Wimmern aus der Gruft. Ein Beitrag zur Symptomatologie der erblindeten Aufklärung, zugleich eine Erwiderung auf Peter Bierl. (Entgegnung auf die Publikation »Wurzelrassen, Erzengel und Volksgeister. Die Anthroposophie Rudolf Steiners und die Waldorfpädagogik«, erschienen Hamburg 1999. Die Verweise und Argumente beziehen sich auf diese Ausgabe.)
Auszug aus dem Jahrbuch für anthroposophische Kritik 2001.
Von Lorenzo Ravagli
Kapitel
- Hors d’Oeuvre
- Verfemung der Romantik
- Vom Geist der Romantik
- Steiners Bildungsgeschichte
- Verurteilungen des Antisemitismus
- Steiner und Fichte
- Steiner und Haeckel
- Lebensbedingungen – Schröer
- Deutsche Wochenschrift 1888
- Steiners politische Ansichten 1888
- Die wirklichen Deutschnationalen
- Steiner und Fercher von Steinwand
- Steiner und die Slawen vor 1900
- Die Individualität und das größere Ganze
- Individualität, Nationalität, Universalität
- Marxistischer Antisemitismus
- Steiners Plädoyer für den Kosmopolitismus
- Steiner und die Slawen im Habsburgerreich
- Die geschichtslosen Nationen – Karl Marx
- Die Deutschen in Österreich
- Slawisches Nationalbewusstsein
- Großdeutschland und Kleindeutschland
- Sonderstellung der Magyaren
- Die Tschechen
- Steiner in Weimar
- Steiner und die Theosophie
- Indianer
- Jüdische Reinkarnationslehren
- Fazit der Verblendung
Statt die Ideen früherer Generationen unseren heutigen Beurteilungsmaßstäben zu unterwerfen, sollten wir uns besser in das Bewusstsein der Menschen hineinversetzen, die in einer bestimmten historischen Situation lebten, und zu erkennen versuchen, was bestimmten wissenschaftlichen Ideen die Anziehungskraft verlieh, die ihnen einen Platz im ›gesunden Menschenverstand‹ jener Zeit verschaffte.
Stephen Toulmin, Kosmopolis (Frankfurt 1991, S. 224)
Hors d’oeuvre
Peter Bierls Darstellung von Kindheit und Jugend Rudolf Steiners ist eine einzige Ansammlung von Geschichtsklitterungen.
Für Steiner »als Kleinbürgersohn«, behauptet Bierl, sei das »Milieu der Wiener Ober- und Mittelschicht« (B, 15) prägend gewesen.
Dies ist eine unzutreffende Behauptung. Die meisten Schlussfolgerungen und Vorwürfe des Kapitel Steiners Sturm- und Drang-Zeit stützen sich jedoch auf diese falsche Eingangsvoraussetzung. Bierl schildert die deutsch-österreichische »Bourgeoisie« in ihrem aus Ressentiments gespiesenen Abwehrkampf gegen die Kirche, das Slawentum, das Judentum und die Bedeutungslosigkeit und möchte aus Steiners ideologischer Beheimatung in diesem Bürgertum dessen politische Überzeugungen zwingend herleiten.
Steiner erlebte Ostern 1874 mit 13 Jahren den Gründungsparteitag der Sozialdemokratischen Partei Österreich in Neudörfl, in der Nähe Wiens mit. Rückblickend bemerkte er 1919 darüber: »Ich bin ja eigentlich selber aus proletarischen Kreisen hervorgegangen, und ich weiß mich noch heute zu erinnern, wie ich als Kind zum Fenster herausgesehen habe, als die ersten österreichischen Sozialdemokraten in großen Demokratiehüten vorbeigingen, um die erste österreichische Versammlung im benachbarten freien Walde abzuhalten. Es waren zum größten Teil Bergarbeiter. Von da an konnte ich eigentlich alles miterleben, was sich innerhalb der sozialistischen Bewegung abgespielt hat.«1 An anderer Stelle, auch im Jahr 1919: »Ich habe nicht allein gelernt, den Proletarier dadurch zu verstehen, dass ich selber mit ihnen, den Proletariern gelebt habe, dass ich herausgewachsen bin aus dem Proletariat, sondern mit dem Proletariat auch hungern lernte und musste.«2
Nach Steiners eigener Auffassung, stammte er also aus dem Proletariat. Sein Vater, vor seiner Heirat Förster im Dienst eines Grafen Hoyos, nahm – um Steiners Mutter ehelichen zu können – eine Stellung als Telegraphist bei der österreichischen Südbahn an und wurde später Stationsvorsteher. Die wirtschaftlichen Verhältnisse waren bedrückend, die Eltern mussten gegen die Folgen der schlechten Bezahlung kleiner Eisenbahnangestellter ankämpfen.
Unabhängig von diesen historischen Feststellungen erhebt sich die Frage, wie die pauschale Behauptung zu verstehen ist, ein bestimmtes »Milieu« habe Steiner »geprägt«. Sollte sich in Bierls Behauptung mehr verbergen, als die platte Reproduktion einer Milieutheorie, müsste gezeigt werden, in welcher konkreten Form welche wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und sozialen Bedingungen sich in Steiners Bewusstsein prägend abbildeten. Diese Darstellung bleibt Bierl schuldig. Bierls Darstellung des geistigen Milieus der Wiener »Mittel- und Oberschicht« ist ebenso wenig zutreffend, wie seine Behauptung, Steiner sei durch dieses Milieu geprägt worden.
Es gab in der Wiener Mittel- und Oberschicht keineswegs nur paranoide Rassisten, wie Bierl zu suggerieren versucht. Dass seine Darstellung dieses Milieus vom Interesse geleitet ist, jene Elemente der Wiener Kultur hervorzuheben, aus denen Steiners angeblicher Rassismus abgeleitet werden kann, ist zu offensichtlich. Steiners Selbstverständnis spielt für die Darstellung Bierls ohnehin keine Rolle. Dessen Autobiographie ist jedenfalls ein erheblich differenzierteres Bild seines geistigen Werdegangs bis zum Bezug der Technischen Hochschule Wien zu entnehmen, als Bierls entstellenden Behauptungen. So erwähnt Steiner etwa unter jenen Personen, die er bis zu seinem elften Lebensjahr kennengelernt habe, den Dorfpfarrer von Neudörfl, dem er durch »einen starken Eindruck außerordentlich viel für seine spätere Geistesorientierung« verdankt habe.3 Dieser Dorfpfarrer war ein »ausgeprägter Charakter. Magyar vom Scheitel bis zur Sohle. Klerikaler bis aufs Messer.« Statt seinen »antikatholischen« oder »antislawischen Ressentiments« freien Lauf zu lassen, was an der betreffenden Stelle in seiner Autobiographie zu erwarten wäre, wenn Bierls Behauptung zuträfe, hebt Steiner die Wirkung dieses »Magyaren« positiv hervor. Der eine starke Eindruck, den er dem »Magyaren« verdankte, war die erste Bekanntschaft mit dem Kopernikanischen Weltsystem, das der Pfarrer einigen ausgewählten Schülern erklärte.
Die »österreichische Bourgeoisie« schreibt Bierl, sei militärisch und politisch machtlos gewesen und habe sich »von vielen Feinden bedroht« gesehen (B, 15), so von der »Sozialdemokratie, der Frauenbewegung und von nationalistischen, panslawischen Bewegungen« (B, 15). Als Zeuge wird der »Rassentheoretiker Jörg Lanz« angeführt (B, 15). Als Erbe des Liberalismus sei nur das Ressentiment gegen die Kirche geblieben (B, 15). »Viele« hätten eine »autoritäre, esoterische und rassistische Weltsicht« entwickelt, die im »Antisemitismus« gipfelte (B, 15). Alle Deutschnationalen hätten in Österreich für eine Suprematie der Deutschen gekämpft und gegen eine Gleichberechtigung der Slawen und Italiener (B, 16). Die Alldeutschen seien antisemitisch und antikatholisch gewesen, hätten eine völkische Ideologie vertreten, nach der »das Blut und das tiefschürfende Wesen den echten Deutschen« ausmachten (B, 15). Deren Führer von Schönerer habe die Volkszugehörigkeit zum Einbürgerungskriterium machen wollen. 1886 hätten die Völkischen als »Speerspitze den Germanenbund« gegründet. An diesem Bund sei auch Guido von List beteiligt gewesen, der später »unter dem Beifall der Wiener Theosophen über ariogermanische Gottmenschen und den Kampf zwischen Herren- und Sklavenrassen fabulierte.« (B, 16) List und Lanz hätten die »Ariosophie« entwickelt, indem sie »völkischen Nationalismus, Rassismus und theosophische Ideen mixten.« (B, 16) Der 1908 gegründeten Listgesellschaft hätten sich neben der Jugendbewegung und Antisemiten auch »deutsche und österreichische Theosophen« angeschlossen (B, 16).
Betrachten wir Bierls Geschichtsklitterungen etwas näher. Steiner sei 1879 nach Wien gekommen, als die Deutsch-Liberalen gerade eine Wahlniederlage erlitten hätten. Alle Deutschnationalen hätten den neuen Regierungschef Eduard Graf Taaffe [Bierl schreibt Taaffe fälschlicherweise mit einem f] bekämpft, der wie Steiner in seiner Autobiographie notierte, gestützt auf »»Polen, Tschechen und konservative Katholiken«« regiert habe (B, 16). Steiner habe »die Ressentiments« geteilt, an den Kämpfen der Deutschen um ihre Existenz »»lebhaften Anteil«« genommen und den deutschliberalen Carneri bewundert, dessen »»feinsinnige«« Reden eine »»Verteidigung des Deutschtums in Österreich«« bildeten.
Steiner besuchte bereits zwischen 1872 und 1879 die Real- und Oberrealschule in Wiener Neustadt, das sich etwa 40 Kilometer vor Wien befindet, um 1879 an die Technische Hochschule in Wien zu wechseln. Bereits Steiners Rückblick in seiner Autobiographie auf die Zeit, als er mit 17 Jahren die Wiener Technische Hochschule bezog, fördert interessante Differenzierungen zutage, die Bierl ausblendet.4 Da Bierl sich auf die Autobiographie stützt und beruft, wird auch uns dies zur Verteidigung Steiners gegen Bierls Anwürfe erlaubt sein. Steiner hat nicht nur Carneri bewundert, er hat auch andere Politiker bewundert oder gewürdigt, nämlich den »Ruthenen Tomasczuck«, der gegen die habsburgische »Nationalitätenpolitik donnerte«, den Jungtschechen Gregr, »Rieger von den Alttschechen«, den »bäuerlich-schlau« redenden, »immer« gescheiten Klerikalen Lienbacher, und den »inmitten der Polenbänke« redenden Otto Hausner.5
Über die politische Situation in seiner Studienzeit in Wien schreibt Steiner: »Es war die Zeit, in der sich die nationalen Parteien in immer schärferer Ausprägung bildeten. Alles, was später in Österreich immer mehr und mehr zur Zerbröckelung des Reiches führte, was nach dem Weltkrieg in seinen Folgen auftrat, konnte damals in seinen Keimen erlebt werden. […] Ich stand einer großen Anzahl der verschiedensten Parteistandpunkte gegenüber und sah in ihnen allen das relativ Berechtigte. Dennoch kamen die Angehörigen der verschiedenen Parteien zu mir. Jeder wollte mich überzeugen, dass nur seine Partei recht habe. Als ich gewählt worden war [zum ehrenamtlichen Bibliothekar einer Studentenbibliothek], stimmten alle Parteien für mich. Denn bis dahin hatten sie nur gehört, wie ich in den Versammlungen für das Berechtigte eingetreten war. Als ich ein halbes Jahr Vorsitzender war, stimmten alle gegen mich. Denn bis dahin hatten sie gefunden, dass ich keiner Partei so stark recht geben konnte, als sie es wollte […]
Zu Gedanken über das öffentliche Leben Österreichs, die in irgend einer Art tiefer in meine Seele eingegriffen hätten, konnte ich damals nicht kommen. Es blieb beim Beobachten der außerordentlich komplizierten Verhältnisse.«6
Von einer einseitigen Bewunderung des Philosophen Carneri7 oder von Ressentiments in der Beurteilung von nicht-deutschösterreichischen Parlamentariern kann demnach keine Rede sein. In einem Brief des 21jährigen Steiner an den 75jährigen Vischer vom 20. Juni 1882 heißt es: »Von einer Korrektur des Zeitbegriffes hat man wirklich das Heil der Wissenschaft in mannigfacher Hinsicht zu erwarten. Gewiss wird auf diese Weise mehr erreicht werden als durch die vergeblichen Bemühungen Carneris und anderer, welche den Darwinismus auch mit allen seinen Unwahrheiten und Unklarheiten mit der Ethik in Vereinigung bringen wollen.«>8 Dieser Brief stellt die erste Erwähnung Carneris im schriftlichen Werk Steiners dar. Zu Carneri als Ethiker des Darwinismus hat Steiner später ausführlich Stellung bezogen.9 In dieser Stellungnahme wies er den Versuch zurück, auf die vom Darwinismus behaupteten Naturgesetze des Kampfes ums Dasein und des Überlebens der Tauglichsten eine für den Menschen gültige Ethik begründen zu wollen.10
1) GA 330/331, 22.4.1919, Schlusswort. Steiner spielt hier auf die Versammlung der Sozialdemokraten in Neudörfl, dem damaligen Wohnort der Familie, im Jahr 1874 an.
2) GA 328, 8.3.1919, S. 167.
3) Mein Lebensgang, S. 24.
4) Ebenda, S. 86-89.
5) Alle Zitate: ebenda, S. 88.
6) Ebenda, S. 87-90.
7) Bartholomäus Carneri (1821-1909): Sittlichkeit und Darwinismus. Drei Bücher Ethik, 1871; Gefühl, Bewusstsein, Wille, 1876; Grundlegung der Ethik, 1881; Entwicklung und Glückseligkeit, 1886; Der moderne Mensch. Versuche einer Lebensführung, 1891; Empfindung und Bewusstsein, 1893. – Carneri ist Evolutionist und »agnostischer« Monist. Geistiges und Körperliches sind zwei Seiten des Wirklichen. Was der Stoff an sich ist, wissen wir nicht; auch der Geist ist Erscheinung. Nicht die Materie, sondern der Organismus denkt. Unser Bewusstsein ist Funktion des im Nervensystem bzw. Gehirn zentralisierten Organismus. Der Wille ist (innerlich) determiniert. Carneri vertritt in der Ethik einen »praktischen« Idealismus, der die Sittlichkeit als eine sozial bedingte Lebensform auffasst. Der Staat bildet ein soziales Ideal heraus, das dem Verhalten des Einzelnen die Richtung vorgibt. Das ethische Ideal ist der »wahrhaft glückliche Mensch«. Unter der Herrschaft der Vernunft erweitert sich unser Ich zu einem die gesamte Menschheit umfassenden Ich. – Siehe die Sammelrezension Steiners in GA 30, S. 452-461 zu: 1876, 1877 (Der Mensch als Selbstzweck), 1881, 1886, 1891, 1893. Erschienen in Die Gesellschaft, 1900, XVI Jg., Bd. 1, Hf. 3.
8) Beiträge zur Gesamtausgabe, Nr. 63, S. 5f., 1978.
9) Die soziale Frage, 1898, wiederveröffentlicht in: Gesammelte Aufsätze zur Kulturund Zeitgeschichte, GA 31, Dornach 1989, S. 247-250. Ursprünglich in: Magazin für Literatur, Nr. 28.
10) Ebd.
Verfemung der Romantik
Ebenso unsinnig ist die Behauptung Bierls, Steiner habe sein »Weltbild« aus der »völkischen Ideologie« der Romantik »entwickelt«.
Ebenso unsinnig wie die Behauptung, Steiner sei durch das geistige Milieu der Mittel- und Oberschicht Wiens geprägt worden, ist Bierls Unterstellung, Steiner habe sein »Weltbild aus seiner Lektüre der deutschen Romantiker, die die völkische Ideologie zu Anfang des 19. Jahrhunderts im Kampf gegen Aufklärung und Französische Revolution formuliert« hätten »entwickelt«. (B, 16-17) Sowohl in seiner Auffassung der Romantik, als auch in der von ihm vorgenommenen Auswahl möglicher Herkünfte, zeigt sich Bierls einseitige, ideologisch verblendete Weltsicht. Er ist in ersterer einer vom zeitweisen Chefideologen Stalins, Lukacs, und anderen linken Theoretikern vertretenen unhistorischen Auffassung verpflichtet, die Wurzeln des deutschen Faschismus seien im angeblichen Irrationalismus der deutschen Klassik und Romantik zu suchen. Bereits 1993 durfte Bierl sein Bekenntnis zur stalinistischen Ideologie in der Zeitschrift ÖkolinX vortragen, als er in einer Vorstudie zu seinem Buch unter dem Titel Ökofaschismus und New Age erklärte: »Lukacs‘ zentrale Thesen über die ›irrationalistische‹ Philosophie des 19. und 20. Jahrhunderts und ihre politischen Konsequenzen treffen meiner Meinung nach auch auf die moderne Esoterik und den Ökofaschismus als Ideologien zu.«11
Was die deutsche Romantik anbetrifft, so gehen deren Anfänge bis zu Herder und Goethe zurück, auch wenn ihre Wurzeln in England liegen (Walpole, McPherson, Young). Ohne Zweifel ist deren Einsatz mit Herders Philosophie der Geschichte der Menschheit kosmopolitisch, humanistisch, völkerverbindend und emanzipatorisch. Die erst später vom gerade dadurch der Romantik verpflichteten Ranke geprägte Formel, jede geschichtliche Epoche sei »gleich unmittelbar zu Gott«, liegt bereits in Herders opulentem Entwurf einer Universalgeschichte der Menschheit. Für ihn sind Epochen und Völker Organe am einen Organismus der Menschheit, die das Leben des einen Ganzen auf unterschiedliche Weise darstellen und der Grundidee des Schöpfers von der Humanität auf vielfältige Weise Ausdruck verleihen. Gerade Herders universal-humanistischer Entwurf und die aus diesem hervorgehende Liebe zu den geistigen Schöpfungen aller Stämme und Zweige des einen Menschheitsorganismus, die zu solchen Sammlungen wie den Stimmen der Völker und zu den Grimm’schen Märcheneditionen führten, wurden im 19. Jahrhundert von den nicht-deutschen Angehörigen des Habsburgerreiches ins Nationale gewendet und fanden in entstellter Form ihren Niederschlag in einem teilweise irredenten Chauvinismus, der schließlich zum Untergang des Habsburgerreiches und zur Selbstzerfleischung des Alten Europa im I. Weltkrieg führte.
Dem von Herder 1774 – weit vor der französischen Revolution – formulierten Programm blieb die deutsche Romantik großteils treu. »Die französische Revolution, Goethes Meister und Fichtes Wissenschaftslehre sind die größten Tendenzen – die größten Triebkräfte – dieses Zeitalters«, schrieb Friedrich Schlegel im Hinblick auf die Generation der Romantiker, die angetreten war, eine neue Synthese von Kunst, Wissenschaft und Religion zu schaffen. Doch wirkte die Entwicklung im revolutionären Frankreich auf viele Beobachter und Beteiligte ernüchternd. Nicht nur Romantiker, auch Vertreter der Aufklärung wandten sich mit Grausen von den Greueln der Jakobiner und den Exzessen der Guillotine ab. Die Ablehnung der französischen Revolution durfte sich auf ebenjene Gedanken der Humanität und des Menschenrechts berufen, die von der Willkür der Revolutionstribunale verspottet wurden. Manche heute als übertrieben erscheinenden patriotischen Ergüsse, etwa bei Klopstock oder Arndt, lassen sich aus der Bedrohung durch die französischen Revolutionsheere und aus den Auswirkungen des napoleonischen Imperialismus sehr wohl erklären, ganz abgesehen davon, dass sie, verglichen mit anderen Artikulationen der Vaterlandsliebe im Zeitalter des aufkeimenden Nationalismus noch harmlos sind.
Nicht nur das Geschichtsbewusstsein ist das bleibende Erbe der Romantik. Die großen Historiker des 19. Jahrhunderts sind ohne deren Besinnung auf das Werden der Vernunft und damit deren von der Aufklärung ausgeblendete Nachtseite der menschlichen Existenz nicht denkbar. Die romantische Besinnung auf die Ursprünge und die mütterlichen Aspekte des Seins muss nicht als Flucht vor der rauhen Wirklichkeit interpretiert werden, man kann im Entwurf einer historischen Utopie, eines Idealbildes der Gegenwart oder Zukunft, das in die Vergangenheit verlegt wird, auch den Versuch der Romantik sehen, ihre Kritik an der Gegenwart auf eine Art und Weise vorzubringen, die der Zensur entgeht. Schleiermachers Aperçu vom Historiker als rückwärtsgewandtem Propheten ist dann so zu verstehen, dass der Historiker, indem er die Vergangenheit beschreibt, in ihr ein Vorbild einer zu schaffenden Zukunft entwirft.
Die Romantik war für die Sprachwissenschaften, für die Völkerkunde und Staatswissenschaften überaus bedeutsam. So geht die Germanistik auf Grimm und Uhland zurück, die Literaturwissenschaft auf die Gebrüder Schlegel, die Romanistik auf Diez, die Rechtsgeschichte auf Savigny, die vergleichende Religions- und Mythengeschichte auf Creuzer, Görres und Bachofen.
Bereits Bodes Übersetzung von Lawrence Sternes Sentimental journey stiftete der Kulturströmung 1768 einen Begriff. Wackenroder verlieh mit seinen Herzensergießungen eines Klosterbruders 1797 der Musik eine literarische Stimme und fügte neben der Besinnung auf Subjektivität und Geschichte der Romantik in Deutschland ein weiteres zentrales Motiv hinzu. Ihm folgten Tieck, die Gebrüder Schlegel, Novalis, E.T.A. Hoffmann und andere nach. Wackenroders Begeisterung für die deutsche Geschichte schloss das Nichtdeutsche nicht etwa aus. So schrieb er in seinem Aufsatz Über Allgemeinheit, Toleranz und Menschenliebe: »Blöden Menschen ist es nicht begreiflich, dass es auf unserer Erde Antipoden gebe und dass sie selber Antipoden sind. Sie denken sich den Ort, wo sie stehen, immer als den Schwerpunkt des Ganzen, und ihrem Geiste mangeln die Schwingen, das ganze Erdenrund zu umfliegen und das in sich selbst gegründete Ganze mit einem Blicke zu umspielen.«12 Und an seinen Freund Tieck schrieb der frühverstorbene Wackenroder: »Was will man denn in unsern Zeiten mit dieser Vaterlandsliebe? Doch scheint jetzt eine gewisse Mode darin zu herrschen. Gemeine Schullehrer scheinen wirklich zu glauben, dass sie wer weiß wie große Fortschritte in der Pädagogik gemacht haben, wenn sie ihren achtjährigen Knaben jetzt die Brandenburger Geschichte als Geschichte des Vaterlandes recht weitläufig erzählen. Ein Bürger oder sonst einer, der nicht Gelehrter werden will, braucht doch wahrlich in unsern Zeiten im Grunde die vaterländische Geschichte so wenig als eine andere und es würde nach meiner Meinung also zweckmäßiger sein, wenn man irgend eine interessante Geschichte, ohne Rücksicht ob dieses oder jenes alten oder neuen Volkes, in unseren Schulen vortrüge.«13 Ricarda Huch kommentiert dieses Wackenroderzitat mit folgenden Worten: »Eine leidenschaftliche Liebe für deutsches Wesen war aber durch diesen Mangel an dem, was man unter Patriotismus versteht, nicht ausgeschlossen. Man weiß ja, dass die Wissenschaft der Germanistik aus der Romantik entstanden ist. Aber eben im germanischen Wesen fand man einen engherzigen Abschluss gegen andre Völker nicht begründet. Der Einzelne – so war es von jeher gewesen – liebte seine Unabhängigkeit aber sowohl dem eigenen als auch fremden Staaten gegenüber.« »Deutschheit ist Kosmopolitismus mit der kräftigsten Individualität gemischt«, lautet einer der Aphorismen des Novalis.14
Nicht die Romantik war es, die im Anschluss an Rousseau, aber zugleich in dessen Vertiefung, mit ihrem Interesse für das Fremde, das Natürliche, das Andere der Vernunft, fremde Völker und Kulturen abwertete, sondern die Aufklärung mit ihrer platten Fortschrittsidee, die im europäischen Rationalismus das non plus ultra der zivilisatorischen Entwicklung sah. Marx und Engels und der aus ihnen hervorgegangene Marxismus, Leninismus, Sozialismus stehen in der Tradition der unvollendeten Aufklärung, indem sie diese lediglich auf die soziale Wirklichkeit anwandten, statt sie zur individuellen Selbstbewusstwerdung des denkenden Ich hinauf zu führen. Es ist deswegen nicht verwunderlich, dass gerade Marx und Engels als die Begründer des radikalen, angeblich wissenschaftlichen Sozialismus, in denen wir die geistigen Urheber all jener Genozide zu sehen haben, die im 20. Jahrhundert im Namen der Diktatur des Proletariats verübt worden sind, nicht nur Antisemiten waren, sondern sich auch voller Verachtung über die »geschichtslosen« slawischen Stämme ausließen, die im Habsburgerreich nach nationaler Selbstbestimmung begehrten.
Der Rassismus und der völkische Nationalismus des 19. Jahrhunderts sind keine Konsequenz der romantischen Besinnung auf die Ursprünge, sie sind vielmehr eine Folge der materialistischen Interpretation des romantischen Forschungsansatzes. Erst die materialistische Umdeutung der Bemühungen um eine ganzheitliche, geistverbundene Wirklichkeitssicht der Romantik im materialistischen Monismus in der Mitte des 19. Jahrhunderts und damit ihre verflachende Rückholung in den Horizont des neuzeitlichen Rationalismus ließ deren Begrifflichkeit gefährlich werden. Diese Diagnose des Rassismus als Ausfluss eines materialistischen Denkens brachte bereits im Jahr 1883 Hans Kudlich, der legendäre Bauernbefreier des Jahres 1848 in die Diskussion ein, der in den achtziger Jahren in den USA lebte, aber weiterhin enge Kontakte zu Österreich aufrechterhielt. Er hielt den Rassenhass für unvereinbar mit einem demokratischen deutschen Patriotismus und veröffentlichte in der Wiener Neuen Freien Presse einen offenen Brief an die Wiener Studentenschaft, aus der sich die frühesten Anhänger des einflussreichsten Wiener Antisemiten, Georg Ritter von Schönerers, rekrutierten. In seinem Brief schrieb er den Ursprung des Rassismus einem krassen Materialismus zu, der die Gesellschaft durchdringe und verwahrte den deutschen Idealismus und die Romantik vor falschen Schuldzuweisungen.
