Das Thema
Steiner arbeitete eine Reihe von Jahren (1884-1890) bei Familie Specht als Hauslehrer und Erzieher der Kinder. Familie Specht war eine jüdische Familie und Steiner hatte mit dem Familienvater, dem Kaufmann Ladislaus Specht, Differenzen über den Antisemitismus auszutragen. Seine diesbezüglichen Ausführungen in Mein Lebensgang sind aufschlußreich.
»Die Familie war eine jüdische. Sie war in den Anschauungen völlig frei von jeder konfessionellen und Rassenbeschränktheit. Aber es war bei dem Hausherrn, dem ich sehr zugetan war, eine gewisse Empfindlichkeit vorhanden gegen alle Äußerungen, die von einem Nicht-Juden über Juden getan wurden. Der damals aufflammende Antisemitismus hatte das bewirkt.
Nun nahm ich damals an den Kämpfen lebhaften Anteil, welche die Deutschen in Österreich um ihre nationale Existenz führten. Ich wurde dazu geführt, mich auch mit der geschichtlichen und sozialen Stellung des Judentums zu beschäftigen. Besonders intensiv wurde diese Beschäftigung als Hamerlings Homunculus erschienen war. Dieser eminent deutsche Dichter wurde wegen dieses Werkes von einem großen Teil der Journalistik als Antisemit hingestellt, ja auch von den deutschnationalen Antisemiten als einer der ihrigen in Anspruch genommen. Mich berührte das alles wenig; aber ich schrieb einen Aufsatz über den Homunculus, in dem ich mich, wie ich glaubte, ganz objektiv über die Stellung des Judentums aussprach. Der Mann, in dessen Haus ich lebte, mit dem ich befreundet war, nahm dies als eine besondere Art des Antisemitismus auf. Nicht im geringsten haben seine freundschaftlichen Gefühle für mich darunter gelitten, wohl aber wurde er von einem tiefen Schmerze befallen. Als er den Aufsatz gelesen hatte, stand er mir gegenüber, ganz von innerstem Leid durchwühlt, und sagte mir: »Was Sie da über Juden schreiben, kann gar nicht in einem freundlichen Sinne gedeutet werden; aber das ist es nicht, was mich erfüllt, sondern daß Sie bei dem nahen Verhältnis zu uns und unseren Freunden die Erfahrungen, die Sie veranlassen, so zu schreiben, nur an uns gemacht haben können.« Der Mann irrte; denn ich hatte ganz aus der geistig-historischen Überschau heraus geurteilt; nichts Persönliches war in mein Urteil eingeflossen. Er konnte das nicht so sehen. Er machte, auf meine Erklärungen hin, die Bemerkung: »Nein, der Mann, der meine Kinder erzieht, ist, nach diesem Aufsatze, kein ›Judenfreund‹.« Davon war er nicht abzubringen. Er dachte keinen Augenblick daran, daß sich an meinem Verhältnis zu der Familie etwas ändern solle. Das sah er als eine Notwendigkeit an. Ich konnte noch weniger die Sache zum Anlaß einer Änderung nehmen […] Aber wir konnten beide nicht anders als denken, daß sich in dieses Verhältnis ein tragischer Einschlag gemischt hatte.«1
Die Rezension des Homunculus erschien am 20. April 1888 in der Deutschen Wochenschrift. Steiner arbeitete zwei weitere Jahre im Haus der Familie Specht. Das Verhältnis zwischen Steiner und Ladislaus Specht scheint durch diesen Vorfall nicht nachhaltig getrübt worden zu sein, soweit dies ihrem Briefwechsel zu entnehmen ist.2 Hamerlings Homunculus ist eine dramatische Satire auf den Zeitgeist des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Unter anderem porträtiert er auch mit beißender Ironie den erwachenden Zionismus, der elf Jahre später auf dem Basler Kongreß die Forderung nach einem jüdischen Nationalstaat in Palästina verabschiedete. Der Zionismus im ausgehenden 19. Jahrhundert ist aber nur auf dem Hintergrund des in dieser Zeit wachsenden Antisemitismus und Rassismus zu verstehen. Der Antisemitismus ist zwar ein Erbe des christlichen Mittelalters, boten doch der »Gottesmörder« Judas und die antisemitischen Tendenzen mancher Evangelien die Rechtfertigung für zahlreiche Judenpogrome. Dennoch bemühte sich das Diasporajudentum auch um Assimilation, insbesondere, seit es nicht mehr durch seine Ghettoisierung dazu gezwungen wurde, sich von den nichtjüdischen Volksteilen abzusondern. Teile des europäischen Judentums, die den historischen Versuch der Assimilation als gescheitert betrachteten, sahen das Judentum zunehmenden Pressionen ausgesetzt. Diese hingen mit dem erstarkenden Nationalismus und der Besinnung auf das Volkstum zusammen, die wiederum die Identifikation des Volkes mit dem Staat und den politischen Rassismus nach sich zog. Seit 1881 führten Judenpogrome in Rußland zu Auswanderungsbewegungen von Flüchtlingen in europäische Länder und nach Palästina. Der in ganz Europa zunehmende Antisemitismus nahm eine für manche Angehörigen der Diaspora beunruhigende und bedrohende Gestalt an. Mit der Rückbesinnung auf die rabbinischen Traditionen verbreitete sich auch der religiöse Messianismus, der von der Errichtung eines jüdischen Staates in Palästina das in den spirituellen Überlieferungen verheissene Heil erwartete. In Hamerlings Stück predigt Homunculus, der in der Retorte gezeugte Maschinenmensch, den Juden die Auswanderung nach Palästina und wird von den Auswanderern zum König von Jerusalem gekrönt. Allerdings endet das Unternehmen in einem Fiasko und Homunculus wird von seinen Untertanen gekreuzigt. Die literarische Satire Hamerlings bot, auch wenn sie nicht auf der politischen Linie des militanten Antisemitismus lag, diesem durchaus Material für seine Propaganda. Steiners Rezension ist auch eine Auseinandersetzung mit diesem politischen Mißbrauch des Hamerlingschen Werkes. Es ist sinnvoll, Steiners Äußerungen in diesem Zusammenhang zur Kenntnis zu nehmen, die wie Steiner in seinem Lebensgang sagt, »ganz aus der geistig-historischen Überschau heraus« geschrieben waren.
In seiner Rezension heißt es:
»Was aber hat die Kritik aus diesem Homunculus gemacht? Sie hat ihn herabgezerrt in den Streit der Parteien, und zwar in die widerlichste Form desselben, in den Rassenkampf. Es ist gewiß nicht zu leugnen, daß heute das Judentum noch immer als geschlossenes Ganzes auftritt und als solches in die Entwicklung unserer gegenwärtigen Zustände vielfach eingegriffen hat, und das in einer Weise, die den abendländischen Kulturideen nichts weniger als günstig war. Das Judentum als solches hat sich aber längst ausgelebt, hat keine Berechtigung innerhalb des modernen Völkerlebens, und daß es sich dennoch erhalten hat, ist ein Fehler der Weltgeschichte, dessen Folgen nicht ausbleiben konnten. Wir meinen hier nicht die Formen der jüdischen Religion allein, wir meinen vorzüglich den Geist des Judentums, die jüdische Denkweise. (Hervorh. L.R.) Der Unbefangene hätte nun glauben sollen, daß die besten Beurteiler jener dichterischen Gestalt, die Hamerling der eben berührten Tatsache gegeben hat, Juden seien. Juden, die sich in den abendländischen Kulturprozeß eingelebt haben, sollten doch am ehesten die Fehler einsehen, die ein aus dem grauen Altertum in die Neuzeit hineinverpflanztes und hier ganz unbrauchbares sittliches Ideal hat. Den Juden selbst muß ja zuallererst die Erkenntnis aufleuchten, daß alle ihre Sonderbestrebungen aufgesogen werden müssen durch den Geist der modernen Zeit. Statt dessen hat man Hamerlings Werk einfach so hingestellt, als wenn es das Glaubensbekenntnis eines Parteigängers des Antisemitismus wäre […] Für die Form des Antisemitismus, die, wenn man das entbehrliche Wort schon gebrauchen will, Hamerling eignet, gibt es eine ganz bestimmte Formel: Er nimmt – wie jeder unbefangene, von Parteifanatismus freie Mensch – dem Judentum gegenüber den Standpunkt ein, den jeder von den Vorurteilen seines Stammes und einer Konfession unabhängige Jude teilen kann.«3
Diese Passagen lesen sich natürlich am Ende des 20. Jahrhunderts wesentlich anders, als am Ende des 19. Jahrhunderts. Aber Steiner hätte auch am Ende des 19. Jahrhunderts um eine Erklärung gebeten werden können und offenbar hat Ladislaus Specht dies getan. So wäre zu klären, was Steiner mit den Eingriffen des Judentums in die Entwicklung des Abendlandes gemeint hat, die dem Abendland »nichts weniger als günstig waren.« Indem er davon spricht, daß sich das Judentum schon längst ausgelebt, daß es keine Berechtigung im modernen Völkerleben mehr habe, daß seine Erhaltung ein Fehler der Weltgeschichte sei, stellt er nicht nur einen eben erst keimenden politischen Nationalismus jüdischer Art in Frage, sondern auch heilige religiöse Überlieferungen. Denn das religiöse Selbstbewußtsein des orthodoxen Judentums ist vom Bewußtsein seiner Zeugenschaft für den Gottesbund nicht zu trennen. (Allerdings sollte man beachten, daß Steiner vom Standpunkt seines ethischen Individualismus aus auch mit anderen religiösen Bekenntnissen so verfährt). Besonders fragwürdig könnte erscheinen, daß Steiner selbst, obwohl er die Konservierung einer historischen Gestalt des Judentums als weltgeschichtlichen Irrtum bezeichnet, Gattungseigenschaften eben dieses Judentums in ein Gebiet überträgt, in dem es am wenigsten zu suchen hat: das Gebiet des Denkens nämlich.
Jüdisches Denken?
Von einer jüdischen Denkweise zu sprechen, wäre, würde man die Spezifität dieser Denkweise aus Gattungseigentümlichkeiten ableiten, genauso abwegig, wie von einer weiblichen oder männlichen Denkweise zu sprechen. Daß das geistige Wesen des Menschen, das sich im Denken äußert, gerade der Teil des Menschen ist, der nicht an die Eigentümlichkeiten der leiblich-seelischen Organisation gebunden ist, wird Steiner nie müde, zu betonen. Gerade diese Beobachtung, auf die allein sich der ethische Individualismus der Philosophie der Freiheit gründet, ist es ja auch, die Steiner jede Identifikation des Menschen mit seinen Rasse- oder Geschlechtseigentümlichkeiten zurückweisen läßt.
Der von Steiner begründete ethische Individualismus birgt die Möglichkeit in sich, jeden irgendwie gearteten Rassismus zu überwinden, weil er das Wesen des Menschen in der sich selbst aus der Welt der Intuitionen bestimmenden Individualität sieht.
Für dieses Wesen des Menschen ist jegliches Reden von einer Determination durch die Gattungseigentümlichkeiten eine unzulässige Verallgemeinerung. Zwar könnte man von einer Prägung des Denkens durch die Gattungseigentümlichkeiten sprechen, insofern sich die Individualität nicht über diese Eigentümlichkeiten erhebt, das begründet aber noch nicht die Möglichkeit, Gattungseigentümlichkeiten auf das Denken selbst zu übertragen. Deswegen ist es zumindest fraglich, ob man von einem französischen, deutschen oder eben jüdischen Denken sprechen kann. Will man den Widerspruch vermeiden, dem seinem Wesen nach von Gattungseigentümlichkeiten freien Denken Gattungseigentümlichkeiten zuzuschreiben, kann die spezifische Differenz zwischen Denkarten nur in der inhaltlichen und methodischen Ausgestaltung dieser Denkarten gesucht werden. Möglicherweise verstand Steiner unter »jüdischer Denkweise« ebensolche inhaltliche und methodische Besonderheiten.
Betrachten wir – um dieses Problem zu lösen – den Steinertext etwas genauer. Offenbar versteht hier Steiner unter »jüdischer Denkweise« einerseits die jüdische Religion, aber nicht diese allein, sondern auch die sittlichen Ideale, die jene Denkweise »aus dem grauen Altertum« in die Neuzeit hereinverpflanzt habe. Auf eine Formel gebracht, liefe dieses Konzept des »jüdischen Denkens« auf eine Kritik am (abstrakten) Monotheismus und am Sittengesetz hinaus. Steiner meint an dieser Stelle also nicht etwa ein jüdisches Denken, das jüdisch wäre wegen einer etwaigen Determination durch die Rassenzugehörigkeit, sondern er bestimmt inhaltlich das jüdische Denken im Sinne der von Moses Mendelssohn vertretenen Haskala (jüdischen Aufklärung) und des Reformjudentums des 19. Jahrhunderts. Genauso gut hätte Steiner an dieser Stelle schreiben können: das »kantische« Denken oder das »katholische« Denken, denn von seiner kritischen Position her betrachtet, konvergierten diese geistigen Positionen – so verschieden sie äußerlich betrachtet auch sein mochten – in ihrer Frontstellung gegen die Emanzipation der geistigen Individualität.
