Ein Kommentar zu Rudolf Steiners Vortragsreihe »Die Mission einzelner Volksseelen im Zusammenhang mit der germanisch-nordischen Mythologie« von 1910.
Lorenzo Ravagli
Die Vortragsreihe »Die Mission einzelner Volksseelen im Zusammenhange mit der germanisch-nordischen Mythologie« aus dem Jahr 1910 enthält die ausführlichste Auseinandersetzung Rudolf Steiners mit der sogenannten Rassenfrage, die – wie allgemein bekannt – zu Beginn des 20. Jahrhunderts nahezu alle Lebensgebiete beherrschte. Nicht dass Steiner sich mit dieser Frage auseinandersetzte, ist bemerkenswert, sondern wie er es getan hat. Der Vortragsreihe kommt auch insofern ein besonderes Gewicht zu, als Steiner selbst sie für die Veröffentlichung redigiert und mit einer Vorrede versehen hat. (Worin genau die Bearbeitung bestand, lässt sich allerdings nicht mehr feststellen.)
Die Existenz von Rassen und Rassenunterschieden war zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine fraglos hingenommene Selbstverständlichkeit, Rasse ein Paradigma, das – ähnlich wie heute das genetische Paradigma – nahezu globale Anerkennung genoss. Dass Steiner sich innerhalb dieses Paradigmas bewegte, wenn er von der Existenz unterschiedlicher Rassen ausging, kann ihm als Angehörigen seiner Zeit kaum zum Vorwurf gemacht werden.
Dennoch hatte Steiner kein Interesse an der Ausbildung einer durchgearbeiteten Rassentheorie oder einer Weltsicht, die die unterschiedlichen Eigenschaften der Menschenrassen zu einem universellen Erklärungsmittel erhob. Für Steiner war vielmehr das Vorhandensein von Rassen oder Rassenbegriffen selbst erklärungsbedürftig. Deswegen leitet er in seinen Vorträgen die Geschichte der Völker und Kulturen, die Geschichte der Religionen und des menschlichen Bewusstseins auch nicht aus etwaigen Rasseneigenschaften ab, sondern frägt nach den Gründen, warum es überhaupt (somatische) Rassenunterschiede gibt. Er frägt danach, für welchen Bereich der menschlichen Erkenntnis bzw. für welche Epochen der menschlichen Geschichte »Rassen«begriffe Gültigkeit beanspruchen dürfen.
Steiner bestreitet weder die Existenz von Rassen noch die Anwendbarkeit von Rassenbegriffen auf den Menschen. Es ist ihm aber ein Anliegen, deren Reichweite einzugrenzen. Die somatischen Merkmale, die damals in Rassentheorien und -typologien erfasst und zu ontologischen Kategorien aufgebläht wurden, sind für Steiner ephemer, sowohl systematisch als auch geschichtlich, deswegen misst er ihnen weder für die Erkenntnis des Wesens des Menschen noch für das Verständnis der Geschichte eine essentielle Bedeutung zu. Solche Sätze wie jenen Benjamin Disraelis: »All is race, there is no other truth«, findet man bei Steiner nicht. Stattdessen führt er Rassenunterschiede auf das Wirken von geistigen Mächten des Bösen zurück, die nach seiner Auffassung auch den zeitgenössischen Rassismus inspiriert haben (zur Entstehung der Rassen durch das Wirken »zurückgebliebener Geister der Bewegung« siehe weiter unten; zur Inspiration des Rassismus durch die »Geister der Finsternis« vgl. GA 177). Den zeitgenössischen Rassismus bezeichnete er – in Ermangelung des Ausdrucks »Rassismus«, der erst nach dem II. Weltkrieg gebräuchlich wurde – als Ideologie der »Rassenideale« und als »Niedergangsimpuls« der Menschheit. (GA 177, 26.10.1917, S. 205-206.)
Steiner datiert in seinen Vorträgen die Entstehung von körperlichen (phänotypischen) Unterschieden – Kollektivmerkmalen oder »Gattungseigenschaften« des Menschen –, weit in die Vergangenheit zurück: in eine Epoche, die etwa bis zum Beginn des Holozän (rund 10.000 v. Chr.) reichte. Er ordnet dieses »Gattungshafte« einer Schicht der menschlichen Existenz zu, die vom Wesen des Einzelmenschen denkbar weit entfernt ist. Was für passionierte Rassendenker im Zentrum der Welterklärung stand: die postulierte essentielle Verschiedenheit der Rassen, ersetzt Steiner durch den Geist. Dieser umfasst das schöpferische Wirken der Hierarchienwelt und des individuellen menschlichen Geistes, der seine Kreativität von den göttlichen Mächten empfängt, sie aber aus eigener Verantwortung in Freiheit weiter bildet. Als bloßes Naturwesen ist der Mensch mit den Tieren verwandt und kann insoweit auch typologisch beschrieben werden. Als seelisches und geistiges Wesen wird er kulturschöpferisch und bringt sich in der Geschichte zur Erscheinung. Die bloße Typologie lässt dieses spezifisch Menschliche außer Acht.
Dass Steiner kein tiefergehendes Interesse an der »Rassenfrage« oder an der Ausgestaltung einer elaborierten Rassenlehre hatte, zeigen nicht nur diese prinzipiellen Demarkationslinien gegenüber dem damaligen inflationären Gebrauch von Rassenkategorien, sondern auch die Tatsache, dass die ausführlichste Erörterung des Themas in seinem Gesamtwerk einen relativ geringen Raum einnimmt, der zum größten Teil der Frage nach der Phylogenese, der Entstehung der physischen »Rassenunterschiede« gewidmet ist. Programmatische Erklärungen derart, dass die gesamte Geschichte der Menschheit aus Rassenbegriffen erklärt werden könnte, oder dass die gesellschaftlichen Probleme der Menschheit durch eine aktive Rassenpolitik behoben werden müssten, sucht man bei Steiner vergeblich. Es wäre angesichts seiner Grundauffassungen auch widersinnig, wenn er solche Forderungen aufgestellt hätte.
