Tugendregime – Worum es in der politischen Kampfarena geht

Zuletzt aktualisiert am 19. April 2020.

Bullen und Bären

Foto: Eva K., CC BY-SA 2.5, https///commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=824045

Tugenden waren schon immer politisch. Zumindest seit die alten Griechen über sie nachzudenken begannen. Plato entwickelte seine Staatslehre aus einer Anthropologie der Tugenden, die im Zentrum der »Politeia« stand. Im Aufbau des Gemeinwesens und seiner Funktionsschichten spiegelte sich seiner Auffassung nach der Aufbau des Menschen. Die sozialen Aktivitäten der Bauern, Händler und Gewerbetreibenden, der Krieger und Wächter sowie jene der Philosophenherrscher sind Projektionen der ihnen entsprechenden Seelenkräfte mit ihren Tugenden bzw. Untugenden in die Sphäre von Raum und Zeit. Die begehrende, raumgreifende und die stoffliche Welt gestaltende Seelenkraft des Willens äußert sich in der Kultivierung des Bodens und der Hervorbringung von Gütern des täglichen Bedarfs, von Nahrungsmitteln, Werkzeugen, Waffen, Bauwerken und so weiter. Besonnenheit ist die Zähmung der Begierde durch Arbeit, durch die Umformung der widerständigen Natur. Die zwischen Sympathie und Antipathie, Liebe und Aggression hin und her oszillierende Kraft des Fühlens manifestiert sich im Mut der Wächter, die bereit sind, das Gemeinwesen gegen äußere und innere Feinde zu verteidigen. Die denkende Seele schließlich schwingt sich zur Weisheit, zur Anschauung der Ideenwelt, der Urbilder des Guten und Wahren auf und ist dadurch zur Lenkung des Gemeinwesens berufen. Wirkt jeder das Seine und der in ihm vorwaltenden Seelenkraft gemäß, verwirklicht sich im Gemeinwesen die Gerechtigkeit, das Zusammenstimmen und die Harmonie der Teile, die das optimale Gedeihen des Ganzen sichert. Daher ist die idealste Staatsform die Aristokratie, die Herrschaft der Besten, die aus der philosophischen Kontemplation des Weltzusammenhangs und den daraus gewonnenen Einsichten die optimalsten Entscheidungen treffen. Da in ihnen die Weisheit über die anderen Seelenglieder dominiert, werden sie nicht von der Begierde nach Besitz bestimmt und verzichten freiwillig auf privates Eigentum. Politiker ohne Gier nach Bereicherung: in der Tat wäre dies nicht die Herrschaft der Schlechtesten! Und eben wo diese Gier sich unter den Besten ausbreitet, beginnt der Verfall des Gemeinwesens, das über die Timokratie, die Oligarchie und die Demokratie schließlich zur Tyrannei entartet. Die Timokraten bemächtigen sich des Besitzes der Bauern und Gewerbetreibenden und aus den freien Werktätigen werden Knechte. Die Gemeinschaft wird von den kriegerischen Untugenden der Streitsucht und des Ehrgeizes beherrscht. In der Oligarchie hängt Macht vom Reichtum ab, die Gemeinschaft wird von einer Epidemie der Begierde überwältigt, gewinnsüchtige Geschäftsleute und dem Luxus frönende Erben bestimmen die Szene. Die Oberschicht ist zur parasitären Klasse geworden, deren Interessen und Handlungen vom begehrenden Seelenteil bestimmt wird. Die Timokratie schlägt, wenn der Leidensdruck groß genug wird, durch den Umsturz der Unterdrückten in Demokratie um, in der jedoch nicht die Besten herrschen, sondern jene, die das Volk am besten zu manipulieren verstehen und jedem nach dem Munde reden. Da diese Gesellschaftsform vom entfesselten Egoismus der Einzelnen dominiert wird, zerfällt die Ordnung, das Gesetz wird missachtet und Anarchie breitet sich aus. Als Retter erscheint der Tyrann, der das allgemeine Chaos beseitigt und zunächst als wohltätiger Ordnungsstifter erscheint. Die allgemeine Freiheit und Verantwortungslosigkeit mutiert jedoch unter seiner Herrschaft zur äußersten Sklaverei, da er sein Unrechtsregiment nur mit Hilfe von Gewalt aufrecht zu erhalten vermag. Der Tyrann ist der Antitypus des Weisen, die Tyrannis die Inversion des Philosophenkönigtums.

Auch Aristoteles vermochte Tugenden gar nicht anders zu denken, denn als staatsbürgerliche Tüchtigkeiten, die sich am Gemeinwesen für das Gemeinwesen bilden. Die beste Staatsform war für beide die Herrschaft der Tugendreichsten, der Aristoi, die Ursache des gesellschaftlichen Verfalls lag in der schrittweisen Inversion des Besten in sein Gegenteil: in Dummheit, Angst und Gier.