Michael A. Meyer schreibt im Hinblick auf die vier Hauptvertreter des deutschen Reformjudentums in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts:
»Alle vier Männer waren eindeutige Verfechter der Emanzipation und Akkulturation. Sie glaubten, daß sie als Juden ebenso deutsch sein könnten wie die Nichtjuden … Keiner glaubte, daß die Juden eine Nation im modernen Sinne des Wortes seien; was die Juden miteinander verband, war vielmehr ihre Religion. Das »Einigungsband« Israels, betonte Hirsch, sei niemals Land und Boden gewesen, sondern der gemeinsame Gehorsam gegen die geoffenbarten Gesetze der Tora.«4
Meyer fährt über das Selbstverständnis des deutschen Reformjudentums fort:
»Alle Strömungen im deutschen Judentum bekannten sich zu einem fundamentalen Dogma: der ›Mission Israels‹. So wie nichtjüdische deutsche Autoren, ursprünglich als Reaktion auf die französische Dominanz, den Standpunkt vertraten, daß Deutschland eine kulturelle Mission unter den Völkern habe, so postulierten die jüdischen Ideologen eine eigene spirituelle und moralische Mission der Juden in Deutschland. Moses Mendelssohn hatte schon im 18. Jahrhundert den Standpunkt vertreten, die Juden seien von der Vorsehung auserwählt zu einem Priestervolk, dessen Aufgabe unter den Völkern es sei, die Aufmerksamkeit auf seine unverfälschten Ideen von Gott und hoher Moral zu lenken … die Idee von der Mission Israels … behauptete, Europa habe noch nicht alles in sich aufgenommen, was die Juden ihm zu bieten hatten. … Die Mission Israels war die extremste Antwort auf die angebliche Verderbtheit der jüdischen Religion, welche die Gegner der Emanzipation ins Feld führten … Für die Juden selbst war die Mission Israels das machtvollste Dogma der Selbstrechtfertigung. Der jüdische Partikularismus hörte damit auf, Selbstzweck zu sein, und wurde statt dessen Mittel zu einem größeren Ziel: der universalen Anerkennung des Gottes Israels und der moralischen Gebote Gottes für die Menschheit.«5
Steiners Kritik am jüdischen Denken erscheint als eine Replikation seiner Kantkritik, dessen Normethik und durch den moralischen Gottesbeweis verschleierten Agnostizismus er in Anknüpfung an den Fichteschen Begriff der Tathandlung und Hegels objektiven Idealismus mit seinem »ethischen Individualismus« überwinden wollte. So ist es nicht verwunderlich, daß Steiner seinem Aufsatz über Hamerlings Homunkulus, in dem er einen »Repräsentanten des modernen Menschen« sah, der sich vor allem durch einen gänzlichen Mangel an Individualität auszeichne, kontrastierend ein Hohelied auf die freie Individualität voranstellte. In der gegenwärtigen Gesellschaft sah er eine gefährliche Mechanisierungstendenz, die allen Lebensfeldern aufgedrungen werde, die er als individualitätsfeindlich und seelenlos kennzeichnete. Man kann diese Diagnose als Kritik am oberflächlichen Rationalismus und am (materialistischen) Fortschrittsoptimismus lesen.
Steiner sah in dieser Zunahme geistiger und sozialer Kälte offenbar das Gegenstück zu jenen »dumpfen Gefühlen« und »Instinkten«, die er im Antisemitismus nach Herrschaft streben sah. Steiner schreibt 1888 im Aufsatz über den Homunkulus: »
Jener Quell immer frischen Lebens, der uns stets Neues aus unserem Inneren schöpfen läßt, so daß unser Gemüt und unser Geist mit einer gewissen in sich selbst gegründeten Tiefe ausgestattet erscheint, die sich nie ganz ausgibt, der kommt dem modernen Menschen ganz abhanden. Eine ausgesprochene Individualität ist nichts Überschaubares, denn wenn wir noch so viele Lebensäußerungen derselben kennengelernt haben, so ist es uns nicht möglich, daraus ein solches Bild von ihr zusammenzufügen, daß wir die Summe ihrer weiteren Betätigungen voraussehen könnten. Jedes folgende Tun erhält eben immer einen neuen Impuls aus der Tiefe unseres Wesens, der uns neue Seiten desselben zeigt. Das unterscheidet die Individualität vom Mechanismus, der nur das Ergebnis des Zusammenwirkens seiner Bestandstücke darstellt. Kennen wir diese, so sind uns auch die Grenzen klar, innerhalb welcher sein Wirken eingeschlossen ist. Das Leben des modernen Menschen wird nun immer maschinenhafter. Die Erziehung, die Gesellschaftsformen, das Berufsleben, alles wirkt dahin, das aus dem Menschen zu treiben, was man individuelles Leben nennen möchte. Er wird immer mehr ein Produkt der Verhältnisse, die auf ihn einwirken. Dieser seelenlose, unindividuelle Mensch bis zur Karikatur gesteigert, ist Hamerlings Homunkulus.«
Hamerlings Homunkulus ist somit auch der Prototyp des Rassisten oder völkischen Nationalisten, der sich durch sein gänzliches Unverständnis jenes individuellen Wesenskerns auszeichnet, der in jedem Menschen – wenn auch in unterschiedlicher Bewußtheit–, vorhanden ist. Das Festhalten an geistig unzeitgemäßen ethischen Idealen ist aber für Steiner Ausdruck von »Dekadenz« und »Retardation«: was einmal sinnvoll und berechtigt war, »fällt von seiner Höhe herab« und beginnt den fortschreitenden Kräften der Emanzipation entgegenzuwirken, es wird konservativ und reaktionär. Dadurch wirkt es auf die soziale Ordnung »zersetzend«. Es zersetzt diese Ordnung, die neu entstehen will, weil es an der alten festhält. Insofern ist in allen reaktionären Geistesströmungen ein »Zersetzungsferment« der sozialen Ordnung zu sehen. In Wirklichkeit wirken nicht die revolutionären Geistesströmungen zersetzend, denn diese bringen die neuen sittlichen Ideale und neue Gesellschaftsformen herauf, sondern die konservativen und reaktionären.
Steiner kritisierte das zeitgenössische »jüdische« oder »semitische« Denken nicht, weil er es durch irgendwelche Rassenmerkmale bestimmt sah, sondern weil er die vom aufgeklärten Judentum des ausgehenden 19. Jahrhunderts im Anschluß an den Neukantianismus vertretenen philosophischen Positionen für überholt hielt.
Unter dem Begriff des »Judentums« versteht Steiner nicht die Summe der Menschen, die sich zur Religion des Judentums oder zur jüdischen Abstammung bekennen, sondern – analog zur Bedeutung des Begriffs »das Christentum« – die Summe der geistigen Traditionen, die von der jüdischen Aufklärung in einer neuen, philosophischen Form formuliert wurden. Er sah die Verwandtschaft der philosophischen Positionen des zeitgenössischen jüdischen Denkens mit dem Denken Kants, der eine Philosophie der Sittlichkeit formuliert hatte, die auf dem moralischen Imperativ gründete, während Steiner für einen Individualismus plädierte, der das Kantsche Ideal »aus grauer Vorzeit« – den Gehorsam gegen das (innerlich) geoffenbarte Gesetz und die (skeptische, agnostische) Bescheidung im Glauben – durch die individuelle Selbstbestimmung (Autonomie) und die Überwindung von postulierten Erkenntnisgrenzen ersetzte. Diese Kantianismus sah er auch im zeitgenössischen Judentum vertreten.
Dagegen ist die Rassewerdung der jüdischen Nation im 19. Jahrhundert für Steiner der Reflex der Rassewerdung aller europäischen und außereuropäischen Völker im 19. Jahrhundert. Steiner wollte mit seinem ethischen Individualismus und seinem Hinweis auf das Entstehen und Vergehen der Rassen, auf die rasseüberwindende oder -durchdringende Individualität und mit dem Hinweis auf das höchste ethische Ziel, das im Fortschritt zur gänzlichen Überwindung des Rassedenkens durch die geistige Individualität führte, die Menschheit über dieses seiner Ansicht nach atavistische Rassedenken hinausführen.
Dabei wußte er sich im Bunde mit dem Zeitgeist, dem er die Mission zuschrieb, ein gemeinsames solidarisches Bewußtsein in der gesamten Menschheit hervorzurufen, das sie im Namen des Urbildes der erlösten Menschheit, des befreiten Ich, vereinigen sollte. In der Rassewerdung der gesamten Menschheit im 19. Jahrhundert sah Steiner einen Ausdruck der geistigen Dekadenz, weil das Predigen von Rassedifferenzen und die Behauptung ihres Einflusses auf die menschliche Moralität gerade die Emanzipation des Individuellen am Menschen verhindern wollte. Deswegen konnte er den Rassismus in Gestalt Dührings als »reaktionär«, als »barbarisch« und »kulturfeindlich« bezeichnen.
Er sah die Mission der »weißen Rasse« (paradoxerweise) gerade in der Überwindung des Rassedenkens, deswegen bezeichnete er 1924 diese »weiße Rasse« als die »am Geiste schaffende Rasse«, als »zukünftige Rasse« in dem Sinn, daß ihre Aufgabe sei, sich als Rasse aufzulösen, und wies ihrem Wirken Weltbedeutung zu. Wer aber als Angehöriger der »weißen Rasse« am Rassedenken festhalten wollte, den wies er bereits in seinen Briefen an die denkende Menschheit in den Mitteilungen des Vereins zur Abwehr des Antisemitismus zurecht und sah in ihm den »Hohn auf den Glauben auf die Idee« vorwalten, »daß die Menschheit höher stehe als ihre einzelnen Erscheinungsformen«, wie »Volk, Rasse, Stamm« usw.
Was den Monotheismus anbetrifft, den das Reformjudentum zum zentralen Inhalt der jüdischen Religion erklärte, so hätte Steiner ebensogut den Katholizismus oder das zeitgenössische Christentum kritisieren können, was er in anderem Zusammenhang – z.B. in der Philosophie der Freiheit – auch getan hat. Denn er stand vor der Jahrhundertwende auf dem radikalen Standpunkt der Aufklärung, daß die geistige und kulturelle Entwicklung des Abendlandes jede Form traditioneller Religion überwunden habe. Er lehnte die Herrschaft einer jeden geistigen Tradition ab, die ihre Legitimation nicht aus Erfahrungserkenntnis bezog, sondern sich auf ihre historische Existenz oder die Offenbarung berief.
Steiner seinerseits erkannte dem Judentum eine »historische Mission« zu: eine Mission, deren Tragweite er allerdings erst nach der Jahrhundertwende zur Darstellung brachte, als nach einem tiefgehenden geistigen Umschwung sich für ihn ein neues Verständnis der positiven Religion und der religiösen Traditionen abzuzeichnen begann. Diese Einsichten sprach er im Jahr 1910 in einem öffentlichen Vortrag über Moses aus6, den er in Berlin hielt. Hier wies er auf eine zentrale Bedeutung des Judentums für die Konstitution der neuzeitlichen Epoche des Abendlandes hin, und erkannte Moses und seinem Volk eine Aufgabe zu, die bis in die Gegenwart fortwirke und noch nicht abgeschlossen sei. Steiner führte 1910 aus:
»Was wir heute als das wichtigste Element für das Kulturleben betrachten, hat seinen ersten Impuls durch Moses erhalten …«7 »Was die spätere Menschheit dem Moses verdankt, ist die Kraft, Vernunft und Intellekt zu entfalten, aus dem Ich-Bewußtsein heraus im vollen Wachzustande intellektuell über die Welt zu denken, über die Welt sich intellektuell aufzuklären.«8 »Moses steht da als der Begründer der neuen, intellektualisierten Weltanschauung, die durchaus noch nicht abgelaufen erscheint, die den Menschen erst wieder lehren wird, die Lebenspraxis in Einklang mit den Naturerscheinungen zu bringen, wie Moses es getan hat.«9
1910 verwies er auf die positiven Folgen jener Emanzipation des Intellekts, die er dem jüdischen Volk und Moses, seinem Propheten, zuschrieb. Durch die Entwicklung des Monotheismus und die Errichtung einer Gesetzesherrschaft hatte das jüdische Volk die Menschheit von den geistigen Mächten emanzipiert, die das menschliche Ich an der Selbstbewußtwerdung hinderten. Indem das Göttliche im Judentum zur Einheit und Einzigkeit zusammengezogen wurde, bildete sich auf dessen Gegenseite das menschliche Ich heraus, das sich im Gegenüber zur unsichtbaren Gottheit zum ebenso unsichtbaren, weil geistigen Einzelwesen entwickeln konnte. Daß dieses Einzel-Ich nicht aus der moralischen Ordnung des Kosmos herausfiel, hatte der Genius, der in Moses waltete, die Herrschaft eines unerbittlichen und unbedingte Unterwerfung fordernden Gesetzes errichtet. Wer sich diesem göttlichen, dem Einen Willen entsprungenen, Gesetz widersetzte, hatte unerbittliche Vergeltung durch den Tod zu gewärtigen: d.h. sein Tod vergegenwärtigte jedem anderen Ich, was der Abfall vom Gesetz zur Folge haben mußte: den sicheren Untergang.
In Paulus, der sich von der Herrschaft des Gesetzes emanzipierte und sich der Liebe hingab, die über die ethnischen Einzelgesetze hinwegführte, sah Steiner den Überwinder des Gesetzesdenkens und den Befreier der menschlichen Einzelindividualität, der diese zugleich für das menschheitsverbindende Christus-Ich, als das geistige Ur-Ich der Menschheit, aufschloss. In der Befreiung der Einzelindividualität, die er mit seiner Philosophie der Freiheit pries, sah Steiner den unermesslichen Fortschritt, der sich im liberalen Prinzip artikulierte, er sah darin die Bewußtwerdung des Göttlichen in jedem Einzelmenschen, er sah darin die erneuerte Geburt des Sohnesgottes in der Menschheit in »ätherischer«, d.h. vergeistigter Form.