Vielmehr spricht er – wie auch an anderen Orten – in diesen Vorträgen vom künftigen Verschwinden der Rassen: »Aus dem, was ich jetzt gesagt habe, werden Sie erkennen, in welchem Zeitraume der Evolution es erst einen Sinn hat, von dem Rassenbegriff zu sprechen. Es hat keinen Sinn — im eigentlichen Sinne des Wortes —, vor der lemurischen Zeit von einem Rassenbegriff zu sprechen, denn in dieser Zeit steigt der Mensch erst auf die Erde herab. Vorher war er im Umkreis der Erde; dann kam er auf die Erde, und es vererbten sich die Rassenmerkmale in der atlantischen Zeit und bis herein in unsere nach-atlantische Epoche. Wir werden sehen, wie in unserer Zeit die Volksmerkmale das sind, was die Rassencharaktere wieder auseinander bringt, was sie wieder auszulöschen beginnt.« (4. Vortrag, S. 76 f.)
Und er plädiert explizit für einen Umgang der Völker und Nationen miteinander, der alle somatischen, rassischen Differenzen schon heute ignoriert bzw. aktiv zu überwinden sucht. »Wir dienen der gesamten Menschheit am besten, wenn wir das in uns besonders Veranlagte entwickeln, um es der gesamten Menschheit einzuverleiben als ein Opfer, das wir dem fortschreitenden Kulturstrom bringen. Das müssen wir verstehen lernen.
Verstehen müssen wir lernen, daß es schlimm wäre, wenn die Geisteswissenschaft nicht beitragen würde zur Entwickelung von Mensch, Engel und Erzengel, sondern beitragen würde zur Überwindung einer Volksgesinnung durch die andere. Nicht dazu ist die Geisteswissenschaft da, dazu zu verhelfen, daß sich das, was als religiöses Bekenntnis irgendwo auf der Erde herrscht, ein anderes Gebiet erobern kann.
Würde jemals der Okzident durch den Orient erobert werden oder umgekehrt, so entspräche das durchaus nicht der geisteswissenschaftlichen Gesinnung. Allein das entspricht ihr, wenn wir unser Bestes, rein Menschliches für die gesamte Menschheit hingeben.« (4. Vortrag, S. 82-85; 11. Vortrag, S. 187 f.). Wie hätte er auch andere Ansichten vertreten können, als Generalsekretär einer spirituellen Bewegung, deren erster Grundsatz lautete, den »Kern einer allgemeinen Brüderschaft der Menschheit« zu bilden, »ohne Rücksicht auf Rasse, Religion, Geschlecht und Stand«?
Auch die Behandlung der »Rassen« im »Volksseelen-Zyklus« bietet, wie schon frühere Vorträge, im wesentlichen eine Systematik ihrer Genese. Aber die Vorträge in diesem Band brechen in einem entscheidenden Punkt mit früheren Systematisierungsversuchen: Steiner schildert diese Genese, ohne einer bestimmten Rasse eine Sonderstellung zuzusprechen. Alle stellen Defizienzformen eines Urtypus der menschlichen Gestalt dar. (Vgl. im Unterschied dazu etwa die Ausführungen in den Aufsätzen über »unsere atlantischen Vorfahren«, die nach Steiners Tod in das Buch »Aus der Akasha-Chronik« aufgenommen wurden [GA 21], oder die Ausführungen in GA 54, 9.11.1905; GA 101, 27.12.1907; GA 105, 10.8.1908; GA 107, 3.5.1909.)
Fassen wir die Grundgedanken Steiners über die menschlichen Rassen in den Vorträgen des »Volksseelen-Zyklus» kurz zusammen:
1. Alle von ihm behandelten Rassenformen stellen Abwandlungen einer einheitlichen Grundform des Menschen dar, die physisch (als »Rasse«) nie in Erscheinung getreten ist, sondern als ätherische Urform in der sogenannten atlantischen Zeit existierte (4. Vortrag, S. 69 ff).
2. Die Entstehung der physischen Rassendifferenzen ist Folge der Einwirkung kosmischer Widersachermächte, die das Wirken der »Elohim« (Exusiai), der eigentlichen Menschenschöpfer, durchkreuzten, die eine einheitliche Menschenform schaffen wollten (4. Vortrag, S. 68 ff.).
3. Die Entstehung dieser Abwandlungen der menschlichen Grundform ist mit dem Ende der letzten Eiszeit, spätestens jedoch um 9.000 vor Christus abgeschlossen (4. Vortrag, S. 79 ff.).
4. Die Anwendbarkeit des Rassenbegriffs wird auf die physische Organisation des Menschen beschränkt. Durch die Fortpflanzung werden die einmal entstandenen Merkmale an die Nachkommen weitergegeben. Schon für Völker – eine kulturelle Organisationsform menschlicher Kollektive, die sich über die Rassendifferenzen erhebt – gilt, dass ihre Eigenschaften nicht mehr aus Rassenmerkmalen erklärbar sind, sondern dass sie diese überformen und verdrängen (3. Vortrag, S. 66-67, 4. Vortrag, S. 79).
5. Der Eintritt der Menschheit in das nachatlantische Zeitalter zu Beginn des 8. Jahrtausends vor Christus führt diese Menschheit insgesamt auf eine höhere, kulturelle Stufe ihrer Entwicklung, mit der sie sich von den somatischen Vereinseitigungen zu befreien beginnt (4. Vortrag, S. 79 ff.).
6. Die Überwindung und das Verschwinden der Rassenunterschiede ist eines der Hauptziele der Kulturentwicklung der Menschheit seit ihrem Eintritt in die nachatlantische Zeit (4. Vortrag, S. 79 ff.).