An Hegels »romantischer« Lehre von den Volksgeistern begeisterten sich Polen, Tschechen, Ungarn, Serben und Kroaten und sahen in ihr eine Legitimation ihrer Suche nach geschichtlicher und nationaler Identität, begannen aber bereits mit der Partikularisierung der Universalität des Hegelschen Idealismus. Schon Herder war mit seiner Volksliedersammlung Stimmen der Völker vorbildlich, die Brüder Grimm gaben mit ihrer Märchenforschung und -edition einer ganzen Reihe von osteuropäischen Sprachwissenschaftlern die entscheidende Anregung, sich auf die eigenen kulturellen Überlieferungen, auf ihr Volkstum zu besinnen. Während der Romantiker Carl Gustav Carus 1851 in seinem Versuch über die Entwicklungsgeschichte der Seele, dem Buch Psyche, in den animistischen Religionsformen, die ihm als Ausdruck einer kindlichen Seelenverfassung erschienen, eine edlere und friedfertigere Stufe des Gottesbewusstseins und damit in deren Trägern, den »Naturvölkern«, auch eine edlere Form des Menschseins zu sehen vermochte, als in den monotheistischen Religionen und den mit ihnen verbundenen Zivilisationen, führte der Fortschrittsgedanke in seiner materialistischen Form zu eben jenem menschenverachtenden Rassismus, dessen Ursprung Bierl der Romantik anlasten möchte. So veröffentlichte Ludwig Büchner 1855 die Bibel des deutschen Materialismus, sein Buch Kraft und Stoff. Im Kapitel über Gehirn und Seele findet sich eine Passage, aufgrund derer die selbsternannten Wächter der politischen Korrektheit Büchner des Rassismus bezichtigen müssten. Die von Büchner vertretene Haltung ist nicht originell, sondern er fasst, wie in allem übrigen, lediglich in seiner Zeit verbreitete materialistische wissenschaftliche Ansichten zusammen.
»Wer hätte noch nicht in Abbildung oder Natur den zurückfliegenden, schmalen, in seinem ganzen Umfange kleinen, affenähnlichen Schädel eines Negers gesehen und ihn in Gedanken mit der edeln und ausgedehnten Schädelbildung des Kaukasiers verglichen! und wer wüsste nicht, welche angeborene geistige Inferiorität der schwarzen Rasse eigen ist, und wie sie den Weißen gegenüber als Kind dasteht und immer dastehen wird! Das Gehirn des Negers ist kleiner, als das des Europäers, überhaupt tierähnlicher; die Windungen desselben sind weniger zahlreich. … Die amerikanischen Indianer, mit kleinem, eigentümlich geformtem Schädel und von einer wilden, grausamen Natur, sind nach allen darüber laut gewordenen Berichten ganz unzivilisierbar; sie werden durch das Voranschreiten der kaukasischen Rasse nicht der Kultur gewonnen, sondern ausgerottet.« (S. 134-135.) Trotz dieser rassistischen Anschauungen verkündete Büchner die These, seine naturalistische Weltsicht könne die moralische Entwicklung der Menschheit besser fördern, als jegliche Art von Idealismus oder Supranaturalismus. So meinte er im Vorwort zur neunten Auflage von Kraft und Stoff: »Das bekannte Wort »Durch Bildung zur Freiheit« muss das Schibboleth und Kriegsgeschrei der echten Volksfreunde aller Länder sein.« (S. XCIII) Dass mit diesen Ländern die europäischen Kolonien und die in diesen unterdrückten Völker nicht gemeint waren, ist klar.
Auch Hannah Arendt weist in ihrem Standardwerk über den Antisemitismus, Imperialismus und Totalitarismus das Märchen vom Ursprung des völkischen Nationalismus in der deutschen Romantik zurück: »Es ist ein Irrtum, die politische Romantik, wie es oft geschehen ist, für den spezifisch völkischen Charakter des deutschen Nationalismus verantwortlich zu machen. Mit dem gleichen Recht könnte man sie für nahezu jegliche unverantwortliche Meinung, die im 19. Jahrhundert irgendwann zur Geltung kam, zur Verantwortung ziehen, denn es gibt kaum etwas in der Moderne, womit sie nicht gespielt hätte.«15
Der Rassismus ist keine Erfindung des 19. oder 18. Jahrhunderts. Der europäische Adel praktizierte durch Jahrhunderte hindurch ein Denken in Blutsverwandtschaften und Abstammungslinien. Hier war von edlem Geblüt, von Blaublütigkeit, von morganatischen Ehen (mésalliancen, Ehen der linken Hand)16 und Bastardzeugungen17 die Rede, lange bevor der Begriff des Rassismus überhaupt erfunden wurde. Die Erhaltung der patrilinearen Bluts- und Verwandtschaftslinie war für den Adel von existentieller Bedeutung, waren mit dieser doch umfassende Herrschafts-, Rechtsund Besitzansprüche verbunden. Schon Ferdinand II. legte in seinem Testament von 1621 das Prinzip der Unteilbarkeit der habsburgischen Besitzungen unter der erblichen Herrschaft des Kaisers und die Erbfolge auf Grund der Primogenitur fest. Die von Kaiser Karl VI. zwischen 1713 und 1725 politisch durchgesetzte pragmatische Sanktion, die so fundamentale Bedeutung für die Aufrechterhaltung und Ausweitung der Habsburgerherrschaft hatte, entsprang aus der Notwendigkeit, das weitverstreute Besitztum der Habsburgersippe bei Ausbleiben männlicher Erben zu sichern. Andere europäische Dynastien und Adelshäuser verfuhren mit ihren Besitztümern ebenso. Das 18. Jahrhundert ist nicht nur das Jahrhundert der Aufklärung, sondern auch das Jahrhundert der Erbfolgekriege (Spanischer Erbfolgekrieg: 1701-1713/14; Österreichischer Erbfolgekrieg: 1740-48; Bayerischer Erbfolgekrieg: 1778/79). Der im 18. und 19. Jahrhundert drohende Verlust der privilegierten gesellschaftlichen Stellung des Adels ist der wahre Hintergrund des Rassismus. Denn die Angehörigen der herrschenden Klasse im feudalen Europa, die bisher mit dem göttlichen Willen argumentiert hatten, um ihre Herrschaft zu rechtfertigen, mussten nun im Zeitalter der Aufklärung nach naturwissenschaftlichen Begründungen für ihre privilegierte Machtstellung suchen. Nicht mehr mit Gottes Gnade konnte die Herrschaft legitimiert werden, sondern nur noch mit der Macht der Natur. Das führte zu Überlegungen über die Bedeutung des Blutes, über die Eigenart des adligen Bluts, über dessen Reinheit und Reinerhaltung. Das edle Geblüt ist es, das die Angehörigen der herrschenden Dynastien und Sippschaften zur Herrschaft prädestiniert. Auch der Gott de Maistres, der der Dynastie zu Beginn des 19. Jahrhunderts unabhängig vom Willen des Volkes die Herrschaft zusicherte, war im Grunde ein Gott des Blutes. Es ist kein Zufall, dass die großen Inauguratoren des europäischen Rassismus Angehörige des Adels waren: in Graf Gobineau und Graf Vacher de Lapouge waren Adlige Vordenker eines Bluts- und Abstammungsdenkens, das schließlich unter dem Einfluss des Vulgärdarwinismus auf die gesamte Menschheit übertragen wurde. Nur ein Adliger, der die historisch-gesellschaftliche Position des Adels innerhalb der absolutistischen Gesellschaft gefährdet sah, konnte die Idee erfinden, dass Blutmischung in die Dekadenz führe. Hannah Arendt hat diesem Aspekt der Vorgeschichte des europäischen Rassismus in ihrem Werk Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft ein ganzes Kapitel: Die Adelsrasse gegen die Bürger-Nation gewidmet.
Graf Henri De Boulainvilliers (1658-1722) vertrat in Frankreich als erster eine Zwei-Rassen-Theorie. Sie stellte die erobernden, herrschaftsgründenden und Freiheit bringenden Germanen (= Franken) und die unterworfenen Kelten (= Gallier) gegenüber. In Boulainvilliers Theorie werden die politischen Implikationen des Denkens in Rassen deutlich. Die Geschichte selbst, so Boulainvilliers, verleihe dem französischen Adel als Nachfahren der Franken Anspruch auf Herrschaft in Frankreich. Diese eindeutig politisch motivierte Rechtfertigungsargumentation wurde sogar entwickelt, bevor die französische Revolution die aufklärerischen Tendenzen in die Tat umsetzte. Boulainvilliers sah die herrschende Schicht als Abkömmling einer Rasse von Eroberern, mit der er sich identifizierte: er begründete die Herrschaftsverhältnisse sowohl mit rassischen als auch mit historischen Überlegungen. Die französischen Historiker Augustin Thierry (1798-1856) und Amédée Thièrry (1797-1873) nahmen die Zwei-Rassen-Theorie – diesmal mit antigermanischer Wendung – auf. Innerhalb Frankreichs glaubten sie in den Kelten und Kymren (= Germanen) zwei unterscheidbare, sich jedoch überlagernde Rassen feststellen zu können. Die Anschauungen der Gebrüder Thierry wirkten auf die Rassentheorien der englischen Naturforscher W. F. Edwards (1777-1842) und J. C. Prichards (1786-1848). In der Französischen Revolution (1789) fand die Zwei-Rassen-Theorie in der Schrift des Abbé Sieyès (1748-1836) Qu‘est-ce que le tiers état? ihren politischen Niederschlag, der den Dritten Stand mit den Galliern, den Adel mit den Franken identifizierte: in einem der Schlüsseltexte der bürgerlichen Revolution von größter Wirkungsmacht wurde die revolutionäre Klasse mit einer Rasse identifiziert, die Inhaber der politischen Macht mit einer anderen. Gleichzeitig kam in Sieyès Essay ein antigermanischer Affekt zum Ausdruck, da er die Unterdrückten mit den Galliern, die Herrscher mit den Franken (Germanen) identifizierte. Sieyès war zwar auch der erste große Theoretiker des demokratisch legitimierten Einheitsstaates, der in seinen politischen Schriften die liberalen Vorstellungen über die Repräsentation des Volkswillens des 19. Jahrhunderts vorwegnahm, aber seine Abhandlungen enthielten auch einen Subtext, der unterschwellig fortwirkte.
Es ist in diesem Zusammenhang symptomatisch, dass Bierl Sieyès – dessen Staatsverständnis er für vorbildlich und modern hält – gegen Steiner anführt (B, 98 f.), dessen Dreigliederungsideen er als einen Rückfall in die vorrevolutionären Staatsideale der Ständegesellschaft ausgibt, was ebenso abwegig ist, wie seine Theorie, der Begriff einer »deutschen Nation« sei als »Projekt der Herrschaft gegen die bürgerliche Revolution entstanden« (B, 100), wo es doch gerade die bürgerlichen Revolutionäre des Frankfurter Parlamentes waren, die die Einheit der deutschen Nation nach dem Territorialprinzip gegen den Habsburgischen Vielvölkerstaat vertraten, der versuchte, eine Nation zu bilden, die über den Nationalitäten stand, während die deutschen Romantiker in der Vorstellung einer unsichtbaren Kirche lebten – der alle Menschen, gleich welcher Sprache oder welchen Stammes, angehören konnten –, die dazu berufen sei, die sittliche Fortentwicklung der Menschheit zu befördern. Bierl klammert nicht nur Sieyès krude politische Rassentheorie völlig aus, sondern verwickelt sich auch in heillose Widersprüche. Während er einerseits Sieyès‘ Definition der Nation als einer Gesellschaft, die »unter einem gemeinsamen Gesetz lebt und durch dieselbe gesetzgebende Versammlung vertreten wird«, gegen einen »deutschen« Begriff der Nation, die »biologistisch und spirituell aus deutschem Blut und deutschem Geist« gebildet sei (B, 98 f.), ins Feld führt, wirft er Sieyès andererseits vor, dieser habe die Nation als Klassenbündnis verstanden und mit dem Dritten Stand identifiziert. Dass Sieyès aber eine Zwei-Rassen-Theorie vertrat, die unterdrückte Klasse mit den Franken, die Unterdrücker mit den Germanen identifizierte, passt nicht ins Bierls antideutsches und antigermanisches Emotionssystem und wird deswegen verschwiegen. Andererseits behagt ihm der Begriff einer »Kulturnation« ebensowenig, denn in dieser sieht er von Anfang an nichts als völkischen Nationalismus und Antisemitismus. Wir haben bereits erwähnt, wie absurd der Vorwurf des deutsch-völkischen Nationalismus gegen Herder, Goethe, Fichte und andere ist, deren Verständnis des Deutschtums alles andere war, nur nicht das, was ihnen Bierl unterstellt. Dass dagegen im von Bierl hochgelobten, »modernen«, »territorialen« Verständnis von Nation und deren territorialer Integrität nicht nur die Ursache für die Hochflut der nationalistischen Emotionen im 19. und 20. Jahrhundert, sondern bis heute der Grund für eine Unzahl von Verbrechen gegen die Menschlichkeit, von kriegerischen Verwicklungen einschließlich der beiden Weltkriege zu sehen ist, scheint ihm völlig entgangen zu sein.
A. Graf Gobineau (1816-92) griff die Idee der Volksrassen von Sieyès auf und sponn sie weiter. Da Gobineau Gegner der revolutionären Umwälzungen und der Säkularisierung war, ergriff er Partei für das germanisch-fränkische Überlagerungselement. Hatte die Zwei-Rassen-Theorie bisher die französische Geschichte deuten sollen, so übertrug sie Gobineau auf die gesamte Menschheitsgeschichte. Er glaubte in den Ariern das kulturschöpferische Element der Geschichte gefunden zu haben. Auf diese übertrug er die Eigenschaften, die seine Vorläufer den jeweils von ihnen bevorzugten Menschengruppen zugeordnet hatten. Gobineau sah in den in Nordwest-Europa lebenden, »germanischen Ariern« die zur Herrschaft berufene Eliterasse. Obwohl Gobineau selbst die heutigen Deutschen als keltisch-slawische Mischlinge ansah, hatten seine Thesen in Deutschland eine große Wirkung und beeinflussten Nietzsche, Wagner und Chamberlain.
Die revolutionären Bewegungen in der Mitte des 19. Jahrhunderts, die gemeinhin als bürgerlich bezeichnet werden, deuten in Wahrheit auf die Emanzipation gesellschaftlicher Kräfte, die die soziale Ordnung nicht mehr wie die weitverzweigten Sippen der europäischen Dynastien auf Blut- und Verwandtschaftsbindungen aufbauen wollten. Die Habsburger können als Beispiel einer solchen Sippe gesehen werden. Diese Sippen befanden sich alle in einem permanenten Abwehrkampf: in einem Abwehrkampf gegen andere hochadlige Blutssippen, die ihren Reichtum und ihren geographischen Herrschaftsbereich erweitern wollten, in einem Abwehrkampf gegen die unebenbürtigen Emporkömmlinge, die ihren Anteil an der gesellschaftlichen Macht einforderten.
Steiner hat 1917 in seinen Vorträgen über den Sturz der Geister der Finsternis Mitte des 19. Jahrhunderts deutlich gemacht, dass eine soziale Ordnung, die sich allein auf Blutszusammenhänge begründen will, nicht nur anachronistisch und fortschrittsfeindlich ist, sondern sich mit den geistigen Mächten des Bösen verbündet. Als er sich 1900 in der Theosophischen Gesellschaft auf Einladung der Gräfin Brockdorff zu betätigen begann, hatte er es aber zu einem Großteil mit einem Kreis von Menschen zu tun, die jener Gesellschaftsschicht angehörten, die es gewöhnt war, gesellschaftliche Macht als an Bluts- und Verwandtschaftsbeziehungen gebunden zu denken. Seine Versuche, diesbezüglich eine Änderung der Denkart herbeizuführen, stießen beim theosophischen Publikum, mit wenigen Ausnahmen, auf keinerlei Interesse. Die Veröffentlichung des Aufsatzes Theosophie und soziale Frage in der Luzifer-Gnosis 190518, in dem Steiner erstmals das sog. »soziale Hauptgesetz« beschrieb, rief kein positives Echo hervor. Die noch relativ unpolitische Formulierung dieses Gesetzes, dass das Heil einer Gesamtheit von zusammenarbeitenden Menschen um so größer sei, je weniger der einzelne die Erträgnisse seiner Leistungen für sich beanspruche, d.h., je mehr er von diesen Erträgnissen an seine Mitarbeiter abgebe und je mehr seine eigenen Bedürfnisse nicht aus seinen Leistungen, sondern aus den Leistungen der anderen befriedigt würden, weckte nicht das soziale Gewissen der Angehörigen der herrschenden Klasse. Steiner versuchte daher auf anderen Wegen, den geistigen Horizont seiner Zuhörer zu erweitern, indem er sie einerseits von ihrem Denken in Rassenbegriffen zu befreien versuchte, die nur eine säkulare Metamorphose des dynastischen Denkens darstellten, von der mittlerweile große Teile der europäischen Gesellschaft durchdrungen waren, und indem er sie andererseits unablässig auf die allgemein-menschliche Bedeutung des Christus-Ereignisses hinwies, die in der Erweckung eines Bewusstseins von der unveräußerlichen Würde des Menschenbruders besteht. Sobald sich durch den Verlauf des I. Weltkriegs in den gesellschaftlichen Verhältnissen radikale Veränderungen abzeichneten, begann er sich mit seiner Bewegung für Dreigliederung des sozialen Organismus sofort an jene neuen gesellschaftlichen Kräfte zu wenden, die aus dem Bürgertum und dem Proletariat stammten und nach einer sozialen Neuordnung suchten, die ihre eigenen Interessen angemessen berücksichtigte. Eine solche Neuordnung war aber ohne gestaltungskräftige Ideen nicht zu erreichen. Deswegen verwies Steiner seine Zuhörer unentwegt auf den Weg der Philosophie der Freiheit, in der er dargestellt hatte, wie der einzelne, sozial Entwurzelte und Deklassierte sich einen Erkenntniszugang zum Quell aller geistigen und damit auch sozialen Ordnung zu bahnen vermag. In dieser Begründung des ethischen Individualismus, in der Steiner alle kollektivistischen und normativen gesellschaftlichen Ordnungsvorstellungen zurückwies, lieferte er nicht nur historisch einzigartig eine philosophische Begründung für die Möglichkeit der Demokratie und einer pluralistischen Gesellschaft, er wies auch nach, dass eine Form der sozialen Ordnung möglich ist, in der gleiches Recht für Alle und individuelle Freiheit miteinander vereinbar sind, indem er dem Gesetz den Geltungsbereich des nicht selbstbestimmten Handelns zuwies und die individuelle moralische Phantasie zur Ursache aller sozialen Evolution erklärte.
Das 19. Jahrhundert war nicht nur das Jahrhundert der Romantik. Dessen erstes Drittel wurde ebenso durch den deutschen Idealismus und den Goetheanismus bestimmt. Doch während der lebendige Platonismus dieser Geistesströmungen die Gebildeten in ihrem geistigen Areopag vereinte, wuchs – von ihnen unbemerkt – eine neue Generation von radikalen Aristotelikern heran, die mit dem Anbruch des zweiten Drittels dieses Jahrhunderts Plato aus Deutschland vertreiben sollten. Die Geister, die dessen Fackel durch die Stürme der politischen und kulturellen Revolutionen zu retten versuchten, erscheinen von der Warte des Jahrhundertendes wie verirrte Wanderer, die sich mehr oder weniger verzweifelt bemühen, ein Licht durch die Finsternis tragen, ohne dass es verlöscht. Die Todesjahre Hegels (1831) und Goethes (1832) erscheinen wie Grenzmarken im Fluss der Zeit, die die Erinnerung an etwas bewahren, was der Vergessenheit anheimzufallen droht. Der späte Schelling stand Anfang der 40er Jahre in Berlin auf verlorenem Posten als einsamer Fackelträger eines Geistes, der unter den Wogen der materialistischen Flut unterging.
11) Peter Bierl, Ökofaschismus und New Age, in: ÖkolinX 11, Juni/Juli /August 1993, S. 32.
12) Zitiert nach: Richard Benz, Die romantische Geistesbewegung, Propyläen Weltgeschichte, 8. Band, S. 216.
13) Zitiert nach Ricarda Huch: Die Romantik, Tübingen o.J., S. 224.
14) Huch, a.a.O, S. 225.
15) Arendt, S. 367.
16) Die Ehen zur linken Hand waren ein exklusives Rechtsinstitut, das in Deutschland erst 1919 abgeschafft wurde. Es bezeichnete eine nach der Form der Antrauung benannte standesungleiche Ehe, deren vermögens- und rechtliche Wirkungen durch den Ehevertrag ausdrücklich festgelegt wurden. Da die Frau nur eine Morgengabe und nicht auch das Wittum erhielt, hieß diese Eheform morganatisch. Die Lage der unebenbürtigen Frau und der aus der Ehe entsprossenen Kinder wurde gegenüber der einfachen Missheirat durch Einräumung eines Titels und Ranges sowie von vermögensrechtlichen Vorteilen verbessert. Dagegen konnte der Ausschluss der Frau und der Kinder vom Standesrecht des hohen Adels, wie er bei der unebenbürtigen Ehe eintrat, nicht vertraglich beseitigt werden.
17) Der Ausdruck Bastard wurde aus dem Altfranzösischen ins Mittelhochdeutsche übernommen und ursprünglich auf Kinder angewandt, die aus der nicht rechtmäßigen (nicht standesgemäßen) Ehe eines Adligen stammten, aber vom Vater anerkannt wurden und erhielt im 19. Jahrhundert die weitere Bedeutung »uneheliches Kind« und »Mischling«. Die Anthropologie bezeichnet laut Brockhaus von 1967 als Bastarde Abkömmlinge aus der Kreuzung von Angehörigen verschiedener Rassenkreise (europid-negrid, europid-mongolid usw.) . Manche Bastarde besitzen eigene Artnamen wie die Mulatten, Mestizen und (Rehoboter) Bastaards. An Mischlingen konnte die mendelnde Vererbung vieler Rassenmerkmale beim Menschen nachgewiesen und die Auffassung widerlegt werden, Rasse werde als Ganzes vererbt. Im Brockhaus heißt es weiter: »Infolge ihrer Stellung zwischen den Ausgangsrassen, die sich auch soziologisch und politisch auswirkt, spielen die Bastarde dort, wo sie häufiger vorkommen (Amerika, Indonesien), meist eine große Rolle im politischen Leben der Völker. Sie entstehen oft aus Kreuzungen zwischen Angehörigen der unteren Schichten beider Ausgangsrassen. Ebenso vollzieht sich ihre Entwicklung noch oft unter ungünstigsten Umweltbedingungen (Hafen-, Minenstädte, Unehelichkeit). Das führte zu der irrigen Annahme der generellen erblichen Minderwertigkeit der Bastarde. Entscheidend für die erblichen Anlagen sind in erster Linie Erbanlagen der sich kreuzenden Individuen. Auch die Frage einer allgemeinen Disharmonie der Bastarde auf Grund der oft extremen Verschiedenheit der Eltern ist umstritten.«
18) Rudolf Steiner, Geisteswissenschaft und soziale Frage, Luzifer-Gnosis, Oktober 1905, GA 34, S. 191 f.
Vom wahren Geist der Romantik
Das Programm der Romantik wurde von den Gebrüdern Schlegel, Novalis und anderen formuliert. Es erhellt auch Steiners Verständnis des deutschen Geistes.
Das philosophische Programm der Romantik wurde von den Gebrüdern Schlegel, Novalis und anderen im Athenäum zwischen 1798 und 1800 formuliert. Deren Entwürfe werfen auch ein Licht auf Steiners Verständnis des Bildungs- und Kulturauftrags des deutschen Geistes. Wilhelm Schlegel brachte die höchsten sittlichen Ideale der Romantiker in dichterischer Form zum Ausdruck:
»Ich wollte dieses Leben
Durch ein unendlich Streben
Zur Ewigkeit erhöhn«
Ricarda Huch hat das Anliegen des Athenäum zusammengefasst:
»Ein majestätischer Idealismus ist die Weltanschauung, die das Athenäum proklamiert. An allem Äußerlichen, das die Mehrzahl der Menschen wichtig dünkt und sie beschäftigt, wird mit großartiger Nachlässigkeit vorübergegangen, oder das innerliche Wesen wird daraus hervorgesucht und dadurch die Alltäglichkeit ihren Verehrern entfremdet und auf eine hohe Stufe gerückt. »Nicht in die politische Welt verschleudere du Glauben und Liebe, aber in die göttliche Welt der Wissenschaft und Kunst opfere dein Innerstes in dem heiligen Feuerstrom ewiger Bildung.««19
Wissenschaft und Kunst werden von Friedrich Schlegel geradezu den Göttern und der Unsterblichkeit gleichgesetzt. Hierin unterschied er sich nicht sehr von Goethe, den Steiner zustimmend mit seinem Aphorismus zitierte:
»Wer Wissenschaft und Kunst besitzt, hat auch Religion, Wer jene beiden nicht besitzt, der habe Religion.«20
Ricarda Huch fährt fort: »Als der höchste Vorzug der Deutschen wird ihr Idealismus hingestellt: »Nicht Hermann und Wodan sind die Nationalgötter der Deutschen, sondern die Kunst und die Wissenschaft.«21 Die Athenäisten waren sich aber der Tatsache bewusst, wie wenig die deutschen Verhältnisse ihren Ansprüchen genügten, deswegen formulierten sie ja diese Ansprüche. Das Athenäum: »es gibt nur wenige Deutsche«, die ihrem Begriff genügen. Die Romantik strebte nach Universalität und Totalität von Bildung und Entfaltung der menschlichen Existenz.
»Universalität ist Wechselbetätigung aller Formen und Stoffe.« Kunst und Wissenschaft sollten nicht mehr in getrennten Bahnen verlaufen, sondern sich gegenseitig befruchten: »Alle Kunst soll Wissenschaft und alle Wissenschaft soll Kunst werden; Poesie und Philosophie sollen vereinigt werden.« Ganz ähnlich Steiner 1919 in seiner Ansprache bei der Eröffnungsfeier der ersten Waldorfschule in Stuttgart: »Und ist es nicht schließlich eine höchste religiöse Verpflichtung, das Göttlich-Geistige, das ja in jedem Menschen, der geboren wird, neu erscheint und sich offenbart, in der Erziehung zu pflegen? Ist dieser Erziehungsdienst nicht religiöser Kult im höchsten Sinne des Wortes? … Lebendig werdende Wissenschaft, lebendig werdende Kunst, lebendig werdende Religion, das ist schließlich Erziehung.«22 Die Poesie, die auf ihrer höchsten Stufe der Verwirklichung eins wird mit der Wissenschaft und mit dieser zusammen in Religion mündet, das ist romantische Poesie, Universalpoesie, Poesie der Poesie. Für das athenäische Verständnis vermag die Poesie alles zu verunendlichen, denn selbst im geringsten, scheinbar unbedeutendsten Gegenstand verbirgt sich ein Unendliches. Auch hierzu schuf Goethe eine von Steiner häufig zitierte Formel: »Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis …«23 Dies bedeutet aber nicht, dass das Vergängliche verachtet wird, denn nur wenn es mehr beachtet und geachtet wird, als dies im Alltag der Fall ist, kann das Unvergängliche, dessen Gleichnis das Vergängliche ist, überhaupt in ihm entdeckt werden.