Die christliche Ära schrieb diese Grunderzählung fort, sosehr sie sich auch vom Heidentum abzusetzen versuchte. Augustinus ließ den Gottesstaat aus spezifisch christlichen Tugenden hervorgehen und deutete den irdischen Staat als Reich der Untugend. Trotz ihrer kapriziösen Religionskritik vermochte die Aufklärung den konstitutiven Zusammenhang zwischen dem guten Leben des Einzelnen und der guten Gesellschaft nicht aufzulösen, sie versuchte ihn lediglich einmal mehr aus der menschlichen Vernunft zu begründen. Ihr Unternehmen allerdings, die Vernunft zur Göttin und die Tugend zur Tyrannin zu erheben, mündete im Terror. Die Äußerung Robespierres kurz vor seiner Exekutierung 1794 bedarf keines Kommentars: »Der Terror ist nichts anderes als die unmittelbare, strenge und unbeugsame Gerechtigkeit; er ist also die Emanation der Tugend; er ist nicht so sehr ein besonderer Grundsatz als vielmehr die Folge des allgemeinen Grundsatzes der Demokratie, angewandt auf die dringendsten Bedürfnisse des Vaterlandes«. Der Terror als Emanation der Tugend! Wie weit hatte sich der abendländische Logos damit von der Vorstellung der Liebe als einer Emanation des Schöpfers entfernt. – Auch die demokratischen Massengesellschaften des 20. Jahrhunderts fußen, ebenso wie ihre totalitären Gegenbilder, auf einer Anthropologie kontrovers definierter Tugenden. Hier stehen sich »Gleichheit«, in der Nachfolge der französischen Revolution und »Freiheit« nach dem Vorbild der Unabhängigkeitserklärung Jeffersons gegenüber; jene führte zum roten Terror, diese zur entfesselten Ausbeutung. Ein Wahlkampfslogan der CDU/CSU brachte die sich gegenseitig spiegelnde Vereinseitigung 1972 auf den Punkt: »Freiheit oder Sozialismus«.

Selbst das deutsche Grundgesetz verankert das Selbstverständnis der Republik und damit der Gesellschaft in staatsbürgerlichen Tugenden: in der Achtung und dem Schutz der menschlichen Würde, im Bekenntnis des »deutschen Volkes« zu unveräußerlichen Menschenrechten, zu denen die persönliche Freiheit, die Gleichheit vor dem Gesetz, die Meinungs- und Religionsfreiheit, die Verpflichtung des Eigentums gegenüber dem Gemeinwohl usw. gehören.

»Alle staatliche Gewalt«, heißt es im Artikel 1, ist der Tugend der Achtung verpflichtet (in Abs 1 steht: »Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt«). Die Präambel der Verfassung spricht sogar von der »Verantwortung« des deutschen Volkes »vor Gott und den Menschen«. Wer also als Bürger dieses Staates ein gutes Leben im Sinne des Grundgesetzes führen will, sollte die von ihm vorausgesetzten und angesprochenen staatsbürgerlichen Tugenden im Bewusstsein seiner »Verantwortung vor Gott und den Menschen« achten und sie seinem individuellen Lebenswandel zugrunde legen. Diese Verantwortung und die Achtung der Menschenwürde gehen der Aufzählung der individuellen Freiheitsrechte sogar voraus, sie bilden daher den Rahmen, in den letztere eingebettet sind, der zugleich die Grenze darstellt, die ihnen gesetzt ist, eine Grenze, die zum Beispiel in Artikel 2 zum Vorschein kommt, der die freie Entfaltung der Persönlichkeit nur insoweit zulässt, als sie »die Rechte anderer nicht verletzt« oder nicht »gegen das Sittengesetz« verstößt. Das »Sittengesetz« wird vom Grundgesetz vorausgesetzt und über seinen konkreten Inhalt darf gestritten werden, da es von ihm nicht näher definiert wird. Damit weist das Grundgesetz mit seinem Tugendkatalog, ebenso wie mit seiner Präambel und Artikel 1 auf einen normethischen Raum, der jenseits seiner selbst liegt und von der Gesellschaft, die sich in seinem Geltungsbereich bewegt, ausgehandelt werden muss. Diesem normethischen Raum gehört auch die Würde des Menschen an, die nicht von der »staatlichen Gewalt« abhängt, sondern sie vielmehr legitimiert, da die Achtung und der Schutz dieser Würde der Daseinszweck dieser »Gewalt« ist.

