Christliche Theosophie, historisch. Theosophie V

Zuletzt aktualisiert am 29. April 2015.

Fortsetzung von Theosophie IV.

Kurze_Anleitung_1Nach diesen Vorüberlegungen wendet sich Versluis im folgenden Kapitel der christlichen Theosophie der Neuzeit zu. Er vermittelt einen kurzen historischen Überblick über eine Reihe von Autoren, angefangen mit Jacob Böhme, in dem die Theosophie ihre »historisch bewussteste Form« annimmt, bis zu Franz von Baader im 19. Jahrhundert. Versluis vertritt die Auffassung, die Theosophie stelle in einem Zeitalter der Verirrung, wie dem unsrigen, das durch Vergessen essentieller Werte gekennzeichnet sei, noch immer eine spirituelle Alternative dar. An dieser Stelle könnte man die Frage aufwerfen, warum er die moderne Fortentwicklung der Theosophie im 20. Jahrhundert, die Anthroposophie, die ebenso in der Tradition eines individualisierten Erfahrungschristentums steht, mit keinem Wort erwähnt – auch sonst nirgends in seinem Buch. Aber darüber zu spekulieren ist hier müßig.

Böhme jedenfalls repräsentiert ihm ein mystisches Potential, das dem Protestantismus selbst inhärent war. Entgegen der selbst von Protestanten häufig genug kolportierten Auffassung, gibt es nämlich im Protestantismus nicht nur die Bibel und den Glauben, sondern auch eine reichlich fließende Quelle mystisch-spirituellen Lebens, die ihren Ausgang von Jakob Böhme nahm.

Die Theosophen hatten eine völlig unsektiererische Auffassung vom Christentum, was um so ironischer anmutet, wenn man die Zersplitterung des Protestantismus in zahllose verfeindete Sekten in Betracht zieht. Theosophen konnten sich jedenfalls über die Konfessionsgrenzen hinweg in gewissen gemeinsamen Grundüberzeugungen finden, die das Verständnis des Christseins betrafen. Ihr Verständnis wurzelte in der gnostischen visionären Spiritualität Böhmes und folgte dem »Pfad des Herzens«. Sie waren denkbar weit vom exoterischen Fundamentalismus entfernt, der heute meist das Bild des Protestantismus bestimmt, zumal in den USA. Von Böhme ging nicht nur die Theosophie aus, sondern auch eine außerordentlich kraftvolle, populäre religiöse Erneuerungsbewegung, der »radikale Pietismus«, der mit seiner schlichten Dreiheit von Glaube, Frömmigkeit und Mystik ganz Europa ergriff und bis nach Nordamerika wirkte.

In Versluis’ Augen zeichnet die moderne Theosophie vieles aus: eine einzigartige Verbindung von breitem Einfluss und metaphysischer Reflexionshöhe, tiefer Gelehrsamkeit und spiritueller Konsequenz, ein ökosophisches Denken, das die Natur und ihre spirituelle Bedeutung würdigt, ein kultureller Konservatismus (Festhalten an der mittelalterlichen Kosmologie) und schließlich der Primat individueller, spiritueller Erfahrung vor Dogma und Institution. Das zentrale Anliegen der »europäischen Theosophie« war nach seiner Auffassung die innere Wandlung (Transmutation) durch die Geburt Christi im Menschen. Es gibt zwar auch andere wichtige Elemente, aber aus diesem gehen alle anderen hervor. Man könnte sogar behaupten, »die gesamte theosophische Tradition sei nichts anderes, als eine Ausgestaltung des inneren Wesens der Seele, ihrer Wandlung und Erleuchtung«.

Diese Betonung der individuellen Erfahrung, der Geburt des Christus in der Seele des Menschen – die wohl das Logon des Angelus Silesius: »Wird Christus tausendmal zu Betlehem geboren, und nicht in Dir, Du bleibst doch ewiglich verloren« am deutlichsten zum Ausdruck bringt –, verhinderte, dass die Theosophie jemals institutionelle Formen annahm. Zwar schlossen sich immer wieder Gruppen von Menschen zusammen, besonders im Pietismus, aber diese Zusammenschlüsse blieben informell, führten zu keiner institutionellen Verfestigung.

