Die Trinität im Werk Rudolf Steiners – ein Aphorismus

Zuletzt aktualisiert am 23. Mai 2019.

Trinität. Jeronimo Cosida, 1570.

Trinität. Jeronimo Cosida, 1570.

Der Trinität kommt im Werk Rudolf Steiners eine zentrale Bedeutung zu. Eine einigermaßen angemessene Behandlung der Rolle, welche die Trinität – oder allgemeiner – das Trinitarische in diesem Werk spielt, kann sich nicht darauf beschränken, lediglich die expliziten, an der Oberfläche des überlieferten Textkorpus liegenden Behandlungen der Trinität zu berücksichtigen. Sie muss vielmehr die gedanklichen Tiefenschichten des Werkes, dieses sich in der Lebenszeit Rudolf Steiners entfaltenden Ideenorganismus, berücksichtigen.

Eine empathische Hermeneutik – die einzige, die ihren Namen verdient –, die sich um Tiefenanalyse bemüht, wird sehr schnell entdecken, dass die Trinität oder das Trinitarische bei Steiner nicht nur dort eine beträchtliche Rolle spielt, wo er sich mit den Traditionsbeständen der abendländischen Philosophie, der Religions- oder Theologiegeschichte auseinandersetzt, sondern dass vielmehr sein gesamtes Werk von einer trinitarischen Struktur durchdrungen ist.

Beginnt der Hermeneutiker erst einmal nach dem Trinitarischen im Werk Steiners zu suchen, dann tritt es ihm überall als strukturbildendes Prinzip, als gedankengenerierende Kraft, als sich selbst offenbarende Urstruktur der Gedankengestaltung entgegen. Trinitarisches ist im Lebenswerk Steiners omnipräsent.

Das Lebenswerk selbst gliedert sich trinitarisch: Der philosophischen Grundlagenarbeit vor der Jahrhundertwende steht die mystische Vertiefung der Gedankenerfahrung in den beiden ersten Jahrsiebten des 20. Jahrhunderts zur Seite, für welche die Mysterien des Christentums aufgehen, die sich während und nach dem Ersten Weltkrieg um die handlungsorientierenden Praxisentwürfe für verschiedene Lebensbereiche erweitert.

Anthroposophie als Gedankenbild des Weltzusammenhangs, wie es von Steiner konzipiert wurde, bewegt sich, anthropologisch gesprochen, vor der Jahrhundertwende vornehmlich im Leben des Denkens, ergreift nach der Jahrhundertwende die Gefühlswelt ihres Schöpfers und dringt in der dritten Phase ihrer Entwicklung bis in dessen Willenstiefen vor. Man könnte die Entwicklung der Anthroposophie im Lebenswerk Rudolf Steiners daher abstrakt als eine sich inkarnierende Selbstoffenbarung einer ideellen Struktur bezeichnen, wobei diese Selbstoffenbarung nur durch die Tätigkeit ihres Hervorbringers zu Tage treten konnte. Allerdings wird ein genauerer Blick sehr bald erkennen, dass es sich bei dieser Anthroposophie nicht bloß um eine »ideelle Struktur« handelt.

Verfällt man als aufgeklärter Hermeneut nicht der Suggestion eines wirklichkeitsblinden Verstandes, wird man nicht umhin können, dieser Struktur eine vorgedankliche Realitätsform zuzubilligen, die zwar vom Denken ergriffen wird, die aber zugleich im Denken lediglich eine Form ihres Erscheinens annimmt. Die geistigen Tiefenkräfte, die sich in der Konfiguration des trinitarisch strukturierten Denkens manifestieren, sind die schöpferischen Quellkräfte der Wirklichkeit, aus der der denkende Mensch, aus der der ganze Kosmos hervorgeht. Die Welt ist in ihren Tiefen trinitarisch strukturiert, weil der schöpferische geistige Quellgrund, aus dem sie entspringt, die göttliche Trinität ist.

Diese Einsicht, von der bereits das philosophische Denken Steiners Zeugnis ablegt, wird in der anthroposophischen Wiedergeburt des Mythos um die von der Aufklärung ausgegrenzten Wirklichkeitsschichten bereichert, die nicht nur zur Realität des Geistes zurückführt, sondern auch ein dem aufgeklärten Bewusstsein angemessenes Verständnis der traditionellen religiösen Wahrheiten erschließt.

