Präadamitische Welten und der Erzengel Seraphiel – Die Erzählung von der weißen Wolke III

Zuletzt aktualisiert am 11. März 2016.

Seraphiel. Irak um 1280

Seraphiel. Irak um 1280

Der dritte Teil der Erzählung von der weißen Wolke führt die Gefährten des ersten Imām der Zwölfer-Sch’īa auf ihrer imaginativen Reise durch eine Vielheit von Welten, die der Erschaffung Adams vorausgegangen sind, die Zeit wird für sie zum Raum und sie werden Zeugen weit zurückliegender Ereignisse, die in der »Akasha-Chronik« der imaginativen Welt »aufgezeichnet« sind. Mit diesem Teil kommt die Erzählung zu ihrem Abschluss.

Die Vielheit der Welten

Salmān der Reine fährt mit seiner Erzählung fort: »Wir machten uns also auf, den Berg Qāf zu ersteigen. Ich fragte den Imām: »Was liegt jenseits des Berges Qāf?« Er antwortete: »Jenseits dieses Berges liegen vierzig Welten; jede Welt entspricht dem vierzigfachen unserer Welt«. Nun fragten wir: »Woher weißt du von ihnen?« Darauf der Imām: »Auf dieselbe Art, wie ich von dieser Welt und dem, was sie einschließt, Kenntnis habe und die Wege des Himmels und der Erde kenne«.

Diese Aussage veranlasst den Kommentator, Qāzī Sa’īd Qommī (gest. 1691), zu einer kurzen Erinnerung an einige Tatsachen der Kosmogonie und Kosmologie, die von der schī’itischen Tradition gelehrt werden. Alle beziehen sich auf Welten, die der unseren ontologisch vorausgehen, auf Universen, deren Zahl stets eine symbolische Bedeutung hat. An erster Stelle natürlich die Erzählung, die auf den zehnten Imām, ’Alī-Naqī, zurückgeht, der von der smaragdenen Grenze gesprochen hat, die unsere Welt umgibt. Sie ist der Vorhang, hinter dem sich die 60.000 Welten des Malakūt erheben. Die grüne Farbe hängt stets mit der Mittelstellung zwischen unserer körperlichen Welt und der Welt der reinen Intelligenzen zusammen.

Hier bezieht sich Qāzī Sā’īd in längeren Ausführungen auf jenes Universum, dessen geheimnisvolle Städte uns aus einem langen hadīth des sechsten Imām, Jafar al-Sādiqs, und der ontologischen Systematik Suhrawardīs vertraut sind: Jābalqā im Orient, Jābarsā im Okzident und Hūrqalyā als Pol. (Siehe: Fatima, die Tochter des Propheten und die himmlische Erde) Der Kommentator bezieht sich außerdem auf Ausführungen Ibn ’Arabis, die vielleicht die schönste und gründlichste Beschreibung dieser imaginativen Welt enthalten (siehe: Die achte Klimazone der Erde). Diese Welten bestehen aus Geiststofflichkeit und Licht. Ihre leuchtende Stofflichkeit besitzt kein Maß; sie ist reine Empfänglichkeit in bezug auf alle Dimensionen, die in ihr Gestalt annehmen können.

In diese Erinnerung an gewisse kosmologische Traditionen fügt der Kommentator einen Exkurs über die zwölf Welten des Lichtes ein, der einen anderen Aspekt des berühmten hadīth über die zwölf Schleier des Lichtes, die zwölf Imāme, darstellt. Hier stoßen wir auf die Unterredung zwischen dem fünften Imām, Mohammad Bāqir, und seinem Schüler Jabīr ibn ’Abdalla. In dieser Unterredung enthüllt der Imām seinem Schüler die Imagination jener Erden, die Abraham nicht gezeigt wurden.

Hier die Erzählung Jabīrs:

