ausdruck weiterlebt, den Suhrawardī verwendet, um jene »Lichter« zu bezeichnen, die mit der Aufgabe betraut sind, einen Körper zu regieren. Wir haben festgestellt, dass das Werk Suhrawardīs, das die hellenisierten Magier in einem islamisch gewordenen Iran wieder heimisch machte, die Integration der iranischen Epopöe in die abrahamitische Tradition ermöglichte. Das Echo dieser Integration findet sich selbst noch in den viel späteren Werken der zoroastrischen (islamischen) Theosophen des 16. Jahrhunderts.

Aufgrund einer vollkommen zutreffenden Intuition hat Eugenio d’Ors im Hinblick auf die avestische Idee des Engels und des Fravarti, des himmlischen Archetyps eines jedes Lichtwesens, davon sprechen können, »die Religion Zoroasters« setze sich »in einer Art Ritterorden« fort. In der Erzählung Suhrawardīs vom gnostischen Heros, vom Exilierten auf der Suche nach dem Gral Jamshīds und Kay Khosraws, des Glaubensritters, der um die Wiederkehr der Geschöpfe in ihr wahres Wesen kämpft (bei dem es sich um den Gral handelt), haben wir tiefe Resonanzen mit der mystischen Epopöe des Westens, der Erzählung des Heiligen Gral und seiner Ritter wahrgenommen. Und ebenso, wie uns die Idee der mystischen Hierarchie des »Ordens« der Theosophen zur Idee der esoterischen Hierarchie zurückführte, wie sie im Schī’ismus lebt, ließ uns diese gewisse Resonanzen mit der ritterlichen Ethik des alten Iran, aber auch jener des Rittertums des Okzidents vernehmen. Es besteht ein Treuebündnis zwischen dem Imām und seinen Gefährten, das auf ihr präexistentes Dasein zurückgeht (auf die dreifache Antwort auf die Frage: A-lasto birabbi-kom (Bin ich nicht euer Herr)?, die im Bekenntnis zum einzigen Gott, zur Sendung des Propheten und zum esoterischen Auftrag des Imām besteht); was die Fravarti für Ōhrmazd sind, sind die Schī’iten für ihren Imām. Es gibt ein gemeinsames Ethos, eine gemeinsame Situation der Gläubigen, die sich in der zoroastrischen Idee des Saoshyant und jener, die sich in der Erwartung der Parusie des Imām zusammenfinden, ebenso wie jener, die in der Erwartung der Herrschaft des Parakleten leben. Und es war nicht das unbedeutendste Ergebnis unserer Untersuchungen, dass die schī’itischen Theosophen den zwölften Imām sowohl mit dem Saoshyant der Zoroastrier, als auch mit dem Parakleten identifizierten, der im Johannes-Evangelium verheißen wird.

Wir sind dem Motiv des Imām als des mystischen Poles der Welt begegnet, der bleibt, was er ist, weil seine Aufgabe eine sakrale, kosmische und metaphysische Bedeutung hat, selbst wenn die Menschen ihn nicht erkennen und ignorieren, dass ohne die Existenz dieses Poles und jener, die um ihn herum »die Augen sind, durch die Gott immer noch die Welt wahrnimmt«, die irdische Menschheit nicht weiter fortbestehen könnte. Damit im Zusammenhang stehen die Motive des Zyklus des Imāmats, der Gefährten des Imām, der mystischen Hierarchie und ihres Inkognitos aufgrund der Verborgenheit ihres Imām, das Motiv der eschatologischen Erwartung, das als unmittelbar bevorstehender Einbruch der spirituellen Welt erlebt wird, sowie das Motiv des inneren Führers, Motive, die sich alle um den zwölften Imām konstellieren, deren Wiederholungen, ohne dass wir von historischen Vermittlungen sprechen müssen, wir im spirituellen Rittertum des Islam und des Christentums wiederfinden.

Wenn man von historischen Vermittlungen sprechen wollte, müsste man zweifellos an die freundschaftlichen Beziehungen zwischen einem syrischen Emir wie Usama ibn Monqīdh und den Tempelrittern erinnern, vielleicht auch an jene zwischen den Drusen und den Tempelrittern, schließlich an den Ritterschlag, der Saladin und einigen anderen gewährt wurde. Man würde damit aber nur an allzu Bekanntes erinnern.

Hier stellt sich eine andere Aufgabe: der phänomenologische Zugang zum zwölften Imām muss weitergeführt werden, weil die Geschichte einer Spiritualität nichts anderes ist, als diese Spiritualität selbst, und weil diese Spiritualität sich in jedem Bemühen fortsetzt und verewigt, das versucht, die hier angedeuteten Verwandtschaften tiefer aufzuschließen. Wenn wir hier vom Zusammenhang »der grünen Insel der Johanniter und einem unvollendeten Gedicht Goethes« sprechen, dann unterstellen wir keineswegs die materielle, äußerliche Kontinuität eines literarischen Motivs oder einer Institution, die vom 14. bis ins 19. Jahrhundert bestanden hätte, sondern wir sprechen von jenem Synchronismus, der ein Gebiet des Bewusstseins beherrscht, dessen Kraftlinien uns darauf hinweisen, dass ein und dieselben metaphysischen Realitäten an unterschiedlichen Orten wirksam sind.

Die »grüne Insel« der Johanniter in Straßburg ruft spontan die »Grüne Insel« in Erinnerung, auf welcher der verborgene Imām und seine Gefährten nach einigen visionären Erzählungen residieren sollen. Eine rein geographische Homonymie, sicher, und trotzdem verbindet eine geheime Analogie beide mit ihrer Insel. Wir könnten das Motiv aufrufen, das sich um den Heiligen Gral und die Gestalt Joseph von Arimathias entwickelt, das Motiv des Herrschers jenseits des Meeres, der auf seiner Insel von Gefährten umgeben ist, über welche die Zeit keine Macht hat, ein Motiv, »in dem sich die Erinnerung an die Anderwelt der Kelten und die Idee des irdischen Paradieses vermischen«. Es gibt viele andere »grüne Inseln«.

Aber zwischen der »Grünen Insel« von Straßburg und jener der schi’ītischen Tradition werden einige unerwartete Resonanzen wahrnehmbar. Die »Grüne Insel« von Straßburg war ein Zentrum johannitischer Ritter, an dem sich im 14. Jahrhundert eine Form der Spiritualität entwickelte, die durch den Namen jener charakterisiert ist, die ihr Zentrum waren, der »Gottesfreunde« nämlich. Sie sind das exakte Äquivalent jener, die der Schī’ismus als »Gottesfreunde« (Awliyā Allāh) bezeichnet, und wir haben erfahren, dass der esoterische Auftrag des Imām einen Kult der spirituellen Liebe mit sich bringt, der zur Selbsterkenntnis führt. Wie soll man der Frage ausweichen, die dieser identische Name aufwirft: Gibt es nicht etwas Gemeinsames zwischen den Gottesfreunden im schī’itischen Islam und jenen des westlichen Christentums? Befanden sich nicht beide auf einer Queste, die sie denselben Schwierigkeiten gegenüberstellte und dieselben Verpflichtungen mit sich brachte?

