In vier Aufsätzen über den »Untergang des Abendlandes« stellte sich Steiner 1922 gegen Blut- und Rassenmystik, wie sie von Oswald Spengler vertreten wurde.
Oswald Spengler gilt manchen als »Meisterdenker der konservativen Revolution«, manchen als »Wegbereiter des Nationalsozialismus«. Berühmt wurde er durch seinen 1918 erschienenen »Untergang des Abendlandes«, dem er 1922 einen zweiten Band nachfolgen ließ. Die zustimmende und kritische Rezeption reicht von Robert Musil über Thomas Mann, Karl Popper, Theodor Adorno, Claude Lévi-Strauss bis zu Jorge Luis Borges, um nur die bekanntesten Autoren zu nennen.
Dem zweiten Band des »Untergangs« hat Steiner 1922 vier kritische Artikel gewidmet, die August – September in der Zeitschrift »Das Goetheanum«, erschienen sind.
In diesen Aufsätzen setzt sich Steiner kritisch mit der Blut- und Rassenmystik Spenglers auseinander.
Spenglers »welthistorische Perspektiven«
Oswald Spengler hat dem ersten Bande seines »Untergang des Abendlandes« nun den zweiten folgen lassen. Er nennt ihn »Welthistorische Perspektiven«. Man fühlt sich zunächst gedrängt, Anfang und Ende dieser Perspektiven in der Empfindung neben einander zu stellen.
Der Anfang richtet den Blick auf die Natur. »Betrachte die Blumen am Abend, wenn in der sinkenden Sonne eine nach der andern sich schließt: etwas Unheimliches dringt dann auf dich ein, ein Gefühl von rätselhafter Angst vor diesem blinden, traumhaften, der Erde verbundenen Dasein. Der stumme Wald, die schweigenden Wiesen, jener Busch und diese Ranke regen sich nicht. Der Wind ist es, der mit ihnen spielt. Nur die kleine Mücke ist frei; sie tanzt noch im Abendlichte; sie bewegt sich, wohin sie will. – Eine Pflanze ist nichts für sich. Sie bildet einen Teil der Landschaft, in der ein Zufall sie Wurzel zu fassen zwang. Die Dämmerung, die Kühle und das Schließen aller Blüten – das ist nicht Ursache und Wirkung, nicht Gefahr und Entschluss, sondern ein einheitlicher Naturvorgang, der sich neben, mit und in der Pflanze vollzieht. Es steht der einzelnen nicht frei, für sich zu warten, zu wollen oder zu wählen.«
Man empfindet nun durch das ganze Buch hindurch die »weltgeschichtlichen Perspektiven« durch diesen Blick auf das schlafende Pflanzenleben, zu dem man im Anfange aufgefordert wird, bestimmt. – Warum soll es gerade dieser Blick sein? Ist es derjenige, zu dem der Mensch der Gegenwart naturgemäß gedrängt wird, wenn die Rätsel und Beunruhigungen seines Zeitalters in seiner Seele stürmen? Ist, was durch diesen Blick als Seelenstimmung erregt wird, geeignet, die Kulturgestaltung der Gegenwart in ihrem Wesen so zu durchschauen, dass sie gewertet werden kann?
Man endete mit dem Lesen, und war am Schlusse vor die ganze Tragik des Gegenwartsmenschen gestellt. »Eine Leidenschaft im Erfinden zeigt schon die gotische Architektur – die man mit der gewollten Formenarmut der dorischen vergleiche – und unsre gesamte Musik. Es erscheinen der Buchdruck und die Fernwaffe. Auf Kolumbus und Kopernikus folgen das Fernrohr, das Mikroskop, die chemischen Elemente und endlich die ungeheure Summe der technischen Verfahren des frühen Barock (Seite 628). – Dann aber folgt zugleich mit dem Rationalismus die Erfindung der Dampfmaschine, die alles umstürzt und das Wirtschaftsbild von Grund aus verwandelt. Bis dahin hatte die Natur Dienste geleistet, jetzt wird sie als Sklavin ins Joch gespannt und ihre Arbeit wie zum Hohn nach Pferdekräften bemessen. … Mit den Millionen und Milliarden Pferdekräften steigt die Bevölkerungszahl in einem Grade, wie keine andre Kultur es je für möglich gehalten hätte. Dieses Wachstum ist ein Produkt der Maschine, die bedient und gelenkt sein will und dafür die Kräfte jedes Einzelnen verhundertfacht. Um der Maschine willen wird das Menschenleben kostbar. … Die ganze Kultur ist in einen Grad von Tätigkeit geraten, unter dem die Erde bebt. – Was sich nun im Laufe kaum eines Jahrhunderts entfaltet, ist ein Schauspiel von solcher Größe, dass den Menschen einer künftigen Kultur mit andrer Seele und andern Leidenschaften das Gefühl überkommen muss, als sei damals die Natur ins Wanken geraten (Seite 629). … Und diese Maschinen werden in ihrer Gestalt immer mehr entmenschlicht, immer asketischer, mystischer, esoterischer. … Niemals hat sich ein Mikrokosmos dem Makrokosmos überlegener gefühlt. Hier gibt es kleine Lebewesen, die durch ihre geistige Kraft das Unlebendige von sich abhängig gemacht haben (Seite 630)…. Aber gerade damit ist der faustische Mensch zum Sklaven seiner Schöpfung geworden …. Der Bauer, der Handwerker, selbst der Kaufmann erscheinen plötzlich unwesentlich gegenüber den drei Gestalten, welche sich die Maschine auf dem Weg ihrer Entwicklung herangezüchtet hat: dem Unternehmer, dem Ingenieur, dem Fabrikarbeiter (Seite 631)«.
Warum soll der Mensch, der in ein solches Verhältnis zur Maschine gestellt erscheint, die Wertung dieser Stellung mit dem Blick vornehmen, der auf das schlafende Leben der Pflanze sich zuerst gerichtet hat?