In England bildete sich eine solche Gemeinschaft um John Pordage (1608-1681), dessen Arbeit von Jane Leade fortgesetzt wurde. Sie gründete die Gruppe der »Philadelphier« (nach der gleichnamigen Gemeinde in der »Offenbarung des Johannes«). Manche Theosophen in der Tradition Böhmes wanderten im 18. Jahrhundert nach Amerika aus. Zu ihnen gehörte Johann Conrad Beissel, der 1720 im Alter von 30 Jahren sein Eremitenleben in der amerikanischen Wildnis begann und eine Gruppe von Anhängern um sich sammelte. Beissel, der von Johann Georg Gichtel beeinflußt war, gründete eine »Priesterschaft des Melchisedek« (nach jenem geheimnisvollen Priester, der Abraham segnete). Graf Zinzendorf versuchte, Beissels Gemeinschaft von Ephrata in Pennsylvania in die seinige zu integrieren, scheiterte aber an deren Unabhängigkeitsstreben.

Auch um Johann Georg Gichtel bildete sich eine informelle Gemeinschaft, die »Engelsbrüder«. Versluis weist darauf hin, dass diese Gemeinschaftsbildung für das Verständnis der Theosophie von ebenso großer Bedeutung sei, wie etwaige Lehren oder Offenbarungen. Denn es gehe in der christlichen Theosophie immer um die Verwirklichung des wahren Christentums auf Erden, dessen Quelle zwar die individuelle Erfahrung der Wiedergeburt sei, dessen Ziel jedoch die Bildung einer spirituellen Ecclesia, einer spirituellen Lebensgemeinschaft in Christo.

Wer sich besonders für Lehren interessiert, wird etwa in Böhmes »Aurora oder Morgenröte im Aufgang« fündig. Für die ethisch-moralischen Aspekte, Anweisungen für eine spirituelle Lebenspraxis, wendet man sich dagegen besser an sein Buch »Der Weg zur Christosophie«.

Böhme, der Schuster aus Görlitz, erlebte seine erste Erleuchtung in seinen zwanziger Jahren. Die »Aurora« fußte auf diesen spirituellen Erfahrungen. Bereits seine erste Schrift rief den Argwohn der lutherischen Orthodoxie hervor. Aber dieser Widerstand hinderte ihn nicht, weiter zu publizieren.

Johann Georg Gichtel wurde 1638 in Regensburg geboren, studierte Theologie und stieß auf die Werke von Angelus Silesius und Böhme. Er wurde zum rührigsten und tiefsinnigsten Verbreiter und Interpreten des letzteren. Seine »Engelsbrüder« waren der Versuch, die spirituelle Kirche zu verwirklichen. Die Angehörigen der Gemeinschaft bildeten zwei Gruppen: die »fleischlichen«, die verheiratet waren und doch dem spirituellen Leben zugewandt, und die »vollkommenen«, die ehelos lebten. Die zwei Gruppen erinnern an die Katharer, die ebenfalls diese Zweigliederung kannten. Gichtel, der über hellseherische Fähigkeiten verfügte, beschrieb in manchen seiner Werke die übersinnlichen Wesensglieder des Menschen und die Chakras (Lotusblumen), ähnlich wie später auch Rudolf Steiner.

Anderen Theosophen stand Gichtel skeptisch gegenüber. Von Jane Leade sagte er, sie besitze zwar Kenntnisse der Astralwelt, habe aber keine Einblicke in die höhere Geistwelt gewonnen, ein Einwand, den später auch Steiner zusammen mit Louis Claude de Saint-Martin gegenüber Swedenborg erhob.

Einer der größten Gelehrten der theosophischen Bewegung war Gottfried Arnold, der 1666 in Annaburg in Sachsen geboren wurde. Er zeigte, wie die Erkenntnisse Böhmes bereits bei den Kirchenvätern und Mystikern des Mittelalters auftraten. Eine Fundgrube solcher Einsichten stellt sein Buch »Das Geheimnis der göttlichen Sophia« dar. Gichtel schätzte dieses Werk, mißbilligte jedoch, dass Arnold den Stand der Ehe einging. Arnold bemühte sich auch darum, die Kirchengeschichte neu zu schreiben. Er würdigte in seiner »Unparteischen Kirchen- und Ketzerhistorie«, einem Buch, das von Goethe geschätzt wurde, die von der Orthodoxie verworfenen Gnostiker, und sah die wahre Kirche in jenen verwirklicht, die das Erlebnis der spirituellen Wiedergeburt erreicht hatten.

