Zuletzt aktualisiert am 30. Juli 2024.
Warum ist eine sachliche Corona-Aufarbeitung so schwer?
Ein Rückblick auf die Diskussion zur Impfpflicht im Gesundheitswesen könnte helfen, der Aufarbeitung eine konstruktive Wendung zu geben.
Gastbeitrag von Günter Kampf
Eine gründliche Aufarbeitung der Maßnahmen im Rahmen der Covid-19-Pandemie wird immer wieder befürwortet, sei es in Form eines Bürgerrates (z.B. von Olaf Scholz) oder einer Enquetekommission (z.B. von der FDP). Diese ist dringend erforderlich, denn es wurden über Monate Grundrechte erheblich eingeschränkt, um die Ausbreitung von Sars-CoV-2 einzugrenzen.
Kindern wurde der Präsenzunterricht verwehrt, Bewohner in Heimen mussten allein sterben, schwer kranke Patienten in Kliniken durften keinen Besuch empfangen, der abendliche Spaziergang war nach 22 Uhr verboten. Als Begründung für die von der Politik beschlossenen Maßnahmen mussten entweder „die Wissenschaft“, die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina oder einzelne öffentlich bekannte Wissenschaftler herhalten.
Nehmen wir dazu die Diskussion um die Impfpflicht als Beispiel. So forderte im November 2021 eine Gruppe von zwölf Wissenschaftlern inklusive Christian Drosten über die Leopoldina die stufenweise Einführung der Covid-19-Impfpflicht, eine klare Positionierung der »Wissenschaft«.
Um eine Maßnahme zur Pflicht zu machen, muss diese geeignet, erforderlich und angemessen sein, um das erklärte Ziel zu erreichen.
War die Impfpflicht geeignet?
Die Impfpflicht im Gesundheitswesen wurde am 10. Dezember 2021 beschlossen und galt ab dem 15. März 2022. Sie wurde vor allem damit begründet, dass durch die Impfung das Risiko einer Virusübertragung stark vermindert wird. Laut einer Bewertung des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestags vom 22. Dezember 2021 war die Impfpflicht zum Selbstschutz ein »aufgedrängter« Schutz, der einem Gesunden nicht aufgenötigt werden darf.
Damit blieb nur der vermutete Fremdschutz als Begründung für die Impfpflicht. Die Impfpflicht musste also geeignet sein, einen relevanten Fremdschutz zu gewähren. Doch wie gut war ihre Eignung wissenschaftlich belegt?
Um den möglichen Fremdschutz wissenschaftlich bewerten zu können, sind die vergleichenden Studien zu Geimpften und Ungeimpften auszuwerten, in denen die Viruslast, die Dauer des Virusnachweises und die Rate an Sekundärinfektionen untersucht wurden, also beispielsweise die Rate neuer Fälle in Familien mit einem bestätigten Covid-19-Fall. Doch muss genau darauf geachtet werden, welche Immunität die Kontaktpersonen hatten (geimpft oder genesen), da dies für die Bewertung der Häufigkeit von Sekundärinfektionen die wichtigste Variable ist.
Selbst wenn nur die Ergebnisse bei der Auswertung von Studien berücksichtigt werden, die vor der Entscheidung im Deutschen Bundestag vorlagen, kann kein einheitliches Gesamtbild eines relevanten Fremdschutzes festgestellt werden. Aus wissenschaftlicher Sicht war also der mutmaßliche Fremdschutz bei weitem nicht so eindeutig nachgewiesen, wie oft in der Öffentlichkeit behauptet wurde (»Mit einer Impfung schützen Sie sich und andere«).
War die Impfpflicht erforderlich?
Die Impfpflicht musste darüber hinaus erforderlich sein. Dies ist der Fall, wenn kein milderes, d.h. weniger in das Grundrecht eingreifendes Mittel zur Verfügung steht, das in gleicher Weise geeignet ist, den angestrebten Zweck zu erreichen, ohne Dritte und die Allgemeinheit stärker zu belasten. Doch es wurde nicht einmal versucht, die Erforderlichkeit zu belegen.