7. Das individuelle geistige Wesen des Menschen ist nicht an die somatischen Eigenschaften gebunden oder durch diese determiniert, weder in seiner einzelnen Inkarnation, in der es ein von diesen Eigenschaften unabhängiges, seelisch-geistiges Leben entfaltet, noch in der Aufeinanderfolge der Inkarnationen, die sie durch alle Rassen hindurchführt und zwar nicht – wie manchmal unterstellt wird – in einer bestimmten (aufsteigenden) Richtung, sondern so, dass die menschliche Individualität im Laufe ihrer Inkarnationen an den »Sonnen- und Schattenseiten aller Rassen«, an all ihren »Segnungen« teilhat (5. Vortrag, S. 86-87).
Stellt man diese Grundgedanken den Haupttheoremen des Rassendenkens seit 1850 gegenüber, wird der Abgrund deutlich, der Steiner von jener Weltsicht oder politischen Ideologie trennt, die man nach dem 2. Weltkrieg als Rassismus bezeichnet hat.
1. Der Rassismus ist ein biologischer Reduktionismus, weil er das gesamte Wesen des Menschen, seine seelischen und geistigen Eigenschaften, seine kreativen Leistungen bis hin zu unterschiedlichen Religionsformen aus biologischen Eigenschaften der Vererbung oder des Blutes erklärt. Den biologisch bestimmten, wirkenden Ursachen, die sein Wesen bestimmen, kann der einzelne Mensch nicht entrinnen. Er ist durch sie gänzlich determiniert.
In diametralem Gegensatz zu diesen biologistischen Grundüberzeugungen steht das Menschenbild Steiners. Er bezweifelt nicht, dass der Mensch auch ein biologisches Wesen wird, das der Vererbung unterliegt und von den Gesetzen der Biologie berührt wird, aber das Biologische – das Pflanzenhafte oder Tierische –, stellt nur eine Schicht des menschlichen Wesens dar, gehört seinen »Leibeshüllen« an. Das wahre Wesen des Menschen ist sein Ich, seine geistige Individualität, die sich in diesen Hüllen inkarniert und reinkarniert. Schon durch sein seelisches Leben erhebt sich der Mensch über das Tierreich (abgesehen von den bereits in seiner biologischen Konstitution vorhandenen Unterschieden), aber als geistiges Wesen bewegt er sich in einer Wirklichkeitssphäre, die so weit von der biologischen entfernt ist, wie der Engel vom Tier. So wie sich das seelische Leben über das bloß biologische erhebt, ohne dass es aus ersterem und seinen Gesetzen abgeleitet werden könnte, so erhebt sich das geistige Leben über das bloß Seelische, ohne aus diesem abgeleitet werden zu können. Seele und Geist sind also gegenüber den jeweils untergeordneten Wesensschichten emergent. Durch seine Inkarnation taucht der Geist zwar in Leib und Seele ein, aber er prägt diesen seine eigenen Gesetze auf und nicht umgekehrt. Steiners Schichtenanthropologie ist komplex, nicht reduktionistisch. Wenn etwas reduziert wird, dann die Dominanz des Biologischen gegenüber dem Seelischen und des Seelischen gegenüber dem Geistigen. Schon in der »Theosophie« (1904) heißt es, Leib und Seele des Menschen seien auf den Geist hingeordnet und dienten ihm. »Der Mensch ist Geist«, heißt es in der »Theosophie« lapidar. Deswegen kann das Wesen des Menschen auch nicht aus der Rasse erklärt oder abgeleitet werden.
2. Für den Rassismus ist Rasse ein Universalprinzip – insbesondere der historischen – Welterklärung. Arthur Graf von Gobineau ist mit seinem »Essay über die Verschiedenheit der Menschenrassen« dafür das paradigmatische Beispiel. Die Rassen sind bei ihm präexistente ontologische Erklärungsprinzipien, aus denen die gesamte Geschichte der Menschheit abgeleitet wird und am Ende der Zeiten bleibt ein Rassenmischmasch übrig, das aus Gobineaus Sicht einen Zustand der äußersten Dekadenz darstellt. Da die Rasse ein universelles Erklärungsprinzip ist, wird durch sie auch jede einzelne geschichtliche Tatsache begreiflich, der Auf- und Niedergang von Völkern und Zivilisationen, ihre jeweiligen Besonderheiten, die auf Reinheit oder Mischung der jeweiligen Rassenanteile zurückzuführen sind, ihre politische und militärische Stoßkraft, ihr Erfindungsreichtum, ihre Philosophie, sofern eine solche vorhanden ist sowie ihre Religion.
In Steiners Geschichtsdeutung ist dagegen der Geist das universelle Erklärungsprinzip. Dieser Geist existiert in vielfältigen Formen. Die vorliegenden Vorträge porträtieren die Wirklichkeit als Gewebe ineinander verwobener geistiger Wesensschichten, die einander in der vielfältigsten Art beeinflussen. Der Geist ist nicht nur das Erklärungsprinzip für die physische Evolution der Menschheit, er ist auch das Prinzip aus dem die Geschichte erklärt werden kann, an deren Sinngebung die Engelshierarchien und der Mensch dank seiner Emanzipation von diesen in zunehmendem Maß beteiligt sind. Die Geschichte ist für Steiner keine Rassengeschichte, sondern eine Geistesgeschichte, eine Bewusstseinsgeschichte, eine Kulturgeschichte, eine Geschichte der Freiheit.
3. Ein zentrales Theorem des Rassendenkens seit Darwin und seinen Popularisierern ist die Vorstellung vom Rassenkampf oder Rassenkrieg. Angesichts begrenzter Ressourcen befinden sich die verschiedenen Rassen in einem permanenten Kampf ums Überleben, aus dem die stärkste, tüchtigste oder auch die schlaueste, listigste am Ende siegreich hervorgehen wird – falls dieser Kampf nicht ewig weitergeht, solange die Menschheit existiert. In diesem Kampf sind alle Mittel erlaubt, denn das Recht des Stärkeren ist durch den Darwinismus legitimiert, der diesen Kampf ums Überleben angeblich als Urgesetz des Daseins erwiesen hat.