Die trinitarische Urformel der Welt: das Hervorgehen des Kosmos aus dem väterlichen Weltengrund, sein Vergehen und seine Auferstehung in Christus und seine menschenförmige Restitution aus dem Heiligen Geist, ist nicht nur eine uralt-christliche Wahrheit, sondern auch der tiefste Gehalt der anthroposophischen Welterkenntnis.

Während das philosophische Denken Steiners um die wirklichkeitskonstitutive Bedeutung des menschlichen Erkennens, um die Rolle, die das Ich dabei spielt und um die Grundlegung der Ethik durch die individuelle moralische Phantasie kreist, wird für die Phase der mystischen Vertiefung Christus zum Zentrum des kosmischen Geschehens und zum Mittelpunkt der Geschichte, schließlich umkreisen die lebenspraktischen Entwürfe der dritten Phase der Entfaltung von Anthroposophie die Menschwerdung des Kosmos durch das vom Christusgeist durchdrungene menschliche Handeln, das vom Hl. Geist inspiriert wird, der das menschliche Leben erneuert. Christus, der Sender des Geistes, so zeigt sich nun auch in der Sphäre der Lebenspraxis, ist das Geheimnis der menschlichen Freiheit und der menschlichen Liebe. Ohne Christus, ohne die mystische Einung der Menschheit im gegenwärtigen Christus, dem realen Archetypus des freien, liebestätigen Menschen, keine Zukunft der Menschheit auf Erden.

Steiner, der in der Zeit vor der Jahrhundertwende in die abendländischen Gedankendiskurse eintaucht, formt aus diesen einen philosophischen Entwurf, der Platz für das verdrängte Göttliche in einer säkularisierten Welt schafft, bemüht sich für die empirische Durchdringung des wirklichkeitskonstitutiven Geistes durch die Entwicklung der mythischen Symbolsprache der Anthroposophie nach der Jahrhundertwende um eine ihr angemessene Ausdrucksform, und beginnt in seiner letzten Lebensphase, eine Bewegung zu begründen, die die Welt aus Erkenntnis verändern soll, die den Ausblick auf die von Paulus verheißene Apokatastasis, die Wiederherstellung aller Dinge in Gott, durch die entscheidende Mitwirkung des Menschen eröffnet.

Die trinitarische Urstruktur, die im Denken und im Werk Steiners omnipräsent ist, könnte bis in die philologische, semantische und gedankenkompositorische Gestalt seiner einzelnen Schriften nachgewiesen werden.

Wenigstens aphoristisch seien hier einige Aspekte der impliziten trinitarischen Struktur des Lebenswerks beleuchtet. Bereits in seinen philosophischen Arbeiten scheint das Trinitarische auf: seine »Einleitungen zu Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften« und die »Grundlinien einer Erkenntnistheorie« zeichnen die der Natur eingeborene Schöpfungsweisheit nach und eröffnen einen Ausblick auf das in ihr aufgehende gott-menschliche Schöpfungswerk.

Der Weltengrund hat sich in die Welt vollständig ausgegossen. Die höchste Form, in der er in der Schöpfung in Erscheinung tritt, ist das Denken und mit ihm die menschliche Persönlichkeit. Hat der Weltengrund Ziele, sind sie identisch mit den Zielen, die sich der Mensch setzt. Der Mensch ist das höchste Geschöpf der Gott-Natur und er ist berufen, ihr Werk als erkennender und handelnder Mensch zu vollenden. Die Schöpfung wäre nicht abgeschlossen ohne das menschliche Erkennen. Der Mensch ist das Bewusstsein der Welt, in dem sie zu sich selbst kommt. Er ist aber auch, als Träger des individualisierten schöpferischen Seinsgrundes, der Ursprungsort einer höheren Form der Welt, die aus ihm entsteht und in Kunst und Wissenschaft sowie in seinem sittlichen Handeln Gestalt annimmt.

Wenn die »Grundlinien einer Erkenntnistheorie« von 1886 die Erfahrung und die »höhere Erfahrung in der Erfahrung« unterscheiden, dann legen sie der erkenntnistheoretischen Weltinterpretation jene Dualität zugrunde, die Steiner später in tiefere Schichten des Seins und der Geschichte verfolgen wird.