Die einen wie die anderen bleiben der Masse der Menschen verborgen, und dennoch kann man von beiden sagen, sie seien die »Augen, durch welche Gott noch immer die Welt wahrnimmt«. Bei beiden wird das Leben von der Gegenwart eines unsichtbaren, inneren Führers geleitet. Jene geheimnisvolle Gestalt, die der Pol der Gottesfreunde der Grünen Insel der Johanniter war, und die nur unter dem Namen »des Gottesfreundes vom Oberland« bekannt ist, geht in die Verborgenheit ein, ebenso wie der zwölfte Imām; die seinigen suchen ihn vergeblich in dieser Welt, ebenso wie die Ritter Kay Khosraws diesen vergeblich suchten. Vor einigen Jahren (1964) war ich eingeladen, in Teheran zur Feier des Geburtstags des ersten Imām vor einem großen Publikum, das insgesamt zum Sufismus gehörte, die Geschichte dieses Gottesfreundes vom Oberland darzustellen. Ich hatte hinterher den Eindruck, dass manche Zuhörer diese Erzählung als Zeugnis einer Erscheinung des verborgenen Imām im Westen im 14. Jahrhundert auffassten!

Der Synchronismus, dem man gegenübersteht, und den nur ein Phänomenologe spiritueller Erlebnisse wahrzunehmen vermag, ist der folgende: der Schleier, der sich über die letzte Versammlung des Gottesfreundes vom Oberland und seiner zwölf Gefährten herabgesenkt hat, hebt sich über einer anderen Versammlung, bei der sich erneut das Pleroma der Zwölf zusammenfindet und offenbart, einer Versammlung von zwölf Rittern, die ein unvollendetes Gedicht Goethes beschreibt, das den Titel »Die Geheimnisse« trägt. Hier entspricht die Deutung, die Goethe dem Pleroma der zwölf Ritter gibt, frappant der Bedeutung des Pleromas der zwölf Imāme in der religiösen Geschichte der Menschheit. In jenem Bewusstseinsfeld, das umrissen wird durch die Versammlung der Zwölf um den Gottesfreund vom Oberland und der Zwölf, die Goethe auf dem Gipfel eines idealen Mont-Serrat zusammenkommen lässt, können wir die Wirksamkeit derselben Kraftlinien beobachten, die aus dem Schoß des Schī’ismus die Idee eines spirituellen Rittertums hervorgehen lassen, das der gesamten abrahamitischen Tradition gemeinsam ist, ebenso wie die Idee eines Rittertums im Werk Wolfram von Eschenbachs, das den Rittern der Christenheit und des Orients, das heißt des Islam gemeinsam ist.

Soweit die Umrisse der Frage, die etwas präzisiert werden müssen, um den Zusammenhang der Motive zu verdeutlichen, von denen die Rede sein wird. Zuerst gibt es die Beziehungen zwischen dem Gottesfreund vom Oberland und den Johannitern der »Grünen Insel«. Sie stellen ein bedeutsames Element in etwas dar, das kaum bekannt ist, das man als esoterische Spiritualität des Ordens der Johanniter oder des Souveränen Ordens des Heiligen Johannes von Jerusalem bezeichnen kann. Ein bedeutsames Element insofern, als eine umfangreiche Tradition die Konversion Johannes Taulers zu einem Predigtstil, der ihn zu einem der größten Meister der Mystik machte, auf das geheime Eingreifen des Gottesfreundes vom Oberland zurückführt. Diese Konversion führte ihn zur inneren Bedeutung der Schrift, ebenso, wie auf der anderen Seite der Gottesfreund seine Korrespondenten in der Grünen Insel zur Einsicht in die wahre Natur ihres inneren Lehrers leitete. Der Ausdruck »esoterisch« ist hier umso mehr angebracht, als er die Idee der Innerlichkeit impliziert. Er erinnert uns außerdem daran, dass der Alchimist Bernard de Trévise, der im 15. Jahrhundert nach Rhodos reiste, bezeugt hat, er habe bei den Hospitalitern des Ordens des Heiligen Johannes wiedergefunden, was man als die geheime Tradition der Tempelritter zu bezeichnen pflegt; man kann in diesem Zusammenhang ebensogut auf die »Johannes-Logen« verweisen.[2]

Die Konversion Taulers zur Gottesfreundschaft durch den Gottesfreund, die Erbschaft des Tempels bei den Johannitern und den »Templern« Wolfram von Eschenbachs: all diese Vorstellungen können benutzt werden, um die Idee einer »spirituellen Ritterschaft« näher zu bestimmen, an der die Gottesfreunde vom Oberland und die Johanniter der Grünen Insel teilhatten. Die Eigentümlichkeiten des Gottesfreundes und seiner Gefährten zeigen genügend Ähnlichkeiten mit jenen, die der verborgene Imām und seine Gefährten in der schī’itischen Theosophie aufweisen, dass wir uns jeder erklärenden Hypothese enthalten können, deren Grundfehler darin besteht, das zurückzuweisen, worum es geht, nämlich die Realität des spirituellen Ereignisses, eine Realität, die weder Mythos noch Geschichte im gewöhnlichen Wortsinn ist. Die Gestalt des Gottesfreundes aus dem Oberland ist so geheimnisvoll und historisch so unfassbar geblieben, dass die Interpreten entweder von einer literarischen Fiktion oder der Verdoppelung einer Person gesprochen haben, um sie zu erklären und durch die »Erklärung« zum Verschwinden zu bringen. Man muss sich nur an die Art der Gegenwart des verborgenen Imām bei den schī’itischen Theosophen erinnern, oder die noch spezifischere reale Gegenwart, die der persönliche unsichtbare Lehrer bei so vielen Schī’iten und Sufis annimmt, um das Verhalten Rulman Merswins zu begreifen, und zu verstehen, was er aus seinen Beziehungen zum Gottesfreund gemacht hat.