Dieser Ideologie des Kampfes und Kriegs setzt Steiner im 5. und 11. Vortrag ein Bild der Menschheit, ja der Gemeinschaft aller Wesen entgegen, das an eine platonische Liebesschule erinnert. Der Sinn der Erde ist die Liebe. Die Menschheit lebt auf dieser Erde, um lieben zu lernen. Das ist die Absicht der Schöpfergötter, die ein Netz der Liebe um die Menschheit weben, das sie von Anfang an umfängt. In allen ihren Formen, in den sinnlichsten wie den geistigsten, ist sie göttlichen Ursprungs, muss aber als Kraft vom Menschen ergriffen werden. Gerade die fortschreitende Sublimierung dieser Liebeskraft, von der Begierde des Egoismus über die Verwandtenliebe bis hin zur selbstlosen geistigen Liebe, die zum Opfer befähigt, bildet ein Grundmotiv der kulturellen oder zivilisatorischen Entwicklung. Liebe ist ohne Freiheit nicht möglich. Das eine Geschenk der Götter an die Menschheit, die Liebe, ist mit dem anderen, der Freiheit, untrennbar verbunden. Schließlich ist es auch diese Liebe, aus der allein jener »Bruderbund der Menschheit« erwachsen kann, dem die Kulturentwicklung nach Steiners Auffassung zustrebt. In ihrem Feuer schmelzen alle rassischen, nationalen oder religiösen Differenzen hinweg.
4. Der ewige Rassenkampf als Naturgesetz führt im Rassismus zu einer hierarchischen Differenzierung der Menschheit, einer Ordnung, in der sich der Lebenswert der einzelnen Rassen, ihre Überlebenstüchtigkeit und Herrschaftstüchtigkeit abbildet. Oder aber, diese Hierarchie besteht seit Anbeginn, da die Rassen mit unterschiedlichen Eigenschaften von Gott geschaffen worden sind und der Kampf zielt auf den Sturz bzw. die Aufrechterhaltung dieser Hierarchie. George M. Fredrickson, einer der führenden amerikanischen Rassismusforscher, hat dieses Motiv als Grundtheorem der politischen Ideologie des Rassismus herausgearbeitet. Seiner Ansicht nach zielt der Rassismus immer auf die Errichtung oder Rechtfertigung einer dauerhaften Hierarchie unterschiedlicher Gruppen von Menschen ab, die rassisch definiert werden. (Siehe George M. Fredrickson, Rassismus. Ein historischer Abriss, Hamburg 2004.)
Aus Steiners Charakterisierung der fünf Hauptrassen könnte man hierarchische Motive herauslesen, stellt er doch eine Beziehung der fünf Rassenformen zu Kräften her, die sich auch in den aufeinanderfolgenden Lebensaltern des Einzelmenschen manifestieren (S. 77-79). Man könnte behaupten, da Steiner die äthiopische Rasse auf die Kindheitsstufe gestellt habe, die malayische auf die Stufe der Jugend, die mongolische auf die des frühen Erwachsenenalters, die kaukasische auf die Stufe der Lebensmitte und die indianische auf die des Lebensabends, habe er sie hierarchisiert. Aber diese Zeitreihe ergibt weder eine Herrschaftsordnung, noch eine Wertehierarchie, ebensowenig wie die aufeinanderfolgenden Lebensalter des Menschen eine Werte- oder Herrschaftsordnung ergeben. Es wäre, bezogen auf den einzelnen Menschen, unsinnig, davon zu sprechen, die Jugendzeit sei der Kindheit hierarchisch übergeordnet oder das Erwachsenenalter der Jugend, nur weil sie zeitlich aufeinanderfolgen. Es wäre auch unsinnig, davon zu sprechen, die einzelnen Lebensalter unterschieden sich durch ihren Wert voneinander. Das Einzelleben des Menschen lässt sich nur als Ganzheit begreifen, die sich durch die aufeinanderfolgenden Lebensalter entfaltet. Die Kindheit ist nicht mehr wert als die Jugend, das Erwachsensein nicht mehr als die Kindheit. Durch die einzelnen Zeitstadien der Biografie zieht sich als verbindende Einheit die geistige Individualität des Menschen, deren Erscheinungsformen sie sind, ohne dass sie mit ihnen identisch wäre. Ebensowenig ist die malayische »Rasse« mehr wert als die äthiopische, die kaukasische mehr als die anderen. Durch die einzelnen Rassenformen zieht sich als einigendes Band der eine ideelle Urorganismus des Menschen, dessen Erscheinungsformen sie sind, ohne mit ihm identisch zu sein. Und die Kräfte der verschiedenen Lebensalter wirken sich nur auf die physische Organisation des Menschen aus, nicht auf dessen Wesen.
Dies gilt auch, wenn man die einzelnen Lebensalter verschiedener Menschen zueinander in Beziehung setzt. Warum sollte ein Erwachsener, der einem Kind gegenübersteht, mehr wert sein, als das Kind? Oder wenn man hier einen Herrschaftsanspruch unterstellen wollte – den des »erwachsenen« Kaukasiers gegenüber dem »kindlichen« Schwarzafrikaner – : warum könnte man dann nicht ebenso behaupten, der »altersweise« Indianer habe gegenüber dem Kaukasier einen noch höheren Herrschaftsanspruch? Ebenso, wie das einzelne Lebensalter eine partielle, vereinseitigte Ausformung der Ganzheit der Biografie ist, ist die einzelne Rasse nach Steiners Auffassung eine vereinseitigte, partielle Ausformung der ganzen Menschheit. Gegenüber diesem Ideal der Ganzheit stellen alle Rassenformen unterschiedlich begrenzte Ausprägungen dar. Jede ist mit einer konstitutionellen Einseitigkeit behaftet, die zugleich physische Begabung und Behinderung ist. Die vollkommene Ausformung des Menschseins ist auf der Ebene der biologischen Differenzierung nicht zu erreichen. Sie ist nur zu erreichen, indem sich das seelische und geistige Leben des Menschen auf jene Totalität hin entfaltet, die in ihm angelegt ist, in der die biologische Partikularität aufgehoben wird. Die Vorstellung der Züchtung eines biologisch vollkommenen Menschen ist für Steiner deswegen ein Ungedanke.