Es hat doch diese Blickrichtung ganz gewiss den Menschen nicht zwischen die Räder, Kurbeln, Motoren hineingestellt. Es war vielmehr die Blickstellung auf die leblose Natur. Seit der Mensch an diese herantrat mit einer Betrachtung, die ihre Gegenstände geistig so durchsichtig haben wollte wie die mathematischen sind, ist er zur modernen Technik geschritten. An dem Blicke in das geistig Durchsichtige hat sich das neuere Denken herangeschult. Dieses Denken erfährt über sich eine Auskunft, wenn es sein Begreifen beim Stoß zweier elastischer Kugeln, oder bei der Wurflinie eines Körpers erfasst. Wie es da begreift, will es auch bei allem begreifen, was ihm an den Vorgängen im physikalischen oder chemischen Laboratorium entgegentritt. Geistig durchsichtige Vorgänge will es vor dem Blicke haben. Wenn jemand sagt: aber es ist doch der Stoß zweier elastischer Kugeln kein geistig durchsichtiger Vorgang, die Kraft der Elastizität selbst bleibt doch ein dunkler, undurchschaubarer Vorgang; so ist es berechtigt zu erwidern: darauf kommt es nicht an; ich brauche die Natur der Tinte nicht zu kennen, mit der ein Brief geschrieben ist, wenn ich alles restlos verstehen will, was mich in dem Briefe für meinen Lebenszusammenhang angeht. Der Mensch schaut in der leblosen Natur in voller Durchsichtigkeit, was ihn angeht, um aus dem Naturzusammenhang heraus eine Maschine zu konstruieren. Er braucht dazu Ideen, die verzichten können, mehr zu umspannen, als die unlebendige Natur in voller Durchsichtigkeit schauen lässt. –
Aber in der Seele des Menschen sind diese Ideen doch bloß Bilder. Das Bewusstsein erkennt sie als solche. Sie leben selbst kraftlos im Bewusstsein; sie verhalten sich zu dem, was sie abbilden wie die Spiegelbilder zu den Gegenständen, die vor dem Spiegel stehen. Kein Spiegelbild stößt das andere; dennoch geben die beiden ein zusammenhängendes Bild des Stoßes. In diesem Bildwissen hat das moderne Denken seine Größe und seine Unzulänglichkeit. Versteht es sich selbst in dieser Größe und dieser Unzulänglichkeit, so ist es schon hineingestürmt in seine Rätsel und seine Beunruhigungen.
Dieses Bildwissen hat die Durchsichtigkeit an sich. Fühlt diese der Mensch, so sagt er sich: alles Wissen, das dieses Namens wert ist, muss so durchsichtig sein. Aber schon beim Pflanzenwesen ist diese Durchsichtigkeit nicht vorhanden, wenn man zu keiner andern Erkenntnis greifen will als derjenigen, die man für die Bilder der leblosen Natur anstrebt. Das hat Goethe empfunden. Deshalb hat er für das Pflanzenwesen nach einer andersgearteten Erkenntnis gestrebt. Er wollte das Bild der Urpflanze, aus der sich die einzelne Pflanzenform begreifen lässt, wie der einzelne physikalische Vorgang aus dem »Naturgesetz«.
Wie er im Leblosen erkennt, so kann der Mensch im Lebendigen nur erkennen, wenn er seine Auffassungsfähigkeiten erweitert. – An der Erkenntnis des Leblosen hat die Menschheit erst ersehen, welche Ansprüche sie an das Wissen stellen muss. Aber diese Erkenntnis offenbart nur, was der eigenen menschlichen Wesenheit fremd ist. Nichts kann vom Begreifen des Leblosen zum Erleben der eigenen Menschenwesenheit führen, wenn bei diesem Begreifen stehen geblieben wird.
In der Maschine hat sich der Mensch mit einem zwar Durchsichtigen, aber ihm Fremden umgeben. Er hat sein Leben mit diesem Fremden verbunden. Kalt und menschenfern steht die Maschine da, ein Triumph der »sicheren« Erkenntnis; neben ihr steht der Mensch selbst, Finsternis vor sich, wenn er mit dieser Erkenntnis in sich selbst hineinsieht.
Und dennoch: diesen Blick in das durchsichtige Tote musste die Menschheit in sich erziehen, wenn sie völlig wach werden sollte. Sie braucht das Bildwissen von dem, was ihrem eigenen Wesen fremd ist, zum Wachsein. Denn alles vorangehende Wissen ist aus dem Dunkel der eigenen Menschennatur mitbestimmt; klar wird es erst vor der Seele, wenn die Menschenseele zum bloßen Spiegel wird, der nur noch Bilder des Menschenfremden entwirft. Vorher hatte der Mensch in seinem Seeleninhalt, wenn er von Wissen sprach, die Triebe, die Inhalte seiner eigenen Natur, die als solche nicht klar sein können. Seine Ideen waren von einem Sein durchsetzt; aber sie waren nicht klar. – Die Bilder des leblosen Seins sind klar. Nun aber hat der Mensch an diesen Bildern nicht nur die Offenbarung des Leblosen, sondern auch innere Erlebnisse. Bilder können durch ihre eigene Natur nichts veranlassen. Sie sind kraftlos. Erlebt der Mensch seine sittlichen Impulse in dem Reich des Bildlichen so, wie er es an der leblosen Natur sich anerzogen hat, dann erhebt er sich zur Freiheit. Denn Bilder können nicht wie Triebe, Leidenschaften oder Instinkte den Willen bestimmen. Erst das Zeitalter, das am Toten das Mathematik-ähnliche Bilddenken entwickelte, kann den Menschen zur Freiheit geleiten.