So mußte sich Steiner gegenüber den Theosophen um Annie Besant auch gegen die Idee der Wiederkunft des Ur-Ichs der Menschheit in physischer Form wenden, in der er nur eine äußerste reaktionäre Tendenz sehen konnte, die Tendenz nämlich, das sich emanzipierende Menschen-Ich an die Vererbungsströmung und das Vaterprinzip zurückzubinden. Diese Tendenz sah er in allem Rassedenken und auch im Nationalismus walten. Auch das zeitgenössische Judentum repräsentierte aus seiner Sicht diese Stufe der sittlichen Entwicklung der Menschheit: in der Zustimmung, die Kants Philosophie von seiten Moses Mendelssohns und seiner Nachfolger im 19. Jahrhundert zuteil wurde, sah Steiner eben das Festhalten am mosaischen Gott, das die Menschheit zwar zum Gesetz und zum Selbstbewußtsein durch das Gesetz geführt hatte, über das die Menschheit im Namen der völligen Emanzipation jedoch hinausschreiten sollte.
Jetzt, genauer gesagt, seit 1879 – dem Jahr der Gründung der ersten antisemitischen Propagandaorganisation durch Wilhelm Marr übrigens – war dieses Festhalten am Gesetz fortschrittsfeindlich, denn die menschliche Individualität wollte sich von der Herrschaft des Gesetzes endgültig befreien, sie wollte zur Selbstbestimmung voranschreiten, was für Steiner hieß, sie wollte sich aus Liebe dem selbstgeschaffenen Gesetz hingeben, sie wollte selbst zum Gesetzgeber werden. Die liberalen und demokratischen Bewegungen sah Steiner als die Träger des Menschheitsfortschritts, weil sie eben jenes Bedürfnis der Individualität nach Selbstgesetzgebung artikulierten.
Er erkannte jedoch die Notwendigkeit, die Freiheit des Geistes vor dem Gedanken der Gleichheit vor dem Gesetz zu schützen, ebenso wie die Brüderlichkeit in den ökonomischen Beziehungen gegenüber der Eigensucht der Freiheit einzufordern. In den demokratischen Bewegungen sah er den Geist Christi walten, weil sie ebenjene Gleichheit aller Menschen, die gleiche Würde jedes Menschen-Ich verkündeten, die schon Christus vorgelebt und gepredigt hatte. Im zeitgenössischen Katholizismus und Protestantismus sah Steiner die Herrschaft des Gesetzes wiedererrichtet, das sich mit dem Agnostizismus und dem Glaubenszwang verbündet hatte, um die Massen in Unfreiheit und dumpfer Unwissenheit zu belassen. Deswegen engagierte sich Steiner in der Arbeiterbildungsschule in Berlin, setzte sich für seine soziale, politische Emanzipationsbewegung der Dreigliederung des sozialen Organismus bei der Arbeiterschaft ein und klärte die Arbeiter am Goetheanumbau über die Bedeutung des Geistes, ihres eigenen Geistes, für das Verständnis der Wirklichkeit und die Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse auf.
An seiner Ablehnung des Zionismus hielt Steiner auch 1924 fest, wie aus dem Arbeitervortrag vom 8. Mai 1924 hervorgeht. Hier führte Steiner aus:
»Daher habe ich es von Anfang an bedenklich gefunden, daß die Juden … die zionistische Bewegung begründet haben. Einen Judenstaat aufrichten, das heißt, in der allerwüstesten Weise Reaktion treiben … und damit sündigt man gegen alles dasjenige, was auf diesem Gebiet heute notwendig ist …Solche eine Sache ist heute gar nicht mehr zeitgemäß, denn heute ist dasjenige zeitgemäß, dem jeder Mensch ohne Unterschied von Rasse und Volk und Klasse und so weiter sich anschließen kann … Heute ist es sehr notwendig, daß man diesen Dingen gegenüber streng nicht dieses Rassenmäßige, nicht dieses Volksmäßige, sondern das Allgemeinmenschliche hervorhebt.«10
Übrigens hielt Steiner im Anschluß an diesen Vortrag, am 10. Mai 1924, vor demselben Publikum einen Vortrag über den jüdischen Sephirotbaum, in dem er diesen zentralen Inhalt der kabbalistischen Überlieferung in geradezu vorbildlicher Weise würdigte. Steiner verdeutlichte in diesem Vortrag, welchen menschheitsumspannenden Weisheitskern die Lehre von den Sephiroth in sich trägt und rückte die mystische Gotteslehre der Kabbala in die Nähe einer Konvergenz mit der anthroposophischen Christuserkenntnis. Steiners Darstellungen belegen, daß er im Hinblick auf »jüdisches Denken« sehr differenziert zu urteilen verstand und daß man zu einem Gesamturteil über sein Verhältnis zum Judentum nur gelangen kann, wenn man sich von der Fixierung auf einzelne Bemerkungen befreit und die Vielschichtigkeit seiner Äußerungen berücksichtigt.11
Daß das mit dem Nationalstaatsgedanken verbundene Minderheitenproblem bis heute nicht gelöst ist, zeigt nicht nur die Geschichte Israels seit dessen Gründung, das zeigen auch die vielen politischen und kriegerischen Konflikte auf allen Kontinenten bis in die Gegenwart. Steiner plädierte für die Überwindung des Nationalstaatsgedankens zugunsten individueller Freiheitsrechte, er plädierte ebenso für die Existenz multi-ethnischer Staatsgebilde, sofern sich diese den Idealen des Liberalismus und der Demokratie verpflichteten. Es ließe sich durchaus die Frage aufwerfen, wozu die historische Entwicklung in Europa geführt hätte, wenn die führenden Kräfte in Wissenschaft, Politik und Kultur sich dazu hätten entschließen können, Rassismus und Antisemitismus so entschieden zu bekämpfen, wie Steiner dies um 1900 forderte. Es wäre höchst wahrscheinlich, daß bei einer Verwirklichung des Steinerschen Reformprogramms für Kultur und Politik nicht nur der I. Weltkrieg, sondern auch die Greuel des NS-Regimes hätten verhindert werden können.
Steiners Kritik am Antisemitismus
Steiner selbst hat radikale Kritik an jeglicher Form des Rassismus geübt und die Identifikation des seelisch-geistigen Wesens des Menschen, eben der Individualität, mit ihren leiblichen Merkmalen als das Ergebnis einer diabolischen Inspiration gekennzeichnet. Natürlich gilt diese Kritik auch für die affirmative Form des Rassismus, in dem sich die soziale oder nationale Identifikation einer Menschengruppe aus ihren rassischen Eigentümlichkeiten ableitet. Steiners Argumentation vom Standpunkt eines aufklärerischen Humanismus setzt aber auch einen religiös oder geschichtlich motivierten jüdischen Nationalismus außer Kraft. Die Reaktion von Ladislaus Specht auf seine Hamerling-Rezension ist durchaus zu verstehen. Denn der militante Antisemitismus argumentierte nicht wesentlich anders, wenn er auch seine Argumente anders begründete und andere Konsequenzen aus ihnen zog, als Steiner.
Vereinzelte Zionisten schätzten Nietzsche übrigens keineswegs positiv ein.
»Theodor Herzls enger Freund, der bekannteste Zionist jener Zeit, Max Nordau, hatte in seinem Buch Entartung den spektakulärsten Angriff auf Nietzsche vorgetragen. Und Herzl selbst hatte mit Nietzsche wenig im Sinn. Gelegentlich bezeichnete er ihn sogar als ›Irrsinnigen‹.«12
Was Steiners eigene Distanzierungen vom Antisemitismus anbelangt, so lassen diese nichts zu wünschen übrig. Sie reichen bis in die 80er Jahre des 19. Jahrhunderts zurück. In einem am 27. Juli 1881 verfaßten Brief an Rudolf Ronsperger bezeichnet Steiner in Eugen Dührings Kursus der Philosophie als den »ärgsten Ausbund aller philosophischen Rückläufigkeiten«13, ja er kennzeichnet Dührings Anschauung als »barbarisch und kulturfeindlich«. Dessen [von Antisemitismus triefenden] »Schriften über die Juden«14 sind für Steiner »die strengsten Konsequenzen seiner beschränkten egoistischen Philosophie«. In Gestalt Dührings verurteilte Steiner einen der profiliertesten deutschen Antisemiten der damaligen Zeit. Dühring versuchte den Rassenantisemitismus philosophisch zu begründen, sowie biologisch und historisch zu rechtfertigen. Für Dühring war »der Jude« nicht nur »unschöpferisch«, sondern auch eines der »niedrigsten und mißlungensten Erzeugnisse der Natur« und er hielt die »Judenfrage« (im Jahr 1881 wohlgemerkt) nur durch eine gesamteuropäische Säuberungsaktion für lösbar, »durch Ausgliederung der Juden aus allen Völkern, durch Rückgängigmachen der Emanzipation, durch Ausnahmerechte, Deportationen und Gründung eines Judenstaates, wo sie sich dann schon von selber ausrotten würden.«15
Am 26. August 1881 kommt Steiner in einem Brief an Ronsperger erneut auf Dühring zu sprechen, bezeichnet dessen Philosophie als »barbarischen Unsinn«, als »Blödsinn«, und meint schließlich »leidenschaftlich erregt«:
»Wenn man diese Dinge liest, so glaubt man sich zuweilen in Australien, nicht unter Deutschen. Deutsche können denken, die Materialisten können nicht und sind zu faul dazu. Um Hegel zu verstehen, muß man Lust am Denken haben, wie er es selbst hatte; man muß aber auch dem freien fortschrittlichen Denken, dem kulturfreundlichen Lichte gewogen sein und nicht mit den Banden des hergebrachten traditionellen Dogmas gefesselt sein, wie es die Materialisten alle sind.«16
In seinem 1888 veröffentlichten Aufsatz über Hamerlings Homunkulus wendet er sich – abgesehen von den bereits zitierten Stellen – nicht nur gegen eine künstliche Absonderung und Ghettoisierung der Juden in ihren jeweiligen Heimatländern, sondern er distanziert sich auch klar vom Antisemitismus und vom »Rassenkampf«.
Hamerling spricht er die Haltung eines »Weisen« zu, der mit »überlegener Objektivität« sowohl den »Juden wie den Antisemiten« gegenüberstehe.17 Hamerlings Kritikern wirft er vor, sie hätten kein Recht, »jenen, der nicht ausdrücklich seine Parteinahme für die Juden betont, sogleich der Stellungnahme gegen sie zu beschuldigen.«18 Die Kritiker, so Steiner, hätten das Werk Hamerlings in den »Streit der Parteien« herabgezerrt »und zwar in die widerlichste Form desselben«, in den »Rassenkampf«.19 Man habe Hamerling, indem man ihn des Antisemitismus zeihe, »einen Standpunkt unterschoben, den er vermöge der geistigen Höhe, auf der er steht, nicht einnehmen kann.«20 Von den Antisemiten, die den Dichter für ihren Standpunkt vereinnahmen wollten, sagt er, sie hätten außer ihrer »Eignung zum Toben und Lärmen nichts Charakteristisches … als den gänzlichen Mangel jedes Gedankens« zu bieten.21 Schließlich schreibt er: »Aber die Juden brauchen Europa und Europa braucht die Juden.«22
Steiners Beurteilung des völkischen Autors Julius Langbehn
Es ist in diesem Zusammenhang nicht unerheblich, die Beurteilung Langbehns durch Rudolf Steiner zur Kenntnis zu nehmen.
1892, zwei Jahre nach der Ersterscheinung von Rembrandt als Erzieher veröffentlichte Steiner in der Zeitschrift Literarischer Merkur einen Artikel über Die Philosophie in der Gegenwart …, in dem er auch auf Langbehn zu sprechen kam.23
Er teilt hier eine Einschätzung des Langbehnschen Buches mit, an der er bis zu seinem Lebensende festhalten sollte. Der höchst interessante Artikel, in dem Steiner der Philosophie seiner Zeit »Feigheit des Denkens«24 vorwirft, weil sie unfähig sei, sich über den Tatsachenpositivismus und die Gängelung durch die Naturwissenschaften zu einer ganzheitlichen Weltsicht emporzuschwingen, ist auch heute noch lesenswert. So hebt Steiner etwa hervor, daß zum Mut des Denkens auch notwerndigerweise die Bereitschaft gehöre, sich zu irren, ja, daß die Wirklichkeit ebenso wie die Wahrheit ihrem Wesen nach multiperspektivisch seien und nur einem Geist zugänglich, der bereit sei, diese Multiperspektivität in Kauf zu nehmen: »Davon haben heute wenige Menschen eine Ahnung, daß etwas wahr sein kann, auch wenn das Gegenteil davon mit nicht geringerem Rechte behauptet werden kann. Unbedingte Wahrheiten gibt es nicht.«25
Kurz darauf fährt er fort:
»Wer zu feig ist, sich zu irren, der kann kein Kämpfer für die Wahrheit sein. Ein Irrtum, der dem Geist entspringt, ist mehr wert als eine Wahrheit, die der Plattheit entstammt.«26
Nach diesen erkenntnismoralischen Bemerkung kommt er auf Langbehn zu sprechen. Sein vernichtendes Urteil über den Bierphilister Langbehn leitet er mit folgenden Sätzen ein:
»Es ist geradezu haarsträubend, welche Charaktereigenschaften heute als Tugenden des wissenschaftlichen Forschers gepriesen werden. Wollte man dieselben ins Gebiet der praktischen Lebensführung übersetzen, so käme das – Gegenteil eines festen, entschiedenen, energischen Charakters heraus«, um mit feiner Ironie fortzufahren: »Diese Mängel in unserem geistigen Leben hat nun jüngt ein Buch bloßzulegen versucht: Rembrandt als Erzieher. Von einem Deutschen. Schlimm genug, daß gerade diese Schrift eine solche Verbreitung gefunden hat. Mängel sehen und darüber herfallen ist nicht schwer, wohl aber den Urpsrung derselben aufsuchen. Man gehe vierzehn Tage hindurch jeden Abend in einen Gasthof, wo gebildete deutsche Bier-Philister sitzen, setze sich abseits und lausche ihren kritischen Redenssarten. Dann gehe man nach Hause, notiere sorgfältig, was man gehört, setze zu jedem Satze ein Zitat aus einem bekannten Schriftsteller hinzu. Nach vierzehn Tagen schicke man dieses ›Sammelwerk‹ in die Druckerei, und ein zweites Buch wird den deutschen Büchermarkt zieren, das in nichts dem Rembrandt als Erzieher an Wert nachstehen wird.