Zu Steiners Ausführungen über die Entstehung der fünf Hauptrassen
An dieser Stelle ist eine Erläuterung der Vorstellungen Steiners über die Entstehung der verschiedenen Rassen angebracht. Hätten die leitenden Mächte der Erdenevolution, die »Elohim« oder »Geister der Form« (»Exusiai«) alleine gewirkt, wäre es gar nicht zur Entstehung der Rassen gekommen. Sie sind ausschließlich daran interessiert, dem Menschen das Ich einzuimpfen, durch das er Bild und Gleichnis Gottes ist. Dieses Ich entfaltet sich während des 21. bis 42. Lebensjahres in den drei Seelengliedern des Menschen. Ihm kommt die Aufgabe zu, zwischen den drei Seelengliedern eine Harmonie zu schaffen, die es nur durch die Kraft der Liebe hervorrufen kann. Hätten die Elohim alleine gewirkt, hätte der Mensch erst mit seinem 21. Lebensjahr die Erde betreten und sie mit seinem 42. Lebensjahr wieder verlassen. Er hätte die drei vorangehenden Jahrsiebte von der Geburt bis zum 21. Lebensjahr in geistigeren Zuständen durchlebt, um mit dem 21. Lebensjahr zu seinem Ichbewusstsein im ätherischen Leib zu erwachen. Der Mensch hätte sich lediglich in den drei mittleren Jahrsiebten in einer einheitlichen ätherischen Form auf der Erde aufgehalten. »Wenn das eingetreten wäre, dann würden alle Menschen, welche die Erde betreten, von gleicher Gestalt und Wesenheit sein … Eine Menschheit gäbe es nur.« (4. Vortrag, S. 74). Diese Elohim wirken von der Sonne aus, deshalb werden sie von Steiner auch als »Sonnengeister« bezeichnet. Die Rassenbildung ist nicht auf die Elohim oder die Kräfte der Sonne zurückzuführen, sondern auf die Planeten Merkur, Venus, Mars, Jupiter und Saturn, von denen aus die Kräfte der »abnormen Geister der Bewegung« (»Dynamis«) den Menschen ergriffen haben. Diese »zurückgebliebenen« Geister der Bewegung verfrühten die Entwicklung des Menschen, indem sie ihm jene Fähigkeiten, die er erst ab dem vierten Jahrsiebt erhalten sollte, bereits in den drei ersten Jahrsiebten verliehen. Sein ganzes Wachstum in der Aufbauphase seines Lebens machte der Mensch daher unter dem Einfluss »abnormer Wesenheiten« durch. Er musste diese Verfrühung damit bezahlen, dass er im letzten Drittel seines Lebens, zwischen seinem 42. und 63. Lebensjahr in eine Phase des Verfalls eintrat, in der sein Astral-, sein Äther- und zuletzt sein physischer Leib »zerfallen«. Auf den Einfluss der abnormen Geister der Bewegung, die als Antagonisten der leitenden Schöpfermächte – als eine spezifische Form des Bösen – auftreten, ist die Verleiblichung des Menschen, die Trennung der Geschlechter, die physische Fortpflanzung, die Vereinseitigung der physischen Menschenform und die Vererbung dieser Form zurückzuführen. Mit all diesen Ausführungen umschreibt Steiner, was wir aus der Genesis als Paradieses- und Vertreibungsgeschichte kennen. Der »Sündenfall« hatte die Rassifizierung der Menschheit zur Folge. Dies ist einer der Gründe, warum Steiner Christus als Überwinder der Rassenspaltung der Menschheit bezeichnet, da er die Folgen des Sündenfalles aufhebt. (Siehe GA 94, 2.11.1906; GA 104, 17.6.1908, 24.6.1908; GA 109/11, 11.06.1909; GA 165, 9.1.1916; GA 13.) Durch Christus, der die Gesamtheit der Kräfte der Elohim in sich zusammenfasste, flossen diese Kräfte in das menschliche Ich, dem damit die Fähigkeit zuwuchs, den Menschen aus dem Fall und damit aus der Rassenspaltung wieder herauszuführen.
Die abnormen Geister der Bewegung entfalten von den Planeten aus im menschlichen Leib ihre »Dynamis«, ihre gestaltende Kraft, indem sie durch Wärmeprozesse auf die einzelnen Subsysteme dieses Leibes vereinseitigend einwirken. Steiner spricht drastisch vom »Kochen« oder »Wühlen« der Rassengeister. Die Dynamis des Merkur, die das zweite Lebensjahrsiebt des Menschen beherrschen (7-14), wirken auf das Drüsensystem, dessen Kräfte jene Modifikation der ätherisch-physischen Menschenform hervorrufen, die als »äthiopische Rasse« bezeichnet wird. Das Drüsensystem des Menschen ist zugleich das physische Abbild des menschlichen Ätherleibes bzw. das System, durch das dieser auf den physischen Leib des Menschen einwirkt. Die Dynamis der Venus, die das dritte Lebensjahrsiebt beherrschen (14-21), wirken auf das vegetative Nervensystem des Menschen, in dem sich der Astralleib abbildet und durch das er wirkt. Sie erzeugen die »malayische« Modifikation der Menschenform. Die Dynamis des Mars, die das siebte Jahrsiebt beherrschen (42-49), wirken auf das Blut, das Abbild des menschlichen Ich im physischen Leib, das Subsystem, das dem Ich die Möglichkeit gibt, auf den physischen Leib des Menschen Einfluss zu nehmen. Sie rufen die »mongolische Rasse« hervor. Die Dynamis des Jupiter, die das achte Jahrsiebt beherrschen (49-56), wirken auf das periphere Nervensystem des Menschen und die Sinne, die wiederum Abbild und Vehikel des Astralleibs sind und führen zur »kaukasischen Rasse«. Die Dynamis des Saturn schließlich, die das neunte Jahrsiebt beherrschen (56-63), wirken wiederum – durch alle anderen Systeme hindurch – auf das Drüsensystem des Menschen und führen zur Entstehung der »indianischen Rasse«.