Die kalte Technik gibt dem Menschendenken ein Gepräge, das in die Freiheit führt. Zwischen Hebel, Rädern und Motoren lebt nur ein toter Geist; aber in diesem Totenreiche erwacht die freie Menschenseele. Sie muss den Geist in sich erwecken, der vorher nur mehr oder weniger träumte, als er noch die Natur beseelte. Aus dem träumenden wird waches Denken an der Kälte der Maschine.
Der wache Blick, der auf die Maschine gerichtet sein kann, wird wieder träumend, wenn er so wie in der Spenglerschen Betrachtung zur Pflanze zurückgetrieben wird. Denn diese Betrachtung geht nicht wie die Goethesche auch zur Durchsichtigkeit des Pflanzen-Beschauens fort, sondern sie zieht sich zurück in das Halbdunkel, in dem das Leben erscheint, wenn man es so ansieht, wie man in dem vor-technischen Zeitalter auch das Leblose angeschaut hat.
Der Blick, zu dem man am Anfang der Spenglerschen Betrachtung aufgefordert wird, lässt allerdings die Technik wie ein Dämonisches erscheinen. Aber nur, weil er die an ihr errungene Klarheit verleugnet. Durch dieses Verleugnen prallt der Mensch vor seinem eigenen Wachsein zurück. Statt der Klarheit die Kraft abzuringen, an der Maschine den freien Menschengeist zu entzünden, wird im Anschauen der Pflanze die Furcht herbeigerufen, die da sagt: »Diese Räder, Walzen und Hebel reden nicht mehr. Alles was entscheidend ist, zieht sich ins Innere zurück. Man hat die Maschine als teuflisch empfunden, und mit Recht« (Seite 630). – Es scheint aber notwendig, der Maschine den Teufel auszutreiben. Darf man, wenn man das will, so Anfang und Ende des Denkens gestalten, und dazwischen »Weltperspektiven« legen, wie es Spengler tut? (Auf diese Frage wird in der Fortsetzung dieses Artikels eine Antwort versucht werden.)
Die Flucht aus dem Denken
Eine Fortsetzung des Artikels über Spenglers »Welthistorische Perspektiven«
Spengler redet von dem schlafenden Pflanzenleben in Ausdrucksformen wie diese: »Eine Pflanze führt ein Dasein ohne Wachsein. Im Schlaf werden alle Wesen zu Pflanzen: die Spannung zur Umwelt ist erloschen, der Takt des Lebens geht weiter. Eine Pflanze kennt nur die Beziehung zum Wann und Warum. Das Drängen der ersten grünen Spitzen aus der Wintererde, das Schwellen der Knospen, die ganze Gewalt des Blühens, Duftens, Leuchtens, Reifens: das alles ist Wunsch nach der Erfüllung eines Schicksals und eine beständige sehnsüchtige Frage nach dem Wann« (Seite 9).
Im Gegensatze damit erscheint das Wachsein der Tiere und des Menschen. Das Wachsein entwickelt ein Innenleben. Aber dieses ist abgerissen vom kosmischen Dasein. Es scheint, als ob nichts von dem Drängenden, Treibenden der Kosmoskräfte, die in dem Pflanzenhaften Schicksal werden, weiter waltete in den Erlebnissen des Wachseins. – Die Empfindung dieser Abgerissenheit lebt sich in der Spenglerschen Ansicht aus. –
Im menschlichen Wesen waltet das Pflanzenartige weiter. Es treibt in den unterbewussten Betätigungen, die wie Ergebnisse der geheimnisvollen Kräfte des »Blutes« erscheinen. Aus dem »Blute« steigt auf, was als Schicksalsmäßiges in der Menschheit lebt. Demgegenüber ist wie eine zu dem wahren Dasein hinzukommende Beigabe, was das wache Bewusstsein ausbildet. Spengler findet scharf konturierte Worte, um die Bedeutungslosigkeit des wachen Bewusstseins im Verhältnis zu den eigentlich schaffenden pflanzenhaften Kräften in der Menschennatur zu kennzeichnen: … »das Denken … wird seinen Rang innerhalb des Lebens stets falsch und viel zu hoch ansetzen, weil es andere Arten der Feststellung neben sich nicht bemerkt oder anerkennt und damit auf einen vorurteilslosen Überblick verzichtet. In der Tat haben sämtliche Denker von Beruf – und sie führen hier in allen Kulturen fast allein das Wort – kaltes, abstraktes Nachdenken für die selbstverständliche Tätigkeit gehalten, durch die man zu den letzten Dingern gelangt« (Seite 14). Es ist nicht gerade eine tiefe, sondern mehr eine leicht errungene Einsicht, die Spengler mit den Worten ausdrückt: »Aber wenn der Mensch ein denkendes Wesen ist, so ist er doch weit davon entfernt, ein Wesen zu sein, dessen Dasein im Denken besteht –« (Seite 14). – Das ist so wahr, wie »dass zweimal zwei vier ist«. Aber für eine Wahrheit ist wichtig, wie man sie in den Zusammenhang des Lebens hineinzustellen vermag. Und Spengler stellt das Denken nicht einmal in das Leben hinein; er stellt es neben das Leben. Er tut dieses, weil er es nur in der abstrakten Form erfassen will, in der es seine Rolle in der modernen naturwissenschaftlichen Forschungsart spielt. Da ist es abstraktes Denken. In dieser Form ist es Nachdenken über das Leben, nicht eine Kraft des Lebens selbst. Diesem Denken gegenüber kann man sagen: was im Menschen Dasein-bildend wirkt, das treibt aus seinem Schlafenden, Pflanzenhaften hervor; das ist nicht Ergebnis der wachenden Abstraktion. Da gilt: »Das wirkliche Leben, die Geschichte kennt nur Tatsachen. Lebenserfahrung und Menschenkenntnis richten sich nur auf Tatsachen. Der tätige Mensch, der Handelnde, Wollende, Kämpfende, der sich täglich gegen die Macht der Tatsachen behaupten und sie sich dienstbar machen oder unterliegen muss, sieht auf bloße Wahrheiten als etwas Unbedeutendes herab« (Seite 15).