»Ich fragte den Imām, wie man den koranischen Vers verstehen muss: Wir ließen Abraham den Malakūt der Himmel und der Erde sehen« (6:75). Ich hielt meinen Kopf zum Boden gesenkt. Der Imām hob seine Hand und sagte: ›Heb den Kopf‹. Ich hob ihn. Ich sah an die Decke und sie war offen, und mein Blick fiel auf ein strahlendes Lichts, das so stark war, dass ich beinahe erblindete. Der Imām sagte: ›Auf diese Art sah Abraham den Malakūt der Himmel und der Erde‹. Und er fügte hinzu: ›Sieh auf den Boden‹. Ich tat es. Er sagte: ›Sieh hinauf‹. Ich tat es. Und die Decke war wieder da. Daraufhin nahm mich der Imām an der Hand. Wir gingen aus dem Haus und in ein anderes wieder hinein. Hier zog der Imām sein Gewand aus und ein anderes an. Dann sagte er zu mir: ›Blick nach unten‹. Ich tat es. ›Öffne die Augen nicht‹, sagte er. Er ließ eine Stunde vergehen, dann sagte er: ›Weißt du, wo du bist?‹ – ›Nein, ich weiß es nicht‹. – ›Du bist in jener Finsternis, die Alexander durchschritten hat‹. Da sagte ich: ›Möge ich dein Lösegeld sein. Darf ich jetzt die Augen wieder öffnen?‹ – ›Öffne sie, du wirst nichts sehen‹. Tatsächlich, als ich die Augen öffnete, befand ich mich in einer Finsternis, in der ich nicht einmal erkennen konnte, worauf meine Füße standen. Der Imām machte einige Schritte und blieb stehen. Er sagte: ›Weißt du, wo du jetzt bist?‹ – ›Nein‹, sagte ich. – ›Du stehst am Rand der Quelle des Lebens, aus der Khezr getrunken hat. Trink von diesem Wasser‹. Ich trank, auch ich. Dann verließen wir die Welt, in der wir uns befanden, und gingen in eine andere. Wir gingen auf einem Weg und betrachteten Dinge, die von ihrer Form her jenen in unserer Welt, ihren Pflanzen, Orten und Einwohnern glichen. Dann machten wir uns in eine dritte Welt auf, die der ersten und der zweiten ähnelte. Nach und nach gelangten wir in eine fünfte Welt. Der Imām sagte: ›All dies ist der Malakūt der Erde, den Abraham nicht gesehen hat; er hat nur den Malakūt der Himmel gesehen. Es gibt zwölf Universen, die jenen ähnlich sind, die du gesehen hast. Jedes Mal, wenn die Zeit eines Imām auf eurer Erde erfüllt ist, begibt er sich in eine dieser zwölf Welten, bis der letzte von uns, der Imām der Auferstehung, sich zu uns hinzugesellt‹. Dann sagte der Imām: ›Schließ die Augen‹. Ich schloss sie. Er nahm mich an der Hand, und siehe: wir befanden uns in jenem Haus, von dem wir ausgegangen waren. Da zog der Imām sein Gewand aus, und das erste wieder an. Wir kehrten an den ersten Ort unserer Zusammenkunft zurück. Ich sagte zu ihm: ›Möge ich dein Lösegeld sein! Wie viel Zeit ist vergangen?‹ Der Imām antwortete: ›Drei Stunden‹«.

Dieser hadīth bezeugt eine andere reale Erfahrung des Eintritts in die imaginative Welt, die mit jener der »Erzählung von der weißen Wolke« vergleichbar ist. Wesentlich ist hier die organische Verbindung zwischen unserer Welt und dem Malakūt, die durch die Zwölfzahl angedeutet wird und sich auf den Zusammenhang der Zeiten bezieht.

Die zwölf Universen sind uns bereits aus dem hadīth über die »zwölf Schleier des Lichtes« bekannt, mit dem Unterschied, dass sie dort in der Reihenfolge ihrer Entstehung beschrieben werden. Der hadīth berichtet, dass gleichzeitig mit dem »mohammedanischen Licht«, das durch den selbstschöpferischen Willen geschaffen wurde – oder aus diesem Licht – die zwölf Schleier des Lichtes geschaffen wurden. Diese zwölf Schleier repräsentieren die zwölf Welten der zwölf Imāme, die zugleich als zwölf Zeitalter (Äonen) aufgefasst werden.

Das mohammedanische Licht hält sich bei seinem Abstieg zur irdischen Epiphanie in der Person des Siegels der Propheten nacheinander in jedem dieser zwölf Schleier auf. Es verbleibt zwölf Jahrtausende im ersten, elf Jahrtausende im zweiten, zehn im dritten usw. Von Jahrtausend zu Jahrtausend durchdringt es den Raum der imaginativen Welt, der es der Zeit seiner irdischen Epiphanie immer näher bringt (der Raum wird hier zur Zeit). Umgekehrt sind die zwölf Welten, die der Imām Jābir zeigt, die Stufen des Wiederaufstiegs dieses Lichtes von Imām zu Imām bis zum Ort seines Ursprungs (die Zeit wird wieder zum Raum). Von Jahrtausend zu Jahrtausend vollzieht sich die Reinvolution der Zeit seines Abstiegs, die Reinvolution, die dieses Licht in die Gleichzeitigkeit des Pleromas der vierzehn Unbefleckten (der zwölf Imāme, Mohammeds und seiner Tochter Fatima) zurückführt. Diese Idee der zwölf Jahrtausende erscheint in der schī’itischen Theosophie wie eine Reminiszenz der irano-hellenistischen Theologien des Aiōn [des Äons, Weltalters oder Weltzeitalters].

Durch Qāzī Sā’īd verstehen wir, dass die Quelle des Lebens sich in der ersten Region der imaginativen Welt befindet, der ersten der zwölf, in welche die Gefährten vordringen, weil der esoterische Auftrag (das walāyat) des ersten Imām diese Quelle ist, und wir verstehen, dass das ewige Leben durch die esoterische Erkenntnis dieses walāyats erzeugt wird. Bemerkenswert ist, dass der fünfte Imām, Mohammad Bāqir, Jabīr lediglich in fünf dieser Regionen führt. Der Grund ist einfach. Ein Mensch vermag lediglich durch jene Form in die imaginative Welt einzudringen, welche ihre Manifestation in unserer sichtbaren Welt ist. Da Jabīr seine Unterhaltung mit dem fünften Imām führt, sind erst fünf der zwölf Imāme in dieser Welt offenbar geworden. Aus diesem Grund vermochte Abraham in keine dieser zwölf Welten vorzudringen. Und dies stimmt gut mit der Idee der Expansion der Zeit zusammen, auf die ihre Involution folgt. Mit der kurzen, flüchtigen Manifestation des zwölften Imām begann die Offenbarung der Imagination des »Vollkommenen Menschen«, der ein vollständiges Universum bildet, das den Thron, das Firmament, die Himmel und die Erde mit allem einschließt, was in ihnen existiert. Aber ihre vollumfängliche Manifestation wird erst mit der Parusie des zwölften Imām, des Auferweckers, eintreten; dann auch wird die Involution unserer chronologischen Zeit in der geistigen Zeit der imaginativen Welt erreicht werden, weil allein mit dem zwölften Imām die Realität des Menschen ihre vollendete Ausgestaltung erreicht.