Der Verfasser dieses Buches bekämpft den Spezialismus in der Wissenschaft. Das ist sein Grundirrtum. Nicht, daß die Forscher sich speziellen Aufgaben widmen, ist der Fehler, sondern daß sie in die Welt der Einzelheiten den universellen Geist nicht hineinarbeiten können.«27
Diese Beurteilung greift Steiner in einem Aufsatz mit dem Titel Das Tagesgespräch von heute aus dem Jahr 1897, veröffentlicht im Magazin für Literatur28, dessen Mitherausgeber Steiner von Juli 1897 bis September 1900 war29, wieder auf. Hier schreibt Steiner über Langbehns ironisch als »unermeßliches Erziehungsbuch« titulierte Publikation:
»Mit Rembrandt als Erzieher spielte sich ein sonderbares Schauspiel ab. Wenn man vierzehn Tage lang durch Gasthöfe zieht und sich in die Nähe «besserer» Stammtische setzt, so kann man die phrasenhafte Wissenschaft zu hören bekommen, die der Rembrandtdeutsche [Julius Langbehn] aufgetischt hat. Man braucht sich nur Zettelchen mitzunehmen und das Gehörte immer schnell nachzuschreiben. Auf jeden dieser Zettel schreibt man dann zu Hause noch einen passenden – oder noch besser einen unpassenden – Ausspruch eines bedeutenden Mannes. Dann schicke man diese Zettelchen in eine Druckerei und lasse sie hintereinander abdrucken. So wird ein Buch von dem Charakter, dem Wesen und der Bedeutung von ›Rembrandt als Erzieher‹ entstehen. Ich habe mich nach der Lektüre des zusammengestoppelten, mit billiger Weisheit gefüllten Buches immer wieder gefragt: wie konnten kluge Leute ein solches Ding als europäisches Ereignis ausposaunen? Aber man muß sich gewöhnen, an das Absurde als Wirklichkeit zu glauben, wenn man über das Geheimnis eines literarischen Erfolges nachgrübeln will.«30
In seiner unvollendeten Autobiographie Mein Lebensgang reflektiert Steiner 1924 auf seine damaligen Ansichten und hält unverändert an seiner Verurteilung Langbehns fest.
»Da kam mir bald ein Buch in die Hand, von dessen ›Geistesreichtum‹ damals die weitesten Kreise sprachen: Rembrandt als Erzieher. In Gesprächen über dieses Buch, die damals überall sich entwickelten, wo man hinkam, konnte man von einem Aufkommen eines ganz neuen Geistes hören. Ich mußte gerade an dieser Erscheinung wahrnehmen, wie einsam ich mit meiner Seelenverfassung in dem damaligen Geistesleben stand.
Ich empfand von einem Buche, das von aller Welt auf das höchste gepriesen wurde, so: es kam mir vor, als wenn jemand sich durch einige Monate jeden Abend in einem besseren Gasthause an einen Tisch gesetzt und zugehört hätte, was die ›hervorragenderen‹ Persönlichkeiten an den Stammtischen an ›geistvollen‹ Aussprüchen machten, und dann dies in aphoristischer Form aufgezeichnet hätte. Nach dieser fortlaufenden ›Vorarbeit‹ könnte er die Zettel mit den Aussprüchen in ein Gefäß geworfen, kräftig durcheinander geschüttelt und dann wieder herausgenommen haben. Nach der Herausnahme hätte er dann das eine an das andere gefügt und so ein Buch entstehen lassen. Natürlich ist diese Kritik übertrieben. Aber mich drängte eben meine Lebensauffassung zu solcher Ablehnung dessen, was der damalige ›Geist der Zeit‹ als eine Höchstleistung pries. Ich empfand Rembrandt als Erzieher als ein Buch, das sich ganz auf der Oberfläche sich geistreich geberdender Gedanken hielt und das in keinem Satze mit den wahren Tiefen einer menschlichen Seele zusammenhing. Ich fühlte es schmerzlich, daß meine Zeitgenossen gerade ein solches Buch für den Ausfluß einer tiefen Persönlichkeit hielten, während ich meinen mußte, daß mit solchem Gedankenplätschern in seichten Geist-Gewässern alles Tief-Menschliche aus den Seelen herausgetrieben wird.«31
Gegen die »antisemitischen Wüteriche«
Julia Iwersen wirft in einem 1996 erschienenen Aufsatz32 Steiner vor, ihm sei die »zionistische Bewegung ein Dorn im Auge« gewesen, wie vielen seiner Zeitgenossen33. Sie vergisst aber zu erwähnen, daß Steiner auch der Antisemitismus ein Dorn im Auge war. Sie wird durch die »Heftigkeit und Ungerechtigkeit« seiner Ausfälle gegen den Zionismus überrascht. Er habe nicht den am Ende des 19. Jahrhunderts entstehenden Rassenantisemitismus als das eigentliche Problem gesehen, sondern den Zionismus, der doch nur als Reaktion auf jenen entstanden sei34.
Iwersen beruft sich, um ihre Behauptungen zu belegen, auf Steiners Aufsatz Die Sehnsucht der Juden nach Palästina von 1897, den sie völlig selektiv und tendenziös zitiert. Sie wählt nur solche Stellen aus, die Steiner im Sinne ihres Vorwurfs belasten, läßt aber andere aus, in denen er sich, auch in diesem Aufsatz, gegen den Antisemitismus ausspricht. Der Aufsatz wurde in der Zeitschrift Babylon unmittelbar vor dem Artikel Iwersens abgedruckt.
Wohl ist es wahr, daß Steiner den Antisemitismus in diesem Aufsatz als »unangenehme Kinderei«, als »harmloses Geplänkel« bezeichnet. Dies aber nicht etwa deshalb, weil er dessen Virulenz herunterspielen wollte, oder weil er dessen Auffassungen geteilt hätte, sondern weil er diese geistig-politische Strömung schlechterdings nicht ernst nahm. Sie nahm auch 1897 keinen Einfluß auf die offizielle Politik des Habsburger- oder des Hohenzollernreiches. Wer hätte denn 1897 die Nazigreuel voraussehen können? In seinem Aufsatz über die Sehnsucht der Juden nach Palästina macht sich Steiner zum Anwalt der assimilationswilligen Juden vor ihren zionistischen »Verführern«, weil er sowohl im nationalistischen Prinzip, das dem Zionismus zugrunde lag, als auch in der damit verbundenen Verabschiedung des Assimilationsprogramms eine größere Gefahr für die Existenz der Juden in Europa sieht, als im Antisemitismus. Warum hätte er die Juden vor den Antisemiten warnen sollen, wo doch diese Aufgabe von den von ihm kritisierten Zionisten bereits übernommen worden war?
Steiner beschreibt in seinem Aufsatz den zeitgenössischen Antisemitismus mit Merkmalen, die nicht nur seine persönliche Abneigung gegen diesen, sondern auch seine grundsätzlichen Vorbehalte deutlich erkennen lassen. Er bedauert, immer mehr Juden würden für die zionistische Programmatik empfänglich. »Sie wenden ihr Auge ab von den großen Fortschritten, welche die Emanzipation der Juden in den letzten Jahrzehnten gemacht hat.«35 Sie hören nur, so Steiner, »daß sie von den Antisemiten in der wüstesten Weise beschimpft werden.«36 Sie erkennen nicht die »Ohnmacht des Antisemitismus«, sondern sehen nur »seine Gefahren und empörenden Ausschreitungen.«37 Halten wir also fest, daß er von »Gefahren und empörenden Ausschreitungen« des Antisemitismus spricht, von »wüstesten Beschimpfungen«, die von dieser Seite ausgehen. Ja, er spricht gar von »antisemitischen Wüterichen«38 Er hält aber 1897 die »Machinationen der Judenhasser für aussichtslos« und meint, »all ihre Unternehmungen« liefen »in Blamage aus«.39 Im weiteren bedauert er, daß selbst Juden, die noch vor kurzem »mit Leidenschaft« bereit gewesen seien, »das eigene Volkstum in das der abendländischen Stämme aufgehen« zu lassen, sich nunmehr von ihrem eigenen Ideal der Emanzipation und Assimilation abwendeten.40 Steiner schildert, welche bedauerlichen Wirkungen die wüsten Beschimpfungen der Antisemiten und die zionistische Reaktion auf diese in assimilationswilligen oder bereits assimilierten Angehörigen des Judentums hervorrufen, wenn er schreibt: »Das Misstrauen gegen die Nichtjuden hat sich gründlich ihrer Seele bemächtigt. Sie vermuten auch bei Menschen, bei denen sie keine Spur von bewußtem Antisemitismus wahrnehmen können, auf dem Grunde der Seele einen unbewußten, instinktiven, geheimen Judenhaß.«41 Und er beschreibt, was ihm als Ideal der zwischenmenschlichen Begegnung erscheint: »Ich rechne es zu den schönsten Früchten, welche menschliche Neigung treiben kann, wenn sie zwischen einem Juden und einem Nichtjuden jede Spur von Argwohn … auslöscht. Einen Sieg über die menschliche Natur möchte ich fast eine solche Neigung nennen.«42
In der Begegnung zwischen Menschen sollten Gattungseigenschaften keine bestimmende Rolle spielen
Diese Sätze spiegeln Steiners Grundauffassung wieder, nach der es in der zwischenmenschlichen Begegnung darum geht, daß sich Individualitäten begegnen und nicht etwa »Gattungswesen«, die nur Abklatsch einer Volks-, Rassen- oder Stammestypologie sind. Dem Menschen will Steiner begegnen und nicht dem »Teutonen«, »Juden« oder gar »Arier«. Steiner will die zwischenmenschliche Begegnung heraushalten aus dem Getöse antisemitischer und zionistischer Agitation. So fährt er fort: »Auf das Ziehen intimer Fäden von Jude zu Nichtjude, auf das Entstehen gefühlsmäßiger Neigungen, auf tausend unaussprechliche Dinge, nur nicht auf vernünftige Auseinandersetzungen und Programme kommt es bei der sogenannten Judenfrage an. Es wäre das Beste, wenn in dieser Sache so wenig wie möglich geredet würde. Nur auf die gegenseitigen Wirkungen der Individuen sollte Wert gelegt werden. Es ist doch einerlei, ob jemand Jude oder Germane ist; finde ich ihn nett, so mag ich ihn; ist er ekelhaft, so meide ich ihn. Das ist so einfach, daß man fast dumm ist, wenn man es sagt. Wie dumm muß man aber erst sein, wenn man das Gegenteil sagt.«43
Nicht auf die Zugehörigkeit zu einer »Rasse«, einem »Volk«, einer »Nation« kommt es in der zwischenmenschlichen Begegnung an, sondern darauf, daß die Individuen sich begegnen und Neigung zu einander entwickeln. An das menschliche Empfinden appelliert Steiner, das sich von der antisemitischen Propaganda nicht irre machen lassen soll. Er will die Antisemiten nicht ernst nehmen, denn indem man sie ernst nimmt, wie die Zionisten es seiner Ansicht nach tun, wertet man sie auf und verleiht ihrer kindischen Ideologie eine Bedeutung, die sie nicht haben darf.
Aber er sieht auch die Gefahren, die in der antisemitischen Propaganda liegen: »Es ist nicht ausgeschlossen, daß in kurzer Zeit solche Neigungen überhaupt unmöglich sein werden. Es kann eine Zeit kommen, in der bei jüdischen Persönlichkeiten die Empfindungssphäre so gereizt ist, daß jedes Verstehen mit Nichtjuden zur Unmöglichkeit wird.«44 Steiner hält die Antisemiten auch deshalb für kindisch, weil sie zu Unrecht die Schuld für ihre soziale Lage bei den Juden suchten. Die Suche nach Sündenböcken für selbstverschuldetes Unglück hält Steiner für infantil.