Aber dieses abstrakte Denken ist nur eine Entwickelungsphase im Leben der Menschheit. Ihm geht ein bildhaftes, mit den Dingen verbundenes und in den Menschentaten pulsierendes Denken voraus. Im bewussten Menschenleben wirkt dieses Denken allerdings traumhaft, aber es ist der Schöpfer aller Frühstadien der Kulturen. Und wenn man sagt: was in solchen Kulturen als Taten der Menschen auftritt, das ist nicht Ergebnis des Denkens, sondern des »Blutes«, so verzichtet man auf alles Durchschauen der treibenden Impulse der Geschichte, um in das trübe Gebiet einer materialistischen Mystik unterzutauchen. Denn jede Mystik, die aus diesen oder jenen seelischen oder geistigen Qualitäten das Werden der geschichtlichen Tatsachen entstehen lässt, ist hell gegenüber der Mystik des »Blutes«.
Wenn man zu einer solchen Mystik greift, schneidet man sich die Möglichkeit ab, den Zeitabschnitt richtig zu bewerten, in dem die Menschenentwickelung von früheren bildhaften Formen des Denkens zu dessen abstrakter Art fortgeschritten ist. Diese ist, an und für sich, nicht eine zum Handeln treibende Kraft. Aber während sie für die Ausgestaltung des naturwissenschaftlichen Forschens gewirkt hat, war das Handeln der Kulturmenschheit den Nachwirkungen alter, aus dem bildhaften Denken entsprossenen Impulsen unterworfen. Das ist das Bedeutsame der Kultur des Abendlandes in den letzten Jahrhunderten, dass das abstrakte Denken fortschreitet, und das Handeln unter dem Einflüsse der vorangehenden Impulse stehen bleibt. Diese nehmen zwar kompliziertere Formen an, bringen aber nichts wesenhaft Neues hervor. Die neuere Menschheit fährt mit Eisenbahnen, in denen abstrakte Gedanken verwirklicht sind; aber sie tut dieses aus dem Willensinhalte heraus, der auch schon im eisenbahnlosen Verkehr wirkte.
Doch dieses abstrakte Denken ist nur eine Durchgangsstufe der denkerischen Fähigkeit. Wer es in seiner völligen Reinheit erlebt hat, wer seine Kälte und Kraftlosigkeit, aber auch seine Durchsichtigkeit mit vollem menschlichen Anteil in sich aufgenommen hat, der kann bei ihm nicht stehen bleiben. Es ist ein totes Denken; aber es kann zum Leben erweckt werden. Es hat die Bildhaftigkeit verloren, die es als Traumerlebnis gehabt hat; aber es kann diese wieder erringen im Lichte eines intensiveren Bewusstseins. Von traumhafter Bildlichkeit durch vollbewusste Abstraktion zur ebenso vollbewussten Imagination: das ist der Entwickelungsgang des menschlichen Denkens. Der Aufstieg zu dieser bewussten Imagination steht als Zukunftsaufgabe vor der abendländischen Menschheit. Goethe hat einen Anfang damit gemacht, indem er für das Verständnis der Pflanzengestaltung das Ideenbild der Urpflanze forderte. Und dieses imaginative Denken kann wieder Impulse des Handelns aus sich heraustreiben.
Wer das nicht zugibt und beim abstrakten Denken stehen bleiben will, der kommt allerdings zu der Ansicht, dass das Denken eine unfruchtbare Zugabe zum Leben sei. Das abstrakte Denken macht den erkennenden Menschen zum bloßen Zuschauer des Lebens. Dieser Zuschauerstandpunkt gibt der Spenglerschen Betrachtung ihr Gepräge. – Spengler hat sich in das abstrahierende Denken als moderner Mensch eingelebt. Er ist eine bedeutende Persönlichkeit. Er kann fühlen, wie er mit diesem Denken außerhalb des Lebens steht. Er hat aber vor allem an dem Leben Interesse. Und in ihm entsteht die Frage: was kann der Mensch mit diesem Denken im Leben anfangen ? Damit ist aber auf die ganze Tragik im Dasein des modernen Menschen gewiesen. Dieser hat es bis zur Stufe der abstrakten Denktätigkeit gebracht; er weiß aber mit dieser für das Leben nichts anzufangen. Spenglers Buch spricht aus, was für Viele Tatsache ist, aber von ihnen nicht bemerkt wird. Die Kulturmenschheit ist denkend vollerwacht; allein sie steht mit ihrem Wachsein ratlos da.
Ein Buch der Ratlosigkeit ist Spenglers »Untergang des Abendlandes«. Sein Verfasser hat ein Recht dazu, von diesem »Untergang« zu sprechen. Denn die Niedergangskräfte, denen andre passiv unterliegen, wirken in ihm aktiv. Er versteht sie, und er lehnt es ab, zu den Aufgangskräften zu kommen, die im Wachen errungen werden können. Deshalb schaut er nur den Niedergang und erwartet die Fortsetzung von der Wirkung im mystischen Dunkel des »Blutes«.
Es geht ein beängstigender Zug durch Spenglers Darstellung. Vollendete intellektuelle Seelenverfassung, die an sich selbst irre geworden ist, tritt an die Ereignisse des geschichtlichen Lebens der Menschheit heran, um sich stets von diesen Tatsachen überwältigen zu lassen. Der Agnostizismus der modernen Zeit wird so völlig ernst genommen, dass er nicht nur theoretisch formuliert, sondern zur Methode der Untersuchung erhoben wird. Die einzelnen Kulturen werden so geschildert, dass jede einzelne ein Bild vor den Menschen hinstellt, das ihn vor seinem eigenen Wachsein in die Flucht treibt. Aber diese Flucht ist nicht die in fruchtbare Dichterträume, die in das Dasein untertaucht, indem sie das kalte Denken in Geist wandelt; es ist vielmehr die Flucht in ein künstliches Alpdrücken; glänzendes abstraktes Denken, das Angst vor sich selber hat und sich im Traume ertränken möchte.