Das Ende dieses kurzen Exkurses führt uns zu einigen kosmologischen Überlieferungen zurück, insbesondere zu jenen vierzig Welten, von denen der Imām spricht. Wir können hier nicht die Übereinstimmung der zahlreichen unterschiedlichen Überlieferungen untersuchen. Es gibt z.B. einen hadīth, in welchem ebendieser Jābir berichtet, der fünfte Imām habe erklärt: »Jenseits unserer Sonne gibt es vierzig weitere Sonnen. In diesen Welten lebt eine Vielzahl von Geschöpfen, denen es gleichgültig ist, ob Gott Adam geschaffen hat oder nicht. Jenseits dieses Mondes gibt es vierzig weitere Welten; zwischen jedem Mond gibt es vierzig Welten. Auch dort leben unzählige Wesen, denen es gleichgültig ist, oder die nicht wissen, dass Gott Adam geschaffen hat oder nicht«.

Kurz, es gibt unzählige Aussagen zu diesen präadamitischen Welten; sie müssten systematisch erforscht werden. Wir können hier nur ein Merkmal hervorheben, das all diesen Aussagen gemeinsam ist, insbesondere jenen, in welchen die Zahl vierzig vorkommt. Sie deuten an, dass unsere adamitische Welt, die Welt des Menschen, die wir kennen, kein Ergebnis dessen ist, was wir heute als Evolution bezeichnen (einer Evolution, von der die Wissenschaft behauptet, die Millionen von Jahren angeben zu können, die es dauerte, um vom Einzeller zum Menschen voranzuschreiten).

Nach unseren Theosophen ist unsere adamitische Welt, unsere Anthropologie, das Ergebnis eines Abstiegs von Welt zu Welt, wobei all diese Welten sich jenseits des Berges Qāf befinden, d.h. jenseits der physischen Welt, die wir mit unseren Augen wahrnehmen und die unsere Wissenschaften erforschen. Und unsere Welt, in der wir leben, stellt das Ende des Abstiegs und zugleich den Beginn des Wiederaufstiegs dar. Wir werden dadurch aufgefordert, nicht zu vergessen, dass alles, was wir mit physischen Hilfsmitteln untersuchen können, sich per definitionem auf dieser Seite der Welt, das heißt jenseits des Berges Qāf befindet.

Ein hadīth, den auch Qāzī Sā’īd zitiert, und an dem sich der Scharfsinn zahlreicher Denker abgearbeitet hat, spricht von der geheimnisvollen Reifung eines kosmischen Adam, die vierzig Morgen gedauert habe. Vierzig Morgen, die Zeugen des Aufgangs der Sonne der göttlichen Emanation waren. Außerdem von vierzig Nächten, in welchen unzählige Sterne, göttliche Lichter aufgingen, die in das menschliche Gefäß hineinleuchteten, dessen Form sie notwendigerweise annahmen.

Die Aufeinanderfolge dieser Morgen und Nächte symbolisiert die Offenbarung von vierzig Welten des Menschen, aber einer Form des Menschen, der in bezug auf jenen, den wir als »Adam, unseren Vater» bezeichnen, präadamitisch war und höher stand als dieser. Daher wird auch von vierzig Orienten und vierzig Okzidenten gesprochen, wobei jede neue Welt der Orient jener Welt war, die ihr folgte. In jeder dieser Welten, wenn auch auf unterschiedlichen Ebenen der präadamitischen Menschheit, ertönte das Treuebekenntnis als Antwort auf die Frage: »Bin ich nicht euer Herr?« (7:171) Ein Meister der mystischen Gnosis beteuerte sogar, er habe die Mehrzahl dieser Welten gesehen und sie in seinem Gedächtnis bewahrt, während ein anderer behauptete, wahrnehmen zu können, wie in ihrer jeweiligen Zeit diese Frage und die darauffolgende Antwort der Geschöpfe erklang. »Es gibt ein grandioses Geheimnis«, bemerkt Qāzī Sā’īd nebenbei, »das du in dem Maße zu erkennen vermagst, in dem es dir möglich ist, das Gewand deiner irdischen Menschlichkeit abzustreifen und dich bis zum Horizont der Seelenwelt zu erheben«.