Der Gottesfreund vom Oberland ist ein westlicher Zeitgenosse Haydar Amolis. Seine Hagiografie ist mit Ereignissen unseres 15. Jahrhunderts verknüpft, das mit der brutalen Zerstörung des Templerordens begann, die schrecklichen Verwüstungen durch die schwarze Pest und gleichzeitig so viele Versuche der spirituellen Erneuerung erlebte. Alles was wir vom Gottesfreund wissen, stammt aus den Briefen und kleinen Werken, die er an seinen spirituellen Gefährten Rulman Merswin richtete, der in der Grünen Insel in Straßburg lebte, sowie durch die Vermittlung Merswins an gewisse andere Personen. Diese Dokumente wurden durch die Johanniter der Grünen Insel nach dem Tode Merswins gewissenhaft gesammelt; aus ihnen geht hervor, dass seine erste Erscheinung jene war, die Johannes Tauler im Jahr 1346 zuteil wurde.[3]

Man muss betonen, dass der Gottesfreund ein Laie war und nicht ein Kleriker oder Mönch. Wenn er sich danach jemandem zeigte, dem er spirituelle Hilfe zuteil werden ließ, dann stets aufgrund eines inneren Hilferufs des Betreffenden, oder weil er selbst dank seiner geistigen Schau wahrnahm, dass der Bruder in Not seiner bedurfte. All diese Besonderheiten lassen sogleich an den geheimen Lehrer und Meister denken, über den die Sufis der Schule Najmoddīn Kobrās sprechen.

Der Gottesfreund offenbart dem berühmten »Meister der Schrift« Tauler, dass die Worte seiner Predigten Worte sind, die nur das Äußere der Dinge vernehmbar machen, aber nicht das Wesentliche; sie enthalten nicht das brennende Feuer der Seele. All dies erlegt nur ein äußeres Joch auf; der Buchstabe der Schrift macht aus ihm (Tauler) einen Toten. Und der Laie offenbart dem Meister, dass sein innerer Lehrer ihm in einer Stunde mehr beibringen kann, als alle Gelehrten zusammen ihm bis zum Tag des Jüngsten Gerichts beibringen könnten. »Ebendieser Buchstabe der Schrift könnte aus dir einen Lebendigen machen«; aber wie soll das gehen? Der Laie offenbart ihm auch seinen Lebensweg und seine inneren Erfahrungen. Alles, was er Tauler nahebringt, lässt sich unmittelbar und stimmig in die Sprache der schī’itischen Theosophen übersetzen: es geht um die spirituelle Hermeneutik des inneren Sinnes der Schrift oder des Gesetzes. Tauler geht anschließend in der Einsamkeit durch schwere Prüfungen, und tritt aus diesen als einer der größten mystischen Prediger aller Zeiten hervor, der die wahre Gottesfreundschaft lebt. Die Sammlung der Predigten Taulers, die den inneren Sinn der Heiligen Schrift im Gang durch das liturgische Jahr erläutern, kann für jeden Geistsucher eine Bibel sein.

Aber wer war dieser Gottesfreund vom Oberland? Allein die lange Epistel, die er später an die Johanniter von der Grünen Insel richtete, deren Wirkungsstätte Domus Ordinis Sancti Johannis Hierosolymitani ad Virium Insulam hieß (Haus des Ordens des Heiligen Johannes von Jerusalem zur Grünen Insel), gibt darüber Auskunft. Dieser Brief enthält seine ganze spirituelle Biografie; sie unterrichtet über seine familiäre Herkunft (Sohn eines reichen Händlers); seine Jugendfreundschaft mit dem Sohn eines Ritters; wie die beiden gemeinsam die Welt durchstreiften, von keiner anderen Sorge umgetrieben, als der »Sorge von Rittern auf der Suche nach Ritterschaft«. Dann der Bruch mit seiner Verlobten aufgrund einer ersten Vision, die ihm die Unmöglichkeit deutlich machte, gleichzeitig die Liebe Gottes und die Menschenliebe anzustreben. Der Gottesfreund erzählt vom Verlauf und den Erfahrungen seines inneren Lebens, zu welchen fünf bewundernswerte Visionen gehören, deren Reichtum symbolischer Bilder eine Deutung erforderte, die hier nicht unternommen werden kann. Diese Deutung ließe alle Motive aufklingen, die hier bereits behandelt wurden: die imaginative Welt, die Beschaffenheit und Funktion der imaginativen Fähigkeit, den inneren Lehrer, kurz, die ganze mystische Anthropologie, die seine Visionen implizieren. Und die autobiografische Erzählung führt uns bis zum entscheidenden Ereignis: der Begegnung mit Rulman Merswin und der Gründung der Grünen Insel.

Wer war Rulman Merswin? Auch die Antwort auf diese Frage findet sich in einer Autobiografie, die zu den Papieren gehört, die von den Johannitern nach dem Tod Rulmans gesammelt worden sind. Dieser war ein Händler, der einer Straßburger Patrizierfamilie angehörte. Sein Bericht zeigt uns, wie er im Jahr 1347 die ganzen Handelsgeschäfte hinter sich ließ und sich aus seinem bisherigen sozialen Milieu zurückzog. Eines Abends im Herbst meditiert Rulman in seinem Garten: Worin besteht seine wahre Aufgabe angesichts all der Schwierigkeiten, von welchen die Welt betroffen ist? Mit allen Kräften seiner Seele ruft er nach dem Unsichtbaren, und siehe da: es zeigt sich eine Vision von klarem Licht, das ihn umgibt, und ihn über sich selbst hinaushebt, während in diesem Licht gewisse Worte erklingen. Für Rulman beginnt eine Zeit schwerer Prüfungen, die vier Jahre andauern. Von all dem, von seiner Fähigkeit, die Aura zu sehen, die jeden Menschen umschließt, sagt er niemandem etwas, bis »Gott einen Menschen aus dem Oberland anweist, zu mir herabzusteigen. Als er gekommen war, ließ mich Gott erkennen, dass ich mit ihm über alles sprechen konnte. Dieser Mensch war in der Welt vollkommen unbekannt; er wurde zu meinem geheimen Freund, meinem vertrauten Gefährten«, und Rulman vertraute sich ihm an, wie er sich Gott anvertraut hatte. Es kam, wie im Falle Taulers: der Gottesfreund kam zu Rulman Merswin nur aufgrund eines inneren Rufes und Rulman fand in ihm einen Menschen, dem er seine intimsten Erlebnisse anvertrauen konnte.

Merswin blieb in Straßburg. Der Gottesfreund kehrte ins Oberland zurück (gewisse Forscher identifizieren dieses Oberland mit dem Berner Oberland, aber man darf davon ausgehen, dass diese geographische Lokalisierung die Bedeutung nicht verändert und die »Höhe« des »Landes«, um das es geht, nicht mindert). Zwischen den beiden Freunden beginnt nun ein Briefwechsel, das schönste Zeugnis der spirituellen Verbindung, die zwei Menschen einen kann, oder besser gesagt, einen Menschen und seinen verborgenen Lehrer. Diese Verbindung ist so innig, dass sie sogar zur gleichen Zeit dieselben Visionen haben, dieselben Ängste und Schmerzen empfinden (Beispiele für solche Erfahrungen finden sich auch bei Najmoddīn Kobrā und seinem verborgenen Schaich, seinem »Zeugen im Himmel«). Und aus dieser Verbindung geht die Gründung der Grünen Insel hervor.