(Was aus der «Weltgeschichte« durch eine solche Betrachtung wird, soll eine weitere Fortsetzung dieses Artikels zeigen.)
Spenglers physiognomische Geschichtsbetrachtung
Was hier über Spenglers Buch gesagt worden ist, muss sich gerade demjenigen aufdrängen, der in ihm einen hervorragenden repräsentativen Ausdruck der gegenwärtigen Seelenverfassung innerhalb der Menschheit des Abendlandes sieht. Spengler denkt zu Ende, was in Anderen zur Hälfte oder zu einem Viertel seelisch durchlebt wird. Dieses Denken kann die geistigen Entwicklungskräfte nicht finden, die in der Menschheit von deren Anbeginn im Erdendasein bis in zu erahnende Zukünfte hinein wirken. Diese Kräfte leben sich in den einzelnen Kulturen aus, so dass eine jede Kultur Kindheit, Reife, Verfall durchmacht und schließlich dem Tode verfällt. Aber innerhalb jeder Kultur bildet sich ein Keim, der in einer nächsten aufgeht, um in diesem Aufgehen die Menschheit durch ein ihr notwendiges Entfaltungsstadium hindurchzuführen. Gewiss haben die Abstraktlinge unrecht, die in dieser Entwickelung nur ein Fortschreiten zu immer höhern Stufen sehen. Manches Spätere erscheint gegenüber berechtigten Bewertungen als ein Rückschritt. Aber die Rückschritte sind notwendige denn sie führen die Menschheit durch Erlebnisse hindurch, die gemacht werden müssen.
Hegels Idee, dass die Geschichte den Fortschritt der Menschheit im Bewusstsein der Freiheit zur Offenbarung bringe, ist gewiss abstrakt. Aber sie stellt wenigstens einen bedeutungsvollen Versuch dar, einen Faden durch das geschichtliche Werden hindurch zu finden. Will man für die abstrakte Idee einen Inhalt, der in die Mannigfaltigkeit des menschlichen Geschehens eindringt, so braucht man die geistige Anschauung. Das intellektualistische Denken reicht dazu nicht aus.
Bleibt dieses Denken ehrlich, so muss es sich darauf beschränken, die Physiognomien der Kulturen zu kennzeichnen. Es kann nicht durch die Physiognomien hindurch auf die Seelen der Kulturen schauen. Aber gerade in dem, was sich erst hinter der Physiognomie offenbart, liegt der Keim, der von einer Kultur in die andere hinüberwirkt.
Spenglers Betrachtung ist in dieser Beziehung grausam ehrlich. Sie beschränkt sich auf die Kulturphysiognomien. »Wahrheiten gibt es für den Geist; Tatsachen gibt es nur in Bezug auf das Leben. Historische Betrachtung, in meiner Ausdrucksweise physiognomischer Takt: das ist die Entscheidung des Blutes, die auf Vergangenheit und Zukunft erweiterte Menschenkenntnis, der angeborne Blick für Personen und Lagen, für das, was Ereignis, was notwendig war, was dagewesen sein muss, und nicht die bloße wissenschaftliche Kritik und Kenntnis von Daten. Die wissenschaftliche Erfahrung kommt bei jedem echten Historiker nebenher oder nachher« (Seite 56). So muss sprechen, wer völlig im intellektualistischen Denken aufgeht, und sich ehrlich dem geschichtlichen Werden gegenüberstellt. Ein solcher kann nicht weiter hinein in die geschichtlichen Kräfte; aber er wird, wenn scharfe Intellektualität den physiognomischen Takt führt, glänzende Charakteristiken der einzelnen Kulturen liefern können.
Von solch glänzender Art ist das Kapitel, das Spengler in den Mittelpunkt seiner »Welthistorischen Perspektiven« gestellt hat: »Probleme der arabischen Kultur.« Die Essenz der Weltanschauungen, die Jahrhunderte vor der Entstehung des Christentums dem Schoße des orientalischen Lebens entspringen, wird hier in eindringlich scharfsinniger, kenntnisreicher Weise dargestellt. Der Begriff der »magischen« Weltanschauung wird in scharfen Konturen herausgearbeitet. Man sieht, wie eine alte Welt, die den Menschen als örtlich beschränktes Wesen unter Stammesgenossen hineinstellt, so dass er sich als Glied dieses Stammes fühlt, abgelöst wird von einer späteren, die Menschen in Gemeinschaften hineinführt, in denen sie zusammengehalten werden von dem Bewusstsein eines dem Irdischen übergeordneten Geistes. Aus dem Gotte, der nur an dem einzelnen Orte, in dem der Stamm lebt, gedacht werden kann, wird der Gott, der, vom Orte unabhängig, in den Seelen der Menschen lebt, die sich zu ihm bekennen können. Für den Lokalgott des Stammes kann man keine Bekehrungsversuche machen. Ein anderer Stamm verehrt den Gott, der an einem andern Orte sich offenbart, in anderen Kulten. Es wäre sinnlos, das, was den Charakter des einen Ortes trägt, auf einen andern übertragen zu wollen. Für die Lokalgottheiten entwickeln sich keine Missionen. Diese treten erst auf, wenn die Seele sich zu dem »höheren« Gotte erhebt, dessen Geisteskraft in die Seelen einströmt. Für dieses Einströmen will man möglichst viele Seelen gewinnen.
Die Menschheit tritt so in das Stadium der magischen Religionen ein. Der Mensch auf Erden fühlt sich wie die Umhüllung des einheitlichen Weltengeistes, der in allen Seelen leben soll. Das menschliche Ich ist da noch nicht auf sich selbst gestellt. Es ist die Hülle des Weltenwesens. Dieses denkt im Menschen, handelt durch den Menschen. Das ist das Charakteristische der magischen Religionsempfindung.