Die Gesamtheit dessen, was unserer Erfahrung gegeben ist, ist aus dem väterlichen Weltengrund hervorgegangen bzw. geht aus dem väterlichen Weltengrund hervor. Er hat sich vollständig in die Welt ausgegossen bzw. gießt sich in einer creatio continua unablässig in sie aus. In unterschiedlichen Formen strömt das sich ausgießende göttliche Leben in den Gestalten der verschiedenen Naturreiche fort. Aus der Fülle dieses Ausgegossenen aber erhebt sich ein Tätiges, das sich selbst hervorbringt: das denkende Bewusstsein, das menschliche Ich, das sich zum gegebenen Weltinhalt zurückbeugt und ihn erkennend mit der seinem Denken einwohnenden Liebe durchdringt.

In der Sprache der Philosophie spricht Steiner, wenn er über die höhere Erfahrung in der Erfahrung redet, von jener Selbsterweckung, die ein Ausdruck der Gegenwart des Hl. Geistes in der Seele ist. Das tätige Hervorbringen des geistigen Weltinhaltes durch das Erkennen lässt das Gegebene in einer höheren Form erscheinen: beleuchtet vom Licht des erkennenden Menschengeistes erscheint die gegebene Welt logosförmig. »In der Idee erkennen wir dasjenige, woraus wir alles andere herleiten müssen: das Prinzip der Dinge. Was die Philosophen das Absolute, das ewige Sein, den Weltengrund, was die Religionen Gott nennen, das nennen wir, auf Grund unserer erkenntnistheoretischen Erörterungen: die Idee. Alles, was in der Welt nicht unmittelbar als Idee erscheint, wird zuletzt doch als aus ihr hervorgehend erkannt«, schreibt Steiner 1887.[1]

Das Gegebene ist aus dem Vater durch den Logos (die Idee der Ideen) hervorgegangen und die ihm eingeprägte Logosförmigkeit kann vom menschlichen Erkennen ergriffen werden. »In dem ›Logos‹«, so Steiner gegen Ende seines Lebens in seiner Autobiografie, »lebt die Menschenseele; wie lebt die Außenwelt in diesem Logos: das ist schon die Grundfrage meiner ›Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung‹«[2]

Das tätig hervorbringende Organ des Geistes, das in der Seele des Menschen erwacht, ist aber nicht nur der Quell der Erkenntnis, sondern auch der Quell der menschlichen Moralität. Der Geist des Menschen, der sich über das bloß Gegebene erhebt, indem er die Logosförmigkeit der Welt erkennt, bringt aus sich selbst auch die Welt der moralischen Ideale, der sittlichen Antriebe hervor, die ureigensten Schöpfungen seines Geistes, die Motive seines autonomen Handelns.

Ebenso wie der erkennende Mensch sich in wiedererkennender Liebe in die vestigia dei – die Spuren Gottes in der Schöpfung – versenkt, verbindet er sich in Liebe handelnd mit der Welt und lässt aus seiner Freiheit einen neuen Kosmos hervorgehen, in dem die Natur in menschenförmiger Gestalt, durchsetzt und durchwoben von der individuellen Moralität des Menschen, aufersteht. So führt ihn der Geist im Erkennen durch den Sohn zum Vater und er führt ihn im Handeln ebenfalls durch den Sohn zum Vater.

In »Wahrheit und Wissenschaft« wird die höchste Leistung des Ich in das Erkennen, die Synthese von Wahrnehmung und Begriff, gesetzt, das die Wirklichkeit konstituiert und aus dem der moralische Inhalt der Welt hervorgeht.

Zurückgewiesen wird die Ohnmachtserklärung Kants, die dem menschlichen Erkennen die Wirklichkeit entzog und den Grund legte für die voluntaristischen Nihilismen des 19. und 20. Jahrhunderts. Der Agnostizismus, so Steiner später, ist der Verderber echten Menschentums.

Zurückgewiesen wird aber auch Fichtes Subjektivismus, der zwar das die Wirklichkeit generierende Ich wieder in sein Recht setzte, es aber mit seiner erkenntnisblinden Selbstermächtigung zugleich außerhalb des Wirklichkeitszusammenhangs versetzte.