In jeder dieser präadamitischen Welten wiederholt sich der Rhythmus der Zahl vierzig; daher haben wir den Imām sagen hören, dass jede dieser Welten unsere eigene vierzigfach in sich enthält. Und am Ende dieses kosmogonischen Reifungsprozesses treten die Welt und die Menschheit des »kleinen Adam« hervor, der »unser Vater« ist. Wie es auch ein anderer hadīth zum Ausdruck bringt, in dem sich der fünfte Imām an einen seiner Vertrauten richtet: »Gott hat Millionen von Welten und Millionen von Adamen erschaffen, und du lebst in der letzten dieser Welten und du hast am letzten dieser Adame teil«. (Was also hat es mit dem vielbeschworenen »engen Gehäuse« des Kosmos auf sich, in das der vormoderne Mensch angeblich eingesperrt war?)

Aber, wohlgemerkt, all diese Welten befinden sich jenseits des Berges Qāf, da dieser Berg, der Berg der smaragdenen Städte, die imaginative Welt der menschlichen Realität ist, die wir als die unsere betrachten.

Auf all dies spielt die Antwort des Imām an Salmān den Reinen an dieser Stelle der Erzählung an. Hier nun stimmt der Imām – nicht etwa bloß der erste der Zwölf, sondern ein ewiger Imām, der das theophane Pleroma der Zwölf repräsentiert –, so etwas wie einen erhabenen Lobgesang an, in dem anspielungsweise die Aussagen vieler hadīth antönen, in welchen die zwölf Imāme als das Pleroma der göttlichen, kosmogonischen Kräfte angesprochen werden, deren Spuren und Manifestationen sich in der Stufenordnung unseres sichtbaren Kosmos wiederfinden.

»O Salmān! Unsere Namen sind in die Nächte eingeschrieben. Daher wird es dunkel. Unsere Namen sind in die Tage eingeschrieben. Daher wird es hell. Ich bin der lebendige Beweis, der die Feinde zu Fall bringt. Ich bin die große Umwälzung (79:34). Unsere Namen sind auf den Thron geschrieben, auf dass er zu stützen vermag. Sie sind den Himmeln eingeschrieben, auf dass sie sich erheben. Sie sind der Erde eingeschrieben. Daher ist sie unbeweglich. Auf die Winde, daher wirbeln sie. In den Blitz, daher flammt er auf. In das Licht, daher strahlt es. In den Donner, daher grollt er. Unsere Namen sind auf die Stirn des Erzengels Seraphiel geschrieben, dessen einer Flügel der Orient und dessen anderer der Okzident ist und der verkündet: Des höchsten Lobes würdig, allheilig ist der Herr der Engel und der Geister«.

Diese letzten Worte klingen wie ein Echo des Yahweh Sabaoth, des trishagion (dreimal heilig) der Seraphim in der Vision des Jesajas, die eine der Quellen der Metaphysik der Kabbalisten ist. Und Qāzī Sā’īd kommentiert: »Die Namen bedeuten hier die imāmischen Lichter, die sich aus den Räumen der geistigen Welt (Jabarūt) erheben. Alle Lichtwesen schöpfen ihr Licht aus dem ersten Licht, das aus dem ersten Prinzip hervorging. Dieses erste Licht ist das mohammedanische Licht, das Licht des Pleromas der vierzehn Unbefleckten. Alles, was einen Teil dieses Lichtes, welches das Sein ist, empfängt, empfängt es von diesem ersten Licht und vom geistigen Einfluss dieses höchsten aller Namen«.

Wir haben bereits gesehen, dass es dieser demiurgische Imām war, der den Engel erweckte, der den Finsternissen der Nacht und der Helligkeit des Tages gestaltend und regelnd vorsteht, was kaum möglich wäre, wenn in der Spur nicht etwas von dem anwesend wäre, der diese Spur erzeugt hat. Und dies wird, wie Qāzī Sā’īd sagt, symbolisch als »Einschreibung« der Namen der Imāme in die Tage und Nächte und alle Erscheinungen bezeichnet, die im Anschluss daran aufgezählt werden. Und daher wird die Idee, dass der Zustand und die Gestalt des Seins in ihrer Gesamtheit ein Ergebnis der Wirksamkeit der Imāme als kosmischer Kräfte sind, in der Vision der Namen rekapituliert, »die der Stirn des Erzengels Seraphiel eingeschrieben sind«, des Engels, der schon zu Beginn der »Erzählung von der weißen Wolke« in Erscheinung trat. Die Stirn des Erzengels deutet die metaphysische Höhe an, auf der die zwölf Imāme stehen. Der Orient, in den sich der eine Flügel des Erzengels erstreckt, bedeutet die Erhebung, den Orient des Lichtes des Seins, während der Okzident, in den sich der andere erstreckt, die Welt des Stoffes im »stofflichen Zustand« bedeutet, in die alle Wesen des Lichtes vertrieben wurden.

Daher nimmt Seraphiel durch seinen Flügel im Orient den Einfluss der höheren Welten in sich auf, während er durch seinen Flügel im Okzident diesen Einfluss an die unteren Welten abgibt. Seraphiel umfasst also die Gesamtheit der Wesen, die in jene Relation eintreten, die sich aus der Epiphanie des verborgenen Gottes (deus absconditus) ergibt, und aus dem offenbarten Gott (deus relevatus) den Lehensherrn der Wesen macht, durch eine Verbindung, die den Herrn und seine Diener aufeinander angewiesen sein lässt: Herr und Diener können ohne einander nicht existieren, während es undenkbar wäre, dass der verborgene Gott der negativen Theologie in eine solche Beziehung eintreten könnte. Daher der Jubel Seraphiels, der sich an jenen richtet, welcher »der Herr der Engel und Geister« ist.