Alles sollte so betrachtet werden, dass darin der göttliche Urgrund, aus dem es stammt, sichtbar werde. Das verstanden die Athenäisten unter Poetisierung der Welt. Sie sahen sich mit ihrem Anliegen in deutlichem Gegensatz zur platten Aufklärung, die die gesamte Welt nur nach teleologischen und utilitaristischen Grundsätzen beurteilte. Solche Aufklärer wie Nicolai, Wolff und andere waren für die Romantiker vernünftig, aber dumm. Das Athenäum: »Es gibt rechtliche und angenehme Leute, die den Menschen und das Leben so betrachten, als ob von der besten Schafzucht oder vom Kaufen oder Verkaufen der Güter die Rede wäre. Es sind Ökonomen der Moral, und eigentlich behält wohl alle Moral ohne Philosophie einen gewissen illiberalen und ökonomischen Anstrich … Es gibt ökonomische Schwärmer und Pantheisten, die nichts achten als die Notdurft und sich über nichts freuen, als über ihre Nützlichkeit. Wo sie hinkommen, wird alles platt und handwerksmäßig, selbst die Religion, die Alten und die Poesie, die auf ihrer Drechselbank um nichts edler ist als Flachshechseln.«
Der Anspruch des Athenäum war aristokratisch und elitär, zugleich aber auch demokratisch und egalitär. Denn Eintritt in die unsichtbare Kirche derer, die sich dem romantischen Geist verbunden fühlten, musste und konnte nur die Selbstbefähigung gewähren. Nicht durch Abkunft oder Geburt, sondern nur durch freie Selbsteinweihung adelt sich der Einzelne zum Aristokraten des Geistes. Eines jeden Beruf ist es, sich zum Künstler, zum Menschen zu bilden und sich dadurch dem Göttlichen anzunähern. Die Würde des Menschen, die der Adel für sich beanspruchte, gehört jedem Einzelnen: »Künstler ist ein jeder, dem es Ziel und Mitte des Daseins ist, seinen Sinn zu bilden.« Allerdings ist dazu erforderlich, »sich auf ewig von allem Gemeinen abzusondern.« Es ist des Menschen höchster Beruf, durch Bildung und allseitige Entwicklung seiner Fähigkeiten über seinen Naturzustand hinaus zu wachsen und zugleich ist dieser Naturzustand des Menschen das Genie, das durch Bildung erst zu einem Bewusstsein seiner selbst erweckt werden muss. »Jeder ungebildete Mensch ist eine Karikatur von sich selbst.« Sich Bilden heißt: sich durch Selbsterziehung immer mehr seinem eigenen Ideal anzunähern. Nicht anders sah auch Steiner die Entfaltung des Menschen, wenn er in der Philosophie der Freiheit 1894 schrieb: »Die Natur macht aus dem Menschen bloß ein Naturwesen, die Gesellschaft ein gesetzmäßig handelndes, ein freies Wesen kann er nur selbst aus sich machen […] Der Mensch bleibt in seinem unvollendeten Zustande, wenn er nicht den Umbildungsstoff in sich selbst aufgreift und sich durch eigene Kraft umbilden.«24 Der Mensch muss die rauhe Schale abwerfen, um zu seinem Kern zu gelangen, er muss sich selbst erziehen, seiner Seele eine edlere Gestalt geben, als sie sie von Natur besitzt: nur indem die Erscheinung des Menschen ein Abbild seines selbstgeschöpften Ideals wird, vermag er den Widerstreit zwischen Vernunft und Sinnlichkeit zu versöhnen. Novalis: »Der Adel des Ichs besteht in freier Erhebung über sich selbst – Laster ist eine ewig steigende Qual, Abhängigkeit vom Unwillkürlichen, Tugend ein ewig steigender Genuss, Unabhängigkeit vom Zufälligen.«
Friedrich Schlegel drückte diesen Glauben der Romantik an die Allfähigkeit des Menschen, an seine Entwicklung durch Selbstbildung, prägnant aus: »Jeder gute Mensch wird immer mehr und mehr Gott. Gott werden, Mensch sein, sich bilden sind Ausdrücke, die einerlei bedeuten.« Aber nicht um Selbstvergottung um ihrer selbst willen geht es, nicht um Befriedigung der Eitelkeit oder schnöden Egoismus der Glückseligkeit, sondern um die Anderen, an denen wir Anteil nehmen und eben, indem wir unser Wesen durch Anteilnahme an ihnen erweitern, gelangen wir erst zur Humanität: »Kein Mensch ist schlechthin Mensch, sondern kann und soll wirklich und in Wahrheit auch die ganze Menschheit sein.« Novalis beschreibt das romantische Bildungsideal wie folgt: »Die höchste Aufgabe der Bildung ist, sich seines transzendenten Ichs zu bemächtigen, das Ich seines Ichs zugleich zu sein.« Auch dies wieder eine Formel für das Streben nach Allseitigkeit und Tiefe der Individualität. Friedrich Schlegel betont in seiner Lucinde, dass Bildung sich nur am Menschen, durch den Menschen und für den Menschen vollzieht: »Nur in der Antwort seines Du kann jedes Ich seine unendliche Einheit ganz fühlen. Dann will der Verstand den inneren Keim der Gottähnlichkeit entfalten, strebt immer mehr nach dem Ziele und ist so voll Ernst, die Seele zu bilden, wie ein Künstler das eigene geliebte Werk. In den Mysterien der Bildung schaut der Geist das Spiel und die Gesetze der Willkür und des Lebens. Das Werk des Pygmalion bewegt sich, und den überraschten Künstler bewegt ein Schauern im Bewusstsein eigener Unsterblichkeit, und wie der Adler des Ganymedes reißt ihn die göttliche Hoffnung mit mächtigem Fittich zum Olymp.«
In der Frühromantik ist auch jenes individualistische Verständnis von Religion vorgeformt, auf das Steiner in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts in Anknüpfung an diese Bildungsstufe des europäischen Geistes zurückkommt.
»Die Religion ist nicht bloß ein Teil der Bildung, ein Glied der Menschheit, sondern das Zentrum aller übrigen, überall das Erste und Höchste, das schlechthin Ursprüngliche.« Nichts anderes meint Steiner, wenn er den Wahlspruch der Rosenkreuzer zitiert: jenes ex deo nascimur – in Christo morimur – per spiritum sanctum reviviscimus. Aus dem Göttlichen geht der Mensch hervor, im Göttlichen erstirbt sein sterbliches Wesen, aus dem Göttlichen zeugt er sich selbst als Unsterblicher. Die Romantiker sehen den Menschen auf dem Wege, als Wanderer, dem aber das Wissen um sein ihm bestimmtes Ziel eingeboren ist. Auch hier wieder Goethe: »Ein guter Mensch in seinem dunklen Drange, ist sich des rechten Weges wohl bewusst«25; und das Athenäum: »Dein Ziel ist Kunst und Wissenschaft, dein Leben Liebe und Bildung. Du bist, ohne es zu wissen, auf dem Wege zur Religion. Erkenne es, und du bist sicher, dein Ziel zu erreichen.«
Nicht konventionell oder traditionell ist diese Religion gemeint, sondern spirituell: jeder Einzelne ist umflossen von ihr, sofern er sich überhaupt zur Sittlichkeit erhebt, die wiederum individualistisch konzipiert wird und nicht normativ oder kollektiv: »Die erste Regung der Sittlichkeit ist Opposition gegen die positive Gesetzlichkeit und konventionelle Rechtlichkeit – eine grenzenlose Reizbarkeit des Gemütes.« Die individuelle Form der Sittlichkeit, die Steiner in seiner Philosophie der Freiheit als aus der moralischen Phantasie entspringend denkt, steht über dem Gesetz, auch wenn sie nicht zu ihm im Widerspruch stehen muss, es sei denn, das Gesetz selbst ist nicht Ausdruck der Humanität. Der freie Geist im ethischen Individualismus Steiners strebt nicht nach Glückseligkeit, denn Glückseligkeit ist kein vollbestimmter Strebensinhalt, er strebt nach Totalität seines Wesens, nach Erweiterung seiner Existenz, nach Durchdringung der Welt mit seinem Geist, nach Universalität, Vergöttlichung der Natur einschließlich seiner eigenen, weil die höchste Selbstliebe Liebe zum höheren Selbst ist, das die Schöpfung mit all ihren Wesen einschließt. Ähnlich Novalis: »In der Tat ist es keinem nachdenkenden Menschen in den Sinn gekommen, ein so flüchtiges Wesen wie Glückseligkeit zum höchsten Zweck, gleichsam also zum ersten Träger des geistigen Universums zu machen. Ebenso könnte man sagen, dass die Weltkörper auf Äther und Licht ruhten. Wo ein fester Punkt ist, da sammelt sich Äther und Licht von selbst und beginnt seinen himmlischen Reigen; wo Pflicht und Tugend – Analoga jener festen Punkte – sind, da wird jenes flüchtige Wesen von selbst ein- und ausströmen und jene kalten Regionen mit belebender Atmosphäre umgeben.«
Geradezu eine prophetische Beschreibung der von Steiner begründeten Anthroposophie bis hin zum methodischen Ansatz stellt der folgende Aphorismus von Novalis dar: »Die Geisterwelt ist uns in der Tat schon aufgeschlossen, sie ist immer offenbar! Würden wir plötzlich so elastisch, als es nötig wäre, so sähen wir uns mitten in ihr. Unser jetziger mangelhafter Zustand macht immer eine Heilmethode nötig, sie bestand ehemals in Fasten und moralischen Reinigungen, jetzt wäre vielleicht die stärkende Methode nötig.« In dem von Novalis gemeinten Sinne beruht der anthroposophische Schulungsweg, der des Menschen Seele so elastisch werden lässt, dass sich ihrem Auge die Geisterwelt eröffnet, nicht auf einer Herabdämpfung des Bewusstseins wie im Mediumismus oder im Somnambulismus, sondern auf dessen Stärkung, Steigerung, Erkraftung.
In eine ähnliche Richtung gehen die Fragmente des Novalis: »Wir müssen den Körper wie die Seele in unsere Gewalt bekommen. Der Körper ist das Werkzeug zur Bildung und Modifikation der Welt; wir müssen also unsern Körper zum allfähigen Organ auszubilden suchen. Modifikation unseres Werkzeugs ist Modifikation der Welt.« Ebendiese Gedanken liegen auch der Anschauung Steiners von der Verwandlung, der Transmutation des leiblichen Wesens des Menschen durch die kultivierende Arbeit des Ich zugrunde. Das höchste, das der Mensch besitzt, ist nach Steiner sein physischer Leib: ein Tempel Gottes, aber dem menschlichen Ich mangelt es an Bewusstsein von der Fülle der Gottheit, die in diesem Tempel gegenwärtig ist. Das Ich strebt danach, das Unbewusste in Bewusstes zu verwandeln [hierin ist Freud der Romantik verpflichtet] und durch die eigene Göttlichwerdung mit dem Göttlichen eins zu werden.
Was dieser Bewusstwerdung der unbewussten Göttlichkeit entgegensteht, ist die Trägheit der Seele, die vom Endlichen und Vergänglichen fasziniert, diesem erliegt. Nur die Befreiung von der Schwere des Endlichen setzt das menschliche Ich imstande, dieses zu gestalten und zu vergeistigen. Novalis drückt diesen Gedanken in seiner kristallenen Sprache aus: »Das Fatum, das uns drückt, ist die Trägheit unseres Geistes. Durch Erweiterung und Bildung unserer Trägheit werden wir uns selbst in das Fatum verwandeln. Alles scheint auf uns hereinzuströmen, weil wir nicht herausströmen. Wir sind negativ, weil wir wollen; je positiver wir werden, desto negativer wird die Welt um uns herum, bis am Ende keine Negation mehr sein wird, sondern wir alles in allem sind. Gott will Götter.«
Die Verwandlung und Erhöhung der Natur in Geist und durch den Geist, die Erweiterung des Menschen-Ich zum All, die Verschmelzung des Abbildes der Gottheit mit dem Urbild, ohne dass jenes seine individuelle Wesens-Distinktion verlöre, dieser tiefste eschatologische Gedanke des Christentums, den Clemens von Alexandrien und Origenes im Begriff der Apokatastasis, der Wiederherstellung aller Dinge und der moralischen Intuition der Mitarbeit des Menschen am göttlichen Erlösungswerk zusammenfassten, die sie wie jene von Paulus empfingen, umschreibt das Fernziel der Menschheitsentwicklung, das auch Steiner vorschwebte. Schelling drückte denselben Gedanken wie folgt aus: »Nur in dem Punkte, wo das Ideal uns selbst ganz auch das Wirkliche, die Gedankenwelt zur Naturwelt geworden ist, allein in diesem Punkte liegt die letzte, die höchste Befriedigung und Versöhnung der Erkenntnis, wie die Erfüllung der sittlichen Forderungen allein dadurch erreicht wird, dass sie uns nicht mehr als Gedanken, z.B. als Gebote erscheinen, sondern zur Natur unserer Seele und in uns wirklich geworden sind.« Ohne sittliche Entwicklung, ohne Fortschritt von der normativen zur Freiheitsethik ist, wie der zweite Teil des Schellingzitates in Übereinstimmung mit Steiners Überlegungen in seiner Philosophie der Freiheit deutlich macht, dieses Ziel nicht zu erreichen. »Erst wenn wir den Weltinhalt zu unserem Gedankeninhalt gemacht haben«, heißt es in der Philosophie der Freiheit Steiners, ist die Versöhnung von Ich und Natur erfolgt.26 Gemeint ist aber nicht der abstrakte Gedanke, gemeint ist das geistige Einswerden des erkennenden Menschen-Ich mit den geistigen Gestaltungskräften des Kosmos.
Ricarda Huch über die Politik der Romantik: »Durchaus unrichtig ist … dass die romantische Richtung »mit politischem und kirchlichem Obskurantismus« notwendig verbunden sei. … Den Gegnern der Romantik ganz besonders zuwider war, dass sie die Politik nicht von der Religion trennen wollten. Es gehört zu ihren wesentlichen Ideen, dass die Religion die Grundlage – oder Spitze – der Wissenschaft, der Kunst und des staatlichen Lebens sei … In ihren Augen war »Recht tun und Gerechtigkeit üben einzig wahre Politik«, der Staat eine Pflanzschule der Humanität, weder dazu da, um auf der einen Seite Freiheit, noch um auf der anderen Macht zu gewährleisten, Ansichten, die denen der Fürsten und Minister ganz und gar nicht entsprachen und von denen sie sich nur aneigneten, was ihre Reaktionspolitik theoretisch stützen konnte. … Mit den Zuständen, die die Reaktion herbeiführte, konnten die Romantiker sich ebensowenig einverstanden erklären wie mit denen, die eine nivellierende Revolution wollte, und taten sie es doch, so war es Resignation der Alternden und Kampfesmüden. … In allen Fragen ist es so: hatten die Romantiker im Allgemeinen das Recht der Stämme und Nationalitäten vertreten, so rief doch Ringseis warnend, sowie sich das gefährliche, kulturfeindliche dieser Richtung zeigte: »Lassen wir uns nicht vom Nationalitätsteufel umgarnen: – Was würde in Zukunft geschehen, wenn die Nationen sich isolierten!««27
Mit diesem Urteil Ricarda Huchs stimmt Hannah Arendt überein, wenn sie über Görres, E.M. Arndt und den Turnvater Jahn schreibt, dass diese sich »noch ganz im Rahmen nationalen« und nicht rassischen oder gar rassistischen Denkens bewegt hätten. »Der Prüfstein hierfür ist«, so Arendt, »dass die gleichen Männer, die (wie Jahn) das Leben der Menschen mit dem der Tiere vergleichen, doch darauf bestehen, dass »ein jedes verlöschende Volkstum ein Unglücksfall für die Menschheit [sei] … [denn] in einem Volke kann sich der Adel der Menschheit nicht einzig aussprechen«. In dem gleichen Sinne meint Görres: »Es hat kein Stamm einen Anspruch auf den Besitz eines anderen«, und Arndt war ein begeisterter Vorkämpfer der italienischen und polnischen nationalen Befreiungsbewegungen.«28 Im übrigen, so Arendt, blieb die »Entwicklung des deutschen Nationalgefühls« »entscheidend an der Tatsache der Fremdherrschaft und nationalen Unterdrückung orientiert, es blieb ein Reaktionsgefühl, das ohne die Realität eines äußeren Feindes seinen Sinn verlor …«29
Die Naturwissenschaft der Romantik wurde durch Gestalten wie Hufeland, Schelling, Oken, Kieser, Ennemoser, Schubert und Carus geprägt.
Hufeland (1762-1836), der Begründer der Makrobiotik, war einer der letzten großen Vollärzte. 1795 begann er mit der Herausgabe seines Journals der practischen Arzneykunde und Wundarzney. Mit diesem Periodikum schuf er ein Forum, auf dem auch eine theoretische Diskussion über Homöopathie, Akupunktur, Wasserheilkunde und andere medizinische Neuerungen des 19. Jahrhundert ausgetragen werden konnte. Hufeland war mit Herder, Wieland, Schiller und Goethe befreundet. Seine Ideen zur Makrobiotik trugen ihm 1792 eine Berufung an die Universität Jena durch den Herzog Karl August von Sachsen, und im Jahr 1800 zum Leibarzt des preußischen Königs ein. Unter Makrobiotik verstand Hufeland eine Kunst, das Leben zu verlängern, die nicht auf künstlichen Veranstaltungen beruhte, sondern auf der Berücksichtigung der Lebensregeln des Organismus. Während er den obersten Zweck der Medizin darin sah, Krankheiten zu beseitigen, erkannte er als Makrobiot die Möglichkeit an, dass manche Krankheiten das Leben des Menschen verlängern. Das größte Geheimnis, um alt zu werden, sah Hufeland im Einhalten des rechten Maßes in den inneren und äußeren Lebensverhältnissen, während alle Extreme dem Leben schädlich seien.
Lorenz Oken (1779-1851) veröffentlichte 1803 seine Naturphilosophie. Er wirkte ab 1832 an der Universität Zürich. Zwischen 1817 und 1843 gab er die naturhistorische Zeitschrift Isis heraus und gründete die Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte, deren erste Zusammenkunft 1822 in Leipzig stattfand, jene Gesellschaft, die ab den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts zum Schauplatz der Kämpfe zwischen Materialisten und Spiritualisten wurde, der schließlich mit der vollständigen Verdrängung der letzteren aus der deutschen Kultur- und Bildungswelt endete.
Dietrich Georg Kieser (1779-1862) wirkte ab 1812 als Professor der Medizin in Jena. Er veröffentlichte 1822 sein System des Tellurismus, in dem er zu zeigen versuchte, wie das himmlische (planetarische und kosmische) Leben auf das irdische Leben Einfluss nimmt. Er schuf eine an Schellings Naturphilosophie anknüpfende Gesundheits- und Krankheitslehre, für die die Polarität zwischen positivem und negativem Prinzip von grundlegender Bedeutung ist.
Joseph Ennemoser (1787-1854), Sprössling einer Südtiroler Bauernfamilie, promovierte, nach seiner Teilnahme am Tiroler Aufstand 1809, 1816 an der Berliner Universität in Medizin. Hier traf er mit dem Vertreter des Mesmerismus Karl Christian Wolfart zusammen. Seine durch diese Begegnung angeregte Beschäftigung mit dem Lebensmagnetismus führte zu einer Reihe von Arbeiten über Psychologie und Anthropologie. Seit 1819 war er Inhaber eines Lehrstuhls in Bonn.
Der Mesmerismus, ein empirisches Ingrediens der damaligen naturphilosophischen Diskussion, das auch in Schellings System der Philosophie eine bedeutende Rolle spielte, ging auf den Wiener Arzt Franz Anton Mesmer (1734-1815) zurück, der das Konzept des tierischen Magnetismus formuliert hatte. Er entwickelte, aufbauend auf dem tierischen Magnetismus, eine umfassende Theorie des Heilens. Grundlage für die magnetischen Phänomene bildete eine kosmische Kraft, die »Allflut« oder das »universelle Fluidum«, eine unerschöpfliche Quelle von Lebenskräften, die auch den menschlichen Organismus durchdringen und beleben. Diese kosmischen Kräfte wirken insbesondere über das tierische Nervensystem in Gestalt des Nervenfluidums. Krankheiten sind auf Stauungen oder Stockungen des Flusses dieses Fluidums zurückzuführen, Heilung erfolgt, wenn diese Stauungen mit Hilfe des Magnetisierens aufgelöst werden.
Mesmers medizinisches Konzept beruhte auf naturphilosophischen Ansichten, die ihn in der Heilung eine Nachahmung der Natur sehen ließen. So wie die Erde ihre maritimen Wassermassen durch Ebbe und Flut in ständiger Bewegung erhält, müssen auch die Fluten des kosmischen Lebens im menschlichen Organismus in ständiger Bewegung erhalten werden. Kommt es im Organismus zu Stauungen dieses Flusses, muss er wieder in Gang gebracht werden. Gleichzeitig lehnte sich Mesmer an Newton an, indem er in Analogie zur physikalischen Schwerkraft eine animalische Schwerkraft – »gravitas animalis« – postulierte, die in alle Teile des Körpers eindringt und sogar die Nervenflüssigkeit erfasst. Seine Erfahrungen und Heilerfolge schienen diese Hypothesen, die er bereits in seiner Dissertation Über den Einfluss der Gestirne auf den menschlichen Körper30 formulierte, zu bestätigen.
Während er allmählich in ganz Europa zum Mittelpunkt des gesellschaftlichen Interesses wurde, versagten ihm die wissenschaftlichen Institutionen ihre Anerkennung. Eine Untersuchungskommission der Pariser Akademie unter der Leitung von Benjamin Franklin (!), lehnte seine Theorien als unwissenschaftlich ab.31 Sein Hauptwerk Mesmerismus oder das System der Wechselwirkung erschien kurz vor seinem Tod 1814. Die Romantik griff den Mesmerismus auf und wendete seine Bedeutung ins Psychologische und Spirituelle. Das 19. Jahrhundert war vom Mesmerismus in erheblichem Maß beeinflusst, dessen Konzept sich nicht nur in der Medizin, sondern auch in den übrigen Wissenschaften, in der Kunst und im Alltag auswirkte. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erlangte der Mesmerismus in der Anwendung der Hypnose bei der Therapie seelischer Erkrankungen, in der Psychiatrie und gegen Ende des Jahrhunderts in der sich entwickelnden Psychotherapie erneute Aktualität.
Gotthilf Heinrich Schubert, der Arzt und Naturphilosoph (1780-1860), veröffentlichte 1806 seine Vorlesungen Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaften. Sein Anliegen bestand darin, die dunklen Botschaften der verborgenen natura naturnah aus jenen Erscheinungen zu erkennen, in denen sie sich mehr kundgibt, als in den Phänomenen der Mechanik. Er setzte sich philosophisch mit dem tierischen Magnetismus auseinander. In den zwanziger Jahren konnte er dieses Interesse durch Versuche mit der Seherin von Prevorst vertiefen, die er zusammen mit Justinus Kerner durchführte. Auch Heinrich Jung-Stillings Geisterkunde (1808) gehört in den Umkreis der romantischen Naturphilosophie und Medizin. Schubert befasste sich im Sinne des philosophischen Universalgelehrtentums auch mit Geologie, Naturgeschichte, Astronomie und Kunstgeschichte. Mit seiner Arbeit über die Symbolik des Traumes beeinflusste er nicht nur maßgeblich die romantische Psychologie, sondern auch das gesamte Weltverständnis seiner Epoche.
Carl Gustav Carus (1789-1869) war seit 1817 Professor für Frauenheilkunde in Dresden. Ab 1827 wirkte er als königlicher Leibarzt. Goethe übte einen starken Einfluss auf ihn aus, der sich in seinen naturwissenschaftlichen, medizinischen und psychologischen Studien bemerkbar machte. Er führte in seiner Psyche (1846) Jahrzehnte vor Freud den Begriff des Unbewussten ein.
In diese Reihe gehört auch Samuel Hahnemann (1755-1843), der Begründer der Homöopathie. Sein Organon der rationellen Heilkunst erschien erstmals im Jahr 1810. Bereits 1807 hatte der Meißener für sein neues System der Heilkunde den Begriff der Homöopathie geprägt. Hahnemann erlangte 1779 in Heidelberg die medizinische Doktorwürde, siedelte 1785 nach Dresden und 1789 nach Leipzig über. Er übte scharfe Kritik an den in der Humoralpathologie gebräuchlichen ableitenden therapeutischen Maßnahmen (Aderlass). 1790 unternahm er Selbstversuche mit der Chinarinde und beobachtete an sich alle Symptome des Wechselfiebers. Dieser Selbstversuch führte ihn auf die Idee des homöopathischen Prinzips: eine Pflanze vermag deshalb, eine Krankheit zu heilen, weil sie imstande ist, beim Gesunden Erscheinungen hervorzurufen, die den Krankheitssymptomen ähnlich sind. Schon im Jahr 1796 begründete Hahnemann seine neue medizinische Auffassung in Hufelands Zeitschrift und formulierte eine offene Kampfansage gegen die allopathische Medizin. Ab 1801 trat in seiner Arzneimittellehre das Prinzip der Potenzierung hinzu. 1811 habilitierte er sich in Leipzig und gründete 1813 eine Arbeitsgemeinschaft für Arzneimittelprüfungen, aus deren Tätigkeit die homöopathischen Repertorien hervorgegangen sind. Als die Leipziger Apotheker – Vorläufer der pharmazeutischen Industrie – gegen die Heilmittelherstellung Hahnemanns klagten, verlegte er seine Praxis nach Köthen und emigrierte 1835 nach Paris.
Auch der »Prophet« der Seherin von Prevorst, Justinus Kerner (1786-1862), war Arzt. 1829 erschien seine zweibändige Krankengeschichte der Friederike Hauffe, die zwischen 1825 und ihrem Tod 1828 im Haushalt Kerners lebte. Die Seherin war nach innen und nach außen hellsichtig. Sie vermochte die inneren Vorgänge in den Organen ihres Körpers imaginativ wahrzunehmen, wie auch spirituellen Kontakt mit der gesamten Körper- und Geisterwelt aufzunehmen. An der Seherin von Prevorst konnte Kerner eine Art von natürlicher Heilkraft beobachten. Sie selbst verordnete sich die magnetischen Behandlungen, die Kerner an ihr durchführte. Ihr Schutzgeist, die Seele ihrer verstorbenen Großmutter, beriet sie bei diesen Fragen. Die Seherin war auch imstande, sich in die Organismen anderer Menschen einzufühlen und ihre Gesundheits- und Krankheitszustände an sich wahrzunehmen. Auf diesem Wege stellte sie Diagnosen und bewirkte Heilungen. Besonderes Aufsehen erregte ihre Fernheilung der Gräfin von Maldeghem, die an fixen Ideen litt. Durch Gebete, Amulette und Johanniskrauttee, also eine Kombination aus geistigen und naturheilkundlichen Mitteln, befreite die Seherin die Gräfin von ihren psychoneurotischen Symptomen.