Beide Freunde haben eine gemeinsame Traumvision: kurz darauf, in der darauffolgenden Weihnachtsnacht, erleben beide unter dem Eindruck des Elends und der spirituellen Verzweiflung der Epoche, ekstatisch Qualen, an denen sie glauben, sterben zu müssen. Sie treffen sich in Straßburg wieder. Ihre Vision hatte ihnen offenbart, dass sie so etwas wie ein Kloster gründen sollten; daraus ging die Grüne Insel hervor. Aber die beiden Freunde wussten und waren sich darin einig, dass »die Zeit, Klöster zu errichten, vorüber war«. Wozu sollte dies gut sein! »Wenn man bloß Menschen finden könnte, die klösterlich gestimmt wären, dann würde man auch genügend Klöster für sie finden«. Aber darum handelt es sich nicht mehr. Die beiden Freunde wollen vielmehr einen »Zufluchtsort« gründen, nicht nur für »Kleriker«, sondern für alle Menschen, die nach dem spirituellen Pfad suchen, und dies frei von allen Regeln, die bisher die Kirche und das kanonische Recht den Menschen auferlegte. Einen geistigen Ort, der jenen den Pfad zur höchsten Erkenntnis eröffnet, die sich gleichzeitig in der Welt betätigen wollen oder müssen, während der Brauch bisher darin bestand, sich in einem Kloster einzuschließen. Man sieht, wie sich die Idee der einer Sufi-Loge annähert und wie gleichzeitig die Vorstellung eines Rittertums Gestalt annimmt, das weder dem Klerus noch dem Laienstand angehört, das sich mit beiden berührt, aber in einem rein spirituellen Sinn.

Dadurch ist das Vorhaben der beiden Freunde, ihre Idee eines spirituellen Rittertums charakterisiert, »nachdem die Zeit der Klöster und Konvente vorüber ist«. Ohne Zweifel ist es dieselbe Idee, die auf der anderen Seite das Epos eines Wolfram von Eschenbach motiviert, der diese Idee in ein spirituelles Rittertum umwandelt, das im Inneren der Welt wirkt und sein Inkognito bewahrt, so wie die Gefährten des zwölften Imām. Es ist daher von tiefer Bedeutung, wenn die Johanniter vier Jahre später, auf Bitten Rulmans, nachdem dieser selbst zum Ritter geworden ist, das Haus zur Grünen Insel übernehmen. Rulman Merswin stiftet sein gesamtes Vermögen für den Erwerb eines aufgelassenen Klosters, das im 12. Jahrhundert von einem Ritter namens Werner von Hüneburg außerhalb der Mauern von Straßburg und am Ufer des Ill an einem Ort erbaut worden war, der »Grüne Insel« hieß. 1369 wurde dieses vollkommen renovierte Gebäude geweiht. Vier Jahre später wurde durch die Johanniter im Einverständnis mit dem Großmeister des Souveränen Ordens des Heiligen Johannes, der auf Rhodos residierte, festgehalten, dass die von den Gründern festgesetzten Freiheiten aufrecht erhalten bleiben sollten. So verband sich die kleine Gemeinschaft der Geistsucher um Rulman Merswin mit dem Johanniterorden und alle zusammen bildeten die Gemeinschaft der Geistritter der Grünen Insel. Der Prior des Ordens für die deutschen Länder errichtete hier sogar seine Residenz. Rulman ging hier weiter seinen literarischen Aktivitäten nach. Eines seiner Werke, das »Buch von den sieben Felsen«, ist ein Ort der Offenbarung der imaginativen Welt, die nach jener spirituellen Hermeneutik verlangt, deren Regeln bereits früher verdeutlicht wurden.

Zwischen dem Gottesfreund, dem »Pol« seiner Gemeinschaft im Oberland und Rulman Merswin, dem »Pol« und Gründer der Johannitergemeinschaft von der Grünen Insel, setzte sich eine Korrespondenz fort, die zusammen mit anderen Dokumenten einen beträchtlichen Corpus bildet. Dieser Corpus wurde nach dem Tode Rulmans (1382) von den Johannitern, die alle Hoffnung, den Gottesfreund wiederzufinden, verloren hatten, sorgfältig zusammengestellt. Denn Rulman Merswin war es, durch den sie während seines Lebens die Stimme des Gottesfreundes hörten und durch Merswin korrespondierten sie mit ihm. Nie sah ihn jemand von ihnen.

Was hatte es mit der kleinen Gemeinschaft vom Oberland auf sich? Vier Gefährten folgten dem Gottesfreund als ihrem »Pol«. Dieser beschrieb in seinen Briefen an die Johanniter in Straßburg ihre Lebensgeschichten, ihre inneren Prüfungen und Freuden. Da gab es Ruprecht, den Boten, jenen, der die Aufgabe übernommen hatte, die geheimnisvolle Korrespondenz hin und her zu tragen; es gab Conrad, den Koch. Sie lebten in einer Einsiedelei im Herzen eines hohen Berges, an einer Quelle lebendigen Wassers. Dieser heilige Ort des 14. Jahrhunderts blieb der Welt verborgen. Es verhält sich mit ihm wie mit dem Gebiet des Gral oder der grünen Insel des Imām. »Niemand erhielt davon Kenntnis, der sich ihm nicht auf dem innerem Weg näherte. Man sagt von einigen Menschen, sie hätten die Brüder besucht, aber nur wenn man die innere Reife erlangt hat, wird man über ihr inneres Leben und dessen Bedeutung Gewissheit erlangen«. Dies ist das Gesetz der Esoterik und des Inkognito des spirituellen Ritters, denn nicht der äußeren Welt und der Menge ist der »Ruf« vernehmbar; allein die Einzelnen vernehmen ihn, denn er erklingt in den Tiefen ihrer Seele. Auf diese Weise wurde der Gottesfreund ihr Führer und Gefährte (ihr innerer Meister). Wenn man dies vor Augen hat, dann wird man die Berichte über zwei geheimnisvolle Zusammenkünfte im Oberland verstehen, welche die letzten Briefe des Gottesfreundes ausfüllen, die letzten, bevor er in seine »Verborgenheit« eintritt.