Das Volk von ’Ad

Nun folgt eine dramatische Episode, die zum Abschluss der »Erzählung von der weißen Wolke« überleitet. Diese Episode ist eine eindrucksvolle Illustration der Involution unserer chronologischen Zeit in die geistige Zeit der imaginativen Welt, deren Gleichzeitigkeit es der visionären Erfahrung erlaubt, Zeuge von Ereignissen zu werden, die in der Vergangenheit unserer chronologischen Zeit liegen. Dies setzt voraus, dass wir in der Erscheinung, die sich in unserer chronologischen Zeit abspielt, lediglich eine Fassade sehen; während die Realität des Ereignisses für jene unsichtbar und unzugänglich bleibt, die unvermögend sind, in die imaginative Welt einzudringen. In dieser Welt werden die Gefährten Zeugen des Untergangs des arabischen Volkes von ’Ad, der ’aditischen Rebellen, die sich dem Aufruf ihres Propheten widersetzten, wie der Koran berichtet.

Salmān der Reine fährt in seiner Erzählung fort: »Nun sagte der Imām zu uns: ›Schließt die Augen‹. Und wir schlossen die Augen. Darauf sagte er: ›Öffnet sie‹. Und wir öffneten sie. Und siehe: Wir befanden uns in einer Stadt, wie wir noch nie eine größere gesehen hatten. Die öffentlichen Plätze waren sehr belebt. Ihre Bewohner waren größer als alle Menschen, die wir jemals gesehen hatten. Jeder glich einer Palme. Wir fragten: ›Wer sind diese Menschen, die wir noch nie gesehen haben?‹ Der Imām antwortete: ›Sie sind das Volk von ’Ad. Sie sind Ungläubige. Sie glauben weder an den Tag des Gerichts, noch an den Propheten. Ich wollte sie euch an diesem Ort zeigen, denn in unserer Welt sind ihre Tage vorüber. Ihre Stadt, eine der großen Städte des Orients, wurde ausgelöscht. Ich habe euch hierher geführt, ohne dass ihr es bemerktet. Ich werde sie vor euren Augen überwinden‹«.

Qāzī Sā’īd unterbricht für einen Moment den Gang der Erzählung, um einige entscheidende Begriffe der Metaphysik der Zeit zu rekapitulieren, die uns bereits bekannt sind. Um so besser können wir den wesentlichen Schritten des Kommentars folgen.

1) Obgleich die Begegnung mit dem Propheten Sālih und Salomo bereits eine Involution der Zeit implizierte, vertritt unser Theosoph die Auffassung, die Gefährten seien bisher im Wesentlichen Zeugen einer Einwicklung des Raumes gewesen. Nun aber werden sie Zeugen einer Einwicklung der chronologischen Zeit. Mit anderen Worten: der Imām weiht sie in die Schau der Imagination der Zeit und der zeitlichen Dinge ein.

Die vorangehenden Episoden haben uns bereits verdeutlicht, was das Schließen und Öffnen der Augen im Fortgang der Einweihung bedeutet. »Die Augen zu schließen«, sagt Qāzī Sā’īd, »bedeutet für sie, das Interesse an den Imaginationen der Erde und der Dinge, deren Zeugen sie hier werden, hinter sich zu lassen«. Sie zu öffnen, bedeutet, in die Imagination der Zeit, d.h. in den Horizont der Ewigkeit einzutreten, »in dem die zeitlichen Dinge in ihrer Totalität wie farbige Punkte an einem Faden oder leuchtende Perlen auf einer Kette sind und zwar so, dass jedes Wesen, das ein imaginatives Bewusstsein besitzt, einen beliebigen Teil dieser Zeit auszuwählen vermag. Umgekehrt wäre es angesichts der engen Grenzen der Wahrnehmung, in welche die irdischen Menschen eingehegt sind, ein vergebliches Unterfangen, ihnen all dies zu zeigen. Der Imām lässt sie daher nur ein Fragment der Imagination der Zeit sehen«.

2) Alles, was wir bisher von der Philosophie der Zeit wissen, findet in dieser letzten Episode seine Anwendung. Unser Autor fasst die Frage, die sich stellt, wie folgt zusammen: »Wisse, dass ein Wesen, das in der Zeit existiert, ein und dasselbe bleibt, vom Anfang seiner Existenz bis zu ihrem Ende, das durch den Beginn seiner sichtbaren Erscheinung markiert wird. Es handelt sich um ein und dieselbe fortdauernde Realität, aber da das Quantum, das die Form und Gestalt bestimmt, stufenweise erscheint, sieht sie für unsere Wahrnehmung instabil aus: sie geht vorüber und verschwindet. Aber dies bedeutet keineswegs ihre Vernichtung im Kontext der wirklichen Existenz, wenn man die Sache so betrachtet, wie sie wirklich ist. Weit gefehlt! Dieses Verschwinden ist unmöglich, da es unmöglich ist, dass die Individualität, die eine Einheit bildet, zugleich vergeht und besteht. Dieser Niedergang und dieses Verschwinden ereignen sich nur für dich, in bezug auf deine sinnliche Vorstellungskraft, die deinen Geist beherrscht. Die Individualität existiert sehr wohl, als ein Wesen, das eine Einheit bildet, von der Vorewigkeit bis zur Nachewigkeit«.