Iwersen meint, wenn Steiner »ausgerechnet in Berlin, dem Agitationsfeld eines Stöcker, Marr, Treitschke und Henrici den Antisemitismus als »Geplänkel« ausgegeben« habe, dann zeuge dies nicht für »Beobachtungsgabe und Realitätssinn«.45 Von was für einer Beobachtungsgabe und welchem Realitätssinn zeugen aber Victor Klemperers Erinnerungen an seine Landsberger Jugend, wenn er am 20. Juni 1937 in sein Tagebuch schreibt: »Da fiel mir eine längst vergessene Kleinigkeit ein. September 1900 oder 1901 in Landsberg. Wir waren in der Unterprima 4 Juden unter 16, in der Oberprima 3 unter 8 Klassenschülern. Von Antisemitismus war weder unter den Lehrern noch unter den Schülern Sonderliches zu spüren. Genauer rein gar nichts. Die Ahlwardzeit und Stoeckerei kannte ich nur als historisches Faktum. Ich wußte nur, daß ein Jude weder Verbindungsstudent noch Offizier wurde.«46
Iwersen meint, wenn Steiner mangelnde Verständigungsbereitschaft nicht auf seiten der Antisemiten, sondern auf seiten der sich gegen den Antisemitismus wehrenden Juden beklage, dann mache ihn dies des Antisemitismus verdächtig. Ihn verbinde außerdem »mit den Protagonisten des Antisemitismus«, daß ihm »das Problem einer Judenfrage bewußt war«, deren Lösung durch die Zionisten verhindert werde.47 Daß Steiner die Auffassung vertrat, auf seiten der Antisemiten sei keine Verständigungsbereitschaft zu finden, steht außer Zweifel. Er sah in ihnen so wenig ernstzunehmende Gesprächspartner, daß er sie schlechterdings für infantil, ja von dumpfen Instinkten beherrscht erklärte. Ihm war es aber darum zu tun, daß sich die angefeindeten Juden nicht einschüchtern ließen und sich auch noch dem von ihm für lebenswichtig gehaltenen Dialog entzögen.
Steiners Plädoyer für Assimilation entsprach einer Haltung des liberalen Judentums seiner Zeit
Er vertrat mit seinem Plädoyer für die Assimilation einen Standpunkt, der dem des liberalen Judentums in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts entsprach, das den Zionismus wegen seines utopischen und zugleich reaktionären Charakters ablehnte. Der Historiker des Zionismus, Walter Laqueur, schreibt in seinem Buch Der Weg zum Staat Israel über die liberale jüdische Kritik am Zionismus:
»Die einleuchtendste Argumentation gegen den Zionismus, die auch bis zur Errichtung des Staates Israel am häufigsten vorgebracht wurde, richtete sich gegen seinen utopischen Charakter. Sowohl jene, die die Zerstreuung der Juden begrüßten, als auch jene, die sie bedauerten, waren der Ansicht, daß man diese historische Entwicklung nicht rückgängig machen könne. Es sei zu spät, um Millionen Juden in einem Teil der Welt zu konzentrieren, der bereits besiedelt sei und eine wichtige Rolle in der Weltpolitik spiele. Die Menschheit entwickle sich auf Assimilation, Weltbürgertum und Weltkultur hin. Überall führten die wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen zu einer Verringerung der nationalen Unterschiede. Der Versuch, den Gang der Geschichte aufzuhalten, dieser Entwicklung zu widerstreben, sei utopisch und reaktionär. Unter den westeuropäischen Juden sei die Assimilation bereits zu weit fortgeschritten, als daß eine Rückkehr zum jüdischen Nationalismus möglich erschiene.«48
Laqueur fährt fort: »Das waren gewichtige Argumente. Die Zionisten hatten nichts anzubieten als die Hoffnung, daß ein deus ex machina irgendwie den Judenstaat herbeiführen würde; vernünftige Gründe für diese Annahme gab es keine oder so gut wie keine. Inzwischen machte die Assimilation weitere Fortschritte. Herzl dachte darüber etwa so, wie Marx über die Möglichkeit einer gewaltlosen Revolution gedacht hatte, nämlich, daß sie in einigen Ländern vielleicht möglich sei, in anderen aber nicht. Von einigen bemerkenswerten Ausnahmen […] abgesehen, war die Haltung der nächsten Zionistengeneration radikaler […] Denn jenseits der Wünsche und Bestrebungen einzelner gebe es die »objektive Judenfrage««49
Es ist also keineswegs ein Kennzeichen des Antisemitismus, um dies noch einmal zu betonen, wenn überhaupt von einer »Judenfrage« gesprochen wurde, sprachen doch die Zionisten selbst von der Existenz einer »objektiven Judenfrage«.
Laqueur schreibt weiter: »Dies [die Rede von einer »objektiven Judenfrage«] bezog sich auf soziologische Faktoren und auch auf den spezifischen Charakter der Juden als Rasse. Einige westliche Zionisten standen unter dem Einfluß der Schriften der Rassentheorie, die in den letzten zwanzig Jahren vor dem Ersten Weltkrieg veröffentlicht wurden, und einige (darunter Ruppin und Elias Auerbach) stellten auf diesem Gebiet eigene Untersuchungen an.«50
Nachdem Laqueur auf die nationalsozialistische Rassenpolitik und deren »Ausrottung« der Juden hingewiesen hat, in der die Rassenforschung in ihre ultimative Pervertierung geführt habe, meint er:
»Aber die Unterdrückung von Untersuchungen über die Bedeutung rassischer Unterschiede, wenngleich in bester Absicht, hat nicht zur Lösung rassischer Konflikte beigetragen. Es existieren in der Tat Unterschiede zwischen den Rassen, wenn es auch keine reinen Rassen gibt. Es ist eine unwiderlegbare Tatsache, daß die Juden in Österreich, in Polen und in Rußland häufig leicht zu erkennen waren. Nach Auffassung der Zionisten war dies, ob gut oder schlecht, ein durchaus bedeutsamer Faktor, während die Liberalen diese Unterschiede entweder verkleinerten oder ihnen keinerlei Bedeutung beimessen wollten. Sie betrachteten den rassistischen Antisemitismus als einen groben Unfug, der aber historisch bedeutungslos sei und bloß ein Rückzugsgefecht der reaktionären Kräfte darstelle. Die [jüdischen] liberalen Kritiker des Zionismus konnten auf die unbestreitbare Tatsache verweisen, daß trotz der Warnungen der Antisemiten die Zahl der Mischehen zwischen Juden und Nichtjuden in ganz Mittel- und Westeuropa und in den Vereinigten Staaten im Zunehmen begriffen waren. Nach mehreren Generationen einer friedlichen Entwicklung würde die Judenfrage wahrscheinlich von selbst verschwinden.«51
Eben diese liberale jüdische Position, die im Zionismus eine zugleich utopische und reaktionäre Bewegung sah und dieser die Fortschritte der Assimilation und Emanzipation entgegenhielt, vertrat auch Steiner. Er vertrat auch die von Laqueur referierte Auffassung, der Rassenantisemitismus sei ein historisch bedeutungsloser, grober Unfug, nur sprach er im Hinblick auf den Antisemitismus nicht von Unfug, sondern von »Kinderei«, von »barbarischem Unsinn«, von »wüstesten Beschimpfungen«, von »Inferiorität des Geistes« und »Abgeschmacktheit«, wie wir gleich sehen werden.
Noch nach der nationalsozialistischen Machtergreifung konnten Juden in Deutschland ihre Ablehnung des Zionismus weitaus »heftiger« und »ungerechter« (so die Vorwürfe Iwersens gegen Steiner) zum Ausdruck bringen als Steiner 1897.
Ein beeindruckendes Zeugnis dafür findet sich in den bereits zitierten Tagebüchern Victor Klemperers, die im hier besprochenen Doppelheft der Zeitschrift Babylon von Fritz Backhaus euphorisch rezensiert wurden.
Klemperer schrieb am 13. Juni 1934: »Mir sind die Zionisten, die an den jüdischen Staat von anno 70 p. C. (Zerstörung Jerusalems durch Titus) anknüpfen, genauso ekelhaft wie die Nazis. In ihrer Blutschnüffelei, ihrem ›alten Kulturkreis‹, ihrem teils geheuchelten, teils bornierten Zurückschrauben der Welt gleichen sie durchaus den Nationalsozialisten. Der Witz, man habe Hitler in Haifa ein Denkmal errichtet mit der Aufschrift ›Unserem Heerführer‹ hat eigentlich eine tiefe und unwitzige Berechtigung. Gedanklich ist er auch ihr Heerführer. Das ist das Phantastische an den Nationalsozialisten, daß sie gleichzeitig mit Sowjetrußland und mit Zion in Ideengemeinschaft leben.«52
Diese Passage aus Klemperers Tagebüchern zeigt nicht nur die Ablehnung eines liberalen Juden gegenüber dem Zionismus, sie weist zugleich auf ein viel tieferes Problem, das Iwersen im leichtgeschürzten Vorwurf zusammenfaßt, »die anthroposophische Interpretation« stelle »das Judentum als Repräsentant eines Übels dar, gegen das der Nationalsozialismus auftrat«, und kritisiere dieses Übel zugleich »als Bestandteil« oder Mitursache »des Nationalsozialismus«.53
Antisemitismus als »Inferiorität des Geistes«
Steiner war erklärter Gegner des Antisemitismus und damit auch des Rassismus. Im Magazin für Literatur, dessen Herausgeber er zeitweise war, schrieb er in einer Rezension des Romans Ahasver von Roland Jaffé im September 1900:
»Für mich hat es nie eine Judenfrage gegeben. Mein Entwicklungsgang war auch ein solcher, dass damals, als ein Teil der nationalen Studentenschaft Österreichs antisemitisch wurde, mir das als eine Verhöhnung aller Bildungserrungenschaften der neuen Zeit erschien. Ich habe den Menschen nie nach etwas anderem beurteilen können als nach den individuellen, persönlichen Charaktereigenschaften, die ich an ihm kennenlerne. Ob einer Jude war oder nicht: das war mir immer ganz gleichgültig. Ich darf wohl sagen: diese Stimmung ist mir auch bis jetzt geblieben. Und ich habe im Antisemitismus nie etwas anderes sehen können als eine Anschauung, die bei ihren Trägern auf Inferiorität des Geistes, auf mangelhaftes ethisches Urteilsvermögen und auf Abgeschmacktheit deutet […], die jeder gesunden Vorstellungsart ins Gesicht schlägt.«54
Hier bezeichnet er also den Antisemitismus als Verhöhnung aller Bildungserrungenschaften, als Ausdruck einer Inferiorität des Geistes, als Zeugnis der Abgeschmacktheit, als Gegenteil jeder gesunden Vorstellungsart.
Im Anschluß an die zitierte Passage meint er, eine künftige Geschichtsschreibung werde zu erklären haben, »wie es möglich war, daß im Zeitalter des naturwissenschaftlichen Denkens eine Strömung entstehen konnte, die jeder gesunden Vorstellungsart ins Gesicht schlägt.« Mit dieser Strömung, die jeder gesunden Vorstellungsart ins Gesicht schlägt, meint er den Antisemitismus. Er fährt fort: »Wir, die wir mitten in den Kämpfen leben und gelebt haben, wir können nur mit Schaudern Revue halten über eine Anzahl von Erfahrungen, die uns der Antisemitismus bereitet hat.«55 Über den Roman Jaffés äußert er schließlich: »Vielleicht kann dem Antisemitismus keine herbere, aber wegen der sinnig künstlerischen Beweisführung überzeugendere Verurteilung zuteil werden, als es hier geschieht.«56
Doch dies ist nicht die einzige und auch nicht die schärfste Stellungnahme Steiners gegen den Antisemitismus. In einer Serie von Aufsätzen, die er für die Mitteilungen aus dem Verein zur Abwehr des Antisemitismus im Jahr 1901 schrieb, dessen Mitarbeiter der mit ihm befreundete jüdische Dichter Ludwig Jakobowsky war, nimmt Steiner fortlaufend Stellung gegen jene »abgeschmackte« Ideologie.
Schlechterdings skandalös ist die Behandlung, die Iwersen diesen Aufsätzen Steiners angedeihen läßt. Was den angeblichen Antisemiten Steiner dazu bewogen haben könnte, im Organ eines Vereins zur Abwehr des Antisemitismus Beiträge zu veröffentlichen, hält Iwersen keiner Überlegung wert. Den Inhalt dieser sieben Aufsätze, die in Band 31 der Gesamtausgabe immerhin achtunddreißig Seiten einnehmen, übergeht sie stillschweigend. Sie veranlassen die Autorin lediglich zu dem dürren Halbsatz, Steiner sei es um den Nachweis der »fehlenden Wissenschaftlichkeit des Antisemitismus«57 gegangen. Den Rest verschweigt sie. Sie verschweigt und unterdrückt die Wahrheit, die darin besteht, daß Steiner sich in diesen Aufsätzen in nichts zu wünschen übriglassender Deutlichkeit gegen den Antisemitismus wendet und den Kampf gegen diesen zur Pflicht jedes ehrlichen, gesunden Menschen erklärt. Allein durch diesen Umgang mit den Quellen disqualifiziert sich Iwersen in jeder Beziehung. Sehen wir uns die betreffenden Aufsätze etwas näher an.