In Vorderasien, getragen von verschiedenen Völkern, erscheint diese Empfindung. Jesus steht – nach Spenglers Meinung – ganz in ihr. Das abendländische Christentum entsteht dadurch, dass diese magische Empfindung einströmt in die griechische und römische Welt und deren Formen annimmt. So lebt, was eigentlich seinem Wesen nach orientalischer Magismus ist, in den äußeren Formen fort, die sich im Griechentum, im Römertum aus Kultarten ergeben haben, die selbst nicht magisch orientiert waren. Seite 227 seines Buches spricht Spengler den abstrakten Gedanken aus, durch den er das zu begreifen versucht: »In einer Gesteinsschicht sind Kristalle eines Minerals eingeschlossen. Es entstehen Spalten und Risse; Wasser sickert herab und wäscht allmählich die Kristalle aus, so dass nur ihre Hohlform übrig bleibt. Später treten vulkanische Ereignisse ein, welche das Gebirge sprengen; glühende Massen quillen herein, erstarren und kristallisieren ebenfalls aus. Aber es steht ihnen nicht frei, es in ihrer eigenen Form zu tun; sie müssen die vorhandenen ausfüllen und so entstehen gefälschte Formen, Kristalle, deren innere Struktur dem äußeren Bau widerspricht, eine Gesteinsart in der Erscheinungsweise einer fremden. Dies wird von den Mineralogen Pseudomorphose genannt. – Historische Pseudomorphosen nenne ich Fälle, in welchen eine fremde alte Kultur so mächtig über dem Lande liegt, dass eine junge, die hier zu Hause ist, nicht zu Atem kommt und nicht nur zu keiner Bildung reiner, eigener Ausdrucksformen, sondern nicht einmal zur vollen Entfaltung ihres Selbstbewusstseins gelangt …«
So lebt in dem westlichen Christentum der ersten Jahrhunderte der magische Arabismus als Pseudomorphose sich aus. Er nimmt die Formen der griechischen und römischen Welt an. »In Wirklichkeit ist Augustin der letzte große Denker der früharabischen Scholastik und nichts weniger als ein abendländischer Geist. Er war nicht nur zeitweise Manichäer, sondern ist es in sehr wesentlichen Zügen auch als Christ geblieben; seine Nächstverwandten findet man unter den persischen Theologen des jüngeren Awesta mit ihren Lehren vom Gnadenschatz der Heiligen und der absoluten Schuld« (Seite 293).
So sieht die Sache derjenige, der auf die Physiognomie des Arabismus schaut, und der diese scharfsinnig fortverfolgt bis zu den Persönlichkeiten, in denen sie sich noch beobachten lässt. Aber die Seele ist dabei nicht geschaut, die nicht nur als Pseudomorphose in eine fremde Umgebung hineinströmt, sondern die diese Umgebung auch erlebt, sich als Keim erweist, der in neuen Formen zum Dasein gelangt. Das abstrakte mineralische Bild genügt nicht. Die Seele einer Kultur ist lebendig und nimmt ihre Umgebung wahr. Aus dieser Wahrnehmung heraus entfaltet sie nicht eine Pseudomorphose, sondern einen verwandelten Trieb. An Augustin ist nicht charakteristisch sein Manichäertum, nicht seine Verwandtschaft mit persischen Theologen, sondern seine elementarische Selbstschau, die sich eingliedert in das christliche Römertum und dadurch einen Gnaden- und Schuldbegriff gestaltet, der verzerrt wird, wenn man nur auf die physiognomische Ähnlichkeit mit orientalischen Anschauungen hinweist. In der Augustin-Physiognomie lebt nicht der verwandelte Orient in älter gewordener Form fort, sondern diese Physiognomie ist wie die des Sohnes, der die Züge des Vaters trägt, aber eine eigene Seele hat. (Die Schlussbetrachtung über Spenglers Buch soll in der nächsten Nummer dieser Wochenschrift stehen.)
Spenglers geistverlassene Geschichte
Schluss des Artikels über Spenglers »Welthistorische Perspektiven«
Besonders glänzend ist die »welthistorische Perspektive«, in der Spengler den »Staat« sieht. Er möchte ihn in seiner Wirklichkeit erfassen. Aber er kommt nicht dazu, die unbewussten, instinktiven Menschheitszusammenhänge, aus denen sich das staatliche Leben erst herausentwickelt, richtig zu werten. Denn es liegt ganz außerhalb seiner Anschauungsart, in dem Unbewussten, das in primitiven Zuständen den Menschen an den Menschen gliedert, reale geistige Kräfte zu suchen. Er findet die Zusammenhänge im Blute verursacht. Aber er sieht nicht, wie im Blute der Geist wirkt, wie dieser in den Instinkten seinen Ausdruck findet.
Indem der Geist dem Menschen allmählich bewusster wird, erscheint er für das Bewusstsein auch immer mehr in abstrakter Form. Er wird das, als das ihn Spengler kennzeichnet: bloße Wahrheit, unwirksamer Seeleninhalt des betrachtenden Menschen; nichts für den Handelnden, der in Tatsachen lebt.
Und so findet Spenglers Blick im Entstehen der menschlichen Gemeinwesen das tätige Adelstum, das ganz in der Tatsachenwelt aufgeht und in dem Strom der Geschichte lebt, Geschichte macht, und das beschauliche Priestertum, das nur in Wahrheiten lebt und eigentlich außerhalb der Geschichte das Dasein verbringt.
Dasjenige Priestertum, das in Urkulturen der Inspirator der Tatmenschen ist, das auch noch ratend und Richtung gebend in den Tatmenschen weiter wirkt, wertet Spengler nicht richtig. Er müsste bei einer solchen Wertung sehen, wie die Tatmenschen nur die Fortsetzer durch den Arm dessen sind, was die Tat-bestimmenden Geistmenschen in die Richtung bringen.