Bereits im Oktober 2021, also noch vor dem Beschluss zur Impfpflicht im Deutschen Bundestag am 10. Dezember 2021, waren lediglich 5 Prozent der Mitarbeiter im Gesundheitswesen ungeimpft. Die Rate lag im Januar 2022 nur noch bei 4 Prozent. Um die Erforderlichkeit der Covid-19-Impfung begründen zu können, musste es einen Unterschied machen, ob die Impfung dieser 4 Prozent ungeimpfter Mitarbeiter einen signifikanten gesundheitlichen Nutzen für die Patienten aufweisen würde. Doch dieser erwartete Nutzen wurde nie belegt bzw. nicht einmal argumentativ nachvollziehbar begründet.
In diesem Zusammenhang wurde außerdem nicht berücksichtigt, dass in der Krankenhaushygiene wirksame Maßnahmen als mildere Mittel zur Verfügung stehen (dargestellt in Hygieneplänen), um die Übertragung von Viren und Bakterien auf Patienten zu verhindern. Doch das Gesamtpaket dieser über Jahrzehnte bewährten Hygienemaßnahmen zum Patientenschutz wurde nicht als Alternative zur Impfpflicht bei den 4 Prozent der ungeimpften Mitarbeiter in Betracht gezogen.
War die Impfpflicht angemessen?
Schließlich musste die Impfpflicht angemessen sein. Dabei ist eine Gesamtabwägung zwischen der Schwere des Eingriffs einerseits und dem Gewicht der ihn rechtfertigenden Gründe andererseits vorzunehmen. Vereinfacht gesagt: Der erwartbare Nutzen muss größer sein als die erwartbaren Risiken. Diese Abwägung bei der sektoralen Impfpflicht ist im Grunde nicht mehr erforderlich, da einerseits ihre Eignung mehr als fraglich ist und die Erforderlichkeit zu keinem Zeitpunkt nachvollziehbar und wissenschaftlich begründet wurde.
Die Veröffentlichung der RKI-Protokolle erlaubt nun wichtige Einblicke. So liest man beispielsweise: »In den Medien wird von der Pandemie der Ungeimpften gesprochen. Aus fachlicher Sicht nicht korrekt. Gesamtbevölkerung trägt bei« (5. November 2021). In den Protokollen heißt es weiter: »Dient als Appell an alle, die nicht geimpft sind, sich impfen zu lassen. Sagt Minister bei jeder Pressekonferenz, vermutlich bewusst, kann eher nicht korrigiert werden.«
Der Begriff der »Pandemie der Ungeimpften« wurde nicht nur von Jens Spahn genutzt, sondern auch von Markus Söder und Bodo Ramelow. Heute betont Jens Spahn, dass dieser Begriff die überproportional hohe Anzahl der ungeimpften Covid-19-Patienten auf Intensivstationen gemeint haben soll. Doch diese eingrenzende Differenzierung gibt der pauschale Begriff nicht her, sondern beschreibt die Gesamtheit aller Ungeimpften, auch außerhalb der Intensivstationen.
Der Stern schrieb in der Folge über die »Pandemie der Ungeimpften« anhand von Inzidenzwerten. Es konnte damals der Eindruck entstehen, dass den Politikern diese Verallgemeinerung des Begriffs durchaus recht war, um die Impfquote zu erhöhen. Man sollte sich in diesem Zusammenhang nochmals in Erinnerung rufen, dass Peter Tschentscher im November 2021 91,5 Prozent der Neuinfektionen in Hamburg auf Personen ohne vollen Impfschutz zurückführte (später vereinfacht als »Ungeimpfte« bezeichnet), obwohl der Impfstatus bei 63,2 Prozent der Fälle unbekannt war, 22,5 Prozent galten als geimpft und 14,3 Prozent als ungeimpft. Man hatte in Hamburg die Gesamtheit der Fälle mit unklarem Impfstatus auf unseriöse Weise einfach den Ungeimpften zugeschrieben. So konnte mit falschen Zahlen der Eindruck einer »Pandemie der Ungeimpften« erweckt werden.
Es gibt ein weiteres Beispiel aus den RKI-Protokollen (12. Oktober 2022). Es wurde diese eigene fachliche Einschätzung der Öffentlichkeit vorenthalten: »Es gibt keine Anzeichen, dass Impfungen an Ausscheidungen etwas ändern. (…) Die fachlichen Empfehlungen werden beibehalten, solange es keine anderslautende Anweisung vom BMG gibt.«
Schon an diesem Beispiel der Impfpflicht lässt sich erkennen, warum eine umfassende wissenschaftliche Aufarbeitung aller der Verordnung oder Gesetz angeordneten Maßnahmen erforderlich ist. Der Öffentlichkeit wurde von Politikern und einigen Wissenschaftlern die Unwahrheit gesagt (»Pandemie der Ungeimpften«). Dieser plakative Standpunkt war bereits im August 2021 wissenschaftlich widerlegt, doch er blieb für die Öffentlichkeit unverändert die offizielle Wahrheit. Die »Pandemie der Ungeimpften« wurde weiterverbreitet und argumentativ zur Begründung der Impfung verwendet.