Wenn Ricarda Huch bemerkt, das 19. Jahrhundert habe sich im Lauf seines Wachstums von denen, »die seine Geburtshelfer und Taufpaten waren, undankbar und verkennend abgewandt«32, so spricht sie eine Auffassung aus, die mit der hier vertretenen übereinstimmt.
19) Huch, a.a.O., S. 53. Alle folgenden Originaltexte der Romantiker werden, soweit nicht anders vermerkt, nach dieser Publikation zitiert.
20) J.W. von Goethe, Zahme Xenien, dtv Gesamtausgabe 4, München 1961, S.72.
21) Huch, a.a.O., S. 53.
22) Rudolf Steiner, Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik, Dornach 1975 (tb), S. 10.
23) Goethe, Faust II.
24) Rudolf Steiner, Die Philosophie der Freiheit, Dornach 1978, S. 170.
25) Goethe, Faust I, Prolog im Himmel.
26) Steiner, a.a.O., S. 29.
27) Huch, a.a.O., S. 635-638.
28) Arendt, a.a.O., S. 368.
29) Arendt, a.a.O., S. 368.
30) De planetarum influxu super corporis humani, 1766.
31) Mit dem Erfinder des Blitzableiters saß in Paris ein »Materialist« über einen »Spiritualisten« zu Gericht. Angesichts des mystischen Status der Atomtheorie, die von den »exakten« Physikern und Chemikern des 19. Jahrhunderts vertreten wurde und der nicht zu leugnenden Heilerfolge Mesmers, mutet das Verdikt über dessen magnetische Theorie vermessen an. Über Franklin wird die charakteristische Anekdote erzählt, dass er anlässlich eines Abschiedsbanketts vor dem Abendessen über einen Fluss hinweg den Spirituskocher mit Hilfe eines elektrischen Funkens gezündet und die zum Essen bestimmte Pute mit einem Stromstoß getötet habe. Die Gäste hätten aus elektrisierten Sektgläsern getrunken und beim Knall der Entladung elektrischer Batterien auf das Wohl aller berühmten Elektriker angestoßen. Vgl. K. Simonyi: Kulturgeschiche der Physik, Frankfurt a. M. 1995, S. 329.
32) Huch, a.a.O., S. 63.
Steiners Bildungsgeschichte
Die entscheidende Prägung, die Steiner zwischen seinem zwanzigsten und seinem dreißigsten Lebensjahr erhielt, war ohne Zweifel die durch Goethe.
Was die Behauptung Bierls, Steiner sei durch das geistige Milieu der Mittel- und Oberschicht Wiens geprägt worden, betrifft, so lässt sich dazu entgegnen, dass die entscheidende Prägung, die Steiner zwischen seinem zwanzigsten und seinem dreißigsten Lebensjahr erhielt, ohne Zweifel die durch Goethe war. Goethe war gewiss kein Angehöriger der Wiener Mittel- und Oberschicht, aber Steiner hat ein ganzes, besonders prägefähiges Jahrzehnt seines Lebens in den Dienst dieses alle Nationalität und Schichtenzugehörigkeit überragenden Geistes gestellt. Er hat nicht nur dessen naturwissenschaftliches Werk herausgegeben und versucht, die Erkenntnisweise Goethes philosophisch zu beschreiben und zu rechtfertigen (33), er hat sich auch nach der Jahrhundertwende durch die Taufe des Zentrums der anthroposophischen Arbeit in Dornach als Goetheanum, zu Goethes Kosmopolitismus und Individualismus bekannt. Diese lebenslange Prägung Steiners durch Goethe, die gewiss vielen Weiterentwicklungen unterlag, schließt die Verflüchtigung des individuellen Menschen zu einer politologischen Schablone wie im Marxismus oder Sozialismus ebenso aus, wie dessen Reduzierung auf seine biologische Natur wie im nazistischen Rassismus. Hingegen lässt sich nicht übersehen, dass Bierl statt einen anthropologischen Rassismus zu vertreten, einen soziologischen Rassismus vertritt, der in der Unterstellung besteht, die einzelne Individualität werde durch die Zugehörigkeit zu einer von Soziologen konstruierten abstrakten Schicht der Bevölkerung bestimmt und nicht durch ihre selbstbestimmte, selbständige geistige Arbeit. Dies erscheint um so bemerkenswerter, als sich Bierl mit mächtigem Affekt von einer rassistischen Denkweise zu distanzieren versucht, die er doch selbst vertritt. Offenbar stellt seine entstellende Polemik gegen Steiner und die Anthroposophie eine Art unbewussten Befreiungsversuchs von diesem soziologischen Rassismus dar.
An weiteren Gestalten, die für die Prägung des Weltbildes Steiners angeblich verantwortlich waren, nennt Bierl – vollkommen einseitig und willkürlich – nur noch Fichte, von dem er nicht zu erwähnen vergisst, Steiner habe dessen »nationalistische« Reden an die deutsche Nation »eigens« in seiner Autobiographie »notiert«. Daneben nennt er Haeckel und hebt an ihm hervor, dieser sei ein »Befürworter der deutschen Expansionspolitik und ein übler Rassist« gewesen. Schließlich werden noch Fercher von Steinwand und Karl Julius Schröer erwähnt. Von Fercher habe Steiner dessen »deutschnationale« Ansichten »übernommen«, auch Schröer habe die »chauvinistische« Vorstellung vertreten, die Deutschen müssten die »primitiven« Osteuropäer kultivieren. In Schröer sieht Bierl auch den Urheber der Steinerschen Lehre vom Volksgeist.
Wie vollkommen einseitig und tendenziös die Steinersche Bildungsgeschichte ist, die Bierl uns auf diesen wenigen Seiten auftischt, lehrt schon ein oberflächlicher Blick auf das Jahrzehnt zwischen 1880 und 1890. Nicht nur wird – außer Schröer – kein einziger Hochschullehrer Steiners erwähnt, auch von dessen diversen, in alle Gesellschaftskreise reichenden Freundschaften und Bekanntschaften erfährt der Leser nichts. Bierl blendet offensichtlich alles, was sich nicht für seine ideologische Kampagne verwerten lässt, schlichtweg aus. Zu den Hochschullehrern Steiners, der sowohl die Technische Hochschule, als auch die Wiener Universität besuchte, gehörten neben Schröer der Physiker und Historiker der Naturwissenschaften Edmund Reitlinger, der Erbauer der Votivkirche in Wien, der Professor für Baukunst, Heinrich Ferstel, der Ästhetiker Joseph Bayer, die Philosophen Robert Zimmermann, Franz Brentano und Ernst Mach, der Historiker und Freisinnige Ottokar Lorenz, der Rechtswissenschaftler Rudolf von Ihering, der Mathematiker Leo Königsberger und viele andere. Ihering war ein Rechtswissenschaftler, dessen Einfluss bis in die Gegenwart reicht. Die von ihm entwickelte Methode der Interessenanalyse und sein teleologisches Rechtsverständnis, das die Aufgabe der Rechtsprechung im Ausgleich unterschiedlicher Interessen sah, haben sich auf die Theorie des Privatrechts und die Praxis der Rechtsprechung nachhaltig ausgewirkt.
Der Historiker Lorenz, der Begründer der Genealogie, erweckte durch seinen »Freiheitssinn«, aus dem er »ganz freigeistige Vorträge« hielt, Steiners Bewunderung. In den neunziger Jahren, als Lorenz Professor in Jena und Steiner am Goethe-Archiv in Weimar tätig war, wurde diese Bekanntschaft im freundschaftlichen Gespräch vertieft. Steiner erinnert an Lorenz in seiner Skizze eines Lebensabrisses, einem Vortrag, den er am 4. Februar 1913 bei der 1. Generalversammlung der Deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft nach deren Ausschluss durch Annie Besant hielt: »Er sprach im Kolleg wirklich die herbsten Worte, zog mit vielen Belegen los über das, worüber loszuziehen war, war dabei ein ganz ehrlicher Mensch, der dann zum Beispiel, nachdem er etwas »brenzliche« Verhältnisse auseinandergesetzt hatte, sagen konnte: »Ich musste ein bisschen schönfärben; denn meine Herren, hätte ich alles gesagt, was darüber zu sagen ist, dann würde das nächste Mal der Staatsanwalt hier sitzen.« Steiner erwähnt auch, dass Lorenz sich für seinen Nachfolger im Rektorat der Wiener Universität gegen den Klamauk der Studentenschaft eingesetzt habe, obwohl er selbst der heftigste Gegner dieses »ganz schwarzen Radikalen« [Katholiken] gewesen sei. Dadurch habe Lorenz seine Beliebtheit bei der Studentenschaft verloren.
Bierl erwähnt aus der Vielzahl von Freundschaften und Bekanntschaften Steiners in der Wiener Zeit weder den »Dürrkräutler« Felix Koguzki, in dem Steiner 1880 einem Naturmystiker begegnete, der ihn dazu anregte, sich mit dem Projekt einer Bauernphilosophie zu beschäftigen, er erwähnt nicht Emil Schönaich und auch nicht Rudolf Ronsperger, er erwähnt nicht Moriz Zitter, mit dem Steiner später neben Otto Erich Hartleben das Magazin für Literatur herausgeben sollte, nicht Josef Köck und Rudolf Schober. Die Unterschlagung der Beziehung zu Emil Schönaich ist kennzeichnend für Bierls Auswahlverfahren. Die betreffenden Passagen der Autobiographie Steiners (34) lassen sich nicht in das vorgefasste Konzept einfügen, eine Verwurzelung Steiners im völkischen Mief des Wiener Bürgertums nachzuweisen. Von Emil Schönaich spricht Steiner in seinem Lebensgang als von einem »herrlich idealistisch gesinnten jungen Manne«, der »mit seinen blonden Locken, mit den treuherzigen blauen Augen so recht der Typus des deutschen Jünglings« gewesen sei. Schönaich sei vom »Wagnertum« »mitgerissen« gewesen. Bei verschiedenen Konzertbesuchen waren Steiner und Schönaich aber stets unterschiedlicher Meinung über die gehörte Musik.
»In meinen Gliedern«, so Steiner, »lagerte etwas wie Blei, wenn die »ausdrucksvolle Musik« ihn bis zur Ekstase entflammte; er langweilte sich entsetzlich, wenn Musik erklang, die nichts als Musik sein wollte.« Schönaichs Versuche, zu beweisen, dass mit Wagner erst die »eigentliche Musik« geboren worden sei, provozierten Steiner dazu, seine Empfindung »in recht drastischer Art zur Geltung« zu bringen. »Ich sprach von der Wagnerschen Barbarei, die das Grab alles wirklichen Musikverständnisses sei.« (35) Steiners Rückblick auf diese Freundschaft endet mit den Sätzen: »Im Verkehr mit diesem Freunde ist mein damaliges Anti-Wagnertum nur eben in starker Form zum Ausleben gekommen. Aber es spielte in dieser Zeit auch sonst eine große Rolle in meinem Seelenleben. Ich suchte mich nach allen Seiten in das Musikalische, das mit Wagnertum nichts zu tun hatte, hineinzufinden. Meine Liebe zur »reinen Musik« wuchs durch mehrere Jahre; mein Abscheu gegen die »Barbarei« einer »Musik als Ausdruck« wurde immer größer. Und dabei hatte ich das Schicksal, dass ich in menschliche Umgebungen kam, in denen fast ausschließlich Wagner-Verehrer waren. Das alles trug viel dazu bei, dass es mir – viel – später recht sauer wurde, mich bis zu dem Wagner-Verständnis durchzuringen, das ja das menschlich Selbstverständliche gegenüber einer so bedeutenden Kulturerscheinung ist. Doch dieses Ringen gehört einer spätern Zeit meines Lebens an. In der hier geschilderten war mir z. B. eine Tristanaufführung, in die ich einen Schüler von mir begleiten musste, »ertötend langweilig«.« (36)
33) In den Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung, Wien 1886, GA 2.
34) Mein Lebensgang, S. 55. f. Das Verfahren, das Bierl und Konsorten bei ihrer haltlosen Polemik gegen Steiner und die Anthroposophie verfolgen, reproduziert übrigens die Verfahrensweise der radikalen Deutschnationalen und Antisemiten, ja Nationalsozialisten in ihrem Kampf gegen politisch missliebige Gegner.
35) Die Techniken der Entstellung, Verdrehung und Umdeutung, das Reißen von Zitaten aus dem ursprünglichen Zusammenhang wurde von diesen bereits meisterhaft praktiziert. Alles, was sich für ihre eigenen Zwecke ausnutzen ließ, werteten sie schamlos selektiv zu ihren Gunsten aus. Während die Deutschnationalen des 19. Jahrhunderts und die Nationalsozialisten des 20. Jahrhunderts Zitatensammlungen aus der deutschen Literatur- und Philosophiegeschichte zusammenstellten, die beweisen sollten, dass alle großen Deutschen letztlich Vorläufer waren oder dasselbe gedacht hatten, bedienen sich die gegenwärtigen Ökolinken derselben Florilegien in ihrem abstrusen Kampf gegen einen Faschismus, wo er gar nicht vorhanden ist.
Wenn Whiteside über Schönerers Geschicklichkeit als Agitator sagt: »Er gebrauchte bis zum äußersten die Techniken der Einschüchterung, der Verleumdung und Emotionalisierung, alles in Verbindung mit an sich legitimen Idealen. Er und seine alldeutschen Anhänger bewiesen, wie eine kleine, aber rücksichtslose Minorität eine Mehrheit dominieren kann, die unter anderen Umständen deren Ideen und Verhaltensweisen verabscheuen würde.« (Whiteside, Georg Ritter von Schönerer, S. 103), so gilt dies nahezu wörtlich auch für Bierl, Goldner und ihre ideologisch verblendete Claqué. Ähnlich auch Brigitte Hamann: »Vor allem die Alldeutschen liebten es, ihre Thesen mit kaum nachprüfbaren kurzen Zitaten zu untermauern, auf Klebemarken wie auf Postkarten und Kalendern.« Hamann, Hitlers Wien, S. 106.
36) Ebenda, S. 56.
Verurteilungen des Antisemitismus
In Gestalt Eugen Dührings verurteilte Steiner bereits 1881 einen der profiliertesten Rassenantisemiten der damaligen Zeit.
Nicht nur der Briefwechsel mit Rudolf Ronsperger37 ist für Steiners Position in seiner Wiener Studienzeit höchst aufschlussreich, Steiner hat auf Ronsperger, der sich mit 38 Jahren das Leben nahm, 1900 im Magazin für Literatur auch einen Nachruf veröffentlicht, in dem er auf seine Wiener Studienzeit zurückblickte.38
In Steiners Briefen an Ronsperger finden sich einige der schärfsten Verurteilungen des Materialismus des 19. Jahrhunderts: so sieht er in Ludwig Büchners Kraft und Stoff nichts als »selbstverständliche, triviale, abgeschmackte«39 Platitüden und in Eugen Dührings Kursus der Philosophie den »ärgsten Ausbund aller philosophischen Rückläufigkeiten«40, ja er bezeichnet Dührings Anschauung als »barbarisch und kulturfeindlich«. Dessen [von Antisemitismus triefenden] »Schriften über die Juden«41 sind für Steiner »die strengsten Konsequenzen seiner beschränkten egoistischen Philosophie«.
In Gestalt Dührings verurteilte Steiner einen der profiliertesten deutschen Antisemiten der damaligen Zeit. Der Sozialist und Materialist Dühring versuchte den Rassenantisemitismus philosophisch zu begründen, sowie biologisch und historisch zu rechtfertigen. Für Dühring war »der Jude« nicht nur »unschöpferisch«, sondern auch eines der »niedrigsten und misslungensten Erzeugnisse der Natur« und er hielt die »Judenfrage« (im Jahr 1881 wohlgemerkt) nur durch eine gesamteuropäische Säuberungsaktion für lösbar, »durch Ausgliederung der Juden aus allen Völkern, durch Rückgängigmachen der Emanzipation, durch Ausnahmerechte, Deportationen und Gründung eines Judenstaates, wo sie sich dann schon von selber ausrotten würden.«42
Am 26. August 1881 kommt Steiner in einem Brief an Ronsperger erneut auf Dühring zu sprechen, bezeichnet dessen Philosophie als »barbarischen Unsinn«, als »Blödsinn«, und meint schließlich »leidenschaftlich erregt«: »Wenn man diese Dinge liest, so glaubt man sich zuweilen … nicht unter Deutschen. Deutsche können denken, die Materialisten können nicht und sind zu faul dazu. Um Hegel zu verstehen, muss man Lust am Denken haben, wie er es selbst hatte; man muss aber auch dem freien fortschrittlichen Denken, dem kulturfreundlichen Lichte gewogen sein und nicht mit den Banden des hergebrachten traditionellen Dogmas gefesselt sein, wie es die Materialisten alle sind.«43
Steiner hingegen empfiehlt seinem Freund wärmstens die Philosophie des deutschen Idealismus, unter anderem Fichte, denn »ich versichere Sie, es krankt unsere ganze Zeit daran, dass sie sich von der an sich widerspruchslosen Religion losgemacht, einer seichten Aufklärung und Aufklärerei hingegeben und sich bis zu den wieder widerspruchslosen, Vernunft wie Herz völlig zufriedenstellenden Lehren der Philosophie nicht aufschwingen kann. Die Religion wie die Philosophie söhnen gleicherweise mit der Welt aus; die seichte Aufklärung ganz allein erzeugt Disharmonien.«44
Was Steiner 1881 unter Philosophie verstand und worin er deren Bedeutung sah, weshalb er auch seinen Freund ausdrücklich auf Fichte verwies, machte der 21jährige in einem Brief am 16. August deutlich: »Den eigentlichen Begriff und das Wesen des Menschen macht aus: die Sehnsucht nach dem Absoluten, Ewigen, Unsterblichen […] Dem Absoluten allein kommt die höchste Wirklichkeit zu. Alles was nicht im Absoluten aufgeht ist Schein, Täuschung, Irrtum, »des Sterblichen Meinung«, wie Parmenides sagte. Das Streben nach dem Absoluten, diese Sehnsucht des Menschen ist Freiheit. Jedes andere Ziel bringt Irrtum, Täuschung, Schein hervor und verdankt nicht der Freiheit, sondern der Willkür den Ursprung. […] Der Schein muss zerstört, der Schleier gehoben werden, und die Wahrheit, die Gottheit steht vor uns; die Welt steht im neuen Lichte vor uns. Wie töricht waren wir, da wir das nicht erkannten. Mit der Willkür streifen wir auch alle uns noch anhaftenden Züge der seichten Weltanschauung ab; wir erkennen, dass wir uns missverstanden haben. Wir verstehen uns jetzt erst, wir verstehen Religion, Kunst und Philosophie in ihrem Zusammenhange. Wir streifen die gewöhnlichen landläufigen Anschauungen von Ewigkeit, Unendlichkeit ab und ein ganz neues Gebäude steht vor uns. Es geht uns der Sinn für eine Unendlichkeit auf, von der wir keine Ahnung hatten, ja nicht haben konnten. […] Nennen wir dieses Erkennen der höchsten Wahrheiten: das Zusammengehen des Menschen mit dem Absoluten, so finden wir, dass in diesem Zusammengehen seine höchste Freiheit erblüht. Er findet sich in einem Punkte des Universums und nun hat er seinen Standpunkt – jetzt kommt, was wir im Winter schon einmal besprachen –, von da aus überblickt er die Welt. Er beurteilt sie, beurteilt sich und ist zufrieden mit sich, der Welt und allem. In der höchsten Freiheit manifestiert sich das höchste Glück, die vollste Zufriedenheit. Der Mensch hat seine Bestimmung erkannt; er ist mit allem versöhnt.«45
In Steiners Briefen an Ronsperger findet sich auch ein Zeugnis seiner Begeisterung für den Historiker, Literaturwissenschaftler und Politiker Gervinus, der zu den Göttinger Sieben gehörte, die aufgrund ihres Protestes gegen die Aufhebung der Landesverfassung durch Ernst August von Hannover, von diesem im November 1837 ihres Lehramtes an der Göttinger Universität enthoben und des Landes verwiesen worden waren. Gervinus gehörte zu einem aufrechten Häuflein mutiger Demokraten, die mit ihrer Treue zur Verfassung ihre eigene Existenz aufs Spiel setzten und der Willkür eines selbstherrlichen Despoten Widerstand leisteten. Steiner brachte gegenüber Ronsperger seine Freude zum Ausdruck, dass dieser durch Gervinus zu einem jener »weltumspannenden Gedanken« des »Ideenheros Schiller« geführt worden sei: dem Gedanken der Freiheit und der Totalität der Geistesbildung nämlich. Dieser Gedanke sei auch des Gervinus Anliegen gewesen: alle Ideen, die einst im alten Griechenvolk lebten, hätten im deutschen Volk neue Blüten getrieben, und strebten zu ihrer realhistorischen Verwirklichung. Diese Verwirklichung sei nicht die Aufgabe der Poesie oder Philosophie oder eines einzelnen Mannes allein, sondern sie sei Aufgabe der Parlamente und Volkserzieher, schreibt der 20jährige an seinen Freund.46
In seinem Nachruf auf Ronsperger im Jahr 1900 distanziert sich Steiner ausdrücklich von der völkisch-rassistischen Interpretation des Gedankens der deutschen Nation durch Georg von Schönerer. »Ich begann in den achtziger Jahren meine Studien an der Wiener Technischen Hochschule. Es war eine Zeit, in der sich in Österreich viel entschied. Der Liberalismus, der nach der Niederlage von Königgrätz eine kurze Blütezeit erlebt hatte, weil maßgebende Kreise von ihm die Rettung des durch die Bureaukratie in die völlige Verwirrung gebrachten Staates erhofften, war in seinem Ansehen gesunken. Er hatte die Führung im Reiche verloren, teils aus Schwäche, teils weil man ihm eine allzu kurze Zeit zur Verwirklichung seiner Absichten gelassen hatte. Wir jungen Leute von damals erwarteten von ihm nichts Erhebliches mehr. […] Um so hoffnungsfreudiger glaubten die jüngeren Deutschen [in Österreich] in die Zukunft blicken zu dürfen, wenn sie ihr eigenes Volkstum betonten, wenn sie sich in ihre Nationalkultur vertieften und den Zusammenhang mit dem Gange des Geisteslebens in Deutschland pflegten. In solche Ideale lebten sich die deutschen akademischen Jünglinge in den achtziger Jahren ein. Sie bemerkten nicht, dass die Entwicklung der wirklichen Vorgänge eine Richtung nahm, in der nur Bestrebungen Aussicht auf Erfolg hatten, die auf viel gröberen Voraussetzungen ruhten, als die ihrigen waren. Die große Wirkung, die bald darauf Georg von Schönerer erzielte, der an die Stelle der idealistischen deutsch-nationalen Tendenzen den Rassenstandpunkt des Antisemitismus setzte, konnte uns zu keiner Bekehrung veranlassen. [Kursivsetzung L.R.] Selten tun ja Idealisten in einem solchen Falle etwas anderes, als in Klagen ausbrechen über die Verkennung ihrer berechtigten Bestrebungen. Diesen Idealisten wurde damals in Österreich gewissermaßen der Boden unter den Füßen weggezogen. Ihre Tätigkeit wurde gelähmt durch einen öffentlichen Geist, an dessen Bestrebungen sie keinen Anteil haben wollten.«47
Bierl erwähnt auch nicht die Tatsache, dass Steiner ab Juli 1884 als Hauslehrer und Erzieher im Hause der jüdischen Familie Specht tätig wurde, eine Tätigkeit, die er als antisemitischer Deutschnationaler wohl kaum angenommen und bis zum September 1890 ausgeübt hätte, als er wegen seiner Berufung ans Goethearchiv nach Weimar übersiedelte. Im November 1884 verfasste Steiner als Dreiundzwanzigjähriger übrigens für eine Zeitschrift, die in Hermannstadt in Siebenbürgen für die dort lebenden »Sachsen« erschien, einen Aufsatz, in dem er auf Darwin, Haeckel und Bismarck einging.48 Herausgeber war der mit ihm befreundete Moriz Zitter. Der Aufsatz stellt eine hochgemute Beschwörung der Genien des deutschen Volkes angesichts des beobachtbaren geistigen und kulturellen Niedergangs dieses Volkes in den verstrichenen Dezennien dar. Steiner versucht in diesem Aufsatz, die in der Diaspora lebenden Deutschen an den wahren Genius ihres Volkes zu erinnern und sie von falschem Nationalismus abzuhalten.
Am 22. Juli 1893 schrieb Steiner von Weimar aus an Pauline Specht: »In Weimars einförmige Ruhe brachte die Reichstagswahl einige Aufregung. Wir haben zwar hier keine Ahlwardts und Försters, aber gerade viel Intelligenz ist auch hier nicht gelegentlich des Wahlfeldzugs entwickelt worden. Im Ganzen muss man wohl sagen, wenn man diese Sache im Heiligen Römischen Reiche von innen mitangesehen hat: Durch die letzte Wahl hat sich eine Zunahme an Roheit und Unverstand in den Massen gezeigt, die ich wahrhaft erschreckend finde. Dass ein – von allem übrigen abgesehen – maßlos alberner Mensch, der alle Luegers an »Lügen-Genie« turmhoch überragt, zwei Parlamentssitze erobert und zahllose Anhänger hat, zeugt doch von einer Verkommenheit des öffentlichen Geistes, die man nicht genug beklagen kann.«49
37) Ebenda, S. 57.
38) Briefe I, a.a.O., S. 18. f.
39) GA 31, S. 360 f.
40) Briefe I, a.a.O., S. 20.
41) Diese und die folgenden Stellen: Briefe I, a.a.O., S. 21.
42) Gemeint sind das 1881 in Berlin erschienene Buch Eugen Dührings Die Judenfrage als Rassen-, Sitten und Kulturfrage sowie dessen 1881 in Karlsruhe erschienene Publikation Die Überschätzung Lessings und dessen Anwaltschaft für die Juden.
43) Zitiert nach: Bronder, Bevor Hitler kam, Genf 1975, S. 380.
44) Briefe I, a.a.O., S. 44-45.
45) Briefe I, a.a.O., S. 28
46) Ebenda, S. 30-31.
47) Siehe den Brief vom 3. August 1881 an Rudolf Ronsperger, S. 22-26, Briefe I, a.a.O. 47) GA 31, S. 361-362.