Man muss sich hier vor einem banalen Missverständnis hüten. Man darf sich nicht vorstellen, dass die Vergangenheit oder die Zukunft in jedem fragmentarischen Jetzt anwesend wären. »Ich will nicht sagen«, präzisiert Qāzī Sā’īd, »dass die Totalität (jener Einheit der Individualität) im gegenwärtigen Augenblick (nunc) existiert. Dies können wir ebensowenig behaupten, wie dass die Totalität seiner räumlichen Erscheinung in einem Teil von ihr existiere. Ich sage auch nicht, dass die vergangene Zeit in jenen Dingen existiert, die für dich in der Vergangenheit liegen oder dass die Zukunft in den Dingen existiert, die da kommen werden, da die Zeit nicht etwas ist, das eine Zeit oder einen Ort hat (was darauf hinausliefe, von einer Zukunft der Zukunft und einer Vergangenheit der Vergangenheit zu sprechen). Vielmehr sage ich, dass die Zeit, die in deinen Augen vergangen ist und jene, die in der Zukunft liegt, aus der Sicht des höheren Horizontes ineinander verschlungen sind und für jenen, für den es keinen Morgen und keinen Abend gibt, auf immer in eins verschlungen sind«.

Qāzī Sā’īd ruft uns die Blätter des Buches in Erinnerung, die für jeden Menschen am Tage der Auferstehung aufgeschlagen werden. Diese Blätter sind die aufeinanderfolgenden Tage, sein Quantum der Zeit nach dem Maß dieser Welt; das Buch ist sein ganzes Leben. Dem ganzen Buch entspricht die Imagination der Zeit jedes Einzelnen; die Blätter, die man umdreht, verschwinden nicht, so dass ein Wesen der imaginativen Welt sie nach Gutdünken in diese oder jene Richtung umdrehen kann; im großen Buch der Welt vermag es auch jene Blätter zu lesen, die in der Zukunft liegen. »Verbringe eine Stunde am Ufer eines Flusses« sagt unser Autor, »um das Wasser zu betrachten, das dahinfließt. Du denkst gewiss nicht, dass jenes Wasser, das sich von dir entfernt hat, aufgehört hat, zu existieren. Ebenso verhält es sich für eine Anzahl von Menschen mit reinem Herzen mit dem Dahinfließen der Zeit wie mit dem Dahinfließen des Flusses«.

3) Wenn der Imām seinen Gefährten die Stadt der ’Aditen in der Seelenwelt zeigt, dann »handelt es sich um ein Fragment jener früheren Zeiten und Orte, in welchen jede neue Generation so etwas wie eine Stadt darstellt, da sich in ihr eine Gruppe von Menschen zusammenfindet, denen gemeinsam ist, dort zu existieren. Dass es sich um eine Stadt im Orient handelt, bedeutet, dass sie der vergangenen Zeit angehört, weil sich die Vergangenheit am Ursprung der chronologischen Zeit befindet und dieser Ursprung in Wahrheit der Orient der Sonne der Lichter und der Geister ist, die sich erheben, um ihren Gang durch die Himmel der Gegenwart und Zukunft anzutreten. Der Unglaube der ’Aditen an die Auferstehung und ihre Zurückweisung der Botschaft des Propheten sind zwei Aspekte ein und desselben spirituellen Leidens, denn für den mystischen Theosophen schließt der Glaube an die Auferstehung den Glauben an die Botschaft des Siegels der Propheten ein«. Anders gesagt, solange das Niveau der menschlichen Realität nicht jene Vollendung erreicht hat, die durch die Zustimmung zur prophetischen Botschaft symbolisiert wird, ist die Rückkehr als Wiederaufstieg in den Ursprung, als Involution der Zeit, unmöglich. »Und dies«, so unser Kommentator, »ist eine jener Pforten, die tausend andere Pforten öffnet«.

Tatsächlich erlaubt uns diese geöffnete Pforte, den Zusammenhang zwischen der Imāmologie und der Eschatologie zu erkennen, weswegen der Imām in zahlreichen hadīth und Predigten erklärt: »Ich bin das Paradies und die Hölle. Ich bin der Große Beweis, die Große Erschütterung«. Die Parusie des Imām vollendet die Involution der Zeit und bringt jene außerordentliche Gleichzeitigkeit hervor, die von den Gefährten erlebt wird, eine Gleichzeitigkeit, die auf der Ebene unserer »verdichteten und undurchsichtigen Zeit«, der chronologischen Zeit unserer sichtbaren Welt, schlechterdings undenkbar ist.