Der erste dieser Briefe wurde im Frühjahr 1379 an den Kommandanten der Johanniter der Grünen Insel gesandt. Er unterrichtete diesen darüber, dass im vorangegangenen Winter, vom 15. bis 21. November 1378 eine Zusammenkunft von sieben Gottesfreunden stattgefunden hatte, welcher der Gottesfreund vom Oberland als achter vorstand. Der Ort der Zusammenkunft war eine kleine Kapelle im Herzen eines hohen und wilden Berges. Jeden Tag begab man sich zur Mittagszeit in den Wald, zu einer Quelle, an der sich eine schöne Lichtung befand, die zu Unterredungen einlud. Am letzten Tag begann ein stürmischer Wind den Wald zu bewegen und die Freunde fanden sich von vollkommener, furchterregender Finsternis umgeben. Sie löste sich beim Erscheinen eines strahlenden, durchsichtigen Lichtes auf, dessen Leuchten die körperlichen Augen nicht zu ertragen vermochten. Und in diesem Licht erklang eine Stimme, deren Sanftheit jede Sanftheit überstieg: den Freunden wird angekündigt, dass der schreckliche Sturm, der die Welt bedroht, für ein Jahr aufgeschoben wird. Und das Licht der Sonne tritt wieder hervor (die Finsternis im Umkreis der Quelle des Lebens und ebenda die Epiphanie eines übernatürlichen Lichtes aus der Seelenwelt: Motive, die aus den Erfahrungen der schīitischen Theosophen vertraut sind).

Der letzte, an Rulman Merswin adressierte Brief, berichtet von einer anderen Zusammenkunft. Ein Jahr war seit der letzten Zusammenkunft verstrichen. In der Weihnachtsnacht 1379 kündigte eine Stimme dem Gottesfreund an, dass am nächsten Gründonnerstag (1380) sich zwölf Freunde am selben Ort zusammenfinden sollten, an dem sich zuvor die sieben getroffen hatten; dieses Mal sollte der Gottesfreund der Dreizehnte sein. Und so geschah es. Ohne dass es einer äußeren Einladung bedurfte, allein aufgrund des Aufrufs, der aus der geistigen Welt an sie erging und im Inneren ihrer Seelen erklang, fanden sich die zwölf Initiierten am genannten Ort zur bezeichneten Zeit ein, auf dem hohen Berg bei der kleinen Kapelle. Man kommt aus Mailand, Genua und Ungarn.

Am Gründonnerstag zelebriert man die Liturgie und begibt sich anschließend zur Quelle im Wald. Erneut brechen die Mächte der Finsternis herein, aber erneut wird die Finsternis durch ein reines Licht vertrieben und ein unsichtbarer Bote lässt einen Brief unter die Versammelten fallen, der für jeden in seiner eigenen Sprache geschrieben ist. Die Freunde akzeptieren die in ihm formulierten Bedingungen: während dreier Jahre sollen sie allen äußeren Dingen entsagen, alle Bindungen an die Angelegenheiten dieser Welt kappen, um allein die »Gefangenen Gottes« zu sein. Wenn sie zustimmen, wird die Entfesselung des Sturmes, der die Welt bedroht, erneut aufgeschoben. Natürlich sind die Freunde mit diesen Bedingungen einverstanden, sie wollen sie gar bis ans Ende ihres Lebens einhalten. Am Ostertag werden die versammelten Freunde Zeugen der Epiphanie desselben Lichtes und derselben Stimme. Wie vorgeschrieben, entzünden sie ein Feuer und werfen den vom Himmel empfangenen Brief hinein, aber die reine Flamme des Feuers trennt sich vom Holz und verschwindet mit dem Brief in der Höhe: »Das Feuer in der Höhe nahm unser Feuer in sich auf und verschlang es«. Tags darauf, am Ostermontag trennen sich die Zwölf und der Dreizehnte.

Man wird die Identität der spirituellen Aufgabe, die den zwölf Initiierten auferlegt wird, die um den Gottesfreund vom Oberland versammelt sind, mit jener der Gottesfreunde, der Awliyā Allāh des Schī’ismus, die um ihren Pol gruppiert sind, kaum verkennen. Sowohl die schī’itischen Traditionen als auch jene der Theosophie des Lichtes Suhrawardīs betonen, dass ohne die Existenz des mystischen Poles des Imām und der Gefährten, die ihn umgeben, welche »die Augen Gottes sind, durch die er immer noch die Welt wahrnimmt«, die Menschheit, die Welt der Menschen, nicht fortexistieren könnte. Nun, es ist eben diese Aufgabe, welche die Freunde Gottes übernehmen, die um ihren Pol im Oberland geschart sind, die Aufgabe, die uns die Briefe des Gottesfreundes an den Kommandeur der Johanniter der Grünen Insel und an Rulman Merswin erläutern. Die Aufgabe eines spirituellen Rittertums, das hier wie dort im Inkognito verbleibt, von »Gefangenen Gottes«, die allein der Souveränität des Geistes geweiht sind. Es scheint, als würden sich daraus unabsehbare Konsequenzen ergeben. Der Brief über die Versammlung der Zwölf war der letzte, den der Gottesfreund an sein »anderes Selbst«, seinen teuren Rulman Merswin schrieb. Sein Freund nahm Abschied von ihm. Er schrieb ihm nicht weiter und auch Rulman vermochte ihn nicht mehr zu erreichen. Sie sahen sich nicht wieder, es sei denn, der Heilige Geist hätte sie von neuem vereint. Der Inhalt dieses Briefes erinnert uns an den letzten Brief des zwölften Imām an ’Alī al-Samarrī. Ebenso wie der zwölfte Imām tritt auch der Gottesfreund vom Oberland in die Verborgenheit ein.

Zwei Jahre später (1382) starb auch Rulman Merswin. Die Johanniter der Grünen Insel machten sich, nachdem sie die von ihm hinterlassenen Dokumente gefunden hatten, auf die Suche, in der Hoffnung, diesen Gottesfreund, von dem sie soviel gehört und gelesen hatten, irgendwo zu finden. Aber alles Suchen war vergeblich. Alles, was die verzweifelten Ritter tun konnten, war, die hinterlassenen Dokumente zu transkribieren und in ihrem Haus von der Grünen Insel zu sammeln. Ebenso wie jeder spirituelle Schī’it weiß, dass er keine äußere geographische Distanz überwinden muss, »um den Imām in Hūrqalyā (in der geistigen Welt) zu sehen« oder um bei seinen Freunden auf der grünen Insel zu sein, ebenso weiß jeder Johanniter von der Insula Viridis, der die Botschaft Rulman Merswins versteht, wie er zu seinem Lehrer und Gefährten, dem Gottesfreund aus dem Oberland gelangt. Symbolisch könnte man sagen, dass es sich in beiden Fällen darum handelt, den Berg Qāf, den Weltenberg, zu ersteigen, und darüber haben uns Qāzi Sa’īd Qommī und Suhrawardī alles gesagt, was es zu sagen gibt. Deswegen haben auch all jene, die von einer literarischen Fiktion oder einer Verdoppelung von Personen gesprochen haben, rein gar nichts von der Bedeutung Rulman Merswins verstanden. Aber ist unsere Zeit überhaupt noch imstande, zu begreifen, was es bedeutet, wenn ein »Gefangener Gottes« mit seinem Engel korrespondiert?