Louis-Claude de Saint-Martin gehörte zu den fruchtbaren französischen Theosophen. Zunächst mit dem theurgischen Orden von Martinez de Pasquali verbunden, wendete er sich ganz der Übersetzung und Verbreitung der Werke Böhmes zu, die er in der Mitte der 1780er Jahre kennengelernt hatte. In seinen davor erschienenen Werken »Des erreurs et de la vérité« und »Tableau naturel des rapports entre dieu, l’homme et l’univers« stand die Korrespondenz zwischen Mensch und Natur und die Widerspiegelung des Makro- im Mikrokosmos im Vordergrund. Saint-Martin war ein engagierter Gegner des Atheismus und Materialismus, deren Quelle er im Rationalismus der Aufklärung sah, die zu seinen Lebzeiten ihre Triumphe feierte. Als er Böhmes Werke kennenlernte, erkannte er, dass sie all das enthielten, wovon Pasquali nur Bruchstücke besaß. Seine späteren Schriften wie »De l’esprit des choses …« und »Le ministère de l’homme-esprit« zeugen von seiner tiefgründigen Verbundenheit mit Böhme. Sie betonen die Notwendigkeit der Regeneration der Menschheit durch den Logos, zu der die Evangelien führen und schildern die Gefahren, die vom Rationalismus und Atheismus für das soziale Zusammenleben ausgehen. Er selbst wurde als Adliger Opfer des militanten Rationalismus der französischen Revolution, verlor zwar nicht sein Leben, aber seinen Besitz, was ihn jedoch nicht von seinem spirituellen Lebenswandel abbrachte. Gerade in dieser Treue zu einem Ideal sieht Versluis seine Bedeutung: dass außerordentlich chaotische soziale Verhältnisse kein Hindernis sein müssen, den theosophischen Pfad zu beschreiten. Saint-Martin betrachtete die französische Revolution mit ihren Greueln als ein Wetterleuchten der Apokalypse und auch wenn wir – so Versluis 1994 – nicht vor solchen Umwälzungen wie damals stehen, ist unsere westliche Zivilisation dennoch von ökologischer, sozialer und religiöser Fragmentierung betroffen. Im Jahr 2011 sieht dies noch etwas anders aus, der Gedanke liegt nahe, dass uns ein erneutes Wetterleuchten der Apokalypse bevorsteht.

In Deutschland entstand im 18. Jahrhundert durch die Verschmelzung der Kabbala mit der Theosophie ein neuer Zweig der letzteren. Dafür steht Johann Christoph Oetinger, der auf den Schultern Böhmes stand, aber auch über Swedenborg, Alchemie und Kabbala schrieb. In seiner »Lehrtafel der Prinzessin Antonia« behandelte er die lurianische Kabbala und führte solche Ideen ein wie Adam Kadmon, das himmlische Urbild des irdischen Menschen, den makrokosmischen Menschen vor der Erschaffung des Universums, Ain Soph, die Urgestalt der Gottheit vor aller Manifestation und das tsim tsum, die Selbstbeschränkung Gottes, die für die Schöpfung Raum schafft. Oetinger bekräftigt auf seine Weise die Lehre von der Emanation, da die verschiedenen Welten von Gott nicht geschaffen werden, sondern wie das Licht von Gott ausfließen, was ausschließt, dass sie gänzlich von ihm getrennt sind.

Auch Oetinger wandte sich gegen den Materialismus, Atheismus und Rationalismus, die zu seinen Lebzeiten (1702-1782) in Deutschland zu wachsen begannen.