Spenglers Blick kommt erst zu einer richtigen geschichtlichen Wertung für diejenigen Tatsachen, in denen das eigentlich impulsive Wirken der Geistmenschen aufhört, und die Außenseite des geschichtlichen Lebens mehr sichtbar wird, in denen es allerdings scheint, als ob die Träger des Tatsachenstromes sich nicht kümmerten um die Inspiration der Geistesmenschen. Denn Schein ist dies auch da noch. Durch tausend Kanäle fließen die Impulse der »Ratenden« in die Taten. Es ist, als ob Spengler ganz blind wäre für diese Kanäle. Denn nur so kann er überall bei dem »Blute« stehen bleiben. Nur so kann er zu einer Ansicht kommen, die er (Seite 414) ausspricht: »Und zwar ist der Adel der eigentliche Stand, der Inbegriff von Blut und Rasse, ein Daseinsstrom in denkbar vollendeter Form.«
Stellt man sich aber an den Ausgangspunkt der Spenglerschen Perspektive, um zu sehen, was gerade von da aus zu sehen ist, so muss man seine Darstellung glänzend finden. Sie kennzeichnet Teilwahrheiten, die in dieser Perspektive mit besonders scharfen Konturen erscheinen. Wie das Priestertum aus der Sphäre der geistigen Impulse hinübergleitet in eine Wirksamkeit, die aus den Kräften des Blutes kommt, dafür findet Spengler die denkbar schärfste Zeichnung. »Die Geschichte des Papsttums ist bis ins achtzehnte Jahrhundert hinein die Geschichte einiger Adelsgeschlechter, welche die Tiara erstrebten, um einen fürstlichen Familienbesitz zu gründen. Aber das gilt auch von byzantinischen Würdenträgern und von englischen Premierministern, wie die Familiengeschichte der Cecils zeigt, und sogar noch von sehr vielen Führern großer Revolutionen« (Seite 415).
Für Spengler wird »Geschichte«, was aus dem Blute der herrschenden Stände quillt. Im »Staate« wird dieser Strom nur gewissermaßen festgehalten. Die Wirklichkeit der fortschreitenden Tatsachen, die von den Ständen ausgeht, wird zu einem Schein krystallisiert im Staate, der im Raume mit abgeschwächter Realität festhalten will, was in der Zeit von den Ständen im steten Werden gemacht wird. Für Spengler wird zur Geschichte, was sich aus dem Zusammenwirken und Sich-Bekämpfen der Blutkräfte zwischen den Ständen abspielt. »Und daraus folgt, dass echte Geschichte nicht ›Kulturgeschichte‹ in dem antipolitischen Sinne ist, wie er unter Philosophen und Doktrinären jeder beginnenden Zivilisation und also gerade heute wieder beliebt wird, sondern ganz im Gegenteil Rassengeschichte, Kriegsgeschichte, diplomatische Geschichte, das Schicksal von Daseinsströmen in Gestalt von Mann und Weib, Geschlecht, Volk, Stand, Staat, die sich im Wellenschlag der großen Tatsachen verteidigen und gegenseitig überwältigen wollen« (Seite 419). – Spengler hat gewiss zehnmal Recht, wenn er so die kulturgeschichtlichen Standpunkte charakterisiert, die aus dem, was die Menschen denken, Tatsachen herleiten, die doch nur der wirtschaftliche, künstlerische, wissenschaftliche Ausdruck dessen sind, was die »Stände« untereinander ausmachen. Aber er hat eben keinen Blick dafür, wie teils unbewusst, teils bewusst – durch Menschen – der wirksame Geist in dem Blute sich zur Offenbarung bringt. Und dieser Geist ist nicht dasselbe, was Spengler meint, wenn er – in seiner Art ganz richtig – sagt: »Eine Kultur ist Seelentum, das in sinnbildlichen Formen zum Ausdruck gelangt, aber diese Formen sind lebendig und in Entwicklung begriffen…« (Seite 408 f.). Denn der wirksame Geist ist derselbe, der als Wahrheit allerdings nicht von dem abstrakten, aber von dem lebendigen, in eben diesem Geiste webenden Denken ergriffen wird, als das Fundament jeder Menschentat.
Und so kommt bei Spengler als »Geschichte« nur zu seinem Rechte, was im Bereiche jener Kulturen liegt, die der Ausdruck des aus dem Blute fließenden Tat-Gestaltens der Stände und Klassen sind.
Deshalb kann Spengler die tiefsten Impulse der Gegenwart nicht finden. Und gerade darauf kommt es ihm doch an. Er möchte die Vergangenheiten der einzelnen Kulturen betrachten, um zu einer Perspektive in die Zukunft zu gelangen. Aber die gegenwärtige Menschheit innerhalb aller in Betracht kommenden Kulturen und Zivilisationen steht an dem Punkte, wo der Mensch als »Mensch« sich herauslöst aus den geschichtlichen Verbänden, in deren Geborensein, Reifwerden, Altern, Spengler die »Geschichte« sieht. Dieser Mensch ist daran, aus seinem individuellen Innern heraus das zu entwickeln, was Stände und Klassen vorher in ihn hinein entwickelt haben. Diesen welthistorischen Augenblick, der da ist trotz alles Niederganges der Kulturen, um dessentwillen gerade jene Kulturen bergab gehen, die Spengler allein als solche gelten lassen will, gilt es in lebendig-tätigen, vom Geist getragenen Willen aufzunehmen. (Ich habe in meiner »Philosophie der Freiheit« den Menschen als von moralischen Denk-Intuitionen getragenes Willenswesen innerhalb dieses welthistorischen Augenblicks festzuhalten versucht.) Aber für Spengler ist für den Menschen kein Tat-Impuls mehr da, wenn er sich aus den alten Verbänden löst. Scharf, schneidend in der Begriffsbildung wird Spengler, indem er von seiner Perspektive aus diese Lösung kennzeichnet. »Der Adel aller Frühzeiten war der Stand im ursprünglichen Sinne gewesen, die fleischgewordene Geschichte, die Rasse in höchster Potenz« (Seite 444). »Das Bürgertum hat Grenzen; es gehört zur Kultur; es umfasst im besten Sinne alle ihr Zugehörigen und zwar unter der Bezeichnung Volk, populus, demos, wobei Adel und Priestertum, Geld und Geist, Handwerk und Lohnarbeit als Einzelbestandteile ihm eingeordnet sind. – Diesen Begriff findet die Zivilisation vor und vernichtet ihn durch den Begriff des vierten Standes, der Masse, der die Kultur mit ihren gewachsenen Formen grundsätzlich ablehnt. … Damit wird der vierte Stand zum Ausdruck der Geschichte, die ins Geschichtslose übergeht. Die Masse ist das Ende, das radikale Nichts« (Seite 444f.).