48) Rudolf Steiner: Ein freier Blick in die Gegenwart, Deutsche Lesehalle für alle Stände 1884, 1. Jg., Nr. 1 u. 2, veröffentlicht in : GA 30, Methodische Grundlagen der Anthroposophie, Dornach 1961, S. 232 f.
49) Hermann Ahlwardt war antisemitischer Agitator in Leipzig, Paul und Bernhard Förster waren deutsche Antisemiten, letzterer mit Elisabeth Nietzsche verheiratet, der »maßlos alberne Mensch« der antisemitische Agitator Otto Bökel, Redakteur des antisemitischen Reichsherolds und Führer der »Deutschen Reformpartei«, die durch den Zusammenschluss mit der »Antisemitischen Volkspartei« in den Reichstagswahlen Ende Juni 1893 16 Sitze eroberte. Briefe II, S. 136-137. – Im übrigen sei zu diesem Fragenkomplex des angeblichen Antisemitismus auf die Arbeit von Bader, Leist, Ravagli: Rassenideale sind der Niedergang der Menschheit. Anthroposophie und der Antisemitismusvorwurf, Stuttgart 2001, verwiesen.
Steiner und Fichte
Es erhebt sich die Frage, in welchem Sinn der mit der französischen Revolution sympathisierende Republikaner J.G. Fichte »Nationalist« gewesen sein soll.
Was den angeblichen Nationalisten Fichte anbetrifft, so erhebt sich die Frage, in welchem Sinne der mit der französischen Revolution heimlich sympathisierende Republikaner Fichte denn »Nationalist« gewesen sein soll: bekanntlich gab es die »deutsche Nation«, an die er seine Reden hielt, ja gar nicht. Fichtes Reden unter den Augen der napoleonischen Besatzungsmacht zeugen nicht nur von dessen Mut, sondern auch von seiner Konsequenz. Er konnte Selbstbestimmung nicht nur als philosophische Position vertreten, er sah sich angesichts der Bedrängnis der deutschen Länder durch Napoleons Armeen dazu aufgerufen, die Deutschen daran zu erinnern, dass ihre historische Bedeutung in ihren geistigen Leistungen zu suchen sei, die durch das politische Versagen Einzelner nicht geschmälert würden.
Indem er deutlich zeichnete, worin er den Charakter und die Eigenart des Deutschen erblickte, entwarf er ein Idealbild, das – wie alles bei Fichte – mit starken Farben gemalt war. Er versuchte, Verhaltensweisen, die seiner Ansicht nach nicht zum Wesen des Deutschen gehörten, als solche zu benennen. So konnte er in der freiwilligen Unterwerfung des Bürgertums unter den Adel oder den Klerus nur eine mit der Selbstpreisgabe mancher Fürsten an Napoleon im Rheinbund vergleichbare Charakterschwäche sehen. »Am allertiefsten endlich erniedrigt es uns vor dem Auslande, wenn wir uns darauf legen, demselben zu schmeicheln. Ein Teil von uns hat schon früher sich sattsam verächtlich, lächerlich und ekelhaft gemacht, indem sie den vaterländischen Gewalthabern bei jeder Gelegenheit groben Weihrauch darbrachten … Wollen wir jetzt auch das Ausland zum Zeugen machen dieser unserer niedrigen Sucht?« Er kannte also wohl den Unterschied zwischen dem Ideal, das er vor seinen Zuhörern entwickelte und der Realität des Deutschseins. Andererseits schlossen sich für ihn Patriotismus und Weltbürgertum keineswegs aus, war doch für ihn der »regsamste Patriot« zugleich der »regsamste Weltbürger«. Fichte sah in den Deutschen jenes Volk, das dazu prädestiniert sei, die Idee der Freiheit durch die Wechselfälle der Geschichte zu tragen: so hätten die Germanen Europa von der Herrschaft des Römischen Reiches befreit, durch Luther hätten die Deutschen die Idee der Freiheit erneut gerettet, und nun sollte diese durch die Vorsehung selbst den Deutschen zugewiesene Aufgabe angesichts der napoleonischen Übermacht von ihnen vergessen werden?
Seine Reden an die deutsche Nation sind der Entwurf eines – keineswegs totalitären – bildungspolitischen Programms. Das einzige Rettungsmittel sah Fichte in einer Erziehungs- und Bildungsarbeit, die – alle Ständeschränken niederreißend – die Angehörigen der Nation im Bewusstsein ihrer Bestimmung zur Freiheit vereinigen sollte: »Eine sichere und besonnene Kunst, einen festen und unfehlbaren guten Willen im Menschen zu bilden,« sollte die von ihm vorgeschlagene Erziehung sein. Erreichbar schien ihm diese allein durch die Anregung selbständiger Geistestätigkeit, also durch Emanzipation im wahren und tiefsten Sinne. Erziehung sollte die Kunst sein, den Menschen zu reiner Sittlichkeit zu erheben und als Menschen allseitig zu bilden. Die Aufgabe des deutschen Geistes sah er darin, sich in reinem Denken zum Übersinnlichen aufzuschwingen:
»Wo aber selbständiger deutscher Geist sich regte, da genügte das Sinnliche nicht, sondern es entstand die Aufgabe, das … Übersinnliche in der Vernunft selbst aufzusuchen, und so erst eigentliche Philosophie zu erschaffen, indem man … das freie Denken zur Quelle unabhängiger Wahrheit machte.« Beschwörend rief er aus: »Wird unser äußeres Wirken in hemmende Fesseln geschlagen, lasst uns desto kühner unsern Geist erheben zum Gedanken der Freiheit, zum Leben in diesem Gedanken, zum Wünschen und Begehren nur dieses einzigen.« Von den Deutschen verlangte er: »Wir müssen … werden, was wir ohnedies sein sollten, Deutsche … wir müssen uns haltbare und unerschütterliche Grundsätze bilden, die allem unserm übrigen Denken und Handeln zur festen Richtschnur dienen. Leben und Denken muss bei uns aus einem Stücke sein … wir müssen in beiden der Natur und der Wahrheit gemäß sein … wir müssen uns Charakter anschaffen; denn Charakter haben und deutsch sein, ist ohne Zweifel gleichbedeutend …« nicht weil er der Überzeugung war, die Deutschen besäßen von Natur Charakter, sondern weil er verlangte, die Deutschen sollten ihn mangels Vorhandensein erst entwickeln. Er rief seine Zuhörer dazu auf, sich der höchsten Bestimmung des Menschen, der Freiheit und Menschlichkeit zu erinnern, denn dazu sei der Deutsche geradezu prädestiniert: »In den Deutschen liegt der Keim zur menschlichen Vervollkommnung am entschiedensten und ihnen ist der Fortschritt in der Entwicklung derselben aufgetragen!« Auch diese Sätze dürfen nicht als Rechtfertigung eines politischen oder historischen status quo missverstanden werden, sie weisen auf eine Entwicklungsmöglichkeit, die Fichte sieht und die zu ergreifen er seine Zuhörer aufruft: Fichte geht nicht hinter den mit Kants kategorischem Imperativ erreichten Standard der Humanität und Moralität zurück, er plädiert in seinen Reden an die deutsche Nation nicht für das Faustrecht oder einen staatlichen Machtimperialismus, auch nicht für eine Imperialisierung der Individuen durch einen ideologisierten Zwangsstaat, sondern für die moralische und geistige Vervollkommnung, die die Verwirklichung der Ideen der französischen Revolution auf evolutivem Wege ermöglichen sollte.
Die Antriebe der »Ehre« und des »Nationalruhms« lehnte er als Ausdruck der »Selbstsucht« ab, und bezeichnete deren Verfechter als »gefährliche Prediger leerer Trugbilder«.
Den anstehenden geschichtlichen Fortschritt sah Fichte, indem er über die Gründe des Versagens der französischen Revolution reflektierte, »in der vollkommenen Erziehung der Nation zum Menschen«. Eben, weil diese Erziehung in Frankreich nicht stattgefunden hatte, musste die Revolution in Tyrannei ausarten und einen neuen Despoten erzeugen. Die Einheit der deutschen Nation verstand Fichte nicht als Abstammungsgemeinschaft, als homogene Nationalität des Blutes oder der Sprache, obwohl er der Sprache eine große Bedeutung bei der Bildung der nationalen Identität beimaß. Er sah in der Gewährleistung von Bürgerrechten die Minimalbedingung eines lebensfähigen Staates, aber diese Minimalbedingungen genügten seiner Auffassung nach nicht, um die Selbstsucht der sinnlichen Antriebe in der Bildung eines gemeinschaftlichen Bewusstseins der Nation zu erhöhen: »Was an Geistigkeit und Freiheit dieser Geistigkeit glaubt, und die ewige Fortbildung dieser Geistigkeit durch Freiheit will, das, wo es auch geboren sei und in welcher Sprache es rede, ist unseres Geschlechts, es gehört uns an und es wird sich zu uns tun. Was an Stillstand, Rückgang und Cirkeltanz glaubt, oder gar eine tote Natur an das Ruder der Weltregierung setzt, dieses, wo auch es geboren sei, und welche Sprache es rede, ist undeutsch und fremd für uns …« (Sämtliche Werke, Berlin 1971, Bd VII, S. 375)
Steiners Fichterezeption verlief, ähnlich wie die anderer Philosophen, differenziert und interpretierend: was ihn an Fichte begeisterte, war dessen Philosophie der Autonomie. In Fichte sah Steiner den Entdecker des geistigen Ichwesens, auch wenn dieser das Wesen dieses Wesens als Willen und nicht als Erkennen bestimmt hatte. Wenn Fichte davon sprach, dass das Ich sich selbst setze, dann war dies genau die Auffassung vom Wesen des menschlichen Geistes, die Steiner aufgreifen konnte. Der geistige Aufschwung, der in folgenden Sätzen Fichtes über das Ich des Menschen zum Ausdruck kommt, war Steiners Auffassung nach erforderlich, um zur Erkenntnis des wahren Wesens des Menschen zu gelangen: »Erst durch das Ich kommt Ordnung und Harmonie in die tote, formlose Masse. Allein vom Menschen aus verbreitet sich Regelmäßigkeit rund um ihn herum bis an die Grenzen seiner Beobachtung – und wie er diese weiter vorrückt, wird Ordnung und Harmonie vorgerückt. Durch seine Beobachtung falten sich die Weltkörper zusammen und werden nur ein organisierter Körper; durch sie drehen die Sonnen sich in ihren angewiesenen Bahnen. Durch das Ich steht die ungeheure Stufenfolge da von der Flechte bis zum Seraph; in ihm ist das System der ganzen Geisterwelt, und der Mensch erwartet mit Recht, dass das Gesetz, das er sich und ihr gibt, für sie gelten müsse; erwartet mit Recht die einstige allgemeine Anerkennung desselben. Im Ich liegt das Unterpfand, dass von ihm aus ins Unendliche Ordnung und Harmonie sich verbreiten werde, wo jetzt noch keine ist; dass mit der fortrückenden Kultur des Menschen zugleich die Kultur des Weltalls fortrücken werde … was euch Tod scheint, ist seine Reife für ein höheres Leben – in jedem Momente seiner Existenz reißt er etwas Neues außer sich in seinen Kreis mit fort, bis er alles in denselben verschlinge; bis alle Materie das Gepräge seiner Einwirkung trage und alle Geister mit seinem Geist einen Geist ausmachen. – Das ist der Mensch; das ist jeder, der sich sagen kann, ich bin Mensch. Sollte er nicht eine heilige Ehrfurcht vor sich selbst tragen und schaudern und erbeben vor seiner eigenen Majestät?«50
Sein eigenes zentrales Anliegen, die Begründung einer wirklichen Philosophie der Freiheit in Abgrenzung von Kants Pflichtethik verwirklichte Steiner 1890/91 in Auseinandersetzung mit Fichtes Wissenschaftslehre, der er vorwarf, Fichte habe für die Tathandlung des menschlichen Ich keinen Inhalt gefunden. In seiner Dissertation Die Grundfrage der Erkenntnistheorie mit besonderer Rücksicht auf Fichtes Wissenschaftslehre, Prolegomena zur Verständigung des philosophierenden Bewusstseins mit sich selbst entlarvte Steiner Fichtes Freiheitsbegeisterung als Pathos, dem der Inhalt fehle: das Ich könne sich nicht ohne irgendeinen Inhalt setzen, es setze sich vielmehr im Erkennen und durch das Erkennen. Da dem Erkennen keine Grenzen gesetzt sind, kann sich das erkennende Ich durch sein Erkennen mit dem Weltinhalt zusammenschließen.
Wenn Bierl bemerkt, Steiner habe Fichtes Reden an die deutsche Nation eigens in seiner Autobiographie notiert, versäumt er zu erwähnen, dass dessen Reden weder die einzige Schrift von Fichte sind, die Steiner nennt, noch die, die er am meisten schätzte. Im dritten Kapitel seiner Autobiographie, das von der Zeit zwischen 1879 und 1882 handelt, führt Steiner Fichte als den Verfasser der Wissenschaftslehre ein und erzählt, wie er versucht habe, Fichtes Abhandlung Satz für Satz umzuschreiben, weil sie ihn nicht zufriedenstellte. Die Schilderung bezieht sich auf den Sommer vor dem Beginn seines Studiums in Wien. Steiner fährt an der betreffenden Stelle fort: »Von der Wissenschaftslehre ausgehend bekam ich ein besonderes Interesse für die Fichteschen Abhandlungen Über die Bestimmung des Gelehrten und Über das Wesen des Gelehrten. In diesen Schriften fand ich eine Art Ideal, dem ich selbst nachstreben wollte. Daneben las ich auch die Reden an die deutsche Nation. Sie fesselten mich damals viel weniger als die andern Fichteschen Werke.«51 Von dieser Wertung, die Steiner in seinem Lebensgang vornimmt, erfährt man durch Bierl nichts.
Steiner hat sein spezifisches Verständnis der Reden an die deutsche Nation, das alles andere als nationalistisch war, im übrigen auch zum Ausdruck gebracht, so etwa im Jahr 1917. Hier führt er in Zeitgeschichtlichen Betrachtungen im Hinblick auf Fichtes Reden folgendes aus:
»Welches ist das Ziel, das Fichte im Auge hat? Selbsterziehung des deutschen Volkes! Er will nicht, dass die andern getroffen werden durch seine Reden an die deutsche Nation, sondern er spricht davon, dass die Deutschen ergriffen werden sollen, dass sie sich selber besser machen sollen. […] So kann man auch Fichte, wenn man will, missverstehen, denn er beginnt seine Reden an die deutsche Nation mit folgenden Worten: »Ich spreche für Deutsche schlechtweg und von Deutschen schlechtweg.« Aber warum sagt er das? Weil Deutschland in lauter kleine Individualstaaten zerfallen ist, und er nicht zu den Preußen, zu Schwaben, zu Sachsen und was weiß ich, zu Oldenburgern, Mecklenburgern, Österreichern und so weiter sprechen wollte, sondern zu Deutschen. Zusammenfassen die Individualitäten, das war es, worauf es ihm ankam. Also es ist eine Angelegenheit, die er mit den Deutschen selber abmacht. Ich will die Deutschen nicht loben, aber solche Dinge dürfen doch zur Charakteristik angeführt werden.«52
Ebenso wie von Fichtes Wissenschaftslehre, der er fundamentale methodologische Mängel vorwarf, distanzierte sich Steiner später von Fichtes staatssozialistischer Utopie des Geschlossenen Handelsstaats. »Man kann die Menschen fragen: Was nennt ihr bolschewistisch? – Lenin, Trotzkij, sagen dann die Leute. Nun, ich kenne einen dritten Bolschewiken, der allerdings nicht in der unmittelbaren Gegenwart lebt, und dieser dritte ist kein anderer als der deutsche Philosoph Johann Gottlieb Fichte. Sie werden mancherlei schon gehört haben, mancherlei aufgenommen haben über die idealistisch-spirituelle Denkungsart Johann Gottlieb Fichtes […] Nehmen Sie Johann Gottlieb Fichtes Geschlossenen Handelsstaat, so ist es das soziale Ideal eines Menschen, der nun wahrhaftig in intensivster Art höchste Erkenntnispfade zu beschreiten versuchte, der ein Denken ausbildete, das immerzu hingeneigt war auf die übersinnliche Welt. Als er aber aus sich selbst herausspinnen wollte ein soziales Ideal, so war es zwar ein reines Gebilde des menschlichen Herzens, aber gerade dasjenige, was uns geeignet macht, auf innerlichem Wege höchste Ideale der Erkenntnis zu erringen, das macht uns, wenn wir es auf das soziale Leben anwenden wollen, ungeeignet, soziale Denkungsart zu entwickeln. In einem solchen geistigen Wesen, wie Fichte es entwickelt hat, kann nur der Mensch allein seine Wege machen. Das soziale Denken muss in der menschlichen Gemeinschaft entwickelt werden.«53
50) Über die Würde des Menschen, Sämtliche Werke, Berlin 1971, Bd I, S. 412-416.
51) GA 28, a.a.O., S. 40.
52) GA 174, Zeitgeschichtliche Betrachtungen. Das Karma der Unwahrhaftigkeit, Dornach 1983, S. 97.
53) GA 193, Der innere Aspekt des sozialen Rätsels, Dornach 1977, S. 79-80; vgl. ausführlicher GA 189, Die soziale Frage als Bewusstseinsfrage, Dornach 1980, S. 97 f.
Steiner und Haeckel
Der Rassismusvorwurf gegen Haeckel ist im Hinblick auf Steiner irrelevant, da letzterer Haeckels Rassentheorie nicht zur Kenntnis nahm.
Der Vorwurf gegen Haeckel ist im Hinblick auf Steiner irrelevant und unhistorisch, da Steiner bis 1890 nur einen Teil des Haeckelschen Werkes studiert hatte, aus dem kein Hinweis auf einen »üblen Rassismus« zu entnehmen war. Als Steiner später (nach 1900) seine eigene Anthropogenie im Hinblick auf die phänotypischen Varietäten vortrug, griff er nicht auf Haeckels Anthropologie zurück, sondern auf historisch weit frühere Darstellungen wie die von Blumenbach oder Carus.
Steiner setzte sich im Rahmen seiner Goethearbeit seit dem Beginn der 80er Jahre des 19. Jahrhunderts mit dem ohne Zweifel bedeutendsten und prominentesten zeitgenössischen Biologen und profiliertesten Vertreter der Darwinschen Evolutionstheorie im deutschsprachigen Raum auseinander. Er stand der mechanistischen Sicht der Evolution, wie Haeckel sie vortrug, ablehnend gegenüber. Er suchte eine sich an Goethe anschließende Evolutionsauffassung der Haeckelschen entgegenzustellen, die dem geistigen Gestaltbildeprinzip, das Goethe als Entelechie bezeichnete, den Vorrang gegenüber mechanisch wirkenden, äußeren Ursachen einräumte. So warf Steiner im ersten Band der Einleitungen zu Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften im Kapitel Die Entstehung der Metamorphosenlehre Haeckel Einseitigkeit vor, lehnte dessen Hypothese von der Urzytode als dem Ursprung alles organischen Lebens ab und versuchte dessen biogenetisches Grundgesetz aus Goethes Typusidee tiefer zu begründen. Auch in seinen 1886 erschienenen Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung setzte Steiner sich von Haeckel ab; der Haeckelianismus, so schrieb er, sei nicht aus Goethes Weltanschauung hervorgewachsen, sondern berufe sich nur äußerlich auf sie. Haeckel habe wohl mit »eiserner Konsequenz und in genialischer Weise den Darwinismus ausgebaut«, berufe sich aber, trotz der angehäuften scheinbaren Belege, zu Unrecht auf Goethe.54 Haeckel wolle die gesamte Wirklichkeit »nach der Schablone der physikalischen Methode behandeln«, denn er stelle der Wissenschaft die Aufgabe, den ursächlichen Zusammenhang der Erscheinungen überall zur Geltung zu bringen und glaube an eine Ableitung der psychischen Phänomene aus mathematischen Formeln.55
Steiner erwähnt in seiner Autobiographie ausdrücklich die Generelle Morphologie als Lektüre in der Zeit seines Studiums.56 In dieser sind aber keinerlei Darstellungen über Menschenrassen enthalten. Aus Steiners Briefen geht darüber hinaus hervor, dass er bis 1890 einen Vortrag Haeckels über Lamarck, Darwin und Goethe57 rezipierte. In einem Brief an Eduard von Hartmann vom 4. September 1884, in dem er sich dazu bekannte, »seit Jahren mit aufrichtiger Verehrung« zu Hartmanns philosophischem Wirken emporzublicken, distanzierte sich Steiner von Haeckel und warf diesem vor, er habe Goethes Verhältnis zu Kant völlig missverstanden.58 Haeckels in der Natürlichen Schöpfungsgeschichte entfaltete, aus der Phylogenese hergeleitete hypothetische Systematik der Menschenrassen stand im Briefwechsel zwischen Steiner und Haeckel nie zur Debatte und war auch sonst nicht Gegenstand ihrer wissenschaftlichen Auseinandersetzungen. Erst 1893 erhielt Steiner die achte Auflage der Natürlichen Schöpfungsgeschichte von Haeckel zugesandt. In keinem der von Steiner über Haeckel verfassten Aufsätze oder Texte wird eine solche Anschauung Haeckels auch nur mit einem Wort erwähnt. Im übrigen gab Haeckel nur die damals unter Evolutionsbiologen weltweit übliche Betrachtungsweise der Phylogenese wieder, wenn er versuchte, die verschiedenen Phänotypen in eine zeitliche Anordnung zu bringen, verlangte doch die Darwinsche Evolutionslehre nach einer genetischen, also geschichtlichen Erklärung aller organischen Formen, auch der menschlichen.
Wenn Steiner sich mit Haeckel auseinandersetzte, dann deswegen, weil er Haeckel für den konsequentesten Vertreter des Darwinismus seiner Zeit hielt. In einem Brief an Joseph Kürschner, für dessen Sammlung Steiner die Naturwissenschaftlichen Schriften Goethes edierte und kommentierte, schrieb er: »Haeckel hat eben vor vielen zeitgenössischen Naturphilosophen einen großen Vorzug. Er hat die allerersten Prinzipien seiner Naturanschauung rückhaltlos vor aller Welt dargelegt. Seine Überzeugung wird aus seinen Schriften vollkommen durchsichtig. Viele andere dagegen lassen die Frage über die ersten Prinzipien offen. Letztere bekennen sich ebenfalls als Anhänger Darwins, ziehen aber durchaus nicht die letzten Konsequenzen seiner Lehre. Haeckel tut dies. Wenn es sich nun darum handelt, über einen bestimmten Punkt der modernen Organismenlehre – im zustimmenden oder ablehnenden Sinn – zu sprechen, so hat man an Haeckel immer denjenigen, bei dem man denselben am konsequentesten und – bis ins Kleinste gehend – genau im Darwinschen Sinne dargestellt findet.«59 Auch in seiner Verteidigungsschrift für Haeckel, die 1900 erschien (Haeckel und seine Gegner), ging Steiner mit keinem Wort auf eine wie auch immer geartete Rassenlehre Haeckels oder dessen politische Positionen ein. Hier porträtierte er vielmehr die Unwissenschaftlichkeit und Inkonsequenz der theologischen, philosophischen und naturwissenschaftlichen Gegner Haeckels, die sich dagegen sträubten, den Evolutionsgedanken in ihr Weltbild aufzunehmen und hob an Haeckel dessen konsequenten Monismus hervor.
54) Der vollständige Titel lautet: Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung mit besonderer Rücksicht auf Schiller, zugleich eine Zugabe zu »Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften« in Kürschners »Deutsche National-Litteratur«. S. 19 f.
55) Ebenda, 100. Steiner zitiert Haeckels Aufsatz Die Naturanschauung von Darwin, Goethe und Lamarck, Jena 1882. In diesem heißt es (Steiners Zitat): »Wenn die psychische Mechanik nicht so unendlich zusammengesetzt wäre, wenn wir imstande wären, auch die geschichtliche Entwicklung der psychischen Funktionen vollständig zu übersehen, so würden wir sie alle in eine mathematische Seelenformel bringen können.«
56) Siehe: Mein Lebensgang, 3. Kapitel, S. 43. – Generelle Morphologie der Organismen. Allgemeine Grundzüge der organischen Formenwissenschaft, mechanisch begründet durch die von Charles Darwin reformierte Descendenz-Theorie. I. Band: Allgemeine Anatomie der Organismen oder Wissenschaft von den entwickelten organischen Formen. II. Band: Allgemeine Entwicklungsgeschichte der Organismen oder Wissenschaft von den entstehenden organischen Formen, Berlin 1866.
57) Briefe I, S. 56, GA 38.
58) Briefe I, S. 104-106, GA 38.
59) Briefe I, S. 72, GA 38.
Die Lebensbedingungen des österreichischen Vielvölkerstaates. Karl Julius Schröer und Fercher von Steinwand
Wie verhält es sich nun mit Karl Julius Schröer und Fercher von Steinwand, zwei weiteren angeblichen »Völkischen« und »Deutschnationalen«, von denen Steiner nach Bierl geprägt worden sei?
Wie Steiner zu Schröer stand und was er in ihm sah, geht aus dessen Schilderungen in seinem während des I. Weltkriegs verfassten Buch Vom Menschenrätsel und aus seiner Autobiographie Mein Lebensgang hervor.