Gegen die »unsinnigen antisemitischen Schwätzereien«
Am 11. September 1901 schreibt Steiner in einem Beitrag über den Literarhistoriker Adolf Bartels: »Es fällt mir nicht ein, Herrn Bartels gleichzustellen mit den platten Parteimenschen, die den ›germanischen Menschen‹ erfunden haben, um damit ein möglichst wohlklingendes Wort für die Rechtfertigung ihres Antisemitismus zu haben. Ich habe vor Bartels Wissen und Geschmack zu viel Achtung, um in den Fehler zu verfallen, der in einer solchen Gleichstellung läge. Aber eines scheint mir gewiß: auf einem ähnlichen Boden wie die unsinnigen Schwätzereien der Antisemiten sind doch auch Bartels Auslassungen über den ›germanischen Menschen‹ erwachsen.«58
Steiner kanzelt den Germanenmythos ebenso ab, wie eine antisemitische Literaturgeschichte. Dem Buch Bartels erkennt er zu, daß es »etwas Unwahres« gewinne, indem Bartels dem Leser seine persönlichen Urteile als die Urteile »des »germanischen Menschen« aufschwatzen« wolle. Ja, das Buch werde dadurch »gefährlich« und das sein noch schlimmer. Die Behandlung Moses Mendelssohns durch Bartels hält Steiner für kleinkariert und borniert. Wenn Bartels fordert, das »spezifisch Jüdische« müsse an Mendelssohns Werk herausgearbeitet werden, dann kommentiert Steiner diese Forderung mit der Bemerkung: »Man sieht, wie geschraubt Herr Bartels werden muß, damit die edle Menschlichkeit, die auch er bei Moses Mendelssohn nicht zu leugnen wagt, doch eine Darstellung möglich mache, bei welcher – der Jude etwas verliert.«59
Steiners Aufsatz endet mit den abschließenden Bemerkungen: »Wer die Dinge nach allen Seiten durchschaut, hat für solche Ausführungen, wie die des Herrn Bartels nur ein – Lächeln. Das Gefährliche liegt aber darin, daß viele, die einen – noch engeren Gesichtskreis haben als Bartels, sich »germanisch« angeheimelt fühlen müssen von seiner Engherzigkeit. Ich finde in dem Buche allerdings nur antisemitische Mücken. Aber wundern könnte ich mich nicht, wenn diese Mücken bei zahlreichen Lesern sich zu ganz ansehnlichen antisemitischen Elefanten auswüchsen. Und es fehlt mir der Glaube, daß eine solche Wirkung Herrn Bartels – sehr unangenehm wäre.«60
Mit Bartels fertigte Steiner einen der prominentesten deutschen Antisemiten ab. Ebendieser Bartels wurde später von den Nationalsozialisten ausdrücklich als einer ihrer Vorkämpfer anerkannt. Er spielte in der organisatorischen Konsolidierung der völkischen Bewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine bedeutende Rolle. Er gehörte nicht nur seit 1907 dem Deutschbund an, der sich seit 1912 dezidiert in den Dienst der Rassegedankens stellte, er gehörte auch dem Deutsch-Völkischen Schriftstellerverband an, dessen Satzungen er verfaßte, er war einer der Hauptorganisatoren des ersten Deutschen Tages 1913, an dem 17 völkische Bünde teilnahmen, unter anderem die Deutsch-Völkische Vereinigung, deren Vorsitzender er war. Bartels spielte auch beim Zustandekommen der wichtigsten antisemitischen Vereinigung in Deutschland, des Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbundes eines wichtige Rolle, gehörte er doch dem Judenausschuß des Alldeutschen Verbandes an, der bei der Gründung dieses Bundes Pate stand. Bartels war auf den Veranstaltungen dieses Bundes neben Artur Dinter, Dietrich Eckart und Gottfried Feder einer der Hauptredner.61 Dieser Deutschvölkische Schutz- und Trutzbund entwickelte sich während des I. Weltkriegs zu einem der schärfsten Gegner Steiners und der Anthroposophie. Aus dessen ideologischen Arsenalen stammte die Munition, die gegen Steiner als angeblichen galizischen Juden und die Anthroposophische Gesellschaft als angebliche Judengesellschaft abgefeuert wurde.
Antisemitismus als Symptomeiner tiefgehenden Geisteszerrüttung
Am 25. September wehrt Steiner sich im selben Periodikum gegen einen Angriff, den die Berliner Zeitung Die Post wegen des Artikels über Bartels gegen ihn veröffentlichte. Ein anonymer Autor hatte ihn beschuldigt, den »philosemitischen Heerbann gegen Bartels mobilzumachen und mit Alarmrufen ganz Israel und seine Schildknappen auf die Schanzen zu bringen«.62 Steiner entgegnet, daß er lediglich den »gesunden Menschenverstand« gegen einzelne Bartelsche Behauptungen zu verteidigen gesucht habe. Er sieht also in der Verteidigung der Juden gegen den Antisemitismus und in der Ablehnung des Germanenmythos eine Verpflichtung des gesunden Menschenverstandes. Auch hier tritt erneut zutage, daß Steiner den Antisemitismus für eine Krankheitserscheinung hält, mit anderen Worten: er sieht in ihm ein Zeichen für den Verlust des gesunden Menschenverstandes, oder schärfer: der Antisemitismus ist für Steiner Anzeichen einer geistigen Zerrüttung. Steiners Verteidigung schließt mit den Sätzen: »Ich empfinde zwar Herrn Bartels Standpunkt nicht als »deutsch« oder »germanisch«; aber ich empfinde gewissenloses Lesen entschieden als »undeutsch«. Es »deutsch« zu empfinden, vermögen nur die – Antisemiten.«63 Mit anderen Worten: Steiner hält Antisemiten für gewissenlos und aberkennt ihnen das Recht, sich als Deutsche zu bezeichnen.
Antisemitismus als »verletzende Anmaßung«
Am 18. September 1901 schreibt Steiner für die Mitteilungen des Vereins zur Abwehr des Antisemitismus einen Aufsatz über den Literaturhistoriker Carl Weitbrecht, der den Titel trägt Ein Heine-Hasser. Darin bespricht Steiner die zweibändige Deutsche Literaturgeschichte … Weitbrechts, die im Jahr 1901 erschien. Er meint, »das erste sei geschrieben, um dem »deutschen Juden« Heine alles erdenkliche Schlimme anzuhängen; das zweite, um einem verbissenen Groll gegen alles sogenannte »Moderne« Luft zu machen.«64 Auch hier stellt Steiner wieder die antisemitische Tendenz eines Lehrstuhlinhabers bloß. Im Verlauf seiner Ausführungen schreibt Steiner: »Carl Weitbrecht mag über Heinrich Heine denken, wie er es, nach seiner Begabung, vermag […] Worüber man aber mit Herren wie Carl Weitbrecht ein ernstes Wort reden muß, das ist die, gelinde gesagt, verletzende Anmaßung, mit der er »die Deutschen« zu Trotteln stempelt […] Hat denn die Schwabenseele Carl Weitbrechts nirgends so etwas, was ihr die Scham kommen ließe über solche Charakteristik ihrer Nation?«65 Steiner sieht in Weitbrechts Antisemitismus, den dieser zum wahrhaft deutschen Standpunkt erklärt, eine »verletzende Anmaßung« und meint, wer so wie Weitbrecht die deutsche Nation charakterisiere, beschmutze diese und gebe Anlaß, sich zu schämen. Im Antisemitismus sieht Steiner demnach eine moralische Verschmutzung der Kultur.
Durch ihren Kosmopolitismus sind Deutsche und Juden verwandt
Im November 1901 veröffentlicht Steiner im genannten Mitteilungsblatt zwei Artikel über den Philosophen Friedrich Paulsen (1846-1908). In seinem ersten versucht er Paulsen gegen die Vereinnahmung durch Antisemiten zu verteidigen. In seinem zweiten, vierteiligen Aufsatz, entdeckt er in gewissen Passagen des Werkes von Paulsen einen »verschämten Antisemitismus«.
Betrachten wir den ersten Aufsatz mit dem Titel Der Wissenschaftsbeweis der Antisemiten.66 Hier läßt sich Steiner ironisch über die kläglichen Versuche der Antisemiten aus, ihr Programm »auf eine wissenschaftliche Grundlage« zu stellen. Steiner sieht in einem Beitrag, der in der Berliner Staatsbürger-Zeitung erschienen ist, einen Versuch, Paulsen zu Unrecht »zum Kronzeugen des Antisemitismus« auszurufen. Er meint, wer je mit objektivem Verständnis Paulsens Werke gelesen habe, könne ihm »unmöglich eine Tendenz wie die ihm von antisemitischer Seite unterschobene zutrauen«.67 Was Paulsen in seinem System der Ethik über die Nationalität und Religion der Juden äußere, sei aus einem geschichtlichen Verständnis hervorgegangen. Von diesem historischen Verständnis zeuge etwa Paulsens Satz: »Das Bewußtsein, das auserwählte Volk Gottes zu sein, durchdringt Religion und Nationalität.«68 In dieser Feststellung Paulsens sieht Steiner eine »geschichtliche Rekonstruktion des Judentums aus seiner grauen Vergangenheit«.69 Dem Verfasser des Artikels, auf den Steiner sich bezieht, wirft er vor, diesem habe es an objektivem Blick gemangelt, sonst hätte ihn bereits der Begriff der »Nationalität« darauf aufmerksam gemacht, daß Paulsen vom historischen Judentum spreche. Durch dieses Zugeständnis, so Steiner, hätte aber die »ganze Tendenz des antisemitischen Artikels niedergerissen.«70
Er fährt nun fort: »In demselben Augenblick, wo die Juden die »Bodenständigkeit ihrer alten Heimat verloren, war ihr starrer Nationalismus bis ins Herz getroffen, und getreu allen menschlichen Entwicklungs- und Anpassungsgesetzen hat der Prozeß neuer »Bodenständigkeit« bei ihnen eingesetzt.«71
Steiner spricht also über das Exil und die Diaspora, über Entwurzelung und Einwurzelung. Er erläutert im folgenden diesen Gedanken, indem er die Situation der Juden im Exil mit der Situation von deutschen und slawischen Exulanten bzw. Auswanderern vergleicht. Daß Dislokationen von Menschen und Menschengruppen geschichtlich mögliche und – nachdem sie eingetreten sind – sogar notwendige Ereignisse seien, darüber sollten, so Steiner, die Antisemiten sich von der Geschichte belehren lassen. »Die Slawen des östlichen Deutschlands«, schreibt er, »sind dort ›bodenständig‹ geworden, wo einst Germanen saßen, und mitten in slawischen Ländern erhalten sich germanische Sprachinseln (die Sachsen Siebenbürgens). All die Wanderungen der Vorzeit sind ein Zerreißen des alten Heimatbandes und ein neuer Kontrakt mit der Natur. Ein Teil der Geschichte ist, möchte man sagen, wechselnde Bodenständigkeit, manchmal misslungen, in vielen Fällen auch geglückt. Die Mischung, wie sie uns zwischen Slawen und Germanen vorliegt, wird ungefähr dem ethnologischen Zustand entsprechen, in dem sich das Judentum inmitten europäischer oder anderer Kulturstaaten befindet. Wäre der Prozeß der Assimilierung nicht künstlich aufgehalten worden, so dürfte jedenfalls der Jude unter uns nicht an einer größeren Exklusivität leiden als etwa die Slawen in germanischen Ländern. Dem Verfasser des genannten antisemitischen Artikels ist hoffentlich die deutsche Judengesetzgebung bis zur Mitte des neunzehnten Jahrhunderts soviel bekannt, um uns recht zu geben., Selbst das Jahrhundert der ›Aufklärung‹ und ›Humanität‹ hat diesbezügliche Paragraphen ersonnen, die an Zustände der Sklaverei erinnern. Darüber gibt jedes Polizeirecht des achtzehnten Jahrhunderts Auskunft.«72
Steiner sieht die Ausgrenzung und Ghettoisierung von Juden nicht als Folge ihrer Unfähigkeit oder Unwilligkeit zur Assimilation, sondern als Folge einer ausgrenzenden Gesetzgebung ihrer europäischen Heimatländer, spricht er doch davon, der Prozeß der Assimilation sei künstlich aufgehalten worden und die Gesetzgebung gegen die Juden im Zeitalter der Aufklärung und der Humanität erinnere an Zustände der Sklaverei.