Als Krönung der Synthese zwischen Kabbala und Theosophie betrachtet Versluis das Werk Franz Josef Molitors, dessen »Philosophie der Geschichte oder über die Tradition« noch Gershom Scholem im 20. Jahrhundert für bedeutsam hielt. Auch Molitor hielt eine spirituelle Wiedergeburt für erforderlich, um der Flut des Rationalismus und Szientismus etwas entgegenstellen zu können. Der Materialismus war für ihn eine Folge des Sündenfalls – die Aufgabe bestehe darin, diesen Sündenfall umzukehren: auch Steiner sprach im 20. Jahrhundert vom »intellektuellen Sündenfall« und der »spirituellen Sündenerhebung«. Durch den Sündenfall seien die innere und die äußere Welt, Himmel und Erde für den Menschen auseinandergefallen, und er müsse sich wieder zur ursprünglichen Einheit erheben, die in der Wirklichkeit fortbestehe, nur nicht für sein Bewußtsein. Wahre Wissenschaft gewinne man aus der Erkenntnis der inneren geistigen Formen der Dinge und nicht durch ihre quantitative Erforschung. Die Heilige Sprache, der schöpferische Logos, zu dessen Erkenntnis die Kabbala führe, könne diese inneren Lebensformen alles Geschaffenen für den Menschen erschließen. Nur so könne die Wissenschaft zur spirituellen Wiedergeburt des Menschen beitragen.

Diese Spiritualisierung der Wissenschaft sah Molitor lebendig vor sich: in Gestalt des Theosophen Franz von Baader, den August Wilhelm Schlegel aus »Boehme redivivus« bezeichnete. Baader wurde 1765 in München geboren und starb daselbst 1841. Laut Versluis gelang ihm die »vollständigste Synthese der Traditionen«. Baader gehörte zu den Universaltalenten des 18. Jahrhundert und betätigte sich auf vielen theoretischen und praktischen Gebieten, selbst in der Politik. Er bemühte sich um eine ökumenische Versöhnung zwischen Katholizismus, Protestantismus und russischer Orthodoxie, was ihn 1815 dazu führte, die Bildung einer Heiligen Allianz zwischen Preußen, Österreich und Rußland zu unterstützen. Aber seine Hoffnungen wurden 1825 durch den mysteriösen Tod Alexander I. zunichte gemacht. Obwohl er zeit seines Lebens Katholik blieb, schonte er das Papsttum nicht, das er für viele Fehlentwicklungen des Abendlandes verantwortlich machte.

Baader sollte Berdjajew und Solowjoff beinflussen, ebenso Rosmini. Durch sein tiefes Verständnis des klassischen Griechentums, der Böhmeschen Theosophie und der östlichen Orthodoxie vermochte er diese Traditionen miteinander auszusöhnen, indem er sie auf ihre Quelle, die spirituelle Erfahrung zurückführte. Dadurch ist Baader aus der Sicht Versluis’ die Krönung der europäischen Theosophie. Er vermochte einen frommen Katholizismus mit dem protestantischen Mystizismus Böhmes ebenso zu verbinden, wie die Alchemie und eine paradiesische Anthropologie mit sozialem Engagement, er erkannte die Bedeutung des Eros für das Christentum, und überbrückte mit seinem ökumenischen Anliegen die Gegensätze der Konfessionen. Besonders hervorzuheben ist Baaders Philosophie der Liebe, die ein spirituelles Verständnis der Sexualität ermöglicht.

Doch mit Baader ist nicht das Ende der Theosophie erreicht, sondern nur die Aufgabe umrissen, denn schließlich soll sie auch im 21 Jahrhundert fruchtbar werden.

Diese Aufgabe umschreibt Versluis wie folgt:

  • die Wiederherstellung der wahren Beziehung des Menschen zum Kosmos,
  • eine Wissenschaft der Wandlung (Transmutation), die die gesamte Natur wieder qualitativ versteht,
  • ein spirituelles Verständnis der Sexualität,
  • eine neue Vision der Kultur,
  • eine Umkehrung des Falls und
  • eine Rückkehr zum Paradies, das sich in Wahrheit immer schon in unserem Besitz befindet.

Diesen Themen wendet er sich in den folgenden Kapiteln zu.

Kommentare sind geschlossen.

Kommentare sind geschlossen