So gesehen kommt der »Tugend«, die heute so gerne belächelt wird, für das Selbstverständnis Deutschlands eine zentrale Bedeutung zu, von ihr hängt geradezu die Existenz der Gesellschaft ab. Ähnliches ließe sich aber auch für andere europäische und außereuropäische Gesellschaften sagen. Überall wo sich Gemeinwesen bilden, Agglomerate von Individuen, die sich eine Verfassung geben und als inkludierendes Ganzes verstehen, werden solche Tugenddiskurse geführt.

Da Tugend ein moralischer Begriff ist, sind die gesellschaftlichen Debatten entsprechend moralisch aufgeladen, heute mehr denn je. Ein nicht unerheblicher Teil dieser Debatten besteht in Auseinandersetzungen darüber, was man tun oder sagen darf. Entscheidungen darüber, was man tun und sagen – möglicherweise sogar denken – darf und was nicht, setzen Normen voraus und eben diese Normen des gesellschaftlichen Lebens werden im öffentlichen Diskurs verhandelt. Die Normen aber beruhen ihrerseits auf Menschen- und Weltbildern und aus diesen abgeleiteten »Sittengesetzen«. Im politischen Streit geht es stets um den »guten Menschen«, so sehr dies die am Streit Beteiligten auch von sich weisen mögen. Allen – wirklich allen – politischen Streitfragen ist der Glaube an den »guten Menschen« unterlegt. Darf man Eltern dazu zwingen, ihre Kinder impfen zu lassen? Wer es nicht tut, gefährdet die anderen, ist also schlecht. Darf man Mütter dazu zwingen, sich möglichst früh nach der Geburt eines Kindes wieder in den gesellschaftlichen Produktionsprozess einzugliedern? Wer sich dagegen ausspricht, wehrt sich gegen Emanzipation und Gleichberechtigung, er möchte Frauen unterdrücken, ist also schlecht. Darf man Menschen auf Verlangen töten? Wer sich dagegen ausspricht, will unnötiges Leiden verlängern, ist also ein Sadist. Darf man mit »Rechten« reden? Wer dies bejaht, gibt ihnen eine Plattform, ist daher selbst ein Rechter und deshalb schlecht. Muss man mit »Linken« leben? Wer das befürwortet, unterstützt gewaltbereite Chaoten, ist also selbst einer und damit schlecht. Muss man angeblich unwissenschaftliche medizinische Praktiken dulden oder sollte man sie nicht besser verbieten? Wer erstere verteidigt, trägt zur Verbreitung der Irrationalität bei und bereitet damit der Wiederkehr des Faschismus den Boden, ist also schlecht. Muss man islamische Verschleierungen verbieten? Wer sich dagegen ausspricht, unterstützt Verfassungsfeinde und ist damit selbst einer.

Häufig wird in diesen Debatten die menschliche Würde ins Feld geführt, weniger häufig werden sie würdevoll geführt. Manche Politiker, wie der ehemalige Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, beklagen gar eine »Verrohung« der politischen Kultur in Deutschland, das Klima der »Einschüchterung und Gewalt«, von dem der Wettbewerb der Parteien bestimmt werde. Von der Debatte über Flucht und Migration spricht er sogar als einem »moralischen Kampfgebiet«. Nach Steinmeiers Diagnose unterliegen die Tugenden des gesellschaftlichen Umgangs einem Erosionsprozess, die Ursache dieses Prozesses ist seiner Auffassung nach in »radikalen Brüchen« zu suchen, die vor allem durch technologische und ökonomische Entwicklungen (Digitalisierung, Wohlstandsgefälle) hervorgerufen werden und in der Verunsicherung, die mit deren Folgen einhergeht. Als Therapie schlägt er den »Lernprozess« vor, den die Demokratie als offene Form der Gesellschaft darstelle. Auch von ihm also werden Tugenden beschworen: Offenheit und Lernbereitschaft, schließlich Toleranz: »Wer nur auf Kundgebungen geht, um andere am Reden zu hindern, der wendet sich gegen die offene Debatte, die er einfordert … Gerade wer zornig und anderer Meinung ist, sollte selbst das Wort ergreifen, statt andere zum Schweigen bringen zu wollen«. Aber eine zivilisierte Debattenkultur beseitigt nicht die Ursachen der Verunsicherung. Vielmehr müssen wir uns fragen, ob unsere Zivilisation nicht schon längst an Dummheit, Angst und Gier verloren ist. Die allgemeine Prostration vor dem Vehikel der Verblödung, dem Internet, die Selbstpreisgabe an die Globalisierung, die unerschöpfliche Quelle der Angstvermehrung und der frenetische Tanz um das goldene Kalb des Luxus und der Prominenz sprechen jedenfalls dafür.


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