»Begeisterung für die Ideale der Menschheit«, schreibt Steiner in seinem Buch Vom Menschenrätsel 1916, »trug Schröers Urteile; und es prägte sie lebendiges Sich-Fühlen in der Lebensanschauung, die in Goethes Zeitalter ihren Anfang nahm. Ein Geist sprach aus diesem Manne, der nur mitteilen wollte, was durch die Betrachtung des Geisteslebens tiefes Selbsterlebnis seiner Seele geworden war.«60
Er fährt fort: »Durch die Geistesart seines Vaters hatte auf Karl Julius Schröer die Sonne des deutschen Weltanschauungsidealismus schon voraus geleuchtet, als er Ende der vierziger Jahre des vorigen Jahrhunderts [19. Jh.] an die Universitäten Leipzig, Halle und Berlin ging und da durch vieles, das auf ihn wirkte, hindurch die Vorstellungsart dieses Idealismus noch empfinden konnte. […] Und wie er sein Deutschtum auffasste, das drückt Schröer in dieser Art aus: »Von diesem Standpunkte aus verschwanden natürlich die einseitigen Leidenschaften der Parteien vor meinem Blicke: man wird weder einen Protestanten, noch einen Katholiken, weder konservativen, noch subversiven Schwärmer hören und einen für deutsche Nationalität Begeisterten nur insofern, als durch dieselbe die Humanität gewann und das Menschengeschlecht verherrlicht wurde.« Und ich möchte diese vor bald siebzig Jahren niedergeschriebenen Worte auch nicht deshalb wiederholen, um auszusprechen, was für einen Deutschen in Österreich damals richtig war, oder gar, was gegenwärtig richtig ist. Ich möchte nur zeigen, wie ein Mensch beschaffen war, in dem sich das deutsch-österreichische Wesen auf eine besondere Art auslebte. Inwieweit dieses Wesen dem Österreicher die rechte Art des Strebens verleiht, darüber werden die Angehörigen der verschiedenen Parteien und Nationen in Österreich auch die verschiedensten Urteile fällen. Und zu alldem hinzu ist auch noch zu bedenken, dass Schröer sich so als noch junger Mann aussprach, der eben von deutschen Universitäten zurückgekommen war. Aber bedeutsam ist, dass in der Seele des jungen Mannes, nicht aus politischen Absichten, sondern aus rein geistigen Weltanschauungsgedanken heraus, das deutschösterreichische Bewusstsein ein Ideal für die Sendung Österreichs sich formte, das er mit diesen Worten ausdrückte: »Wenn wir den Vergleich Deutschlands mit dem antiken Griechenland und der deutschen mit den griechischen Stämmen verfolgen, so finden wir eine große Ähnlichkeit zwischen Österreich und Mazedonien. Wir sehen die schöne Aufgabe Österreichs in dem Beispiele vor uns: den Samen westlicher Kultur über den Osten hinauszustreuen.61 […] Und im Grund schwebte ihm bei allen solchen Bestrebungen der Gedanke vor, die Lebensbedingungen Österreichs aus den geistigen Triebkräften seiner Völker kennenzulernen.62 […] In seinen letzten Lebensjahren war Schröers Geistesarbeit fast ganz der Vertiefung in Goethes Lebenswerk und Vorstellungsart zugewandt63 […] Die Wurzeln dieses Geisteslebens sah er in der Weltanschauung des deutschen Idealismus. Und sein Bekenntnis zu dieser Weltanschauung drückte er mit den Worten aus: »Das weltverjüngende Auftauchen des Idealismus in Deutschland, im Zeitalter der Frivolität vor hundert Jahren, ist die größte Erscheinung der neueren Geschichte. Der nur auf das Endliche gerichtete Verstand, der nicht in der Wesen Tiefe dringt; mit ihm die auf die Befriedigung der Sinnlichkeit gerichtete Selbstsucht, traten auf einmal zurück hinter dem Auftauchen eines Geistes, der über alles Gemeine erhebt.««64
In seiner Autobiographie beschäftigt sich Steiner am ausführlichsten im fünften Kapitel mit seiner Beziehung zu Schröer.65 Hier führt er aus: »Sein eigenes Schicksal hing eng zusammen mit dem der Deutschen Österreich-Ungarns. Er war der Sohn Tobias Gottfried Schröers, der in Preßburg ein deutsches Lyzeum leitete und Dramen, sowie geschichtliche und ästhetische Bücher schrieb. Die letzteren sind mit dem Namen Chr. Oeser erschienen und waren beliebte Unterrichtsbücher. Die Dichtungen Tobias Gottfried Schröers sind […] nicht bekannt geworden. Die Gesinnung, die sie atmeten, stand der herrschenden politischen Strömung in Ungarn [gemeint sind die ungarischen Zentralisierungs- und Magyarisierungsbestrebungen] entgegen. Sie mussten ohne Verfassernamen zum Teil im deutschen Auslande erscheinen. Wäre die geistige Richtung des Verfassers in Ungarn bekannt geworden, so hätte dieser nicht nur der Entlassung aus dem Amte, sondern sogar einer harten Bestrafung gewärtig sein müssen.
Karl Julius Schröer erlebte so den Druck auf das Deutschtum schon in seiner Jugend im eigenen Hause. […]
Er ging in den vierziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts nach Deutschland, um an den Universitäten von Leipzig, Halle und Berlin deutsche Sprach- und Literaturstudien zu treiben. Nach seiner Rückkehr war er zunächst am Lyzeum seines Vaters als Lehrer der deutschen Literatur und Leiter eines Seminars tätig. […]
Das liebevolle Einleben in deutsches Volkstum nahm Schröers Seele immer mehr in Anspruch. Er machte Reisen, um die deutschen Mundarten in den verschiedensten Gebieten Österreichs zu studieren. Überall, wo deutsches Volkstum in den slawischen, magyarischen, italienischen Landesteilen der Donaumonarchie eingestreut war, wollte er dessen Eigenart kennen lernen. So entstanden seine Wörterbücher und Grammatiken der Zipser Mundart, die im Süden der Karpaten heimisch war, der Gottscheer Mundart, die bei einem kleinen deutschen Volksteil in Krain lebte, der Sprache der Heanzen, die im westlichen Ungarn gesprochen wurde.
Für Schröer waren diese Studien niemals eine bloß wissenschaftliche Aufgabe. Er lebte mit ganzer Seele in den Offenbarungen des Volkstums und wollte dessen Wesen durch Wort und Schrift zum Bewusstsein derjenigen Menschen bringen, die aus ihm durch das Leben herausgerissen sind. […]
Wenn ich zu Besuchen in die kleine Bibliothek Schröers [in Wien] kam, die zugleich sein Arbeitszimmer war, fühlte ich mich in einer geistigen Atmosphäre, die meinem Seelenleben in starkem Maße wohltat. […] Aus seinem begeisterten Herzen lebten in seiner mündlichen Darstellung die Weihnachtsspiele, der Geist der deutschen Mundarten, der Verlauf des literarischen Lebens auf. Das Verhältnis der Mundart zu der Bildungssprache wurde mir praktisch anschaulich. […]
Ich hörte geistig mit der allergrößten Sympathie alles, was von Schröer kam. Dennoch konnte ich nicht anders, als auch ihm gegenüber, das, wonach ich geistig intim strebte, in der eigenen Seele ganz unabhängig aufbauen. [Kursiv L.R.] Schröer war Idealist; und die Ideenwelt als solche war für ihn das, was in Natur- und Menschenschöpfung als treibende Kraft wirkte. Mir war die Idee der Schatten einer volllebendigen Geisteswelt. Ich fand es damals sogar schwierig, für mich selbst den Unterschied zwischen Schröers und meiner Denkungsart in Worte zu bringen. – Er redete von Ideen als von den treibenden Mächten in der Geschichte. Er fühlte Leben in dem Dasein der Ideen. Für mich war das Leben des Geistes hinter den Ideen, und diese nur dessen Erscheinung in der Menschenseele. Ich konnte damals kein anderes Wort für meine Denkungsart finden als objektiven Idealismus. Ich wollte damit sagen, dass für mich das Wesentliche an der Idee nicht ist, dass sie im menschlichen Subjekt erscheint, sondern dass sie wie etwa die Farbe am Sinneswesen an dem geistigen Objekte erscheint, und dass die menschliche Seele – das Subjekt – sie da wahrnimmt, wie das Auge die Farbe an einem Lebewesen.
Meiner Anschauung kam aber Schröer in hohem Grade mit seiner Ausdrucksform entgegen, wenn wir das besprachen, was sich als Volksseele offenbart. [Kursiv L.R.] Er sprach von dieser als von einem wirklichen geistigen Wesen, das sich in der Gesamtheit der einzelnen Menschen, die zu einem Volke gehören, darlebt. Da nahmen seine Worte einen Charakter an, der nicht bloß auf die Bezeichnung einer abstrakt gehaltenen Idee ging. Und so betrachteten wir beide das Gefüge des alten Österreich und die in demselben wirksamen Individualitäten der Volksseelen. [Kursiv L.R.] – Von dieser Seite war es mir möglich, Gedanken über die öffentlichen Zustände zu fassen, die tiefer in mein Seelenleben eingriffen.«
Entgegen der Behauptung Bierls, Steiner habe das Konzept der Volksseele bzw. des Volksgeistes durch Schröer kennengelernt (B, 18) und dieses von ihm übernommen, muss davon ausgegangen werden, dass Steiner nicht nur einen Begriff des Volksgeistes besaß, sondern auch eine Wahrnehmung, »Anschauung« dieses Volksgeistes. Für Schröer, den Idealisten, wurde die Idee erst für das Wesenhafte, das sich in ihr ausspricht, durchlässig, als er von Volksseelen sprach, während für Steiner, der wie Goethe seine Ideen »mit Augen« sah, die Anschauung des Volksgeistes den Ausgangspunkt seiner Rede vom Volksgeist bildete. Der historische Zusammenhang, aus dem Schröers Suche um ein Verständnis der Lebensbedingungen Österreichs hervorging, lag in eben diesen Lebensbedingungen des habsburgischen Vielvölkerstaates, dessen Existenz nicht durch ein solches Bemühen wie Schröer es pflegte, sondern durch die zunehmenden völkischen und territorialen Nationalismen in Frage gestellt war. Schröers »Begeisterung für die Ideale der Menschheit« ließ sein Interesse an den Lebensbedingungen des Habsburgerstaates wachsen, sein weder nationalistisches noch chauvinistisches Bemühen um Verständnis der Völker dieses Staates führte ihn zu Ansichten, die jenseits alles nationalen Chauvinismus lagen. Dieser Auffassung zumindest war Steiner.
60) Rudolf Steiner, Vom Menschenrätsel, GA 20, Dornach 1984, S. 89.
61) Ebenda, S. 93-94.
62) Ebenda, S. 95.
63) Ebenda, S. 96.
64) Ebenda. S. 96-97.
65) Mein Lebensgang, S. 89-94.
Die Deutsche Wochenschrift 1888
Rudolf Steiner als Redakteur der Deutschen Wochenschrift 1888.
Der Entwicklungsgang der Kultur im Menschheitsfortschritt
Als Steiner 1888, mit 26 Jahren für kurze Zeit »überstürzt« (Lindenberg) die Redaktion der Deutschen Wochenschrift übernimmt (vom 1. Januar 1888 bis zu ihrer Einstellung Ende Juli desselben Jahres), erhält er Gelegenheit, sein Urteil an politischen und kulturellen Strömungen, an Ereignissen und Personen zu üben. In einer Reihe von Artikeln für die Deutsche Wochenschrift versucht er deren Leserschaft schonend mit seinem Standpunkt eines geistverbundenen ethischen Individualismus vertraut zu machen, was ihm bei der liberalen Leserschaft, die in Österreich der politischen Linie eines konstitutionellen Monarchismus verbunden war, vermutlich wenig Sympathien eingetragen hat.
Es ist überaus erhellend, Steiners Schilderung seiner Tätigkeit als Herausgeber der Deutschen Wochenschrift, die in seiner Autobiographie enthalten ist, zur Kenntnis zu nehmen, die sich aus den Beiträgen, die er für die Zeitschrift verfasste, sehr gut verifizieren lässt.66
»Es war das die Zeit, in der sich in dem damaligen Österreich diese Interessen den krisenhaften Erscheinungen zuwenden mussten, die in den öffentlichen Angelegenheiten sich offenbarten. Persönlichkeiten, mit denen ich viel verkehrte, widmeten ihre Arbeit und Kraft den Auseinandersetzungen, die sich zwischen den Nationalitäten Österreichs vollzogen. Andere beschäftigten sich mit der sozialen Frage. Wieder andere standen in Bestrebungen nach einer Verjüngung des künstlerischen Lebens darinnen.
(…)
In derselben Zeit fand es sich, dass ich mich in eingehender Art mit den öffentlichen Angelegenheiten Österreichs beschäftigen musste. Denn mir wurde 1888 für kurze Zeit die Redaktion der Deutschen Wochenschrift übertragen. Diese Zeitschrift war von dem Historiker Heinrich Friedjung begründet worden.«
Eine kurze Bemerkung zu Heinrich Friedjung. Friedjung war, ebenso wie Victor Adler, getaufter Jude, also Assimilant und gehörte vor 1885 neben Adler, Engelbert Pernerstorfer und Karl Lueger, dem späteren christlich-sozialen Bürgermeister Wiens, zu den wichtigsten Mitarbeitern des bedeutendsten Deutschnationalen Georg Ritter von Schönerer (zu diesem weiter unten). Im Kreis dieser Intellektuellen wurde das Linzer Programm, das Grundsatzpapier der Deutschnationalen im Jahr 1882 ausgearbeitet. Die jüdische Intelligenz trug wesentlich zur Gestaltung des Grundsatzprogramms des Deutschnationalismus bei. Friedjung wie auch Adler fielen der eigenmächtigen Nachinstallation des »Arierparagraphen« im Linzer Programm durch Schönerer zum Opfer. Sie mussten die Partei 1885 verlassen (auch dazu weiter unten).
Steiner fährt in seiner Autobiographie fort: »Meine kurze Redaktion fiel in die Zeit, in der die Auseinandersetzung der Völker Österreichs einen besonders heftigen Charakter angenommen hatte. Es wurde mir nicht leicht, jede Woche einen Artikel über die öffentlichen Vorgänge zu schreiben. Denn im Grunde stand ich aller parteimäßigen Lebensauffassung so fern als nur möglich. Mich interessierte der Entwickelungsgang der Kultur im Menschheitsfortschritt. [Kursiv L.R.] Und ich musste den sich daraus ergebenden Gesichtspunkt so einnehmen, dass unter seiner vollen Wahrung meine Artikel doch nicht als die eines »weltfremden Idealisten« erschienen.«
»Dazu kam, dass ich in der damals in Österreich besonders durch den Minister Gautsch eingeleiteten »Unterrichtsreform« eine Schädigung der Kulturinteressen sah. Auf diesem Gebiete wurden meine Bemerkungen einmal sogar Schröer, der immerhin für parteiliche Betrachtung viel Sympathie hatte, bedenklich. Ich lobte die sachgemäßen Einrichtungen, die der katholisch-klerikale Minister Leo Thun schon in den fünfziger Jahren für die österreichischen Gymnasien getroffen hatte, gegenüber den unpädagogischen Maßnahmen von Gautsch. Als Schröer meinen Artikel gelesen hatte, sagte er: Wollen Sie denn wieder eine klerikale Unterrichtspolitik in Österreich?
Für mich war diese kurze Redaktionstätigkeit doch von großer Bedeutung. Sie lenkte meine Aufmerksamkeit auf den Stil, mit dem man damals in Österreich die öffentlichen Angelegenheiten behandelte. Mir war dieser Stil tief unsympathisch. [Kursiv L.R.] Ich wollte auch in die Besprechungen über diese Angelegenheiten etwas hineinbringen, das einen die großen geistigen und menschheitlichen Ziele in sich schließenden Zug hatte. Diesen vermisste ich in der damaligen Tagesschriftstellerei. Wie dieser Zug zur Wirksamkeit zu bringen sei, das war damals meine tägliche Sorge. […]
Doch brachte mich diese Tätigkeit in eine ziemlich enge Beziehung zu Persönlichkeiten, deren Tätigkeit auf die mannigfaltigsten Zweige des öffentlichen Lebens gerichtet war. Ich lernte Viktor Adler kennen, der damals der unbestrittene Führer der Sozialisten in Österreich war. In dem schmächtigen, anspruchslosen Mann steckte ein energischer Wille. Wenn er am Kaffeetisch sprach, hatte ich stets das Gefühl: der Inhalt dessen, was er sagte, sei unbedeutend, alltäglich, aber so spricht ein Wille, der durch nichts zu beugen ist. Ich lernte Pernerstorfer kennen, der sich in der Umwandlung vom deutschnationalen zum sozialistischen Parteigänger befand. Eine starke Persönlichkeit von umfassendem Wissen. Ein scharfer Kritiker der Schäden des öffentlichen Lebens. Er gab damals eine Monatsschrift Deutsche Worte heraus. Die war mir eine anregende Lektüre. In der Gesellschaft dieser Persönlichkeiten traf ich andere, die wissenschaftlich oder parteigemäß den Sozialismus zur Geltung bringen wollten. Durch sie wurde ich veranlasst, mich mit Karl Marx, Friedrich Engels, Rodbertus und anderen sozial-ökonomischen Schriftstellern zu befassen. Ich konnte zu alledem ein inneres Verhältnis nicht gewinnen. Es war mir persönlich schmerzlich, davon sprechen zu hören, dass die materiell-ökonomischen Kräfte in der Geschichte der Menschheit die eigentliche Entwickelung tragen und das Geistige nur ein ideeller Überbau dieses «wahrhaft-realen» Unterbaues sein sollte. Ich kannte die Wirklichkeit des Geistigen. Es waren die Behauptungen der theoretisierenden Sozialisten für mich das Augen-Verschließen vor der wahren Wirklichkeit.«
Die Äußerungen Steiners über seine eigentlichen Intentionen und Interessen im Rückblick von 1924 lassen sich durch eine nähere Betrachtung seiner Aufsätze aus dem Jahr 1886 verifizieren. Wir müssen uns diese deswegen etwas näher ansehen.
66) Die folgenden Zitate finden sich auf den Seiten 144-147 von Mein Lebensgang.
Steiners politische Ansichten 1888
Steiner nahm als Herausgeber der Deutschen Wochenschrift die erste Gelegenheit wahr, die deutsche »nationale« Sache von einer nationalen in eine Kulturaufgabe umzudefinieren und den politischen Vertretern der deutschen Interessen – von denen er namentlich die »Herbstianer, Plenerianer, Sturmianer, Steinwendianer, Schönerianer« erwähnt67 – zu attestieren, sie stellten persönliche Vorlieben über die große Idee, um die es bei der Kulturmission der Deutschen in Österreich ginge.68 Er benutzte die zweite Gelegenheit, um für die Umgestaltung des Erziehungs- und Unterrichtswesens in der konstitutionellen Ära des österreichischen Kaiserreiches im Sinne des ethischen Individualismus zu plädieren, der alles auf die freie Einzelpersönlichkeit abstellt und nichts von einer obrigkeitsstaatlich verstandenen Bürokratie erwartet.69 Die Umbildung der Lehrerbildungsanstalten »in methodische Drill-Institute« mache die Ausbildung der Individualität schlicht unmöglich, wo doch das Gedeihen des Unterrichtswesens allein von der »Pflege der Individualitäten« abhänge. Deswegen lobt er auch den klerikalen [sic!] Unterrichtsminister Thun, der eben diese Individualität – selbst entgegen seinem klerikalen Parteiinteresse – durch seine Berufungspolitik gefördert habe, auch wenn er die Bildung des Volkes zugunsten der höheren Lehranstalten vernachlässigte.
Der künftige Lehrer solle, schreibt Steiner, die Ziele der Kulturentwicklung seines Volkes, die Richtung in der sie sich bewege, kennen. Er bedürfe zu diesem Zweck der historischen und ästhetischen Bildung. Er solle in die Geistesentwicklung der Menschheit eingeführt werden, an der er mitzuarbeiten habe. Mechanische Wirksamkeit nach ministeriellen Verordnungen sei der Tod aller Pädagogik. In dieser Hinsicht müssen selbst noch die heutigen Waldorfschulen, die auf Steiners Stiftung zurückgehen, um ihrer Existenz willen viele Kompromisse eingehen. Der Lehrer könne nur auf die nötige Geisteshöhe gebracht werden, indem er an die Wissenschaften angeschlossen und mit der Kunst bekannt gemacht werde, um die verschiedenen Richtungen und Entwicklungsmöglichkeiten des menschlichen Geistes kennenzulernen.
Im zweiten Teil seines Aufsatzes Die deutschnationale Sache in Österreich mit dem Untertitel Die deutschen Klerikalen und ihre Freunde, polemisiert er gegen das Ministerium Taaffe70, aber nicht, weil ihm dieses zu wenig national gewesen wäre, sondern weil es sich durch seine Ideenlosigkeit auszeichne und an die Stelle der ideellen Gestaltung von Politik machiavellistische Machtarithmetik und Diplomatie um des Machterhalts willen setze. Taaffe bezeichnete selbstironisch seine Form des Verwaltungshandelns als »Fortwursteln« und bekannte, seine Politik bestehe darin, alle Nationalitäten in »wohltemperierter Unzufriedenheit« zu erhalten. Robert Kann schreibt über Taaffe: »Er nannte seine Politik eine Politik des »Forstwurstelns«, ein ungemein anschaulicher Ausdruck, der ein Fortschleppen von einem Tag zum andern, den Abschluss von Kompromissen über alles und jedes und eine Haltung bezeichnet, die dieses Gleichgewicht niemals durch erzwungene, weitreichende Reformpläne stören will. Diese Politik des »Forstwurstelns«, die mit dem anderen Grundprinzip der österreichischen Regierungspolitik übereinstimmte, dass provisorische Regelungen die dauerhaftesten sind, trägt zu der Erklärung bei, wieso sich das Taaffesche Regime volle vierzehn Jahre halten konnte.«71
Etwas weniger freundlich beurteilt Viktor Bibl 1924 die Wirkungen der Taaffeschen Politik von seinem konservativen Standpunkt aus: »Er [Taaffe] hatte geglaubt, durch das gegenseitige Ausspielen der Nationalitäten alle in der Hand zu haben, indes erging es ihm wie dem Zauberlehrling, der die Geister, die er rief, nicht mehr zu bannen vermochte. Für jeden halbwegs gereiften Politiker musste es klar sein, dass die Tschechen in ihrem nationalen Größenwahn und Fanatismus mit dem Erreichten sich nicht zufrieden geben würden. Sie wollten die volle staatliche Selbständigkeit Böhmens, und wenn sie diese erlangt hätten, die Personalunion, die bekanntlich, wie Plener sagt, gewöhnlich zur völligen Trennung führt. Es war ihnen nicht um die Gleichberechtigung mit den Deutschen zu tun, sondern um die volle Herrschaft …«72 Nicht weniger schmeichelhaft ist das Fazit, das Viktor Bibl zieht: »Die traurige Hinterlassenschaft der vierzehnjährigen Ära Taaffe war eine Verschärfung des Völkerstreits, war die völlige Zerrüttung des Staatswesens. Minister kommen und gehen, das Chaos bleibt … Wäre Graf Taaffe nicht bald nach seinem Sturz verschieden, so hätte er die Genugtuung gehabt, zu sehen, wie sein System des »Fortwurstelns« das einzige Bleibende in der Erscheinungen Flucht darstellte. Das Hauptrequisit seiner Regierungskunst, die Slawisierung Österreichs, das gegenseitige Ausspielen der Nationen und sein Gedanke einer Wahlreform verschwanden nicht mehr aus dem Gesichtskreis seiner Nachfolger.«73
Doch kehren wir zu Steiners Aufsatz zurück. Den Deutschen, so Steiner, könne es nicht um ihr liebes nationales Ich gehen, sie hätten nicht einen leeren Namen, sondern einen Inhalt zu verteidigen, nämlich die gegenwärtig erreichte Bildungshöhe der Humanität. Nicht auf das, was sie durch Geburt, also durch Vererbung und damit Rasse, geworden seien, komme es an, sondern allein auf den Inhalt des nationalen Selbstes, der in der Bildungshöhe der Zeit bestehe. Steiner fordert also von den Vertretern der deutschen Sache in Österreich, dass sie sich auf die Bildungshöhe der Zeit heben und diese vertreten sollten, die, wie er bereits im zuvor erschienenen Aufsatz deutlich machte, sich in den Ideen des ethischen Individualismus, der späteren Freiheitsphilosophie seines individualistischen Anarchismus, angemessen widerspiegelte.
Wie er bereits 1886 in seiner an Goethe anknüpfenden Schrift Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung verdeutlichte (zu den Grundlinien … weiter unten), sah Steiner bekanntlich in der Freiheit die schlechthin höchste Idee, zu der es die Geistesentwicklung der Menschheit bisher gebracht habe und hielt nach dem Zeugnis seines Aufsatzes vom Juli 1888, der ebenfalls in der Deutschen Wochenschrift (unmittelbar vor der Einstellung ihres Erscheinens) abgedruckt wurde, das Verständnis dieser Freiheit für das alleinige Maß des Fortschritts. (Siehe zu diesem Aufsatz im Folgenden). Ironischerweise attestiert Steiner dem Grafen Taaffe politische Größe im machiavellistischen Sinne, wenn er ihm auch ein Verständnis des deutschen Wesens abspricht, was bei der Taaffe vorgeworfenen Ideenlosigkeit nur konsequent ist, da jemand, der ideenlos ist, auch keine fremden Ideen verstehen kann. Steiner distanzierte sich auch bereits hier von einem emotional aufgeladenen Nationalismus, der chauvinistisch das leere nationale Ich beschwöre, sah letzteren in der Feindseligkeit der slawischen Nationen gegenüber der deutschen Bildung wirksam und grenzte sich von jeglichem Nationalismus dadurch ab, dass er das Wesen der deutschen Nation beschwörend in deren Interesse für die »Errungenschaften unserer europäischen [nicht deutschen] Kultur der letzten Jahrhunderte« setzte74, sie als das Ergebnis einer langen Entwicklungsgeschichte des Geistes charakterisierte und ihr die Aufgabe zuwies, diese produktiv fortzubilden. Im slawischen Nationalismus sah Steiner dieselbe Ablehnung gegen den deutschen Geist wirksam wie im Katholizismus, dessen freiheits- und individualitätsfeindlichen Internationalismus er ebenso ablehnte, wie den Nationalismus, der nicht den Beitrag aller gebildeten Nationen und vor allem Individualitäten zum jeweiligen höchsten Grad der geistigen Bildung in sich aufnahm bzw. einschloss. Er artikuliert hier einen aus der Aufklärungszeit stammenden Gedanken, der noch heute in der scientific community in Form des Ideals der öffentlichen wissenschaftlichen Diskussion fortlebt.
In einem in der Deutschen Wochenschrift am 13. Juli erschienenen Aufsatz mit dem Titel Papsttum und Liberalismus schreibt Steiner:
»Das Barometer des Fortschritts in der Entwicklung der Menschheit ist nämlich in der Tat die Auffassung, die man von der Freiheit hat, und die praktische Realisierung dieser Auffassung«.
Damit ist Steiners eigene Grundorientierung ausgesprochen, die er bis zu seinem Tode durchgehalten hat. Durch Steiners Bemerkung klingt aber auch noch etwas anderes hindurch: seine Übereinstimmung mit Hegels Auffassung vom Wesen der Menschheitsgeschichte. Denn für Hegel war die »Weltgeschichte der Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit«, ja, der Endzweck dieser Geschichte nicht nur das Bewusstsein, sondern die Wirklichkeit der Freiheit des Geistes.75
In Steiners Artikel findet sich auch ein unzweideutiges Bekenntnis »zum liberalen Prinzip als dem Kernpunkt der modernen Kultur überhaupt.« Steiner schrieb damals im Anschluss an den eben zitierten Satz:
»Unserer Überzeugung nach hat die neueste Zeit in dieser Auffassung [von der Freiheit] einen Fortschritt zu verzeichnen, der ebenso bedeutsam ist, wie jener war, den die Lehren Christi bewirkten: »es sei nicht Jude, noch Grieche, noch Barbar, noch Skythe, sondern alle seien Brüder in Christo«. Wie damals die Gleichwertigkeit aller Menschen vor Gott und ihresgleichen anerkannt wurde, so bemächtigte sich in dem letzten Jahrhundert immer mehr die Überzeugung der Menschen, dass nicht in der Unterwerfung unter die Gebote einer äußeren Autorität unsere Aufgabe bestehen könne, dass alles, was wir glauben, dass die Richtschnur unseres Handelns lediglich aus dem Lichte der Vernunft in unserem eigenen Innern entstammen solle. Nur das für wahr halten, wozu uns unser eigenes Denken zwingt, nur in solchen gesellschaftlichen und staatlichen Formen sich bewegen, die wir uns selbst geben, das ist der große Grundsatz der Zeit.«76
Diese Fundstelle ist kaum mehr zu übertreffen, denn sie vereinigt
- ein Plädoyer für das Christentum, dessen Wesen nach Steiners Auffassung in der Überwindung des Rassenprinzips zugunsten des Prinzips von der Gleichwertigkeit aller Menschen vor Gott und ihresgleichen bestehe,
- mit der Würdigung der sittlichen Autonomie als des höchsten Grades der Moralentwicklung
- und erhebt zugleich das Prinzip der Volkssouveränität auf die gleiche Bedeutungs- und Geltungshöhe wie die christliche Weltrevolution.