Ein weiterer Grund für eine Aufarbeitung ist, dass die sektorale Impfpflicht weder geeignet noch erforderlich gewesen war. Denn die Impfpflicht hatte relevante Folgen für die Patientenversorgung. Im August 2022 gaben von 631 ungeimpften Beschäftigten im Gesundheitswesen 86 Prozent an, sich auf keinen Fall impfen lassen zu wollen. Somit war klar, dass ein Teil der Ungeimpften die Arbeit mit den Patienten aufgeben muss, obwohl sie noch im Herbst 2020 für ihren aufopferungsvollen Einsatz in den Kliniken öffentlich gelobt wurden. Eine sachliche Aufarbeitung könnte dazu beitragen, diese entstandenen Verwerfungen zu lindern.
In der Öffentlichkeit haben sich Politiker und Wissenschaftler oftmals klar auf einen bestimmten Standpunkt festgelegt, dass es schwer vorstellbar ist, trotz guter Daten diesen Standpunkt zu ändern. Das gilt sowohl für die Befürworter als auch die Kritiker der Covid-19-Impfpflicht. Beide Gruppen haben somit mutmaßlich einen Interessenkonflikt, da das Hinterfragen des eigenen Standpunkts bedeuten kann, diesen bei guten Argumenten ändern zu müssen und rückblickend eventuell falschgelegen zu haben. Für einige Wissenschaftler, die der Regierung nahestanden, kommt noch hinzu, dass sie bereit waren, einen ablehnenden Standpunkt zu einer Maßnahme nicht zu veröffentlichen, wenn diese Maßnahme dem aktuellen Regierungshandeln entsprach.
Am 29. Juli 2020 heißt es in den Protokollen etwa: »Textentwurf Christian Drosten: Empfehlung für den Herbst, Darstellung der Ideen und Einschätzung (Folien hier). Kontext: Der Artikel ist vertraulich. Hr. Drosten hat zwischenzeitlich entschieden, das Papier nicht zu publizieren, da ungezielte Testung im Text als nicht sinnvoll betrachtet wird und dies dem Regierungshandeln widerspricht.«
Wie könnte eine seriöse Aufarbeitung gelingen?
Deshalb kann ich mir eine seriöse wissenschaftliche Aufarbeitung nur von denjenigen Wissenschaftlern vorstellen, die kaum in der Öffentlichkeit zu sehen waren und deswegen eher neutral auf die Maßnahmen schauen würden, ihre epidemiologische (z.B. Fallzahlen vom RKI) und wissenschaftliche Begründung bewerten sowie ihre Eignung beurteilen. Doch wer hat die Zeit und Ausdauer dazu?
Und es braucht Mut. Denn sollte sich herausstellen, dass beispielsweise die Eignung der Impfung zum Fremdschutz nicht vorhanden war und dass es mildere Mittel mit einer vergleichbaren oder sogar besseren Schutzwirkung gegeben hätte, darf das Formulieren eines solchen Gesamtergebnisses kein Tabu sein, auch wenn dadurch einige Protagonisten in Wissenschaft und Politik ihre Glaubwürdigkeit verlieren.
Günter Kampf ist Sachbuchautor, selbstständiger Facharzt für Hygiene und Umweltmedizin in Hamburg sowie außerplanmäßiger Professor für Hygiene und Umweltmedizin an der Universität Greifswald. Er hat mehr als 250 wissenschaftliche Veröffentlichungen, 44 Buchkapitel sowie zwölf Fachbücher veröffentlicht, unter anderem »Pandemiemanagement auf dem Prüfstand – Impfpflicht«.
Dieser Beitrag unterliegt der Creative-Commons-Lizenz (CC BY-NC-ND 4.0). Er darf für nichtkommerzielle Zwecke unter Nennung des Autors und unter Ausschluss jeglicher Bearbeitung von der Allgemeinheit frei weiterverwendet werden. Der Beitrag ist zuerst in der Berliner Zeitung erschienen.
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