Wir müssen nun im Hinblick auf die Versammlung der zwölf Gottesfreunde des Oberlandes an ein Beispiel der pleromatischen Kraft der Zwölfzahl erinnern, d.h. an die dieser Zahl immanente Fähigkeit, eine vollendete Realität zum Ausdruck zu bringen, und eine vollständige Versammlung, ein Pleroma, zu »chiffrieren«. Wir werden noch genauer auf die symbolische Kraft und die notwendige Rolle des Dreizehnten eingehen, der die Einheit des Ganzen der Zwölf ausdrückt, die sich von der bloßen Summe dieses Ganzen unterscheidet. In bezug auf die Versammlung der zwölf Freunde Gottes im Oberland sei so viel gesagt: sie fassen die Totalität der spirituellen Menschheit in sich; sie sind die unsichtbare Festung, welche die Masse der Menschheit, auch ohne deren Wissen, vor der Katastrophe bewahrt; ihr »Pol« tritt in die Verborgenheit ein. Das sind so charakteristische Eigentümlichkeiten, dass wir dieses Pleroma, sollte es anderswo in Erscheinung treten, sofort wiedererkennen können.

Eine solche Manifestation finden wir im Okzident in einem unvollendeten Gedicht Goethes, das den Titel »Die Geheimnisse« trägt. Wir glauben, dass für die phänomenologische Untersuchung im strikten Sinne wahr ist, was Wilhelm Rath sagt, dass »vor dem spirituellen Auge Goethes eine Gemeinschaft Gestalt annimmt, die jener entspricht, die im letzten Brief des Gottesfreundes vom Oberland an Rulman Merswin beschrieben wird«. Wir fügen hinzu, dass man von dieser Versammlung ebensogut sagen könnte, sie spiele sich im Herzen oder auf dem Gipfel des Berges Qāf ab.

Nun, im langen Fragment dieses Gedichtes führt uns Goethe einen jugendlichen Reisenden vor, den er als Bruder Markus bezeichnet, der am Abend einer langen Etappe, die ihn in das Tal am Fuße eines hohen Berges geführt hat, seinen Weg sucht. Er sucht nach einem gastlichen Dach für die Nacht. »Ob etwas Menschlich’s in der Nähe wohnt«, fragt sich der Wanderer. Nun, sobald er aus dem Wald heraustritt, sieht er ein stattliches Gebäude, das von den Strahlen der sinkenden Sonne vergoldet wird.

Die Tür ist verschlossen. Auf dem Bogen der Pforte ein geheimnisvolles Zeichen: ein von Rosen umschlungenes Kreuz. Was ist dessen Bedeutung? Kein Wort, keine Inschrift, die seine Entschlüsselung erleichtern. »Wer hat dem Kreuze Rosen zugesellt?« Schon sind die ersten Sterne erschienen, als Bruder Markus an die Pforte klopft. Man öffnet ihm. Er berichtet, »von welcher Ferne ihn die Befehle höh’rer Wesen senden« und wird mit offenen Armen aufgenommen. Wir ahnen, dass der Bergfried, in welchen Bruder Markus eintritt, etwas wie das Gebiet von Mont-Salvat sein könnte; auch hier wird der Wanderer sogleich mit einer beängstigenden Situation konfrontiert, die ihm ein alter Ritter berichtet, der Gurnemanz sein könnte, der Parzival unterrichtet. Wir werden Schritt für Schritt mit der spirituellen Aktivität vertraut gemacht, der sich die Bruderschaft seit ihrer Gründung verschrieben hat, sowie mit der Angst und der Bedrohung, die sie gegenwärtig heimsuchen. Derjenige, der sie alle verband, der Gründer der Bruderschaft, ihr Führer und Freund, hat beschlossen, sie bald zu verlassen und zu verschwinden. Die Bedeutung der Tragödie wird uns durch den Namen dessen mitgeteilt, welcher der Auserlesene, der Heilige, der Weise war. Es ist nicht Amfortas, sondern Humanus, der Menschliche.

In einer ergreifenden Zusammenfassung berichtet der Erzähler die Geschichte des exemplarischen Helden; man könnte sie mit dem Titel überschreiben: als der Mensch menschlich wurde. Bedeutet die bevorstehende Trennung die Bedrohung durch die Unmenschlichkeit? Oder darf der Exeget des Gedichts in der Ankunft des Bruder Markus, der die Schwelle mit dem geheimnisvollen Rosenkreuz überschreitet, die Ankündigung einer Palingenese erblicken?

Dieses Emblem findet der jugendliche Pilger nach dem Abendessen wieder, als die Ritterbrüder ihn in die hohe Halle führen, in der sie ihrer spirituellen Arbeit nachgehen. Unter dem hohen Kreuzgewölbe kein Schmuck, die Augen zu verblenden. Dafür zwölf Chorstühle, kunstvoll geschnitzt, die einen dreizehnten umgeben, entlang der Wände des Saales. Zu Häupten eines jeden sieht er Schilde prangen, auf denen symbolische Formen sichtbar sind und vor jedem steht ein Pult. Alles atmet die Stimmung der Meditation und der Sammlung, die emsige Ruhe einer brüderlichen Gemeinschaft. Und siehe da: über dem dreizehnten Stuhl, jenem des Humanus, auf den der Bogen der anderen zuläuft, findet der jugendliche Pilger dasselbe Emblem wieder: das von Rosen umgebene Kreuz. Das unvollendete Gedicht lässt uns sein Geheimnis durch eine Vision erahnen, die Bruder Markus nach einem kurzen Schlaf im Garten des Schlosses zuteil wird, den die Strahlen der Morgensonne zu erleuchten beginnen. Er sieht jugendliche Gestalten, die mit Blumenkränzen geschmückt und Fackeln tragend durch die Gänge eilen, deren weiße Gewänder vom Licht ihrer Fackeln erleuchtet werden. Von welchen Festen, welchen nächtlichen Tänzen kehren sie zurück? Die Fackeln, ebenso wie die Sterne, verlöschen und verschwinden in der Ferne.

Dreißig Jahre später fragten junge Leute Goethe nach diesem Gedicht, ob er es vollendet habe und was es von der geheimnisvollen Aktivität der Bruderschaft enthüllen sollte. Die Antwort macht die Intention deutlich, die der Gestalt des Humanus zugrunde liegt: er ist der Mensch, der im vollen Wortsinn menschlich ist, das Zentrum einer Konstellation typischer Individualitäten, deren Bestrebungen sie aufgrund ihrer Verwandtschaft mit ihm zusammenführen, und die ihre eigene Verwirklichung nur finden können, wenn sie sich um ihn versammeln. Der Leser oder Hörer, der Bruder Markus auf seiner Pilgerschaft begleitet, sollte zum Verständnis jeder einzelnen Religion auf ihrer höchsten Entwicklungsstufe geführt werden, indem er sich jenem höchsten Führer und Vermittler annäherte, und sich vollkommen mit ihm identifizierte. Die einzelnen Epochen sollten durch zwölf repräsentative Personen dargestellt werden, die begreiflich gemacht hätten, dass jede Anerkenntnis Gottes und der Tugend, so befremdlich auch die Form sein mag, in der sie sich zeigt, stets aller erdenklichen Verehrung und Liebe würdig ist.