Dass sich aber in Steiners Verständnis der politischen Freiheit, deren Idee er als die größte Errungenschaft der Neuzeit betrachtet, wiederum sein individualistischer Anarchismus verbirgt, dürfte uns nicht mehr überraschen. Immerhin ist es Steiner gelungen, sich in dieser kurzen Passage seiner angeblich deutschnationalen, volkstümelnden Wochenschrift zu den Ideen Rousseaus und Montesquieus von der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zu bekennen. Im Lichte dieser Passage aus dem Aufsatz mit dem vielsagenden Titel Papsttum und Liberalismus ist auch Steiners spätere Theorie über die zerstörerische Macht des Rassismus zu sehen, die er 1908 und 1917 vor seinen Zuhörern entwickelte.
Die Zeitung wurde am selben Tag wegen kritischer Äußerungen des späteren Sozialdemokraten Pernerstorfer über das österreichische Schulwesen und die Unterrichtsverwaltung von den Behörden konfisziert. Pernerstorfer hatte gegenüber Schönerer bereits 1883 erklärt, dass dessen Antisemitismus für ihn inakzeptabel sei: »Ich fühle mich verpflichtet, zum wiederholten Mal zu erklären, dass der Antisemitismus als Teil des Partei-Programms für mich inakzeptabel ist. Dieser Kampf … verspricht nur, die politische Atmosphäre zu vergiften.«77 Ebenso vergiftend auf die politische Atmosphäre wirkte Karl Lueger, der ehemalige Mitarbeiter Schönerers, der Führer der Christlichsozialen Partei und langjährige Bürgermeister Wiens, der zwar kein Rassenantisemit, aber ein militanter Antisemit war. Über ihn sagt Brigitte Hamann: »Der Antisemitismus, den Lueger über Jahrzehnte als hypnotischer Redner in die ihn verehrenden Volksmassen brachte, die ordinären Entgleisungen seiner Parteigenossen und geistlichen Freunde, die er unwidersprochen ließ, vergifteten die Atmosphäre. Auch wenn keine Juden ermordet wurden, verrohten die Menschen, die von ihrem verehrten Idol in alten Vorurteilen bestätigt wurden.«78 Im Sommer 1883 entschied sich Pernerstorfer, sich von Schönerer zu trennen und opponierte von da an aktiv gegen den Antisemitismus und Schönerers Anspruch, das nationale Lager zu führen.79
Vollends zur Meisterschaft der Ironie schwingt sich Steiner in seinem Aufsatz über die Thronrede Kaiser Wilhelms II. Ende Juni 1888 auf, die unter dem Titel Des Kaisers Worte [sic!] erschien.80
Den ironischen Hintersinn dieses Aufsatzes kann nur verkennen, wer weder mit Steiners wirklicher geistiger Orientierung vertraut ist, noch mit den Feinheiten der Rhetorik. Der neue deutsche Kaiser, so Steiner ironisch salbungsvoll, lasse sein Volk über keine wichtige Frage im Unklaren, er habe überaus deutlich vom Thron herab verkündet, welche Wege er künftig wandeln wolle, nämlich keine Wege in die Zukunft, sondern Wege in die Vergangenheit. Orakelhaft spricht Steiner von einem »wahrhaft historischen Sinn«, der durch des Kaisers Rede gehe, weil in ihr zum Ausdruck komme, dass er sich in den Dienst der geschichtlichen Notwendigkeit stelle und fernab jedes Parteistandpunktes und jedes »Muckertums« die Konsolidierung der staatlichen Verhältnisse im Sinne des deutschen Volksgeistes anstrebe. Lobend hebt Steiner an Wilhelms Rede hervor, dass er sich vom Militarismus, dem angeblich seine [Wilhelms] persönliche Vorliebe gehöre, distanziert, und dem Heer lediglich Verteidigungsaufgaben und die Sicherung des Friedens zugewiesen habe. Im Geist des deutschen Kaisers müsse, so Steiner, der Volkswille zum Regierungsgrundsatz werden, nicht der Geist einer Partei. Damit adelt Steiner Wilhelm den Zweiten zur Verkörperung des volonté générale und überhöht dessen Anspruch ins Absurde. Er gesteht aber dem deutschen Herrscher ein tiefes Verständnis dieser Idee zu, die bereits vor seiner Zeit bekanntlich der französische Absolutismus in den Satz zusammenfasste »l’état ç’est moi«, und zitiert den Satz: »Im Vertrauen auf Gott und auf die Wehrhaftigkeit unseres Volkes hege ich die Zuversicht, dass es uns für absehbare Zeit vergönnt sein werde, in friedlicher Arbeit zu wahren und zu festigen, was unter der Leitung meiner beiden in Gott ruhenden Vorgänger auf dem Throne kämpfend erstritten wurde!« Und dies der Autor, der zwei Jahre zuvor geschrieben hatte: »Das [individuelle menschliche] Wollen ist souverän. Es vollführt nur, was als Gedankeninhalt in der menschlichen Persönlichkeit liegt. Der Mensch lässt sich nicht von einer äußeren Macht Gesetze geben, er ist sein eigener Gesetzgeber. … Die Verfassung, die sich ein Volk gibt, muss aus seinem innersten Wesen heraus entwickelt werden.«81 Derselbe Autor, der 14 Tage später schreiben sollte: »Nur das für wahr halten, wozu uns unser eigenes Denken zwingt, nur in solchen gesellschaftlichen und staatlichen Formen sich bewegen, die wir uns selbst geben, das ist der große Grundsatz der Zeit.«
So viel zum »deutschnationalen« Steiner 1888 und zu dessen Redaktion der Deutschen Wochenschrift.
67) GA 31, S. 115.
68) In seinem Aufsatz Die deutschnationale Sache in Österreich. Die parlamentarische Vertretung der Deutschen, in: Deutsche Wochenschrift 1888, VI. Jg., Nr. 22, abgedruckt in GA 31, Dornach 1989, S. 111 f.
69) Im Aufsatz Das deutsche Unterrichtswesen (in Österreich) und Herr von Gautsch, der in der zweiten von ihm redigierten Nummer der Deutschen Wochenschrift erschienen ist, in: Deutsche Wochenschrift, 1888, VI. Jg., Nr. 23, abgedruckt in GA 31, Dornach 1989, S. 111 f.
70) Die deutschnationale Sache in Österreich mit dem Untertitel Die deutschen Klerikalen und ihre Freunde, in: Deutsche Wochenschrift, 1888, VI. Jg., Nr. 25, abgedruckt in GA 31, Dornach 1989, S. 116 f.
71) Kann, Das Nationalitätenproblem der Habsburgermonarchie. Band 1. Das Reich und die Völker, Graz-Köln 1964, S. 98. Im weiteren zitiert als Kann, Das Nationalitätenproblem …
72) Viktor Bibl, Der Zerfall Österreichs, Bd. II, Von Revolution zu Revolution, Wien 1924, S. 377.
73) Ebenda, S. 380.
74) GA 31, S. 117.
75) Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Philosophie der Geschichte, Stuttgart 1961, S. 61.
76) GA 31, Gesammelte Aufsätze zur Kultur- und Zeitgeschichte, S. 134-139, Papsttum und Liberalismus.
77) Zitiert nach: Andrew G. Whiteside, Georg Ritter von Schönerer, Alldeutschland und sein Prophet, Graz 1981, S. 94, Titel des amerikanischen Originals: The Socialism of Fools. Georg Ritter von Schönerer and Austrian Pan-Germanism, Berkeley 1975.
78) Hamann, Hitlers Wien, S. 418.
79) Vgl. Whiteside, loc. cit., S. 95.
80) Des Kaisers Worte, in: Deutsche Wochenschrift, 1888, VI. Jg., Nr. 26, abgedruckt in GA 31, Dornach 1989, S. 130 f.
81) Grundlinien …, S. 124 und 123.
Die wirklichen Deutschnationalen in der Habsburgermonarchie um 1888
Wenden wir uns den wirklichen Deutschnationalen zu, bevor wir Steiners Verhältnis zu den Slawen näher betrachten.
Schönerer wurde 1842 in Wien als Sohn eines Eisenbahnunternehmers geboren. Er übernahm 1869 die Verwaltung des väterlichen Landgutes Rosenau bei Zwettl im Waldviertel. Hier entwickelte er sich zu einem populären Bauernführer. Er gründete eine land-und forstwirtschaftliche Gesellschaft mit 2000 Mitgliedern und 130 Ortsgruppen. Er finanzierte 200 Feuerwehren, schuf 25 Volksbüchereien und wirkte als Anwalt der Kleinhäusler und armen Landarbeiter. Schönerers Mäzenatentum ist bis heute im Waldviertel sprichwörtlich.
Wie für die meisten Deutschösterreicher seiner Generation stellten die Niederlage Habsburgs gegen Preußen in der Schlacht von Königgrätz 1866 und die Reichsgründung unter Bismarck 1870/71 prägende Erlebnisse dar. Den Ausschluss Österreichs aus dem deutschen Bund empfand Schönerer wie viele andere als Schmach und entwickelte eine ausgeprägte politische Intention, die Deutschen Österreichs aus dem Habsburger-Reich heraus zu lösen und sie dem neu gegründeten Deutschen Reich einzugliedern. Wenn man in Deutschland davon sprach, durch die Reichsgründung seien alle Deutschen vereinigt worden, fühlten die Deutschen Österreichs sich vergessen und meldeten ihren Anspruch an, ebenfalls als Deutsche zu gelten, was angesichts der Auffassung des preußischen Historikers Theodor Mommsen, der Bayer sei der Übergang des Österreichers zum Menschen, nicht so einfach war. Im Jahr 1873 wurde Schönerer als Abgeordneter der Liberalen in den Reichsrat gewählt, trat allerdings bereits 1876 unter dem Eindruck der Folgen des Börsenkrachs von 1873 aus der Partei aus, um gegen den Liberalismus, Kapitalismus und die Korruption zu politisieren. 1878 gehörte Schönerer zu den Hauptgegnern der Okkupation Bosniens und der Herzegowina durch Österreich. Er sah in dieser Besetzung einen Ausverkauf der deutschen Interessen, weil sie den Anteil der deutschsprachigen Bevölkerung an der Gesamtbevölkerung Österreich-Ungarns weiter sinken ließen und für ihn die Gefahr einer politischen Entmachtung der Deutschen durch die Überzahl der Slawen in sich barg. Diese Auffassung wurde aber zu dieser Zeit von nahezu allen Deutschen vertreten. Auch die Liberalen vertraten diese Sichtweise gegenüber Kaiser Franz Josef, was zu ihrer Verabschiedung und Ablösung durch den konservativen Grafen Taaffe führte.
Der Liberalismus war der Schoß, aus dem die künftigen Parteiführer der Deutschnationalen, der Christlichsozialen und der Sozialdemokraten hervorwuchsen. Von diesem liberalen Geist zeugt das Linzer Parteiprogramm vom 1. September 1882, das von den aktiveren, fortschrittlicheren und national bewussteren, jüngeren Mitgliedern der deutsch-liberalen Partei entworfen wurde. Das offiziell als liberal bezeichnete Programm trat für eine stärkere Zentralisation Österreichs unter deutscher Führung und für die Stärkung seines deutschen Charakters ein, die durch die vollständige Abtrennung der beiden abseits gelegenen slawischen Länder Galizien und Dalmatien von dem Hauptteil der zisleithanischen Länder erreicht werden sollte. Es trat für eine engere kulturelle und wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Deutschland ein, wobei es eine Zollunion mit dem neuen Reich befürwortete. Eine Sozialreform mit Alters- und Unfallversicherung, Beschränkung der Frauen- und Kinderarbeit, wurde ebenso gefordert wie Presse- und Versammlungsfreiheit und eine Ausdehnung des Wahlrechts durch Milderung des starren Besitzzensus. Insgesamt war das Programm durchaus fortschrittlich orientiert und auch was den Schutz der deutschen Minderheit im Habsburgerreich anbetraf, nicht unvernünftig. Deswegen wurden Teile des Programms von so gut wie allen deutschen Parteien für diskussionswürdig erachtet. Auch die Magyaren und Polen befürworteten die darin enthaltenen föderalistischen Ziele.
Trotz der Zustimmung, die das nationale Programm von verschiedenen Seiten erfuhr, nahm es keinen direkten Einfluss auf die Gesetzgebung. Schließlich trat es kaum verhüllt für die Unterordnung Österreichs unter das wirtschaftlich stärkere Deutschland ein, für eine Verankerung des Bündnisses mit Deutschland in der Verfassung und die vollständige Germanisierung der österreichischen Verwaltung. Schönerer wollte die Realunion mit Ungarn in eine bloße Personalunion umwandeln und die gesetzliche Gleichberechtigung der Juden wieder rückgängig machen. In Wahrheit machte das liberale Programm Propaganda für die Auflösung Österreichs, die Vereinigung der deutschen Gebiete mit dem Deutschen Reich und für die Herrschaft der Deutschösterreicher über die Slawen und Magyaren im Habsburgerreich. Die Erörterung dieser politischen Zielsetzungen in der Öffentlichkeit war in der Monarchie verboten, sie durfte deswegen auch nicht in das offizielle Programm aufgenommen werden. Aber auch die betreffenden Teile des offiziellen Parteiprogramms waren angesichts der Mehrheit der Slawen im cisleithanischen Österreich und dem Vorhandensein parlamentarischer Institutionen utopisch.
Die hauptsächlichen Mitarbeiter am Linzer Programm wurden kurze Zeit später zu Häuptern der drei politischen Hauptrichtungen in Österreich. Es waren Georg von Schönerer, der Führer der radikal-nationalen Bewegung in den deutschen Gebieten Österreichs, Robert Pattai, später ein verhältnismäßig radikaler Führer der Christlichsozialen, Viktor Adler, der spätere Gründer und aktive Führer der österreichischen sozialdemokratischen Partei, und Adlers politischer Freund Engelbert Pernerstorfer, der später der Hauptvertreter der deutschnationalen Richtung innerhalb der sozialdemokratischen Partei war. Ebenfalls wirkte mit der bekannte Historiker Heinrich Friedjung, der einzige von den Genannten, der der deutsch-liberalen Fahne treu blieb, der Gründer ebenjener Deutschen Wochenschrift, deren Redaktion Steiner im ersten Halbjahr 1888 innehatte. Zu den engen Mitarbeitern Schönerers in der Zeit des Linzer Programms gehörte auch der spätere langjährige Wiener Bürgermeister Karl Lueger.
Etwa ab 1884 begann sich Schönerer dem Rassenantisemitismus zuzuwenden. Während manche jüdische Assimilanten wie Herzl und Nordau unter dem Eindruck der russischen Judenpogrome Anfang der achtziger Jahre sowie der Dreyfus-Affäre in Frankreich sich zu Zionisten wandelten, wurde Schönerer zum Rassenantisemiten.
Hannah Arendt schreibt über den real-historischen Hintergrund des Schönerschen Antisemitismus: »In keinem Staatsapparat haben die Juden eine so entscheidende Rolle gespielt, wie in der Doppelmonarchie des Hauses Habsburg […] Österreich ist das einzige Land, in welchem der jüdische Staatsbankier bis in unser Jahrhundert gewirkt und selbst den Sturz der Monarchie nach dem verlorenen Krieg überlebt hat. So wie im frühen 18. Jahrhundert der Kredit des Hofjuden Samuel Oppenheimer identisch war mit dem Kredit des habsburgischen Kaiserhauses, so war in den dreißiger Jahren der Bankrott der Wiener Creditanstalt, eines Rothschildschen Bankhauses, identisch mit dem finanziellen Bankrott der österreichischen Republik.«77a
Schönerer protestierte im Reichsrat gegen das »massenhafte Herbeiströmen eines unproduktiven und fremden Elementes« und forderte eine Beschränkung weiterer Einwanderungen nach dem Vorbild der amerikanischen Antichinesen-Bill. Es entbehrt nicht der Pikanterie, dass der deutschnationale Antisemit sich auf ein Gesetz berief, das vom demokratischsten aller modernen Staaten gegen Angehörige einer fremden Rasse erlassen worden war. Schönerer pflegte sich bei seinen antisemitischen Tiraden im Parlament unter anderem auf den Berliner Philosophen Eugen Dühring zu berufen, der zu den prominentesten, profiliertesten und konsequentesten Vertretern des Rassenantisemitismus im Deutschen Reich gehörte. Es ist eben jener Eugen Dühring, den Steiner wegen dessen Antisemitismus in seinem weiter oben behandelten Brief an seinen Freund Ronsperger vom August 1881 nicht nur als einen Vertreter reaktionärsten Denkens brandmarkte, sondern auch als kulturfeindlichen Barbaren, ganz abgesehen davon, dass er Dührings Philosophie schlicht für »Blödsinn« und »Unsinn« hielt. Wie hätte er Schönerers Antisemitismus zustimmen können, der sich auf Dühring berief?
Schönerer prägte die griffige Formel: »Ob Jod, ob Christ ist einerlei – in der Rasse liegt die Schweinerei«. Er wollte die Juden unter Sondergesetzgebung stellen lassen. Er forderte eine Beschränkung ihrer Freizügigkeit, ein Verbot des jüdischen Zwischenhandels, einen Numerus Clausus für Juden an Universitäten, deren Ausschluss aus Staatsämtern, aus dem Lehramt und der Presse usw. Er wollte das deutsche Volk »durch Reinheit zur Einheit« führen. Brigitte Hamann:
»Im Jahr 1884 polemisierte Schönerer gegen den mächtigsten Juden der Monarchie, Baron Rothschild. Die Familie Rothschild war seit Jahrzehnten Hauptaktionär der Kaiser-Ferdinands-Nordbahn, deren Vertragsverlängerung nun fällig war.«82 Schönerer versuchte die Verlängerung zu verhindern und plädierte für eine Verstaatlichung der Bahn, was schließlich dazu führte, dass Rothschild der Stadt Wien für die Vertragsverlängerung einen erheblich höheren Preis als ursprünglich vorgesehen bezahlen musste.
Als Schönerer 1885 dem Linzer Programm eigenmächtig den sog. Arierparagraphen einfügte, verließen die jüdischen Mitarbeiter die Partei. Viktor Adler und Heinrich Friedjung mussten austreten. Der Arierparagraph wurde von vielen anderen Vereinigungen übernommen: deutsche Burschenschaften trennten sich von ihren jüdischen Angehörigen. Zu ihnen gehörten Theodor Herzl, Viktor Adler und Arthur Schnitzler.
Im Anschluss an Gobineau, Dühring, Chamberlain und andere forderte Schönerer rassenhygienische Maßnahmen und erhob das Deutschtum zu einer Art Religion. Das Volkstum der Deutschen sei ein vollwertiger Ersatz für die Religion, das Volk wurde zum religiösen Lebensinhalt erklärt. Auch hier wieder ein unverkennbarer Gegensatz zu Steiners Ansichten, der bekanntlich in der Volkszugehörigkeit zwar eine biographische Tatsache sah, zugleich aber schon 1886 in den Grundlinien … betonte, die Zugehörigkeit zu einem Volk dürfe die vollumfängliche Entwicklung der Individualität nicht verhindern oder einschränken, bzw. 1894 in seiner Philosophie der Freiheit die Notwendigkeit unterstrich, sich über diese kollektive Bestimmtheit der eigenen Existenz zu erheben, wenn die höchste Form der menschlichen Entwicklung erreicht werden sollte: die der freien Individualität. Für Steiner war 1894 das »mit dem Gedankeninhalt erfüllte Leben in der Wirklichkeit zugleich das Leben in Gott«, wie er im Sinne seiner individualistischen Religionsvorstellung meinte, ein Leben, das für ihn die erkennende Durchdringung der Wirklichkeit ebenso einschloss, wie die Verwirklichung rein individuell erfasster Sittlichkeitsziele, der moralischen Intuitionen, die aus der Überwindung kollektivistischer Normen geschöpft werden müssen. Nicht uninteressant ist das Urteil, das Hanna Arendt über Schönerer abgibt: Der Antisemitismus Schönerers, der sich in den ersten Jahren nahezu ausschließlich gegen den Einfluss der Rothschilds richtete, »schien im wesentlichen eine Art radikaler Gesellschaftskritik zu sein, so dass gerade diese sozialdemagogische Note ihm in Österreich … die Sympathien der Arbeiterbewegung gewann. Hinzu kam, dass Schönerer … weder ein Betrüger noch ein Scharlatan, noch eigentlich ein Demagoge war; er war zum Antisemiten geworden, als er als Mitglied des Reichsrates sich für die Nationalisierung der Eisenbahnen eingesetzt hatte, die sich seit 1836 in den Händen der Rothschilds befanden … Dadurch wurden die finanziellen Beziehungen zwischen der Monarchie und dem Hause Rothschild zum Greifen deutlich, weil die Regierung mit allen Mitteln versuchte, die Lizenz [für den Betrieb der Nordbahn, die 1884 abgelaufen war] unter Bedingungen zu erneuern, die offensichtlich für den Staat wie für die Öffentlichkeit von Nachteil waren«83
Schönerer führte einen erbitterten Kampf gegen die »Judenpresse«, die für ihn im Begründer und Chefredakteur des Neuen Wiener Tagblatts, im aus Galizien eingewanderten Juden Moriz Szeps verkörpert war, einem der einflussreichsten liberalen Journalisten in Wien. Gegen diesen strengte er 1884 einen Ehrbeleidigungsprozess an, den er gewann. Szeps wurde zu vier Wochen Haft verurteilt. Im März 1888 drang Schönerer mit Anhängern in die Redaktionsräume des Neuen Wiener Tagblatts ein und griff die Redakteure mit seinem Spazierstock tätlich an. Die daraus erfolgende Verurteilung zu vier Monaten Kerkerhaft wegen öffentlicher Gewalttätigkeit, der Entzug des Adelsprädikats und der politischen Rechte auf fünf Jahre machten ihn zwar in den Augen seiner Anhänger zum Märtyrer, waren aber zugleich der Wendepunkt seiner politischen Laufbahn und der Beginn seines Abstiegs.
In der Zeit der erzwungenen politischen Abstinenz zwischen 1888 und 1893 trat Schönerer hauptsächlich jenseits der Grenzen der Habsburgermonarchie im Deutschen Reich auf, vermochte aber in der vollkommen andersartigen politischen Gemengelage des Deutschen Reiches wenig zu erreichen. Die weitere Entwicklung Schönerers, insbesondere sein Kampf gegen den Katholizismus durch die Los von Rom-Bewegung (auch hier eine griffige Formel: »Ohne Juda, ohne Rom bauen wir Germaniens Dom.«) braucht uns nicht weiter zu beschäftigen, denn sie liegt in der hier nicht in Betracht kommenden Zeit nach 1888.
1888 bzw. 1889 entstanden die beiden Massenparteien der Christlichsozialen und der Sozialdemokraten, die beide von ehemaligen Mitstreitern Schönerers begründet wurden. Der Antisemitismus bildete eines der hauptsächlichen Propagandamittel der Christlichsozialen unter Lueger und der Deutschnationalismus war auch den Sozialdemokraten keineswegs fremd. Lueger wilderte mit Schönerers Parolen in dessen Jagdgebiet, bediente sich nicht nur des antisemitischen Jargons, sondern übernahm auch Schönerers Forderungen nach Verstaatlichung jüdischer Unternehmen, dessen Kampf gegen den Kapitalismus, die »Judenpresse« und die Wiener Moderne. Die christlichsoziale Partei entwickelte sich zur politischen Kampftruppe gegen den sog. »jüdischliberalen Intellektualismus«, den sie in der Wiener Moderne verkörpert sah. Im Mittelpunkt der politischen Bestrebungen Luegers stand aber keineswegs ein umfassendes nationales Programm.
Hannah Arendt charakterisiert den Luegerschen Antisemitismus folgendermaßen:
»Der Antisemitismus der Christlich-Sozialen, die dann das zerfallende Erbe des ehemaligen Reiches verwalten sollten, war ein rein demagogischer Stimmenfang, hinter dem sich jene typisch widerspruchsvolle Haltung zu den Juden verbarg, die die Konsequenz der jüdischen Positionen in den modernen Staaten gewesen war und sich in übergroßer Freundschaft für die jüdischen Geschäftsleute und Bankiers und in außerordentlicher Feindseligkeit gegen die jüdische Intelligenz äußerte … Nicht zu Unrecht erschien den Juden die Zeit, da der »Antisemit« Lueger Bürgermeister von Wien war, als eine Art goldenes Zeitalter … Zwischen den Juden und der ausgesprochen … antisemitischen Propaganda von Schönerer, der lange vor den Alldeutschen seine Attacken auf die Juden mit Angriffen auf die katholische Kirche vereinigte, standen nicht die Sozialdemokraten, sondern der nur demagogische Antisemitismus der Christlich-Sozialen.«84
Zur Vorgeschichte des Nationalsozialismus gehört auch die unrühmliche Rolle, die der politische Katholizismus in Wien spielte. Einer der bedeutendsten und populärsten Mitstreiter Luegers war der Jesuitenpater und Antisemit Heinrich Abel, der nicht nur gegen die Juden, den Liberalismus und die Sozialdemokratie polemisierte, sondern zu den bekannten Gegnern auch noch die Freimaurerei hinzufügte. Er bezeichnete die Freimaurer als eine »von Satan angestiftete Rotte«, die für alle demokratischen und nationalen Bewegungen und zahlreiche politische Morde verantwortlich sei. Die »geheimen Mächte«, die die »freimaurerische Weltverschwörung« betrieben, wirkten als »Volksverführer« und »geheime Weltregierung«. Den gesamten Modernismus, gegen den Papst Pius IX. 1864 seinen Syllabus erlassen hatte, erklärte Abel zu einer Schöpfung der »jüdisch-freimaurerischen Weltverschwörung« und rief von der Kanzel herab zum Kampf gegen die »gottlosen Feinde« der Kirche auf. Doch können diese geistigen Strömungen hier nicht weiter verfolgt werden.