Salmān der Reine fährt in seiner Erzählung fort: »Nun näherte sich der Imām den ’Aditen und forderte sie auf, den Glauben anzunehmen. Sie weigerten sich. Er stellte sich ihnen gegenüber und sie griffen ihn an. Wir sahen sie, aber sie sahen uns nicht. Er berührte mit seiner Hand unsere Körper und Herzen und sagte: ›Seid fest im Glauben‹. Darauf ging er wieder auf sie zu und forderte sie erneut auf, den Glauben anzunehmen. Erneut weigerten sie sich. Daraufhin ertönte ein einziger Schrei. Ich bezeuge dies in die Hand dessen, der meine Seele ist! Ich glaubte, die Erde hätte sich umgedreht, die Berge seien flach geworden und ich sah sie, die Riesen, auf der Erde liegen, wie die Stümpfe entkernter Palmen. Daraufhin sagte der Imām: ›Gott möge es nicht zulassen, dass euer Glaube schwach wird!‹«

Über das Paradox dieser Gleichzeitigkeit in der imaginativen Welt meditierend, schreibt Qāzī Sā’īd: »Wisse, dass zwischen dem Ereignis das sich hier in unserer Erzählung vollzieht, dem Untergang der ’Aditen durch das Schwert des Imām, und der Erzählung des Koran, die von ihrem Untergang durch einen Wirbelsturm berichtet, kein Widerspruch besteht. Ebensowenig, wie es einen Widerspruch zwischen der Erzählung des Koran gibt, die von ihren Freveln in vergangenen Jahrhunderten berichtet, und dem Kampf, den ihnen der Imām vor den Augen unserer Gefährten liefert. Dies ist deswegen so, weil der Wirbelsturm und alle Heere des Himmels mit göttlicher Erlaubnis dem Imām zu Diensten stehen, und er, der Imām der lebendige Beweis ist, der die Feinde des Glaubens zurückschlägt, weil er das große Zeichen ist, das sie ablehnen. Durch ihn und seine Anordnung kam der Untergang der vergangenen Generationen, ebenso wie das Heil der Gläubigen durch seine Gnade und Barmherzigkeit. Denn der Imām begleitet durch seine geheime, übersinnliche Gegenwart alle Propheten, und diese imaginative Bruderschaft ist es, die der Imām Salmān und seinen Begleitern offenbart«.

So vollendet sich der Unterricht der visionären Erzählung durch eine experimentelle, imaginative Verifikation des berühmten hadīth, in welchem der Prophet bezeugt, dass »der Imām insgeheim mit jedem früheren Propheten ausgesandt wurde, bis er mit ihm öffentlich gesandt wurde«. Die Imāmologie, die Esoterik der prophetischen Botschaft, trägt das Geheimnis der Hierohistorie, der spirituellen, geheimen und unsichtbaren Geschichte der Menschheit in sich. In der imaginativen Welt findet sich die einzige wahre Gleichzeitigkeit, weil all jene, deren Quantum der Zeit sich auf der selben Ebene des Seins befindet, gleichzeitig in derselben Region dieser Welt versammelt sind. Und allein in der imaginativen Welt wird die Totalität sichtbar, die nichts mit jener fragmentarischen Anschauung gemeinsam hat, welche die »undurchsichtige Zeit« unserer gewöhnlichen Geschichte kennzeichnet.

Die Stunde des Mittags

Keinerlei Gemeinsamkeit in der Tat! Nach einem letzten Flug, über den wir nichts weiter erfahren, als dass die Erde durch ihn nunmehr nicht mehr wie ein Hügel, sondern wie die Oberfläche einer kleinen Münze erscheint, kommt die »Erzählung von der weißen Wolke« zu einem raschen Ende. Die Gefährten finden sich im Haus des Imām wieder, das sie körperlich niemals verlassen haben, und sie brauchen dafür weniger Zeit als ein Augenzwinkern dauert. Der Muezzin ruft gerade zum Mittagsgebet.

»Nun«, präzisiert Salmān der Reine, »wir waren bei Sonnenaufgang aufgebrochen. Für unseren Aufstieg auf den Berg Qāf und unsere Rückkehr benötigten wir insgesamt fünf Stunden«. Diese fünf Stunden entsprechen den fünf Regionen der imaginativen Welt, die von den Gefährten besucht werden, für die sie jeweils eine Stunde brauchen. Diese fünf Stunden sind offensichtlich ein exoterisches Maß, das aus unserer »undurchsichtigen, verdichteten«, irdischen Zeit stammt. Denn in Wahrheit gibt es keinen gemeinsamen Maßstab zwischen dieser irdischen Zeit und der Zeit der Seelenwelt, in der man Zeitgenosse der Vergangenheit und Zukunft ist, in welcher die Zeit zum Raum, zum Raum der Distanzen der Seele wird, die diese Distanzen mit einer Geschwindigkeit überwindet, die allein vom Ausmaß ihres Verlangens abhängt.

Das Wort »Stunde« hat hier die gleiche Bedeutung wie im Koran, in dem es den Tag der Auferstehung bedeutet. Daher erscheint auch die Stunde des Mittags mit Bedeutung aufgeladen (der Mittag ist die Stunde, in der die Wesen keine Schatten mehr werfen; in gewissen iranischen Überlieferungen ist es im Lande Yimas immer Mittag).