Was Goethes geistiges Auge in der Vision dieser mystischen Gemeinschaft erfasste, war der vollständige Zyklus der wahren Leitung, der die Menschheit folgt, – der sie auch folgt, ohne es zu wissen, ja, obwohl sie ihr wiedersteht oder sich über sie im Irrtum befindet; sie vermag sie zurückzuweisen, so wie sie auch die unsichtbaren Führer zurückweist, die sie nicht kennt, oder von denen sie nicht einmal ahnt, dass sie real sind. Deswegen betonte Goethe, der die Idee zu diesem Gedicht vermutlich unter dem Einfluss der Gralstradition fasste, der Leser müsse sich auf eine Art »idealischen Mont-Serrat« ausrichten, denn die Aussage des Gedichtes sei, dass der Mensch (der Heros Humanus) sein Glück und seinen Frieden »auf dem Gipfel seines eigenen Mont-Serrat« finde.

An Stelle von »Mont-Serrat« können wir mit einer anderen Tradition auch »Mont-Salvat« lesen. Das ändert nichts an dem, was uns nahegelegt wird. Die Idee dieses »inneren Mont-Serrat« führt uns zum psycho-kosmischen Berg Qāf zurück; der Aufstieg des Bruder Markus ist derselbe, wie jener der mystischen Heroen Suhrawardīs. Ja, mehr noch. Die zwölf Ritter, die sich um das Emblem des Rosenkreuzes versammeln, zu denen Bruder Markus vordringt, stellen nach Goethe zwölf Religionen der Menschheit dar, die sich um so mehr ihrer Vollkommenheit annähern, je näher sie sich bei jenem befinden, der ihr Pol ist: dem Dreizehnten nämlich. Nun, was lesen wir bei Ibn Abī Jomhūr, einem der größten schī’itischen Theosophen, der hier sehr genau der esoterischen Lehre Ibn Arabīs folgt? »Der zwölfte Imām ist der Pol und der Imām dieser Zeit. In ihm konvergieren alle Imāme und alle Pole des Orients und des Okzidents, der Erde und des Himmels … Denn die Erde bleibt bestehen, solange dieser Vollkommene Mensch existiert … Und dies zeigt uns, dass sich in den zwölf Imāmen, vom ersten bis zum letzten, alle Religionen nach ihrer Exoterik und Esoterik manifestieren, ebenso wie alle Vollkommenheiten der sichtbaren und unsichtbaren Welt. Würden diese Imāme fehlen, dann würde das Universum zu existieren aufhören und in seinen Ursprung zurückkehren. Denn durch sie hat alles begonnen, und zu ihnen kehrt alles zurück«.

Zwischen der Vision der Gemeinschaft der zwölf Ritter bei Goethe und der Vision des Pleromas der zwölf Imāme besteht eine eindrucksvolle phänomenologische Übereinstimmung. Jedesmal ist der Pol auch der Dreizehnte, da er die Einheit zum Ausdruck bringt, die Vollendung des Pleromas der Zwölf; so ist es beim Gottesfreund vom Oberland, bei der letzten Versammlung der zwölf Freunde; so ist es bei Humanus und seinen zwölf rosenkreuzerischen Rittern; der zwölfte Imām ist selbst der Dreizehnte, weil er nach elf Imāmen und dem Siegel der Propheten kommt. Außerdem besteht zwischen ihm und dem Siegel der Propheten eine vollkommene abbildliche Beziehung; er ist in gewisser Weise der Mohammed redivivus; er ist die Rekapitulation des Pleromas, das Siegel der esoterischen mohammedanischen Gemeinschaft (der Gottesfreundschaft), der Vollkommene Mensch, in dem sich der Zyklus der Epiphanie des mohammedanischen Lichtes in dieser Welt vollendet und übersteigt. Selbst wenn in der schī’itischen Ontologie das Pleroma der Imāme auf einer höheren Ebene angesiedelt ist, als die Zwölf vom Oberland oder die Zwölf vom Mont-Serrat, ändert dies nichts an der typologischen Korrespondenz, aufgrund welcher die zwei Gemeinschaften die Manifestation desselben Pleromas der Zwölf auf der Ebene der imaginativen Welt sind.

Um die charakteristischen gemeinsamen Züge dieser mystischen Gemeinschaften zu rekapitulieren, weisen wir auf folgendes hin. Es gibt die Idee der spirituellen Führer, die einer höheren Welt angehören, die nach den Anordnungen oder Absichten der Wesen einer höheren Welt ausgewählt werden, deren Bild die Gemeinschaft der Zwölf ist, und damit im Zusammenhang, das vollständige Bild des spirituellen Kosmos, dessen Kräfte einen bestimmenden Einfluss auf die Menschheit ausüben. In jedem Fall legt ihre Zahl die Homologie zu bestimmten kosmischen Dimensionen nahe. Die erste Versammlung der sieben Freunde des Oberlandes entspricht (wie die Heptade der Imāme im Ismailismus) den sieben Planetensphären (den sieben Metallen, den sieben Farben des Lichtes, den sieben Tönen der Tonleiter). Die Gemeinschaften der Zwölf entsprechen den zwölf Konstellationen des Tierkreises des Fixsternhimmels, in welchen die schī’itische Imāmologie die sichtbaren Symbole der Wohnstätten der »zwölf Imāme« erkennt, die ihrerseits als »zwölf Schleier des Lichtes« (und zwölf Zeitalter) vorgestellt werden, in welchen sich das mohammedanische Licht aufhält, ebenso, wie die zwölf Ritter Goethes der »philosophische« Aufenthaltsort des Heros Humanus sind.

Die zwölf sind um eine geheimnisvolle Gestalt, den Freund Gottes, den geheimen Gefährten Rulman Merswins gruppiert; den Humanus in Goethes Gedicht, den zwölften Imām in der schī’itischen Imāmologie. In jedem dieser Fälle hat die geheimnisvolle Gestalt, die das Zentrum des Pleromas der Zwölf ist, die Entscheidung getroffen, in die Verborgenheit einzutreten. Die seinigen dürfen nicht versuchen, ihn an einem Ort dieser Welt wiederzufinden; ihre Suche wird vergeblich sein. In jedem dieser Fälle kündigt sich diese Verborgenheit, dieser Übergang in die »unsichtbare Gegenwart« als das Geheimnis eines neuen Zyklus an. Und diese Idee eines neuen Zyklus stimmt mit der Idee des «spirituellen Rittertums« zusammen.