Er fährt ironisch fort: »Sicher haben diese Dinge den Juden eine gewisse ›Beweglichkeit und Internationalität‹ gegeben, von der Paulsen redet«73: d.h. die Juden waren durch die Gesetzgebung und Ausgrenzung gezwungen, nach Orten zu suchen, an denen sie günstigere Lebensbedingungen fanden, um daran den Gedanken anzuschließen, eine solche »Beweglichkeit und Internationalität«, die bekanntlich von Antisemiten als negatives Spezifikum des jüdischen Geistes akzentuiert wurde, könne gerade auch den Deutschen zuerkannt werden. Damit vertritt er gegenüber den germanentümelnden Antisemiten die Auffassung, es bestehe eine geistige Verwandtschaft zwischen Juden und Deutschen, eine Auffassung, die man wohl kaum als antisemitisch wird umlügen können. Steiner schreibt: »Sind denn aber diese Eigenschaften so durchaus undeutsch, ›unteutsch‹ würden unsere Antisemiten sagen? Haben nicht Hunderttausende von Deutschen die heimische Erde verlassen, um an der anderen Seite des Ozeans das Glück zu versuchen? Und gerade unter diesen Ausgewanderten sind beträchtliche Prozente Oberdeutscher , also« – hier greift Steiner ein Schlagwort der Antisemiten auf – »unverfälschter Germanen.«74 Würden diese Hunderttausende ein Glaubensbekenntnis ablegen, dann könne es nur lauten: »Ubi bene, ibi patria«. Den Deutschnationalen und Antisemiten, die ihre Ressentiments auch in der »Staatsbürger-Zeitung« artikulieren, hält Steiner entgegen, gerade sie stimmten doch ihr Klagelied darüber an, daß »viele im Ausland lebende Deutsche so bald ihr Deutschtum« verleugneten. »Ja, dieses nationale Untertauchen soll sogar zu den Kennzeichen des deutschen ›Michels‹ gehören. Also hüben und drüben ›Beweglichkeit und Internationalität‹, nicht nur als Spezifikum des Judentums.«75
In einer weiteren Volte wendet sich Steiner gegen die Behauptung der Rassisten, Patriotismus und Pietät gegenüber dem Vaterland sei eine Frage der Rasse. Danach kehrt er zu Paulsen zurück und brandmarkt den hilflosen Versuch, ihn zum »wissenschaftlichen Ehrenretter der Antisemiten« zu erheben.76 Mit Genugtuung verweist er darauf, daß Paulsen von der besonderen Begabung des »›israelitischen Volkes‹« spreche, die in dem Ernst und der Tiefe liege, mit denen es die moralischen und religiösen Dinge erfasse. Er kommentiert: »Was das Judentum an ›Ernst und Tiefe‹ hat, ist wirklich nicht so spezifisch jüdisch eingeengt, wie uns die Antisemiten gern glauben machen wollen.«77
Schließlich führt er eine Bemerkung Paulsens über die Entwicklung der Gottes- und Weltvorstellung der Juden an, der als Momente dieser Entwicklung die »Zentralisierung des Kults durch das Königtum und Priestertum, die Moralisierung, Denaturierung und Denationalisierung des Gottesbegriffs« nennt. Unter Denaturierung ist Vergeistigung zu verstehen: die Abwendung von der Naturverehrung orientalischer Astralreligionen. Steiner sieht in den von Paulsen aufgezählten Merkmalen der jüdischen Religion Momente, die sie zur Assimilation befähigten: »Die jüdische Religion hat all die Momente, die assimilationsfähig sind, die speziell dem Christentum die Hand reichen: das sind die Momente der Denaturierung und Denationalisierung.«78
Gegen den »verschämten Antisemitismus«
Ende November 1901 setzt Steiner seine Betrachtungen zu Paulsen fort und zeigt auf, daß dieser zwar keinen plumpen Antisemitismus vertrete, daß es aber wohl in seinem System der Ethik … eine Passage gebe, in der er sich in unzulässiger Weise vor antisemitischen Instinkten verneige. Der Aufsatz trägt den Titel Verschämter Antisemitismus. Er beginnt mit folgenden Sätzen:
»Der Antisemitismus verfügt nicht gerade über ein großes Besitztum an Gedanken, nicht einmal über ein solches an geistreichen Phrasen und Schlagwörtern. Man muß immer wieder dieselben abgestandenen Plattheiten hören, wenn die Bekenner dieser ›Lebensauffassung‹ den dumpfen Empfindungen ihrer Brust Ausdruck geben.«79 Steiner verweist auf den Mathematiker und Physiker Eugen Dühring, der zwar kein schlechter Naturwissenschaftler sei, der aber in seinem Antisemitismus platt sei »wie ein kleiner antisemitischer Agitator«.80 Steiner macht sich über die stupiden Antisemiten lustig, die stets nach Paradeschriftstellern und Autoritäten suchten, auf die sie sich berufen könnten. »Der und jener hat nun auch das oder jenes abfällige Wort über die Juden gesagt; das ist etwas stets Wiederkehrendes in den Veröffentlichungen der Antisemiten.«81
So hätten »diese Leute« auch im System der Ethik … »einige der alten Glanzphrasen des Antisemitismus« aufgespürt. Und, so Steiner, der vierte Band enthalte in seinem ersten Kapitel Sätze, die »ein antisemitischer Agitator unter Bierphilistern eines kleinen Städtchens auch gesagt haben oder der Winkelredakteur eines antisemitischen Blättchens geschrieben haben könnte«, allerdings »weniger elegant«.82
Steiner zitiert die betreffende Passage, um sie anschließend zu analysieren. Paulsen spricht davon, die Juden seien in der liberalen Ära seit 1848 als Staatsbürger aufgenommen worden, aber die politische Konstellation habe sich 1866 verändert und zugleich sei die »Anschauung von der Stellung der Juden zu den Nationalstaaten in weiten Kreisen der Bevölkerung eine andere geworden. Wenn ich mich nicht täusche«, so Paulsen, »hängt die den Juden abgeneigte Stimmung nicht zum wenigsten von der instinktiven Empfindung ab, daß der Jude seine Zukunft, die Zukunft seiner Familie nicht ebenso ausschließlich mit der Zukunft des Staates oder Volkes, unter dem er lebt, verknüpft sieht, als es die anderen Staatsbürger tun …«83
Steiner äußert zunächst sein Erstaunen darüber, daß »ein Philosoph Dinge dieser Art in einem ernsten Buch zu schreiben« wage. Denn die Sätze zeugten von allem anderen als von widerspruchsloser Logik. Der Philosoph habe die Entwicklungen der Wirklichkeit zu erklären und nicht bloß zu beschreiben. Er weise auf die freiheitlichen Anschauungen von 1848 hin, die die Überzeugung von der Gleichheit aller Menschen und damit auch der Juden vor dem Gesetz mit sich brachten und weise auf eine spätere Zeit, die in vielen Kreisen eine den »Juden abgeneigte Stimmung erzeugt habe und führe diesen Wandel auf nichts als auf »instinktive Empfindungen« zurück. Das sei eines Philosophen unwürdig. Es sei unstatthaft, so Steiner, sich in einer philosophischen Darstellung der Sittenlehre auf »instinktive Empfindungen« zu berufen, deren Grundlage oder Berechtigung man nicht untersuche. Paulsens Bemerkungen über die »Abnormität« des »Staatsbürgertums« der Juden [Paulsen], seien völlig gegenstandslos. Allerdings lasse sich aus der Analyse des Paulsschen Denkens und der Entwicklung des deutschen Geisteslebens der letzten Jahrzehnte ein interessantes Kapitel zur »Psychologie des Antisemitismus« gewinnen.84
»Psychologie des Antisemitismus«: Korrumpierung des logischen Denkens durch dumpfe Instinkte
»Diejenigen dumpfen Empfindungen«, so beginnt Steiner seine Analyse der Psychologie des Antisemitismus, »aus denen neben allerlei anderem auch der Antisemitismus entspringt, haben das Eigentümliche, daß sie alle Geradheit und Einfachheit des Urteils untergraben. An keiner sozialen Erscheinung hat man das in neuerer Zeit vielleicht besser beobachten können als am Antisemitismus selbst«.85
Im Folgenden schildert Steiner die kulturell-politische Entwicklung in seiner Wiener Zeit und das politisch-demagogische Wirken des antisemitischen Propagandisten der Alldeutschen, Georg Ritter von Schönerers, in Österreich. Er beschreibt die Situation vor dem Wirken Schönerers und die Lage, die durch die antisemitische Propaganda Schönerers eintrat. Vor Schönerers Wirken sei es möglich gewesen, sich mit jungen Menschen, die unter dem Einfluß liberaler Gesinnungen herangewachsen seien, zu unterhalten. In diesen habe »echter, von der Vernunft getragener Freiheitssinn« gelebt.86 Es habe zwar auch antisemitische Instinkte gegeben. Auch im vornehmeren Bürgertum hätten diese nicht gefehlt. Aber man sei überall auf dem Weg gewesen, diese Instinkte »als unberechtigt anzusehen und zu überwinden«.87 Man habe solche Instinkte als Überbleibsel einer weniger fortgeschrittenen Zeit betrachtet. »Jedenfalls war man sich klar darüber, daß alles, was man mit dem Anspruch auf öffentliche Geltung sagte, nicht auf solchem Gesinnungsboden erwachsen sein dürfe wie der Antisemitismus, dessen sich damals ein wahrhaft auf Bildung Anspruchmachender wirklich geschämt hätte.«88
Nun habe Schönerer auf die Studentenschaft und »auf geistig nicht sehr hochstehende Bevölkerungsklassen« mit seinen antisemitischen Haßtiraden eingewirkt. Und durch dessen Wirksamkeit sei ein Wandel eingetreten. Leute, die früher von »wahrer Menschenwürde«, »Humanität« und den »freiheitlichen Errungenschaften des Zeitalters« faselten, hätten nunmehr begonnen, von Empfindungen und Antipathien zu reden, die in diametralem Gegensatz zu all ihren früheren Deklamationen gestanden seien, und derer sie sich früher geschämt hätten. Diese Leute hätten »die strenge Logik […] aus der Reihe der Mächte gestrichen, die den Menschen im Innern beherrschen.«89 Die Leute hätten ihren früheren Überzeugungen widersprochen, dies aber zugleich verleugnet, sie hätten behauptet, weiterhin liberal gesinnt zu sein, hätten aber ihre liberalen Grundsätze nicht mehr auf die Juden anwenden wollen, vielmehr hätten sie ihre Inkonsequenz mit Phrasen verschleiert, »die jedem gesunden Denken ins Gesicht schlugen«.
Steiner sieht im Antisemitismus erneut das Symptom einer geistigen Zerrüttung und kommentiert diese Schizoidität durch den Satz: »Durch den Antisemitismus ist die Logik entthront worden.«90 Täglich habe er, Steiner, in Wien damals an den Antisemiten die Korrumpierung des logischen Denkens durch dumpfe Gefühle studieren können. Dadurch sei er auch gut vorbereitet, den Fall Paulsen zu beurteilen. Auch Paulsen widerspreche sich selbst. Denn er könne nicht einerseits die »Wohlfahrt« oder die »vollkommenste Lebensgestaltung des Menschheit« zum höchsten sittlichen Zweck erheben und gleichzeitig sich vor instinktiven Abneigungen gegen die Juden beugen, die sich in der politischen Agitation geltend machten. Es sei vielmehr die Pflicht eines konsequenten Denkers (jedes konsequenten Menschen) »die Läuterung einer solchen Abneigung durch die Vernunft energisch zu fordern«.91 Dem Liberalismus sei es mit dem Glauben an die »vollkommenste Lebensgestaltung der Menschheit als sittlichem Ideal Ernst gewesen, dieser Ernst lasse aber das Heraufkommen und die Herrschaft antisemitischer Instinkte nicht zu. Der Liberalismus mache es unmöglich, »die Menschheit in einer Weise willkürlich zu begrenzen.«92
Zionismus als Folge des Antisemitismus
Im dritten Teil seines Aufsatzes beschreibt Steiner zwei im 19. Jahrhundert miteinander konkurrierende geistige Strömungen: die Aufklärung, die eine sittliche Forderung »von unvergleichlicher Höhe« im Ideal formuliert habe, von allen zufälligen Zusammenhängen abzusehen, in die der Mensch gestellt sei und in allem, in Familie, Gesellschaft, Volk usw. den »reinen Menschen« zur Geltung zu bringen.
Dieser aufklärerischen Strömung habe der Historismus entgegengewirkt, der die Wurzeln des Menschen in der geschichtlichen Entwicklung suchte. Dieser habe beachtliche positive Leistungen vollbracht, aber auch Einseitigkeiten. So könne die exzessive Berücksichtigung der Vergangenheit den unbefangenen Blick auf die Gegenwart verstellen. Steiner kommt erneut auf den Antisemitismus zu sprechen und meint: »Wer offene Augen für die Gegenwart hat, der weiß, daß es unrichtig ist, wenn man meint, es sei die Zusammengehörigkeit der Juden untereinander größer, als ihre Zusammengehörigkeit mit den modernen Kulturbestrebungen. Wenn es in den letzten Jahren auch so ausgesehen hat, so hat dazu der Antisemitismus ein Wesentliches beigetragen. Wer, wie ich, mit Schaudern gesehen hat, was der Antisemitismus in den Gemütern edler Juden angerichtet hat, der mußte zu dieser Überzeugung kommen.«93
Hier finden wir also explizit eine Widerlegung der von Iwersens Steiner unterstellten Ansicht, die Juden seien am Antisemitismus schuld und verhinderten eine Verständigung durch ihren Zionismus. Der Zionismus ist für Steiner eine Folge des Antisemitismus und nicht umgekehrt. Diese Auffassung brachte er auch bereits in seinem Aufsatz über die Sehnsucht der Juden nach Palästina von 1897 zum Ausdruck.
Antisemitismus als »Kulturkrankheit« und »Hohn auf allen Idealismus«
Im vierten Teil seines Aufsatzes führt Steiner die Vorherrschaft dumpfer Instinkte in der politischen Auseinandersetzung und die Überwältigung des Liberalismus durch antisemitische Affekte auf einen mangelnden Glauben an die Ideen zurück. Er erweitert seine Diagnose des Antisemitismus und bezeichnet ihn nicht nur als Symptom eines individuellen geistigen Defekts, als geistige Zerrüttung, er sieht in ihm auch ein Symptom einer kollektiven Erkrankung, einer Kulturkrankheit.