Aus den Beziehungen zwischen den Planeten und den Jahrsiebten ergibt sich, warum Steiner die Merkur- und Venusrasse zum ersten Lebensdrittel in Beziehung setzt und die drei übrigen zum dritten Lebensdrittel. Die ersten beiden Jahrsiebte gehören der leiblichen Aufbauphase des Lebens an, die letzten drei der leiblichen Abbauphase. Der Leser erinnert sich an die referierte Auffassung Steiners, dass im Jahrsiebt des Mars der Astralleib, in dem des Jupiter der Ätherleib und in dem des Saturn der physische Leib »zerfällt«. Daraus ergibt sich die Konsequenz, dass Steiner die »indianische Rasse« zu den Kräften des Absterbens in Beziehung setzt. Nicht nur ist der Saturn der Planet, der die Schwelle von der Seelenwelt der Wandelsterne zur Geistwelt des Fixsternhimmels bildet, und das Jahrsiebt, das er beherrscht jenes, in dem der physische Leib des Menschen »zerfällt«, sondern der Westen, Amerika ist auch der Kontinent, auf dem die Wanderungen der atlantischen Zeit und die Rassenbildung insgesamt an ihr Ende gelangt sind. Das ist mit dem Satz gemeint: »Nach Westen musste die Menschheit gehen, um als Rasse zu sterben« (4. Vortrag, S. 79) – das heißt, mit der Bildung der indianischen Rasse war die letzte mögliche Modifikation der ätherisch-physischen Menschenform durch die Dynamis erreicht, und die Menschheit konnte als Ganze in die Epoche ihrer seelischen und geistigen Entwicklung, die nachatlantische Zeit eintreten, in der sich im Gang durch die Kulturepochen die Wanderung durch die Jahrsiebte auf einer höheren Stufe wiederholen sollte.
Jede einzelne Rassenform hält also nach Steiner die Vereinseitigung eines bestimmten Subsystems des menschlichen Leibes fest, und steht zu einem bestimmten Jahrsiebt in Beziehung. Aber aus Steiners Darstellungen ergibt sich auch die Konsequenz, dass die Angehörigen aller Rassen gleichsam durch die verschiedenen »Rassen« hindurchgehen, da auch der gebürtige Kaukasier in seinem zweiten Jahrsiebt »Äthiopier« wird, in seinem dritten »Malaye« usw.
Während sich in der Bildung der einzelnen Rassen jeweils unterschiedliche Kräfte einseitig ausgewirkt haben, kann der Mensch seinen Begriff nur verwirklichen, indem er diese konstitutionelle Einseitigkeit überwindet. Er verwirklicht sein Menschsein gegen die jeweilige konstitutionelle Vereinseitigung. Auf unterschiedliche Weise sind die einzelnen Rassen gleich weit vom ganzen Menschsein entfernt, das nur Gestalt annimmt, wenn der Einzelne, ganz gleich, welcher Rasse er angehört, sich den Entwicklungsmöglichkeiten zuwendet, die seine Seele und sein geistiges Wesen in sich tragen. Erst recht gilt für die Seelen- und Geistesgeschichte der Menschheit, in die sie seit dem Ende der letzten Eiszeit eingetreten ist, dass sie sich von der Naturbestimmtheit emanzipiert, da Kultur für Steiner nicht aus der Natur hervorgeht, sondern aus dem Geist, der die Seele und den Leib, das soziale Leben und die Umwelt seinen Intuitionen gemäß gestaltet. Die folgende Tabelle gibt eine Übersicht der Zuordnungen.
Wollte man aus diesen schematischen Bezügen eine Hierarchie ableiten, könnte man sich etwa an den Subsystemen des Organismus orientieren. Es dürfte aber schwer fallen, zu begründen, warum das Nervensystem »höher« stehen sollte, als das Drüsen- oder Blutsystem. Wenn man behaupten wollte, das Blutsystem mit dem Ich stünde am Höchsten, nähmen die »Mongolen« die höchste Stelle ein und nicht die »Kaukasier« (die »weiße Rasse«). Wollte man sich an der Rangfolge der Planetenorientieren, könnte man behaupten, der Saturn stünde zu oberst und daher auch die indianische Rasse. Aus der Systematik Steiners lässt sich keine Hierarchisierung ableiten, weil sie eine solche auch gar nicht intendiert.
5. Wenn es eine Hierarchie der Rassen gibt, so argumentiert der Rassismus, dann muss es auch eine Herrenrasse geben, eine Rasse, die entweder von Natur oder von Gott dazu bestimmt ist, über alle anderen zu herrschen. Im Zeitalter des Imperialismus war dies in der Regel die »weiße Rasse«. Es konnte aber auch die jüdische (semitische) sein, wie man zum Beispiel an Disraeli sieht, der von der »semitischen Rasse« als einer »natürlichen Aristokratie« sprach, die ihre Bestimmung zur Vorherrschaft der Tatsache verdanke, dass sie über Jahrtausende ihr »Blut« und damit ihre vorzüglichen Eigenschaften rein erhalten habe. Ein naturwissenschaftlich oder metaphysisch begründeter Suprematieanspruch einer bestimmten Rasse wird jedoch von Steiner in seinen Vorträgen ebensowenig formuliert wie eine Rassenhierarchie.