Von der Treue der Zwölf, welche die Gemeinschaft des Oberlandes bilden und jener der Zwölf des Berges Mont-Serrat hängt die Vollendung des neuen Zyklus ab; das ist die letzte Botschaft an die Johanniter der Grünen Insel und jene, die Bruder Markus auf dem Gipfel des Mont-Serrat erhält. Von ihrem ritterlichen Dienst wissen die Menschen nichts, auch wenn die Zukunft und das Schicksal der Menschheit von ihm abhängen, denn durch sie kommuniziert die Menschheit weiterhin mit den spirituellen Welten. Sie sind es, die noch die Schrecken des zerstörerischen Sturms zurückhalten, der dem Menschlichen droht, solange der Mensch seine vollausgebildete spirituelle Gestalt nicht erlangt hat. Sie bilden mit ihren Führern zusammen den Schlussstein der mystischen Hierarchien, die ohne Unterbruch auf die Menschheit einwirken, die aber nur von einer kleinen Gruppe von Menschen erkannt werden; die Allgemeinheit ignoriert sie, ja ahnt nicht einmal ihre Existenz. Würden sie aufhören zu existieren, dann fiele die Menschheit der Katastrophe anheim. Umgekehrt vollendet die Menschheit von Zyklus zu Zyklus durch sie ihr Schicksal; sie allein kennen die »Chiffren« ihrer geheimen Geschichte, deren Spuren man nicht in den materiellen, äußeren, sichtbaren Gegebenheiten findet, mit denen sich die Soziologie und die exoterische Philosophie beschäftigen, die vorgeben, mit Hilfe der einzigen Kategorien, über die sie verfügen, das zu erschließen, was sie als »Sinn der Geschichte« bezeichnen.

All diese Indizien finden wir auch in der berühmten Unterredung, in deren Verlauf der erste Imām seinen Schüler Komayl ibn Ziyād in das Geheimnis der Gnosis und die ununterbrochene Linie dieser Gnosis initiierte. Die Verborgenheit und ihre Konsequenz, die Ethik, die sie auferlegt, ist ein grundlegendes Thema der imāmitischen Theosophie. Ebenso wie der Erwählte, der Führer im Gedicht Goethes, den Namen Humanus trägt, des Menschlichen im vollen Wortsinn, ebenso ist der zwölfte Imām, der »erwartete Imam« der vollkommene, vollausgebildete Mensch (anthropos teleios). Eine dramatische Aura umgibt jeden einzelnen Imām, da er als kurze Epiphanie einer Gestalt aus einer andern Welt gesehen werden muss, weil diese Epiphanie unweigerlich durch die Zurückweisung seitens der gewöhnlichen Menschen, der politischen und religiösen Mächte dieser Welt verletzt werden wird. Die Aura des zwölften Imām ist jene seiner Verborgenheit, seiner unsichtbaren Gegenwart in dieser Welt, des Inkognitos, in das ihn die Verständnislosigkeit der Menschen zwingt. Aus dem Paradox einer Schönheit und Vollendung, die den Menschen nahegelegt, von diesen aber zurückgewiesen oder beschimpft wird, entspringt das grundlegende schī’itische Empfinden, das sich im Kern des esoterischen Auftrags des Imam wiederfindet, und welches das Leben dessen regelt, den das persische Wort javānmard bezeichnet, das man am besten mit »spiritueller Ritter«, Ritter des Glaubens, übersetzt.

Was Bruder Markus in Bezug auf Humanus ist, sollte jeder schī’itische Adept in Bezug auf den zwölften, den verborgenen Imām sein. Von seinem Glauben und seiner Treue hängt es ab, dass sein Leben und seine Person der Anfang einer »Entbergung« des Imām sind, d.h. seinem Ethos, seiner Lebensart fällt die Aufgabe zu, die Ernsthaftigkeit jenes Eides zu bezeugen, die jede Erwähnung des Imām begleitet: »Möge Gott die Freude [seiner Ankunft] beschleunigen!« Es fällt ihm zu, ein Mitarbeiter des Imām zu sein, seine Parusie mit vorzubereiten. Diese Idee und dieses Ethos durchdringen den iranischen Geistsucher seit der weit zurückliegenden Offenbarung Zoroasters. Die Parusie oder Manifestation, welche in der schī’itischen Theologie die Auferstehung ankündigt, ist die exakte Entsprechung der Idee des Frashkart, der Umwandlung oder Erneuerung der Welt in der zoroastrischen Theologie. Die zoroastrische Ethik der Fravarti und die Ethik des javānmard, das ist die ganze Botschaft des spirituellen Rittertums, die der Iran hinterlassen hat. Sie befindet sich in vollkommener Übereinstimmung mit der Botschaft der Johanniter der Grünen Insel und jener der Ritter des Rosenkreuzes bei Goethe.

Anmerkungen:

[1] Zu Christian Rosenkreutz und dem Rosenkreuzertum siehe die beiden Vorträge die Steiner 1911 in Neuchâtel über die Einweihung des Christian Rosenkreuz hielt.

[2] Paul Naudon, Les Loges de Saint-Jean et la philosophie ésotérique de la connaissance, Paris 1957.

[3] Für die ganze Frage siehe das ausgezeichnete kleine Buch von Wilhelm Rath, Der Gottesfreund vom Oberland: sein Leben geschildert auf Grundlage der Urkundenbücher des Johanniterhauses »Zum Grünen Wörth« in Straßburg, Stuttgart 1955. Man darf dem Autor, der Anthroposoph ist, das Verdienst zuschreiben, die Eigenart der spirituellen Tatsache wahrgenommen und bewahrt zu haben, ohne zu irgendwelchen Hypothesen der literarischen Fiktion oder der Psychiatrie Zuflucht zu nehmen. Das Buch wurde 2015 neu herausgegeben.

2 Kommentare

  1. Benedikt Serwas

    Vielen Dank und meinen ausgesprochenen Respekt für die gründliche und vor allem interessante Arbeit, die sich in diesem Artikel zeigt. Die Erwähnung der “Geheimnisse” am Anfang des Artikels hat mich in den restlichen Artikel hineingezogen. Dieses “Fragment gebliebene Gedicht” Goethes habe ich vor einiger Zeit zu einem Hörspiel vertont. Ich war und bin nun durch Ihren Artikel erneut begeistert von der Arbeit dieser Menschen, die ihr Leben der Entwicklung der Menschheit widmen. Wissen Sie woher Goethe seinen Einblick in diese Arbeit hatte und warum er – wie es immer heisst – “Die Geheimnisse” nicht zu Ende geschrieben hat?

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