Die »Philosophie der Freiheit« lässt die Wirklichkeit aus dem Zusammenfluss der beiden Weltkomponenten Wahrnehmung und Begriff hervorgehen, die vom erkennenden Ich tätig in Zusammenhang gebracht werden und verflüssigt zugleich diese Wirklichkeit, indem sie sie an die sich im erkannten Weltzusammenhang entfaltende Individualität bindet. Der Welthorizont wandelt sich mit dem Ich, das sich im Erkennen der Welt in diese einlebt und die Erkenntnis ist ein wirklichkeitschöpferischer Prozess, in dem sich nicht nur die Individualität hervorbringt, sondern auch die Welt.

Die trinitarische Struktur des Erkennens wird als Synthese von Begriff und Wahrnehmung in der Vorstellung aufgewiesen. Aber nicht nur das Erkennen des Menschen ist trinitarisch strukturiert, auch sein Handeln ist es. Hier wirken moralische Intuition und moralische Technik zusammen, um in der situationsgerechten moralischen Phantasie, die sich der flüssigen geschichtlichen und sozialen Wirklichkeit anverwandelt, der Zeit die Freiheitsgestalt der Individualität einzuprägen.

Während der Mensch in seinem Erkennen die ihm vorausgehende Wirklichkeit nachschöpft, bringt er in seinem Handeln eine neue Wirklichkeit hervor, die ohne ihn ebensowenig da wäre, wie die Erkenntnis. Aber in seinem Handeln gestaltet er die Welt, die soziale und geschichtliche Wirklichkeit, aus seinen moralischen Intuitionen, und versöhnt auf diese Weise die natürliche mit der geistigen Ordnung des Kosmos. Der aus Erkenntnis handelnde Mensch selbst ist der Ort der Versöhnung, seine Phantasie ist der Ursprung sozialer Ordnungen und geschichtlicher Tatsachen, in denen sich seine stets weiterschreitende individuelle Kreativität abbildet. Die vollständige Durchdringung der Erscheinungswelt mit der moralischen Intuition ist die Sinnbestimmung menschlichen Handelns. Im so verstandenen moralischen Handeln nimmt die geschichtliche Welt erst eine freiheitsförmige, menschenwürdige Gestalt an.

Steiners philosophisches Grundlagenwerk ist ein Abbild der trinitarischen Urstruktur. In ihm sind bereits die »Kernpunkte der sozialen Frage« angelegt. Seine Goetheschriften sind auf die aus dem Vatergrund hervorgehende Gestalt der Welt hinorientiert, »Wahrheit und Wissenschaft« bildet die Mitte, in der sich sein Denken um Ausgleich bemüht zwischen dem vatergöttlich Gegebenen, das im menschlichen Erkennen verschwindet, um als erkannte Wirklichkeit sohnhaft hervorgebracht wiederzuerstehen und die »Philosophie der Freiheit« wendet sich in ihrem zweiten, ethischen Hauptteil der Umgestaltung der Welt durch das menschliche Handeln zu, das aus der heiligenden und heilenden Kraft der moralischen Intuitionen erfließt: »Leben in der Liebe zum Handeln und Lebenlassen im Verständnisse des fremden Wollens ist die Grundmaxime der freien Menschen.«[3] Aber auch des Erkennens treibende Kraft ist die Liebe, denn sie öffnet das Auge für die individuellen Signaturen der Dinge[4], sie ist, wie Steiner in einem Zusatz zur »Philosophie der Freiheit« 1918 verdeutlicht, die Kraft, die das Denken zur Erkenntnis führt: »das Denken ist von einer lichtdurchwobenen, warm in die Welterscheinungen untertauchenden Wirklichkeit« erfüllt. »Dieses Untertauchen geschieht mit einer in der Denkbetätigung selbst dahinfließenden Kraft, welche Kraft der Liebe in geistiger Art ist.«[5]

Die vier Schriften, die um die Jahrhundertwende entstehen, spiegeln eine biographische Krisis und ihre Lösung wieder. Die Goethe- (1895) und die Nietzschekrisis (1897), die in der »Mystik im Aufgange des neuzeitlichen Geisteslebens« (1901) und im »Christentum als mystische Tatsache« (1902) einer Katharsis zugeführt werden: die von Goethe repräsentierte Krisis im »Christentum«, die in Nietzsche historisch gewordene Krisis der Geistesgeschichte in der »Mystik«. Goethe und Nietzsche stellen die Fragen, »Mystik« und »Christentum« geben die Antworten. Die Erkenntnisfragen, im Denken aufgeworfen, finden aus den Tiefen des Gefühls, des seelischen Erlebens, aus denen das Wort, der Logos, aufsteigt, eine Antwort. Goethe stellt die Frage nach dem Ort des Menschen in der Weltmetamorphose, die von der Wiedergeburt Christi in der Menschenseele beantwortet wird. Nietzsche stellt die Frage nach der Vollendbarkeit des Menschen, die allein durch die mystische Erweckung des höheren Menschen eine Antwort findet.