6. Mit den Vorstellungen der Differenz und der Reinheit geht im Rassismus die der Mischung und ihrer schädlichen Folgen einher. Wenn es höhere und niedere Rassen gibt, so sein Postulat, dann kann eine Vermischung nur zu einem Absinken des Niveaus der »wertvolleren« Rassen führen.Selbst wenn auch die umgekehrte Variante denkbar wäre, dass die angeblich minderwertigen Rassen durch eine Vermischung mit den höheren gehoben würden, erscheint eine solche Rassisten meist nicht erstrebenswert, weil insgesamt das Niveau der höheren Rassen dadurch absinken würde. Inbesondere Gobineau, dessen endzeitliche Vision von der bodenlosen Dekadenz durch Panmixie durch seinen Übersetzer Ludwig Scheemann in Deutschland weite Verbreitung fand, war von diesen Vorstellungen beherrscht. Je reiner eine Rasse, desto besser könne sie ihre vorzüglichen Eigenschaften zur Geltung bringen, deshalb solle die Mischung auch vermieden werden. Die Vorstellung der Reinheit führte zu einem Ausgrenzungsdiskurs, der auf den verschiedensten Feldern ausgetragen wurde, etwa in der Begründung von Segretation, von Eheverboten und schließlich auch Sterilisierungsmaßnahmen bis hin zu Ausrottungsprogrammen.
7. Dies führt schließlich zum Aspekt des Rassismus, in dem die vorangehenden münden: der Notwendigkeit der praktischen Umsetzung in konkreten rassenpolitischen Maßnahmen. Für George M. Fredrickson ist dieser Übergang von einer bloßen Theorie der Unterschiede (die er im Anschluss an Kwame Anthony Appiah als »racialism«, als Rassedenken, bezeichnet) zu der Forderung nach praktischer Umsetzung sogar die spezifische Differenz, die jene zum Rassismus macht. Der Rassismus ist so gesehen eine politische Ideologie, die eine Rassenordnung in einer Gesellschaft errichten möchte oder eine bereits vorhandene Rassenordnung rechtfertigt, und alle zur Verteidigung oder Herstellung einer solchen Ordnung notwendigen Maßnahmen gutheißt. Diese Maßnahmen reichen von Sonderrechten bis hin zu Vertreibung und Ausrottung. Die negative und positive Eugenik sind ebenso praktische Konsequenzen der im Vorangehenden gekennzeichneten Ideologie, wie die Errichtung von Hometowns oder die Deportation und der Genozid oder Ethnozid.
Wie bereits bemerkt, stellt Steiner das Verschwinden der Rassenunterschiede für die Zukunft in Aussicht. In den vorliegenden Vorträgen lässt er sich über das »Wie« dieses Verschwindens nicht näher aus, aber aus seinen sonstigen Überlegungen ergibt sich die Konsequenz, dass es für ihn zwei Möglichkeiten gab: das Aussterben und die Vermischung. Ersteres war – hierin folgt er vor 1910 der zeitgenössischen Evolutionstheorie – aus seiner Sicht ein natürlicher Prozess, eine Folge mangelnder Anpassung, letzteres eine Folge der kulturellen oder spirituellen Entwicklung der Menschheit. Im Endeffekt ist das Ergebnis das Gleiche: die somatischen Differenzen werden verschwinden. Durch die Maschen des Liebesnetzes, das die gesamte Menschheit umspannt, fällt keiner ihrer Angehörigen. Es ist nur konsequent, wenn dieses Netz der Liebe zur Verschmelzung bringt, was Jahrtausende geographisch und genetisch auseinander dividiert haben. Je mehr sich die »geographischen Populationen«, in denen die früheren Rassen heute weiterleben, durchdringen, um so mehr entsteht jene Mélange, in der die früheren Differenzen zunehmend unsichtbar werden. Steiner warnt nicht vor einer solchen Vermischung, auch wenn er an anderen Stellen die Verwerflichkeit einer gewaltsamenDislokation (Vertreibung, Umsiedelung) oder die kulturellen Gefahren der erzwungenen Entwurzelung – zum Beispiel durch den Kolonialismus oder den Sklavenhandel – als solche charakterisiert. (GA 55, 25.10.1906; GA 353, 20.5.1924.) Auch hier wieder ist auf das Ideal des »Bruderbundes der Menschheit« zu verweisen, bei dem es sich nicht um eine inhaltsleere Floskel handelt, sondern um den substantiellen Inhalt des »Geistselbstes«, das die Menschheit spätestens in der Epoche von Philadelphia (in der sechsten nachatlantischen Kulturepoche) ausgebildet haben muss, das aber bereits in der Gegenwart, im Zeitalter der Bewusstseinsseele durch spirituelle Bewegungen wie die Anthroposophie vorbereitet werden muss. (GA 104, 20.6.1908.) Am allerwenigsten darf man nach all dem Ausgeführten erwarten, dass sich in Steiners Werk rassenpolitische Forderungen finden, die für den Rassismus essentiell sind. Er hat sogar gelegentlich die Eugenetik (Rassenhygiene, Rassenzucht) als eine Wiederkehr uralter atlantischer Verirrungen bezeichnet, die mit der schwarzen Magie in Verbindung stünden. (GA 177, 7.10.1917.) Selbst wenn man also Steiner im Sinne Appiahs als »racialist«, als »Rassendenker«, bezeichnen wollte, was angesichts des geringen Stellenwertes dieser Thematik in seinem Werk übertrieben scheint, wird man ihn keinesfalls als Rassisten taxieren können.