Und in der Tat kündigt diese Stunde des Mittags das Ziel der ganzen »Erzählung von der weißen Wolke« als Initiationserzählung an. Der Aufstieg der Gefährten in die Seelenwelt hat aus ihnen Menschen der Imagination gemacht; deswegen haben wir weiter oben auch einen anderen mystischen Aufstieg erwähnt: die anagoge, die in der Gemeinschaft jener, welche die chaldäischen Orakel als ihr Heiliges Buch betrachteten, die Bedeutung eines »Sakramentes der Unsterblichkeit« besaß. In unserer Erzählung sind die Gefährten, die an der Initiation teilgenommen haben, durch die Quelle des Lebens gegangen; sie haben daher den Zustand der vollkommenen Ausgeglichenheit des spirituellen Menschen erreicht, und genau dies bedeutet es, in der Stunde des Mittags anzukommen, in der Stunde, in welcher der Muezzin zum Mittagsgebet ruft. »Dass sie zur Stunde des Mittags gelangt sind«, so Qāzī Sā’īd, »deutet darauf hin, dass sie im Verlauf ihrer Reise den Äquator der menschlichen Realität erreicht haben, die Linie der Tag-und-Nachtgleiche der esoterischen Wirklichkeit des Imām, der das Siegel der absoluten Esoterik ist«.

Und deswegen liegt der Gedanke an eine »historische Kritik« dieses visionären hadīth und aller vergleichbaren hadīth auch jenseits aller Realität. Sich zu fragen, ob dieses Ereignis sich in diesem oder jenem Jahr während des Lebens des Imām abgespielt hat, oder ob Salmān wirklich der Erzähler dieser Geschichte ist, oder ob sie nicht einer späteren Zeit angehört, wozu soll dies gut sein? Nichts von dem, was sich in dieser Erzählung ereignet, spielt sich in unserer chronologischen Zeit ab, weil es gerade darum geht, diese Zeit hinter uns zu lassen. Wenn wir den Text so behandeln, was behalten wir dann in den Händen, außer die Chrysalide eines Schmetterlings? Welchem Datum und welcher Geschichtlichkeit sollen wir den Moment zuordnen, in dem sich der Imām real einem inbrünstigen Schī’iten offenbarte, mitsamt all den realen Ereignissen, die sich in der imaginativen Welt abspielten? Wir begegnen der »vollendeten Tatsache« allein dort, wo sie sich vollendet, und sie vollendet sich nicht hier, auf dem Schauplatz der äußeren Geschichte. Die Realität der Stunde des Mittags in der imaginativen Welt entspricht der liturgischen Zeit des Mittagsgebets, und die liturgische Zeit ist nicht die historische Zeit.

Alle Bestandteile der theosophischen Imāmologie werden auf diese Weise meditiert und, wie in den Erzählungen Suhrawardīs, kommt es auch hier zu jenem privilegierten Augenblick, in dem die Lehre zum erlebten visionären Ereignis wird. So auch dieser hadīth. In welchem Jahr auch immer jener die Feder ergriff, dem wir seine heutige Fassung verdanken, es bleibt doch Salmān der Reine, der erzählt, was er gesehen hat, der »Salmān deines Wesens«, der die Fähigkeit besitzt, zu sehen, um uns der Sprache Semnānīs zu bedienen. Und wenn Qāzī Sā’īd dazu einen Kommentar geschrieben hat, dann mit der Absicht, die er schon zu Beginn mitteilte, seine Leser dahin zu führen, dass sie ebenfalls auf der weißen Wolke Platz nehmen und sich in die imaginative Welt erheben.

Selbst wenn seine Leser nicht imstande sein sollten, dieser Intention gerecht zu werden, so bleibt doch die Tatsache bestehen, dass Qāzī Sā’īd einer jener iranischen Philosophen und Mystiker ist, von dem jeder, der kein »Zeitgenosse« sein und nicht der trivialen Devise unserer Tage folgen will, die besagt, dass wir »mit unserer Zeit gehen sollen«, der vielmehr »seine eigene Zeit« realisieren und integral leben will, viel lernen kann. Die Metaphysik der Zeit Qāzī Sā’īds ist das sicherste Antidot gegen die Illusion einer anonymen, unpersönlichen Zeit, welche die Zeit aller wäre.

Die gleichzeitige Anwesenheit in der chronologischen Zeit reicht nicht aus, um aus unterschiedlichen Wesen Zeitgenossen zu machen. Die Idee des Quantums der Zeit, das jedem Wesen zuteil wurde, das sich als sein eigenes Quantum an Substanz durch unterschiedliche Zustände der Verdichtung oder Vergeistigung hindurchbewegt, erlaubt uns mit größerer Sicherheit jene zu erkennen, die unsere Zeitgenossen sind und jene, die es nicht sind. Zeitgenossenschaft, Gleichzeitigkeit, gibt es deswegen, weil das Quantum der Zeit unterschiedlicher Menschen auf dieselbe Ebene oder Stufe emporgehoben wird. Das bedeutet, gemeinsam auf derselben Höhe des Horizonts der imaginativen Welt zu stehen, gemeinsam z.B. in der Stunde des Mittags anwesend zu sein, und dort Zeuge der gleichen Ereignisse zu sein, weil das Quantum der Zeit, das wahrhaft das unsrige ist, die unwiederbringliche Zeit der Geschichte durchbrochen hat.

Das Vordringen in die imaginative Welt und die Zeit dieser Welt kann nur ein liturgisches Mysterium sein; das ist es, worauf der Ruf des Muezzin die Gefährten der mystischen Reise aufmerksam macht.

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