In der »Mystik« wird der Übermensch Nietzsches in durchchristeter Form wiedergeboren. Es ist die christliche Mystik im Aufgang des neuzeitlichen Geisteslebens, mit der Steiner sich in diesem Buch beschäftigt. Jene Mystik, die in der Nachfolge Christi nach einer theosis, einer Vergöttlichung des Menschen, strebte. Die höhere Form des Menschen, nach der Nietzsche als Repräsentant und zugleich Kritiker seiner Zeit Sehnsucht empfand, die er aber nicht zu denken vermochte, weil ihm die Anschauung des sittlich produktiven, ideellen Wesens des Menschen fehlte, sie nimmt in der mystischen Selbsterkenntnis jene Gestalt an, die in allem ein Gegenbild von Nietzsches Übermensch ist. Nicht in der grenzenlosen Steigerung der Naturinstinkte, sondern im Ersterben des Naturinstinkts und in seiner geistigen Wiederauferstehung wird der Übermensch geboren. Das »Niedere in den Trieben und Leidenschaften« muss vernichtet werden, damit diese auf einer höheren Stufe wiedergeboren werden können, wie Steiner später in der »Geheimwissenschaft im Umriß« die Bedeutung des Rosenkreuzes erläutert. Es ist die moralische Phantasie, die in Nietzsches Menschenbild fehlt.

Diese moralische Phantasie ist die Rose im Kreuz der Gegenwart. Wird Nietzsches Denken über den Menschen zu Ende gedacht, muss es in der Entdeckung seines moralischen Phantasievermögens münden. Der Begriff der moralischen Phantasie muss Nietzsches Menschenbild notwendig eingefügt werden, sonst bleibt der Mensch ein höheres Tier, eine intelligente Bestie, die lediglich dem ihr eingeborenen Trieb zur Macht folgt. Der Übermensch Nietzsches hat sich zwar von der moralischen Konvention, vom gesellschaftlich normierten Guten und Wahren befreit, wenn er sich aber nicht zum geistigen Quell der Moralität erhebt, bleibt er ein Sklave seiner Instinkte. Weil Nietzsche die innere Differenzierung des seelischen Lebens nicht zu erfassen vermochte und das Leben des Geistes in der Seele als bloßen Ausfluss des Organismus verstand, blieb ihm auch die Bedeutung des Handelns aus selbstgeschöpften Motiven verschlossen. Nietzsches Übermensch ist ein sozialdarwinistischer Mythos, eine verzerrte Karikatur des höheren Menschen, der durch die Betätigung des moralischen Intuitionsvermögens, durch Selbsterziehung heranwächst. Nur wenn der Mensch den in ihm liegenden »Umbildungsstoff« ergreift (»Philosophie der Freiheit«) und sich aus eigener Kraft der moralischen Intuition der Freiheit gemäß formt, wird er zum Übermenschen, oder besser, zum höheren Menschen. So Steiner 1897 in seinem Nietzschebuch.

Die »Mystik« antwortet auf den objektiven Mangel in Nietzsches Denken 1901 mit der Beschreibung der Erweckung des »höheren Ich« durch Selbsterkenntnis: »Erwecke ich mein eigenes Selbst, nehme ich den Inhalt meines Innern wahr, dann erwecke ich auch zu einem höheren Dasein, was ich von außen in mein Wesen eingegliedert habe … Mit der Erweckung meines Selbst vollzieht sich eine geistige Wiedergeburt der Dinge in der Welt. Was die Dinge in dieser Wiedergeburt zeigen, das ist ihnen vorher nicht eigen.«[6]