Zum »Aussterben« der Indianer
Das Motiv des »Verschwindens« birgt ein Problem, das hier angesprochen werden muss. Manche Leser haben in Steiners Ausführungen über das »Aussterben« der Indianer (S. 79, S. 116-119), da sie die aktive Rolle der weißen Kolonisten bei deren Ausrottung unerwähnt lassen, eine Rechtfertigung dieses Genozids hineingedeutet. Man darf bei der Erörterung dieser Frage jedoch dreierlei nicht außer Acht lassen:
1. Die Überzeugung, die »indianische Rasse« in Nordamerika stehe kurz vor dem Aussterben, war zur Zeit, als Steiner seine Vorträge hielt, ein Gemeinplatz. Die indigene Bevölkerung war auf wenige Zehntausende zusammengeschrumpft, die in Reservationen, moralisch gebrochen, kläglich dahinvegetierten. Steiner geht also von dem bevorstehenden Aussterben als einer nahezu gesicherten Tatsache aus. Wenn ihn hier die Geschichte widerlegt hat, ist er offensichtlich einem Irrtum erlegen.
2. Es gibt andere Stellen in seinem Vortragswerk, an denen er den Anteil der weißen Eindringlinge an der Ausrottung der indigenen Bevölkerung beim Namen nennt und kritisiert. (GA 192, 20.7.1919; GA 202, 14.12.1920.)
3. Schließlich ist es eine unbestrittene Tatsache, dass der überwiegende Teil der indigenen Bevölkerung Amerikas nicht den Waffen der Weißen, sondern ihren Krankheitskeimen zum Opfer gefallen ist. (Jared Diamond, Arm und Reich, Frankfurt 2000.) Selbst wenn die Weißen nicht aktiv die Vernichtung der indigenen Völker betrieben hätten, wäre ein großer Prozentsatz Masern, Pocken, Diphterie, Influenza und vielen anderen epidemischen Krankheiten zum Opfer gefallen. Die Begegnung der unterschiedlichen Populationen war auch ohne Tötungsabsicht oft tödlich. Über diese tragisch schicksalshafte Seite der amerikanischen Kolonisation, die in den unterschiedlichen Konstitutionender sich begegnenden Völker begründet war, spricht Steiner im vierten und sechsten Vortrag. Es geht ihm nicht darum, einen Genozid zu rechtfertigen, sondern nach einer Erklärung für eine erschütternde Tragik zu suchen. Diese bleibt bestehen, auch wenn man heute das Massensterben durch die fehlenden Resistenzen gegen europäische Infektionskrankheiten erklären kann. Steiner versucht dem Tod einen Sinn zu geben, der in den Erfahrungen liegt, die die Seele des Menschen durch ihn machen kann. Für eine reduktionistische Weltsicht, die nicht an die Existenz von Seele und Geist glaubt, ist ein solches Reden vom Sinn des Todes inhaltsleeres Geschwätz. Steiner jedoch sieht im Erleben der Hinfälligkeit des Leibes eine Erfahrung, die die Seele von ihrer Bindung an das Vergängliche befreit. Er spricht nicht aus der Perspektive der Täter, sondern empathisch aus der Perspektive des sinnsuchenden Opfers. Diese Sinnsuche aus der Perspektive des Opfers entbindet den Täter nicht von seiner Schuld und hebt auch nicht die Verwerflichkeit der Tat auf.
Die Anwendung von Rassenbegriffen auf den Menschen ist heute weitgehend diskreditiert, auch wenn die Fortführung der Genomforschung die Indizien für eine Konstanz genetischer Merkmale geographisch isolierter Populationen in den letzten Jahren wieder vermehrt hat und zu einer nachträglichen Rehabilitation der fünf »Hauptrassen« des 19. Jahrhunderts zu führen scheint. (Noah A. Rosenberg et al., Genetic Structure of Human Populations, Science 298, 2002, S. 2981-2985. Siehe auch: Jörg Blech, Die neue Rassendebatte, DER SPIEGEL 19.04.2004) Diese Entwicklung hat eine Reihe von Mitgliedern des Lehrkörpers der Stanford-Universität, darunter renommierte Genomforscher wie Luca Cavalli-Sforza, unter Federführung von George M. Fredrickson dazu veranlasst, im Sommer 2008 ein Manifest zur »Ethik der Charakterisierung von Differenz« zu veröffentlichen, in dem zehn Grundsätze zum »Gebrauch von Rassenkategorien in der Humangenetik« formuliert wurden, das den Gebrauch solcher Kategorien nicht gänzlich verwirft, sondern u.a. eine ausreichende wissenschaftliche Begründung für deren Verwendung einfordert. (Genome Biology 2008, 9, 404.)
Die Gründe für die Diskreditierung von Rassenbegriffen sind allgemein bekannt und müssen hier nicht referiert werden. Selbst wenn sich durch den Fortgang der Forschung erweisen sollte, dass es tatsächlich konstante und signifikante biologische Unterschiede zwischen geographischen Populationen gibt, liegen ausreichend politische und geschichtliche Gründe vor, um die Anwendung von Rassenkategorien auf den Menschen im Sinne des genannten Manifestes Restriktionen zu unterwerfen.
Insoweit Steiner in seinen Vorträgen dem Rassendiskurs des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts verhaftet war, sind seine Ausführungen nur noch von historischem Interesse. Insoweit er jedoch in zukunftweisender Art über »Rassen« und Rassenkategorien sprach, sind seine Ansichten auch weiterhin aktuell. Dies gilt insbesondere für seine Überzeugungen, das Wesen des Menschen bleibe von möglicherweise vorhandenen Rasseneigenschaften unberührt, »Rassen« seien für eine Erklärung der Menschheitsgeschichte untauglich, vielmehr selbst erklärungsbedürftig, »Rassenpolitik« und eugenische Praktiken seien verwerflich, die Mischung der »Rassen« sei begrüßenswert und werde zu deren Verschwinden führen. Es gilt auch für die Hauptmaxime der Anthroposophie, den »Kern einer Brüderschaft der Menschheit« zu bilden, ohne Rücksicht auf Rasse, Geschlecht, Stand, nationale Zugehörigkeit und Religion.
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