Aber in diesem Nichts wird der welthistorische Augenblick der Gegenwart ein geschichtliches »All« zu suchen haben, nicht im vierten Stand, auch nicht in einem andern, sondern in dem »Menschen« (aller Stände), der jetzt erst aus dem tiefsten Quell seines Innern die wahre Kraft der Freiheit finden muss. Aber zu dieser Freiheit bahnt man sich nicht den Weg, wenn man rein aus den Blutsverhältnissen heraus in der Spenglerschen Geschichtsperspektive die Freiheit so charakterisiert: »Es ist die zeugende Begeisterung des Menschen der Stadt, die seit dem 10. Jahrhundert in der Antike und gleichzeitig) in den andern Kulturen immer neue Geschlechterfolgen in den Bann eines neuen Lebens zwingt, mit dem zum ersten Male inmitten der Menschengeschichte die Idee der Freiheit erscheint. … Die Stadt ist der Ausdruck dieser Freiheit; städtischer Geist ist freigewordnes Verstehen, und alles was in Spätzeiten unter dem Namen Freiheit an geistigen, sozialen und nationalen Bewegungen hervorbricht, leitet seinen Ursprung zu dieser einen Urtatsache des Freiseins vom Lande zurück« (Seite 439).
So wahr das in Spenglerscher Perspektive erscheint, so unwahr ist es von einem weiter zurückliegenden Standpunkte aus. Denn das innere Gewahrwerden der tiefsten Seelenkräfte der Menschheit, das sich in dem Impuls der Freiheit auslebt, ist ein geschichtlicher Motor, der Städte gegründet hat, um die Freiheit in einer äußeren Tatsache zu erleben.
Nur wer diesen Motor sehen kann, wird in der Gegenwart den Anfang sehen können eines Geschichtsabschnittes, der Geschichte aus dem Menschen-Innersten holt, der sich als Fortschritt anschließt an die Epochen, die Geschichte in den Menschen hineingetrieben haben. Wer das nicht sehen kann, der wird, wie Spengler, ein Ende sehen, das zu einem Ausdruck dessen wird, was dieser ausgezeichnete Repräsentant der gegenwärtigen Denkungsart in den vorangehenden Kulturen gefunden hat. »Mit dem geformten Staat hat auch die hohe Geschichte sich schlafen gelegt. Der Mensch wird wieder Pflanze, an der Scholle haftend, dumpf und dauernd« (Seite 546). »Mögen die Machthaber der Zukunft, da die große politische Form der Kultur unwiderruflich zerfallen ist, die Welt als Privatbesitz beherrschen, so enthält diese formlose und grenzenlose Macht doch eine Aufgabe, die der unermüdlichen Sorge um diese Welt, die das Gegenteil aller Interessen im Zeitalter der Geldherrschaft ist und die ein hohes Ehrgefühl und Pflichtbewusstsein fordert. Aber eben deshalb erhebt sich nun der Endkampf zwischen Demokratie und Cäsarismus, zwischen den führenden Mächten einer diktatorischen Geldwirtschaft und dem rein politischen Ordnungswillen der Cäsaren« (Seite 583). »Die Heraufkunft des Cäsarismus bricht die Diktatur des Geldes und ihrer politischen Waffe, der Demokratie« (Seite 634). »Für uns aber, die ein Schicksal in diese Kultur und diesen Augenblick ihres Werdens gestellt hat, in welchem das Geld seine letzten Siege feiert und sein Erbe, der Cäsarismus, leise und unaufhaltsam naht, ist damit in einem eng umschriebenen Kreise die Richtung des Wollens und Müssens gegeben …« (Seite 635).
Man kann dazu nur sagen: möchte doch die Menschheit der Gegenwart und der nächsten Zukunft die Kraft des Geistes finden, damit aus dem freien Wollen diese Richtung des Wollens und Müssens nicht Geschichte werde. Möge eine Zeit kommen, in der eine geistgemäße Weltanschauung nicht sagt wie Spengler: »Und eine Aufgabe, welche die Notwendigkeit der Geschichte gestellt hat, wird gelöst, mit dem einzelnen oder gegen ihn« (Seite 63 5); sondern: Es wird die Zeit kommen, in der geschichtliche Notwendigkeit werden wird, was der Einzelne aus seinem Welterleben in Freiheit zu gestalten vermag. Spengler ist eine Persönlichkeit, die viel Geist hat, in der aber der Geist seine Mission darinnen sieht, das geistige Dasein aus der Natur- und Geschichtswirklichkeit hinwegzudekretieren.
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Möchten Sie die freie Meinungsäußerung und die Freiheit der Wissenschaft und Forschung erhalten?
Dannn unterstützen Sie den anthroblog durch eine einmalige oder wiederkehrende Spende!
Oder durch eine Banküberweisung an: Lorenzo Ravagli, GLS Bank Bochum, IBAN: DE18 4306 0967 8212 0494 00 / BIC: GENODEM1GLS.