Die Erweckung des geistigen Selbst in der Seele führt zu einer geistigen Wiedergeburt der außermenschlichen, aber auch menschlichen Natur im Menschen. Die ganze Welt offenbart sich in seinem Inneren. Sie ersteht in geistiger Gestalt wieder und erscheint als Zusammenhang, an dem auch das erweckte Ich Anteil hat. Die Erkenntnis des Weltzusammenhangs wird aus der Selbsterkenntnis geboren. Das erkennende Individuum nimmt am geistigen Weltzusammenhang teil, denn in ihm lebt dieser Weltzusammenhang auf, der seine Individualität übergreift und sie mit der Totalität des Weltganzen zusammenschließt. »Wer die Dinge in solcher Art erkennt, der verwandelt sich in sich selbst; denn sein einzelnes Ich wird in solchen Augenblicken aufgesogen von dem All-Ich …«[7] »Als geistiger Inhalt kommt der innerste Kern der Welt in der Selbsterkenntnis zum Leben. Das Erlebnis der Selbsterkenntnis bedeutet für den Menschen Weben und Wirken innerhalb des Weltenkernes. Wer von Selbsterkenntnis durchdrungen ist, vollzieht … auch sein eigenes Handeln im Lichte der Selbsterkenntnis.«[8] »Die Gesetzmäßigkeit, die Motive des Wollens herrschen nun nicht mehr über den Wollenden, sondern sind ein und dasselbe mit diesem Wollen. Die Gesetze seines Handelns mit dem Lichte der Selbstbeobachtung beleuchten, heißt, allen Zwang der Motive überwinden. Dadurch versetzt sich das Wollen in das Gebiet der Freiheit … Nur das in jedem seiner Teile von Selbstbeobachtung durchglühte Handeln ist ein freies. Und weil die Selbstbeobachtung das individuelle Ich hinaufhebt zum allgemeinen Ich, so ist das freie Handeln das aus dem All-Ich fließende.«[9]

Im Christentum als »mystischer Tatsache« findet die Frage nach dem Ort des Menschen in der gottgeschaffenen Natur eine Antwort, die Goethe nicht geben konnte, weil ihm das höchste Erlebnis, dessen der Mensch fähig ist, fehlte: die Anschauung des Denkens.

1895 schreibt Steiner in seinem Goethebuch: »Goethe … hat nie hinter die Kulissen des Daseins geschaut und deshalb die Idee des Weltgeschehens in dessen ureigenster Gestalt, in seiner höchsten Metamorphose nie in sein Bewusstsein aufgenommen. Sobald der Mensch zur Anschauung dieser Metamorphose gelangt, bewegt er sich sicher im Reich der Dinge. … Weil Goethe das innerste menschliche Erlebnis nicht kannte, war es ihm unmöglich, zu den letzten Gedanken über die sittliche Weltordnung zu gelangen, die zu seiner Naturanschauung notwendig gehören. … Wer zu erleben imstande ist, wie in der Anschauung der Ideenwelt das Ideelle sich selbst zum Inhalt wird, sich mit sich selbst erfüllt, der ist auch in der Lage die Produktion des Sittlichen innerhalb der menschlichen Natur zu erleben.«[10]

Das »Christentum als mystische Tatsache« antwortet auf die Unvollendetheit des Goetheschen Geistes. Die höchste Metamorphose der Welt ist der Mensch, der den göttlichen, väterlichen Seinsgrund in sich ausgebiert. Die Welt hat aus dem Menschen ein sinnliches Wesen gemacht und ihn dann sich selbst überlassen. »Die Natur hat damit ihre Sendung erfüllt. Was sie selbst mit ihren Kräften vermag, ist erschöpft. Aber nicht sind diese Kräfte selbst erschöpft. Sie liegen wie verzaubert in dem rein natürlichen Menschen und harren ihrer Erlösung. Sie können sich nicht selbst erlösen; sie verschwinden in Nichts, wenn der Mensch sie nun nicht ergreift und weiter entwickelt.«[11] »Der Mensch fühlt, dass in ihm etwas aufleuchtet, was alles geschaffen, mit Einschluss seiner selbst … Es ist in ihm, es war vor ihm und wird nach ihm sein … Er darf sich sagen: ich habe in mir ein höheres ›Ich‹ entdeckt, aber dieses ›Ich‹ reicht hinaus über die Grenzen meines sinnlichen Werdens; es war vor meiner Geburt, es wird nach meinem Tode sein. Geschaffen hat dieses ›Ich‹ von Ewigkeit: schaffen wird es in Ewigkeit. Meine sinnliche Persönlichkeit ist ein Geschöpf dieses ›Ich‹. Aber es hat mich eingegliedert in sich; es schafft in mir; ich bin sein Teil.«[12]