»Zweifellos«, so Steiner, »ist, daß unsere Zeit das Verständnis für die Mission eines wahren Idealismus nicht hat. Goethe hat einmal geäußert, wer die Bedeutung einer Idee wirklich durchschaut hat, der lasse sich den Glauben an sie durch keinen scheinbaren Widerspruch mit der Erfahrung rauben.«94 Schließlich beweise die »Geschichte des Geistesfortschritts« selbst zur Genüge »die Schlagkraft der Ideen«. Im sittlichen Leben verhalte es sich ebenso, wie im Reich der Wissenschaften. Paulsen gestehe dies auch theoretisch zu, weiche aber in der Praxis von seiner Überzeugung ab, »wenn er den Antisemitismus als eine teilweise berechtigte Erscheinung« hinstelle. Wer an die Ideen glaube, müsse an seinem Glauben auch festhalten, wenn die geschichtliche Entwicklung diesen Ideen zuwiderlaufe. Er müsse sich sagen: »mögen die Dinge einstweilen so liegen, daß die Wirklichkeit den absolut liberalen Ideen scheinbar widerspricht; diese Ideen sind von solchem Widerspruch unabhängig. Der Antisemitismus ist ein Hohn auf allen Glauben an die Ideen Er spricht vor allem der Idee Hohn, daß die Menschheit höher steht als jede Form (Stamm, Rasse, Volk), in der sich die Menschheit auslebt.«95
Wenn selbst die berufenen Anwälte des Idealismus, des Glaubens an die Ideen, die Philosophen, dieses Vertrauen verlören, dann sei dies höchst bedenklich. Paulsen schwinge sich nicht dazu auf, »an der geschichtlichen Entwicklung der Volksinstinkte Kritik zu üben«, was er doch hätte tun müssen, wäre er wirklich von seinen liberalen Ideen überzeugt gewesen. Dies zeige sich nicht zuletzt an der unbestimmten Art, in der er über die Antipathien gegenüber den Juden spreche. Unklarheit und Standpunktlosigkeit sei aber in dieser Angelegenheit von Übel. »Nirgends ist es mehr nötig als auf diesem Gebiete, daß man seinen Glauben an die Idee durch eine entschiedene, unzweideutige Stellungnahme dokumentiere.«96
Steiner fordert klare, unzweideutige Stellungnahmen gegen den Antisemitismus. »Der Philosoph,« fährt Steiner fort, »sollte es mit allem, was die Antisemiten von den Juden behaupten, so halten wie der Mineraloge, der auch dann behaupten wird, Salz bildet würfelförmige Kristalle, wenn ihm einer einen Salzkristall zeigt, dem durch irgendwelche Umstände die Ecken abgeschlagen sind.«97
Antisemitismus als »Gefahr für die Juden und die Nichtjuden«
Damit nicht genug. »Der Antisemitismus ist nicht allein für die Juden eine Gefahr, er ist es auch für die Nichtjuden. Er geht aus einer Gesinnung hervor, der es mit dem gesunden, geraden Urteil nicht Ernst ist. Er befördert eine solche Gesinnung. Und wer philosophisch denkt, sollte dem nicht ruhig zusehen. Der Glaube an die Ideen wird erst dann wieder zu seiner Geltung kommen, wenn wir den ihm entgegengesetzten Unglauben auf allen Gebieten so energisch als möglich bekämpfen.«98
Der Antisemitismus ist Symptom einer geistigen Zerrüttung, einer sittlichen Verkommenheit, er ist Symptom einer Kulturkrankheit, er gefährdet nicht nur die Juden, sondern alle Menschen. Deswegen ist es die Pflicht aller Menschen, diesen so energisch wie möglich zu bekämpfen. Steiner war also ein Antisemit?
Steiners Aufsatz endet mit einem Appell und einem Aufruf zum Widerstand gegen den Kulturverfall, dessen Symptom für ihn der Antisemitismus ist. »Jede unbestimmte Haltung ist vom Übel. Die Antisemiten werden die Aussprüche einer jeden Persönlichkeit als Wasser auf ihre Mühle benutzen, wenn diese Persönlichkeit auch nur durch eine unbestimmte Äußerung dazu Veranlassung gibt … Mit dem Antisemitismus als Kulturkrankheit liegt heute die Sache so, daß man bei niemandem, der in öffentlichen Dingen mitredet, in Zweifel sein sollte, wie man seine Aussprüche über denselben auslegen kann.«99
Antisemitismus als »Absurdität«
Betrachten wir die beiden letzten Aufsätze der hier behandelten Serie. Am 11. Dezember 1901 erschien unter dem Titel Zweierlei Maß100 ein Artikel Steiners, in dem er sich über Victor Hehn und dessen Goethebuch ausließ. Darin geht Steiner auf Hehns Urteil über Heine ein, der diesen als »jüdischen Nachäffer« bezeichnete. Steiner wirft im Anschluß an abfälligen Urteile Hehns über Heine die Frage auf: »wie kommen unter die mancherlei gesunden, geistvollen Ausführungen, die Hehn in seinen ›Gedanken über Goethe‹ vorbringt, solche Absurditäten? Man kann dafür keinen anderen Grund finden als den, daß Hehn seine gesunde Urteilskraft sofort verlor, wenn er auf den ›Juden‹ Heine stieß. Er hatte ein allgemeines Urteil, das natürlich besser Vorurteil heißen muß, über den ›Juden‹ und das machte ihm unmöglich, der Einzelpersönlichkeit Heine gegenüber noch besonders eine Prüfung anzustellen.« Auch hier wiederum ist Antisemitismus für Steiner Krankheitssymptom und ein antisemitisches Urteil eine Absurdität.
Gegen »Rassenantipathien« und Chamberlains Antisemitismus
Am 25. Dezember 1901 schließlich erschien im Mitteilungsblatt des Vereins zur Abwehr des Antisemitismus der Artikel Idealismus gegen Antisemitismus aus Steiners Feder. Es handelt sich um die Besprechung zweier Bücher von Lothar von Kunowski.
Kunowski läßt sich unter anderem über das Thema »Kunst und Volk« aus, was Steiner Anlaß gibt, sich über antisemitische Vereinnahmungsversuche auszulassen. »Es könnte scheinen, als ob die Art, wie Kunowski sich über ›Kunst und Volk‹ ausspricht, von denen für ihre Zwecke auszunützen sei, welche unter diesem Schlagworte allerlei Volks- und Rassenantipathien verbreiten möchten. Und der vor einigen Monaten erschienene erste Band des Werkes ist auch in diesem Sinne – ganz ungerechtfertigterweise – ausgenützt worden.«101 Nun habe aber Kunowski im zweiten Band seines Werkes solchen Versuchen der Vereinnahmung mit nichts zu wünschen übrig lassender Deutlichkeit einen Riegel vorgeschoben.
Kunowski, so Steiner, spreche sich an vielen Stellen seines Werkes klar und unzweideutig über die »Rassenfrage« aus. Was er sage, zeige, wie ein Idealist über diese »Frage« denken müsse. (Steiner setzt diesen Ausdruck stets in Anführungszeichen). Interessant ist diese Passage auch deshalb, weil Steiner sich zustimmend der Verurteilung Chamberlains als eines der Vordenker des Antisemitismus anschließt. »Namentlich«, fährt Steiner fort, »weist Kunowski allen Antisemitismus weit von sich. Scharf tadelt er den Engländer Chamberlain wegen seiner Ausfälle gegen die ›Semiten‹ in dem Buche Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts. Und von dem gleichen Gesichtspunkte aus sind Urteile gefällt, die es den Antisemiten unmöglich machen, sich auf Kunowski zu berufen, den sie sonst gewiß anführen möchten, wenn sie, in ihrem Sinne davon fabeln, daß die starken Wurzeln der Bildung und Kultur im ›Volkstum‹ wurzeln. Aber Kunowski faßt den Begriff ›Volk‹ durchaus so auf, daß jeder Antisemitismus mit seiner Auffassung unvereinbar ist.«102
Etwas später der Satz: »Kunowski will keinen Rassenkampf; er will das Bedeutsame aller Rassen in die Kultur der Zukunft hinüberführen.«103 Dies also die Art, wie nach Steiners Auffassung ein Idealist über die sogenannte Rassenfrage zu denken habe.
Steiner sieht in seiner abschließenden Würdigung in Kunowskis Buch ein bedeutendes Zeitsymptom. In ihm spreche sich das Bedürfnis nach einem neuen Idealismus aus. »Wir wollen wieder einen Idealismus,« so Steiner. »Keinen verschwommenen, den nur die Phantastik erzeugt, aber einen solchen, der auf der Erkenntnis und Bildung beruht. Kunowski macht sich zum Wortführer eines solchen. Es ist bezeichnend, daß er dadurch wie von selbst zum Gegner des erkenntnis- und bildungsfeindlichen Antisemitismus, des engherzigen ›Germanentums‹ wird.«104
Anmerkungen:
1 ) Mein Lebensgang, S. 144-145.
2 ) Vgl. dazu: Beiträge zur Rudolf Steiner Gesamtausgabe, H. 112/113, Dornach 1994.
3 ) Rudolf Steiner: Gesammelte Aufsätze zur Literatur, Dornach 1971, S.152/3, GA 32.
4 ) Michael A. Meyer: Jüdisches Selbstverständnis, in: Michael Brenner, Stefi Jersch-Wenzel, Michael A. Meyer: Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit, München 2000, Band 2. S.152.
5 ) Ebenda, S. 133-134.
6 ) GA 60, Dornach 1959, Vortrag vom 9. März 1911, S. 410 f.
7 ) Ebenda, S. 426.
8 ) Ebenda, S. 426.
9 ) Ebenda, S. 434.
10 ) GA 353, Vortrag vom 8. Mai 1924, S. 201, 202, 205.
11 ) Siehe dazu ausführlich: David Schweizer: Der kosmische Christus im Judentum, in: Info3, Kontemporär, 6/2000, S. 12 f.
12 ) Steven E. Aschheim: Nietzsche und die Deutschen, Stuttgart 1996, S. 105.
13 ) Diese und die folgenden Stellen: Briefe I, Dornach 1985, S. 21.
14 ) Gemeint sind das 1881 in Berlin erschienene Buch Eugen Dührings Die Judenfrage als Rassen-, Sitten und Kulturfrage sowie dessen 1881 in Karlsruhe erschienene Publikation Die Übeschätzung Lessings und dessen Anwaltschaft für die Juden.
15 ) Zitiert nach: Bronder, Bevor Hitler kam, S. 380.
16 ) Briefe I, S. 44-45.
17 ) Ebenda, S. 148.
18 ) Ebenda, S. 148.
19 ) Ebenda, S. 152.
20 ) Ebenda, S. 152/53.
21 ) Ebenda, S. 153.
22 ) GA 32, Dornach 1971, S. 148.
23) Die Philosophie in der Gegenwart und ihre Aussichten für die Zukunft, Literarischer Merkur 1892, XII. Jg., Nr. 1 und 2. Veröffentlicht in : GA 30, Methodische Grundlagen der Anthroposophie, Dornach 1961, S. 308-320.
24) Ebenda, S. 315.
25) Ebenda, S. 317.
26+) Ebenda, S. 318.
27) Ebenda, S. 318-319.
28) Veröffentlicht in GA 31, Gesammelte Aufsätze zur Kultur- und Zeitgeschichte, Dornach 1989, S. 217-221.
29) Vgl. Lindenberg. Chronik, S. 149 u. S. 183.
30) Ebenda, S. 218.
31) GA 28, S. 189-190.
32 ) Babylon, 16-17, 1996, S. 153 f. Zitiert als Iw mit Seitenzahl.
33 ) Iw, 153.
34 ) Iw, 153.
35 ) GA 31, S. 197.
36 ) GA 31, S. 197.
37 ) GA 31, S. 197.
38 ) GA 31, S. 201.
39 ) GA 31, S. 197.
40 ) GA 31, S. 198.
41 ) GA 31, S. 198.
42 ) GA 31, S. 198-199.
43 ) GA 31, S. 199.
44 ) GA 31, S. 199.
45 ) Iw, 153.
46 ) Zitiert nach dem Doppelheft 16/17 der Zeitschrift Babylon, in der Iwersens Aufsatz erschien, S. 177.
47 ) Iw, 153-154.
48 ) Walter Laqueur, Der Weg zum Staat Israel. Geschichte des Zionismus, Wien 1972, S. 405.
49 ) Ebenda, S. 406.
50 ) Ebenda, S. 406.
51 ) Ebenda, S. 406-407.
52 ) Zitiert nach Babylon, 16-17, 1996, S. 178.
53 ) Iw, 158.
54 ) Rudolf Steiner, Gesammelte Aufsätze zur Kultur- und Zeitgeschichte 1897-1901, GA 31, Dornach 1989, S. 378-79
55 ) Ebenda, S. 379.
56 ) Ebenda, S. 380.
57 ) Iw, 154.
58 ) GA 31, S. 383.
59 ) Ebenda, S. 384-385.
60 ) Ebenda, S. 386.
61 ) Nachweise in Puschner et al., Handbuch der Völkischen Bewegung, München 1999, S. 885.
62 ) GA 31, Die »Post« als Anwalt des Germanentums, S. 387-388, zitiert nach S. 388.
63 ) Ebenda, S. 388.
64 ) GA 31, S. 388-393., Zitat aus S. 389-390.
65 ) Ebenda, S. 391.
66 ) GA 31, S. 393-398.
67 ) Ebenda, S. 393, 394.
68 ) Ebenda, S. 394.
69 ) Ebenda, S. 394.
70 ) Ebenda, S. 394.
71 ) Ebenda, S. 394.
72 ) Ebenda, S. 394-395.
73 ) Ebenda, S. 395.
74 ) Ebenda, S. 395.
75 ) Ebenda, S. 396.
76 ) Ebenda, S. 397.
77 ) Ebenda, S. 397.
78 ) Ebenda, S. 398.
79 ) Ebenda, S. 398-99.
80 ) GA 31, S. 398-414.
81 ) Ebenda, S. 399.
82 ) Ebenda, S. 399.
83 ) Ebenda, S. 400.
84 ) Ebenda, S. 402.
85 ) Ebenda, S. 403.
86 ) Ebenda, S. 403.
87 ) Ebenda, S. 403.
88 ) Ebenda, S. 404.
89 ) Ebenda, S. 404.
90 ) Ebenda, S. 403-404
91 ) Ebenda, S. 406.
92 ) Ebenda, S. 406.
93 ) Ebenda, S. 409.
94 ) Ebenda, S. 410.
95 ) Ebenda, S. 412.
96 ) Ebenda, S. 412.
97 ) Ebenda, S. 413.
98 ) Ebenda, S. 412-413
99 ) Ebenda, S. 414.
100 ) GA 31, S. 414-417.
101 ) Ebenda, S. 418.
102 ) Ebenda, S. 419.
103 ) Ebenda, S. 419.
104 ) Ebenda, S. 420.
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