Schon der vorchristliche Mysterienschüler erlebt in der Einweihung, wie seine Seele als Mutter den göttlich-geistigen Inhalt der Natur empfangen kann. Wenn sich die Menschenseele von der Geistnatur befruchten lässt, dann gebiert sie das Göttliche in sich. Gott wird im Innern der Seele geboren, wenn sie sich mit dem geistigen Gehalt der Natur erkennend vereint. Der in der Natur verborgene göttliche Gehalt, der in der Schöpfung erstorben ist, wird in der erkennenden Seele offenbar. Er gewinnt Leben in der Seele des Menschen und wandelt als lebendig gewordener Gott auf Erden.  »Der große Gott, der war, ist und sein wird; der ist er wohl nicht, aber er ist es doch in gewissem Sinne auch. Der Vater bleibt ruhig im Verborgenen, den Menschen ist der Sohn aus der eigenen Seele geboren. Die mystische Erkenntnis ist damit ein wirklicher Vorgang im Weltprozesse. Sie ist eine Geburt Gottes … Jungfräulich geboren erscheint der Sohn. Die Seele scheint unbefruchtet ihn geboren zu haben.«[13]

Während alles andere, was die Seele gebiert, von der Sinneswelt empfangen wird, ist allein der Gott-Sohn von dem »ewigen, verborgenen Vater-Gott selbst empfangen.«[14] Jesus, der einzigartige, aus dem Judentum hervorgegangene Initiierte, hat dieses Erlebnis der Mysterienschüler, das Erlebnis der Auferstehung Gottes im Seeleninnern, zu einem allgemein-menschlichen gemacht. Im Christentum sollte »das Einzelmysterium … ein universelles Mysterium werden.«[15] Demgemäß erschien den Bekennern Christi »das Kreuz auf Golgatha« als »der in eine Tatsache zusammengezogene Mysterienkult des Altertums.« Das Kreuz der alten Mysterienlehren wird im an Jesus Christus anknüpfenden religiösen Leben zum einmaligen historischen Ereignis, »das für die ganze Menschheit gelten soll. Von diesem Gesichtspunkt aus kann das Mystische im Christentum begriffen werden. Das Christentum als mystische Tatsache ist eine Entwicklungsstufe der Mysterienweisheit.«[16]

An diese vier Werke schließen sich die drei grundlegenden Schriften der Anthroposophie: »Theosophie« (1904), »Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten« (1904-1905) und »Die Geheimwissenschaft im Umriß« (1910).

Die »Theosophie« entspricht den an Goethe anknüpfenden philosophischen Werken. Wie diese wendet sie sich dem ontologischen Aufbau der Wirklichkeit zu und beschreibt die Metamorphose der Welterscheinungen, nun aber, indem die geistigen Bildekräfte, die der ontologischen Ordnung zugrunde liegen, in ihrer spirituellen Realität dargestellt werden.

Die Natur gipfelt nicht nur im Menschen, sondern der Mensch selbst ist das Urbild der Schöpfung. Die ontologische Ordnung der Welt ist eine Offenbarung des Makroanthropos. Der kosmische Mensch, der in der geistigen Ordnung des Universums ausgefaltet ist, gipfelt im Hervorgang seines individuellen Abbildes im einzelnen Menschen. Die Einfaltung des Makroanthropos im individuellen Menschen ist der Sinn der Schöpfung. Aus dem mikrokosmischen Abbild des universellen Menschen geht ein neuer Kosmos hervor. Die höchste Erscheinung der Weltmetamorphose ist die geistige Selbstmetamorphose des Menschen im Gang durch die Reinkarnationen.

»Wie erlangt man …« entspricht als mittleres der im engeren Sinn anthroposophischen Werke »Wahrheit und Wissenschaft«. Dieses Buch über den Schulungsweg beschreibt die Methoden, durch die das Ich vom Geschöpf zum Schöpfer wird. Die Entgrenzung des Bewusstseins, die Steiner gegen Kant verfocht, wird hier zum prinzipiell jedem Menschen erreichbar Ergebnis der spirituellen Schulung, die darauf abzielt, in der Seele durch geregelte Schulung Erkenntnisorgane zu entwickeln. Fichtes Tathandlung wird zur moralischen Selbsterziehung, der unabdingbaren Voraussetzung für den Eintritt in jene Welten, von denen das Fichtesche Ich nur in ideellen Spekulationen zu träumen vermochte.

Die »Geheimwissenschaft im Umriß« greift den zentralen Gesichtspunkt der »Philosophie der Freiheit« auf. Die Konstitution der Wirklichkeit durch den Geist und die Entstehung einer menschenförmigen Welt aus der moralischen Intuition. Was die »Philosophie der Freiheit« die »in sich geschlossene Totalexistenz des Menschen im Universum« nannte, faltet sich in der »Geheimwissenschaft« in einem geistigen Totalbild des Kosmos auf, das die ontologischen Schichten der Wirklichkeit, die in der »Philosophie der Freiheit« als »gegeben« vorausgesetzt wurden, in ihrem Entstehen erfasst.

Der makrokosmische Mensch der »Philosophie der Freiheit«, die Totalexistenz im Universum, entäußert sich über drei Werdestufen, und erscheint auf der vierten als Ich. Dieses Ich nimmt nach und nach die ihm vorausgegangenen Entäußerungen in sich auf und gebiert sie in geistiger Form aus sich wieder neu.

Während und nach dem Krieg erscheint die Dreiheit erneut in den drei Publikationen »Vom Menschenrätsel« (1916), »Von Seelenrätseln« (1917) und in den »Kernpunkten der sozialen Frage« (1919).

»Vom Menschenrätsel« entwickelt die Anthroposophie als geistesgeschichtliche Konsequenz aus dem »Denken, Schauen und Sinnen« Mitteleuropas, »Von Seelenrätseln« greift als Werk der inspirativen Erkenntnis die Mittelstellung der Seele zwischen Geist und Körper, des Gefühls zwischen Gedanke und Wille wieder auf, die »Kernpunkte der sozialen Frage« schließlich transponieren die trinitarische Weltstruktur in die Sphäre der Intuition, des menschlichen Handelns, die soziale Wirklichkeit.

Die Totalität dieser drei Durchläufe fließt in »Mein Lebensgang« (1923-1925) zu einer Synthese in der Geschichte des Lebens einer Individualität zusammen, die aber in ihrem Narrativ um die Jahrhundertwende durch den vorzeitigen Tod des Verfassers unvollendet abbricht. In der fehlenden Vollendung des »Lebensgangs« kehrt die Krisis der Jahrhundertwende auf einer höheren Stufe wieder. Die fehlende Vollendung des »Lebensgangs« – im Doppelsinn dieses Wortes –  ist aber zugleich ein metaphorischer Ausdruck für die Offenheit des Lebenswerks, das nur von den Schülern fortgeschrieben werden kann. – Doch wenden wir uns nach diesem aphoristischen Überblick der Entfaltung der Trinität im mündlichen Werk Steiners nach der Jahrhundertwende zu.

Anmerkungen:

Der Text wurde im Jahr 2004 verfasst und im Jahrbuch für anthroposophische Kritik veröffentlicht. Die Fortsetzung finden Sie hier.

[1] Einleitungen zu Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften, S. 163, (1887)

[2] Mein Lebensgang, Ausgabe Dornach 1983, S. 337.

[3] Philosophie der Freiheit, Ausgabe Dornach 1962, S. 166.

[4] Philosophie der Freiheit, S. 25.

[5] Philosophie der Freiheit, S. 143

[6] Die Mystik im Aufgange des neuzeitlichen Geisteslebens …, S 21, 22.

[7] Mystik, S. 31.

[8] Mystik, S. 35.

[9] Mystik, S. 36.

[10] Goethes Weltanschauung, Ausgabe Dornach 1963, S. 86-88.

[11] ) Das Christentum als mystische Tatsache …, zitiert nach dem Reprint der Erstausgabe, S. 18.

[12] ) Christentum …, S. 19.

[13] ) Christentum …, S. 23-24.

[14] ) Christentum …, S. 24.

[15] ) Christentum …, S. 116.

[16] ) Christentum …, S. 134.

Ein Kommentar

  1. Alles sehr viel, aber gut so, Danke, kann mit allem Mitgehen.
    Gruppe Kunstimpuls bewegen tönen sprechen
    ToJona, Zeichen Jonae, hier ist mehr als Jona.
    Wir arbeiten und forschen mit den Mitteln der Kunst.
    Aus Dornach hört man auch, dass die Klassenmantren eurythmisch erlebbar
    gestaltet werden.

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