Das Programm der Sozialdemokraten war seinen Grundideen nach ein deutsches Programm. Die Partei bemühte sich zwar darum, den übernationalen Charakter des Sozialismus hervorzuheben, indem sie Vertreter aller Nationalitäten mit gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen zu verbinden suchte. Die Ideologie der Partei enthielt jedoch bedeutende Anteile deutsch-nationalen, zentralistischen Denkens. Diese Anteile gingen letztlich auf Marx und Engels zurück, wurden aber durch die Herkunft zweier der bedeutendsten Führer der Partei, Pernerstorfers und Viktor Adlers, ihres Begründers, aus dem nationalen Flügel der Liberalen aufgewertet. Adler war »deutschbewusst« (Hamann), jüdischer Assimilant, Gründungsmitglied der Deutschen Burschenschaft »Arminia« und des Deutschen Schulvereins. Auch Wilhelm Ellenbogen, ein weiterer prominenter Wiener Sozialdemokrat, war ein »deutschbewusster« jüdischer Assimilant.85
Hitler pries Schönerer in Mein Kampf als eines seiner großen Vorbilder. Er übernahm eine ganze Reihe von Schönerers politischen Grundideen und imitierte später auch seine Kampfmethoden, die darauf hinausliefen, parlamentarische Institutionen zu ignorieren und mit den Mitteln des Terrors und der demagogischen Lüge die staatliche Macht zu usurpieren. Rassenantisemitismus als wirksames politisches Kampfmittel zur Manipulation der Massen lernte Hitler an Schönerer und Lueger kennen und übernahm sie von diesen, den Kampf gegen die »Judenpresse« führte er später ebenso fort, wie den germanischen Führerkult Schönerers, von dem er auch den deutschen Gruß »Heil« übernahm.
Steiner dagegen verachtete Schönerer als jemanden, der den »Streit der Parteien« in die »widerlichste Form desselben, in den Rassenkampf« hinabgezerrt hatte.
Auch hinsichtlich seiner Ansichten zum habsburgischen Vielvölkerstaat, seiner Auffassungen über das deutsche Volk als Herrenvolk stimmte Hitler mit Schönerer überein. Er kämpfte ebenso wie dieser gegen die »verjudete Sozialdemokratie«, verachtete wie sein Vorbild das allgemeine gleiche Wahlrecht, die Demokratie und den Parlamentarismus, die Jesuiten und die Habsburgerdynastie. Wenn Schönerer mit der Parole »Volksrecht bricht Staatsrecht« die Priorität der Volkszugehörigkeit gegenüber den Verfassungsrechten des Habsburgerstaates ins Feld führte, so prägte Hitler später die gleichbedeutende Formel »Menschenrecht bricht Staatsrecht«, mit der er eigentlich meinte, dass die Rassenzugehörigkeit allen politisch-rechtlichen Ordnungsmächten übergeordnet sei.
Allerdings war diese Auffassung bei allen irredentistischen Bewegungen der Habsburgermonarchie verbreitet und keineswegs eine deutsche Spezialität: bei den Magyaren gegenüber Germanen und Slawen, bei den Tschechen gegenüber Germanen und Magyaren, bei den Italienern, die sich als Romanen verstanden, gegenüber Germanen und Slawen und bei nahezu allen national- und rassenbewussten Nationalitäten gegenüber den Juden. Hitler bewunderte an Schönerer den Mut, sich gegen die Slawisierungspolitik und für die nationalen Rechte der Deutschen einzusetzen und vermied dessen Fehler, den er hauptsächlich darin sah, dass er gegen zu viele politische Feinde kämpfte. So warf er Schönerer in Mein Kampf vor, dieser hätte der Masse zwei oder mehr Gegner gezeigt, was zu einer »vollständigen Zersplitterung der Kampfkraft« geführt habe.86
Rudolf Steiner und Fercher von Steinwand
Die Behauptung, Steiner habe von Fercher von Steinwand dessen politische Ansichten übernommen, ist frei erfunden. Bierl liefert für diese Behauptung auch keinen einzigen Beleg.
Steiner hat Steinwand in erster Linie als Dichter und nur insofern als politischen Denker rezipiert, als er mit seiner eigenen, humanitär-idealistischen Tendenz übereinstimmte. Dies geht bereits aus seinen Briefen hervor, die er in den 80er Jahren schrieb. In einem Brief an Radegunde Fehr vom 15. Juli 1888 heißt es über Fercher von Steinwand: »Das ist ein origineller Geist. Der hat ein ursprüngliches Streben, das sich mit elementarer Gewalt an die Oberfläche gearbeitet hat. Sehen Sie, dieser Fercher ist der Sohn eines Bauern, hat als Chorknabe ein Ordensgymnasium absolviert und ist dann nach Wien an die Universität gekommen. Hier hatte er nicht zu leben und er kam so weit, dass ihm selbst ein Stückchen Brot fehlte. Er verfiel dem Hungertyphus und war dem Tode nahe. Seine Rettung verdankt er nur dem Umstande, dass neben seinem Krankenbette im Spitale ein von ihm geschriebenes Drama lag, das sein Arzt sah, las, und nun von der Genialität seines Patienten so durchdrungen war, dass er sein alles dransetzte, ihn zu retten …«87
In seinem während des I. Weltkriegs verfassten Buch Vom Menschenrätsel schreibt Steiner über Fercher von Steinwand: »Ich lernte ihn Ende der achtziger Jahre in Wien kennen und konnte während einer kurzen Zeit mit ihm persönlich verkehren. Er war damals sechzigjährig; eine wahre Lichtgestalt; schon äußerlich; aus edlen Zügen, aus sprechenden Augen, in ausdrucksreichen Gesten offenbarte sich einnehmende Wärme; durch Abgeklärtheit und Besonnenheit wirkte im Greise noch wie mit Jugendfrische diese Seele. Und lernte man näher kennen diese Seele, ihre Eigenart, ihre Schöpfungen, so sah man, wie in ihr sich vereint hatte die von den Kärntner Bergen zugerichtete Empfindung mit einem zum Sinnen gewordenen Leben in der Kraft des deutschen Weltanschauungsidealismus.«88
Über Steinwands Verhältnis zum deutschen Idealismus lässt Steiner Fercher in derselben Publikation mit eigenen Worten sprechen, indem er dessen autobiographische Skizze zitiert, die den Beginn seines Studiums an der Grazer Universität beschreibt: »Mit meinen Wertpapieren, die natürlich nichts als Schulzeugnisse vorstellten, knapp an der Brust, meldete ich mich in Graz beim Dekan. Das war der Professor Edlauer, ein Kriminalist mit bedeutendem Ruf. Er hoffe mich zu sehen (sprach er) als fleißigen Zuhörer in seinem Kollegium, er werde über Naturrecht lesen. Hinter dem Vorhang dieser harmlosen Ankündigung führte er uns das ganze Semester hindurch in begeisternden Vorträgen die deutschen Philosophen vor, die unter der väterlichen Obsorge unserer geistigen Vormünder wohlmeinend durch Verbote ferngehalten worden waren: Fichte, Schelling, Hegel und so weiter, also Helden, das heißt Begründer und Befruchter alles reinen Denkgebietes, Sprachgeber und Begriffsschöpfer für jede andere Wissenschaft, mithin erlauchte Namen, die heutzutage von unseren Gassenecken leuchten und sich dort in ihrer eigentümlichen diamantenen Klarheit fast wunderlich ausnehmen. Dieses Semester war meine vita nuova!«89
In seiner Autobiographie schreibt Steiner 1924 über seine Begegnung mit Fercher: [Ich hörte] »mit großer Begeisterung von einem deutsch-österreichischen Dichter sprechen und lernte auch zunächst einige seiner Dichtungen kennen. Diese machten auf mich einen starken Eindruck. Ich strebte danach, ihn kennen zu lernen. […] Da machte sich denn die ganze Gesellschaft eines Abends auf und wanderte nach dem Orte, wo ihn die «Wissenden» finden konnten. Es war eine kleine Weinstube in einer Parallelgasse zur Kärtnerstraße. Da saß er in einer Ecke, sein nicht kleines Glas Rotwein vor sich. Er saß, wie wenn er seit unbegrenzt langer Zeit gesessen hätte und noch unbegrenzte Zeit sitzen bleiben wollte. Ein schon recht alter Herr, aber mit jugendlich leuchtenden Augen und einem Antlitz, das in den feinsten, sprechendsten Zügen den Dichter und Idealisten offenbarte. […]
So lernte ich Fercher von Steinwand kennen. Ein kerniger, ideenvoller, idealistisch fühlender Dichter aus dem Kärntnerland. Er war das Kind armer Leute und hat seine Jugend unter großen Entbehrungen verlebt. Der bedeutende Anatom Hyrtl hat ihn schätzen gelernt und ihm ein Dasein ermöglicht, in dem er ganz seinem Dichten, Denken und Sinnen leben konnte. Die Welt wusste recht lange wenig von ihm. Robert Hamerling brachte ihm von dem Erscheinen seiner ersten Dichtung, der «Gräfin Seelenbrand», an die vollste Anerkennung entgegen. … Ich betrachte die Tatsache, dass ich Fercher von Steinwand habe kennen lernen dürfen, als eine der wichtigen, die in jungen Jahren an mich herangetreten sind. Denn seine Persönlichkeit wirkte wie die eines Weisen, der seine Weisheit in echter Dichtung offenbart.«90
Beachtet man, welche Charakterzüge Steiner an Fercher hervorhebenswert findet, dann erkennt man, wie sein Bild dieses Dichters von 1887 bis 1924 konstant bleibt: er sieht in Fercher einen von hoher Geistigkeit durchdrungenen Menschen, der aus seiner seelenvollen Begeisterung für den Weltanschauungsidealismus die Inspiration für sein Dichten schöpfte. Andererseits schildert Steiner Fercher als Sonderling, der nur dank großzügiger Spenden sein Dasein fristen konnte und dem nichts ferner stand, als eine politische Wirksamkeit zu entfalten. Von daher sind auch Steiners Ausführungen über Fercher in zwei Vorträgen im Jahr 1918 zu interpretieren, in denen Fercher als mit den idealistischen Bestrebungen der deutschen Kultur verbundene Persönlichkeit geschildert wird, die in jeglicher Art von Machtpolitik, von Imperialismus und Nationalismus einen Ausdruck der geistigen Hohlheit sah.
Steiner lässt sich in diesen Vorträgen zur Bildung eines sozialen Urteils in nichts zu wünschen lassender Deutlichkeit über die zerstörerische Kraft des Nationalismus aus, der Volk und Staat identifiziert und die Rechte von Minderheiten unterdrückt. Am 15. November 1918 teilt er seinen Zuhörern u.a. mit: »Es gibt … nichts, was der Wahrheit abträglicher ist … als der Nationalismus. Aber der Nationalismus gehört gerade zu dem Programm, das als ein besonders segensreiches Programm der nächsten Zukunft gelten wird … Daher wird man es erleben müssen, wenn dieser Nationalismus wird bauen wollen – er kann ja in Wirklichkeit nur zerstören – dass die Illusionen, die von der Lüge durch eine schmale Kluft getrennt sind, sich eben fortsetzen werden. Denn so viel Nationalismus in der Welt entstehen wird, so viel Unwahrheit wird in der Welt sein …«91
Kurz darauf wendet er sich gegen die Identifikation von Staat, Nation und Volk, eine Identifikation, die seiner Ansicht nach für den »Wilsonianismus« kennzeichnend ist, die aber auch bereits vor Wilson ihre Anhänger fand, nicht zuletzt in der Habsburgermonarchie bei den Deutschnationalen, die einen Anschluss der Deutschösterreicher an das Deutsche Reich anstrebten, aber auch bei allen anderen nationalistischen Strömungen, seien sie magyarischer, tschechischer, kroatischer, illyrischer oder polnischer Provenienz. Steiner: »… es kommt … darauf an, … dass man vor allen Dingen loskomme von der unseligen Verquickung von Staat und Nation und Volk, von jener unseligen Verquickung, die ein Grundcharakteristikum des Wilsonianismus ist, der immer zusammenwirft Staat und Nation und Volk, und sogar Staaten begründen will nach Nationen, wodurch eben nur … die Lüge perpetuiert würde …«92 Die Lüge, die Steiner meint, besteht darin, dass in Territorien mit ethnisch gemischter Bevölkerung die Errichtung eines Nationalstaates mit einer herrschenden Staatsnation die Befreiung dieser Staatsnation stets die Unterdrückung der auf demselben Territorium lebenden Minoritäten bedeutet, dass also im Namen der Befreiung der Völker Völker unterdrückt werden.
Steiner fährt mit der Schilderung der Verhältnisse im Habsburgerreich fort: »Wo der Staat gar keinen wirklichen Inhalt hatte, in dem, was Habsburgerreich war, wo verschiedene Völkerschaften zusammengehalten waren unter dem Gesichtspunkte der Habsburger Hausmacht … war etwas tief Mittelalterliches, nämlich das Kaisertum aus dem alten Heiligen Römischen Reich, und leider auch durch und durch verbunden mit ältestem Mittelalter … mit Bezug auf jenen Katholizismus, der durch die Gegenreformation wiederum lebendig oder wenigstens lebensähnlich gemacht worden war … Diesem Habsburgerreich ältester mittelalterlicher Sorte stand ein Modernstes gegenüber, das allmählich ganz modern geworden ist, etwas allermodernsten Gepräges: das preußisch-hohenzollerische Kaisertum, jenes preußisch-hohenzollerische Kaisertum, welches den Amerikanismus innerhalb des deutschen Wesens darstellte, Wilsonianismus vor Wilson. Das ist jener große, gewaltige Unterschied: dieses modernste Gepräge des preußisch-hohenzollerische Amerikanismus, als Kaisertum maskiert, und das mittelalterliche habsburgische Kaisertum, das zusammengeschmiedet war von außen.« Wenn Steiner hier den »Amerikanismus innerhalb des deutschen Wesens« und den »Wilsonianismus vor Wilson« verurteilt, dann meint er damit nichts anderes, als die Betonung der Einheit von Staat und Nation, als den nationalistischen Imperialismus und die Großmachtpolitik, die seit der Gründung des Deutschen Reiches immer unverhohlener von den Hohenzollern betrieben wurde.
Etwas später in seinem Vortrag kommt Steiner auf Fercher von Steinwand zu sprechen, der bereits 1859 in einer Rede, die er im Dresdner Altertumsverein in Gegenwart des damaligen Kronprinzen Georg, sämtlicher Minister und der Generalität hielt, sich gegen den Militarismus und Imperialismus der europäischen Mächte wandte. Er führt ihn als einen Deutschen aus dem Kärntnerland ein, der einen spirituellen Zusammenhang mit der Ideenwelt und auch große politische Ideen besessen habe, aber gänzlich untalentiert gewesen sei, diese Ideen in die Wirklichkeit umzusetzen.93 Steiner zitiert aus Ferchers Rede: »Ein Wort von unsrer deutschen Zukunft, einen eiskalten Gruß von ihr auf baldiges Zusammentreffen … Ja, diese Zukunft naht bereits unheimlich unserem Horizonte, sieht über Ufer und Berge herein in die Tiefe unserer Länder, hager genug, wie der Genius des Todes mit der Leichenblässe im Angesicht. Wir haben kein Recht, es anders zu erwarten. Was wir reden hat kein Mark; was wir tun, hat nicht Kern; was wir künstlerisch schaffen, hat nicht den Klang, nicht den Adel der großen Natur. Es sieht aus, als hätten wir uns die Aufgabe gestellt, die Kunst durch dürre Eigenheiten, durch nüchterne Volkstümlichkeit, durch erzwungenen Naturalismus zu necken. Was wir im übrigen noch denken oder zur Geschichte beitragen, hat Raum genug im Hohlkegel einer Schlafmütze.« Steiner kommentiert diese Passage damit, dass er Ferchers Klage über die Verflachung und Dekadenz des deutschen Geistes aus dem Jahr 1859 als Ausdruck der Sorge um das Volk taxiert, dem Fercher angehörte. Und dieses Gefühl der Zugehörigkeit zum Volkstum »das kann nur brutalisiert werden. Das ist auch genugsam brutalisiert worden im Laufe der letzten Jahre.« [Kursiv L.R.]94
Andererseits müsse auch zugegeben werden, dass sich in Fercher die – keineswegs schmeichelhafte – Selbsterkenntnis eines Volkes ausgesprochen habe. Zwei Tage später kommt Steiner erneut auf Fercher zu sprechen und zitiert einige weitere Passagen aus dessen Rede vom Jahr 1859. In leicht zu deutender Metaphorik übt Fercher in diesen Passagen Kritik am hohlen Ritual des staatstragenden Katholizismus und an der politischen Idiotie, die sich an den Statussymbolen des Imperialismus berauscht, um seine Rede schließlich in ein Plädoyer für Volksbildung und Selbsterziehung im Sinne der humanistischen Klassik münden zu lassen.
Fercher: »Ich saß einmal unter einem Ahorn, der im Wachstum begriffen war. Das aber gab er durch keinen Trommelton zu verstehen. Allein es ist nicht zu bestreiten, dass zu einer guten Trommel innere Hohlheit notwendig ist. Wär‘ es nicht also, so müssten die größten Lärmmacher und Prahlhänse, müssten die gewandtesten Gebärdendrechsler zugleich die größten schöpferischen Geister unter den Sterblichen, und keck um sich greifende Schauspieler die tiefsinnigsten Dramendichter sein und das moderne Deutschland hätte sich nicht über den Mangel an trefflichen Tragödien zu beklagen …«95
Steiner kommentiert diese Sätze mit einer vielsagenden Bemerkung: »Das ist doch Anlage zu einer solchen Selbsterkenntnis, die nicht notwendig hat, sich von der Welt Moralpredigten halten zu lassen, die schon selbst beurteilen könnte, dass das, was vorhanden war, vom Jahre 1870 an in die Dekadenz gekommen ist.« [Kursiv L.R.]96 Steiner meint die deutsche Bildung und Kultur, die seiner Ansicht nach von der Gründung des Deutschen Reiches an einem rapiden Verfallsprozess unterlag. Er fährt fort: »Allein, wenn man die Dinge verstand, so hat man es getan, wie ich es getan habe in meinem Buche über Friedrich Nietzsche, wo ich Nietzsches Wort zitierte: »Exstirpation des deutschen Geistes zugunsten des Deutschen Reiches.« Ich habe das Buch über Friedrich Nietzsche während des Krieges nicht erscheinen lassen können im Neudruck, weil das darinnen steht.«97
Steiner liest weitere Auszüge aus Ferchers Rede vor: »Die Luft ist schwül und schweflig von den Schwüren, die seit acht Jahrzehnten auf die Verfassungen geschworen wurden. Wie viele Staaten gibt es, in denen man diese Eide nicht vielfach zu brechen wusste? Unser Geist ist taub von den Drommetenstößen, dem Jubelgeschrei, mit dem wir die himmlische Wohltäterin Freiheit bewillkommneten … Zählt jedoch die Sterblichen, die Manns genug sind, um frei zu sein! Wo gäb es noch vier Wände, die nicht von schwunghaften Zitaten aus Schillers Schriften erdröhnten? Aber wo, in welcher Hütte, in welchem Palaste, unter welchem Sterne deutscher Zone lebt noch etwas von des Dichters tatkräftiger Seele, von seiner feurigen Ader, von seinem hartnäckigen Drängen nach einem großen Ziel? … Ihr Mattherzigen! Wie lautet der Gedanke, den ihr gedacht habt? … Wie glühend ist euer Bild vom glücklichen Staate, wenn es nicht schon leichenkalt ist, bevor ihr’s bekanntgegeben? Sagt, wer von euch ist größer als der Augenblick? Wie viel schlechte Kerle habt ihr eingeschüchtert? Wie viel Klagen loben euch durch Schweigen? Redet das Unglück nicht lauter als je? Ist es denn so furchtbar schwer, den Gedanken festzuhalten, dass jeder Mensch, ohne Ausnahme, für Freiheit, Ordnung und Glück, ja sogar für die Kunst, sich selbst zu erziehen, von Kindesbeinen erzogen werden muss, erzogen weit weniger durch Beweisführungen, als durch Liebe, Geduld, Strenge und empfindliche Opfer? Ist es denn so furchtbar schwer, statt den Lärm zu besolden, ein ergiebiges Wirken zu bezahlen? Ist es denn so furchtbar schwer, statt den Bajonetten zu gehorchen, der milden, alles ausgleichenden Vernunft zu dienen? Man denke sich einen Staat ersten oder zweiten Ranges. Man denke sich einen einsichtsvollen Minister, der sich das nicht zum Ruhme anrechnet, was einem Nachbar zum Schaden oder zur Unehre gereicht, mit einem Wort, einen Minister, der zwei Dritteile seiner ungeheuren Militärkasse für die Erziehung der untersten Volksschichten verwendet – was meint ihr? Würde ein solcher Minister nicht binnen wenigen Jahren den gewaltigsten Umschwung der Verhältnisse bewirken, zu seinem eigenen Vorteil, zum Vorteil des Volkes, zum Vorteil seines Herrn und Königs? Würde ein solcher Minister nicht in weniger als einem halben Menschenalter den Charakter der Weltgeschichte ändern? Ich hätte wohl das Herz, zum wiederholten Male »Ja« zu sagen; denn es liegt mir nichts daran, von irgend einem glattgebügelten Säbelhelden oder dickleibigen Paradebeamten ein närrischer Ideologe gescholten zu werden.«98
Aus Steiners vorgetragenen Auszügen geht zur Genüge hervor, dass er an Ferchers »bedeutenden politischen Ideen« nicht etwa eine wie auch immer geartete – unterstellte – deutschnationale Färbung schätzte, sondern die bedingungslose Bevorzugung der Menschenbildung, das Ideal der Befreiung jedes Einzelnen aus der Bevormundung durch Kirche und Staat, den mutigen Einsatz eines idealistischen Bildungsepikuräers, der den Baconschen Grundsatz vom Wissen, das Macht verleihe, nicht als strategische Leitlinie für das machiavellistische Handeln einer gesellschaftlichen Elite auffasste, sondern das Volk durch Bildung und Erziehung aus seiner Abhängigkeit und seinem Elend befreien wollte.
87) Adolf Hitler, Mein Kampf, einbändige Volksausgabe, S. 128.
88) Briefe I, Nr. 146, S. 173-174.
89) Vom Menschenrätsel, S. 100.
90) Ebenda, S. 107.
91) Mein Lebensgang, S. 133,135.
92) Rudolf Steiner, Entwicklungsgeschichtliche Unterlagen zur Bildung eines sozialen Urteils, Acht Vorträge 9. bis 24. November 1918, Dornach 1963, GA 183 a, S. 77.
93) Ebenda, S. 77.
94) Ebenda, S. 83.
95) Ebenda, S. 87.
96) Ebenda, S. 144.
97) Ebenda, S. 144.
98) Ebenda, S. 144.
Fahne der Kultur, Autonomie und freie Selbstbestimmung
Für den Deutschen in Österreich gibt es nur zweierlei: Entweder er schreibt die Kultur oder die freie Selbstbestimmung der Völker auf seine Fahne. (Steiner)
Eine weitere Frage ist, ob Steiners und Steinwands Äußerungen zum Slawentum dieselbe Bedeutung haben bzw. ob sie möglicherweise historisch gerechtfertigt waren. Hier soll herausgearbeitet werden, was Steiner wirklich meinte, wenn er von der besonderen Rolle der Deutschen in Österreich sprach und wie sich seine Auffassungen vor dem Hintergrund der tatsächlichen historischen Verhältnisse lesen.
Das Spektrum der deutschen Haltungen zu den Slawen im 19. Jahrhundert reicht von Herders fortwirkender romantischer Verklärung des Slawentums bis zu Bismarcks verständnisloser Verachtung, die ihn nicht begreifen ließ, warum sich europäische Großmächte wegen einiger »stinkender Wallachen« auf dem Balkan miteinander schlagen sollten. Während Herder für den Aufschwung der slawischen Selbstbesinnung, die in zahlreiche Nationalismen überging, wenn auch nicht für diesen Übergang verantwortlich war, hinderten Bismarck und die Hohenzollern die Habsburgermonarchie bis gegen Ende des I. Weltkriegs daran, zu einer föderalistischen Umgestaltung ihres Vielvölkerstaates zu gelangen, der die slawischen Nationalitäten politisch und gesellschaftlich aufwertete.
Aus dem Jahr 1884 ist das Fragment eines Briefes von Steiner an einen (unbekannten) Freund erhalten, in dem er seine damalige Sicht des Verhältnisses zwischen Deutschösterreichern und Slawen zum Ausdruck brachte. Steiner schrieb am 3. Oktober 1884: »Für den Deutschen in Österreich gibt es nur zweierlei Parteibestrebungen. Entweder er ist in der Minorität, dann muss er die Fahne der Kultur entfalten und den Slawen und Magyaren geistig imponieren. Oder er ist in der Majorität und am Ruder, dann muss er in echt demokratischem Geiste den Autonomismus und die freie Selbstbestimmung der Völker auf seine Fahne schreiben und jenem Zukunftsstaate entgegenstreben, der der Kultur am günstigsten ist: dem geschlossenen Handelsstaat ohne »Geld« und »Börse« …«99
Steiner sah also für die Deutschen, inmitten des voll entbrannten Nationalitätenkampfes, sofern sie zur Minorität gehörten, nur eine einzige politische Handlungsmöglichkeit: nicht die Obstruktion oder den Kampf um die politische Macht, nicht die nationale Propaganda, wie sie von den damaligen Deutschnationalen unter Schönerer betrieben wurde, oder gar Separatismus und Irredentismus, sondern die Deutschen sollten die Fahne der Kultur entrollen und den nicht-deutschen Völkern des Habsburgerreiches durch ihre geistigen Leistungen imponieren. Auf diese Weise, so hoffte er wohl, würden Majoritäten innerhalb bestimmter Verwaltungsgebiete – wie etwa in Ungarn, Kroatien, Böhmen und Mähren – die neben deutschsprachigen Bevölkerungsteilen lebten, am ehesten zu einer Anerkennung der Rechte der Deutschen auf kulturelle Selbstbestimmung zu bewegen sein.
Befänden sich die Deutschen aber in der Majorität, so sollten sie nicht etwa eine rücksichtslose Germanisierungspolitik betreiben, sondern vielmehr in echt demokratischem Geist den Autonomismus, also die Selbstbestimmung des Einzelnen und die Selbstbestimmung der Völker anstreben, die allerdings nicht in der historischen Realität des Habsburgerreiches bereits verwirklicht war, sondern erst in einem anzustrebenden Zukunftsstaat verwirklicht werden sollte.
Steiner wies den Deutschen also zwei Aufgaben zu: eine Bildungsaufgabe, die darin bestehe, die Kultur der Humanität und des Idealismus im Sinne Herders, Goethes und Humboldts zu befördern und eine politische Aufgabe, die er in der Verwirklichung der demokratischen Selbstbestimmung für alle Völker des Habsburgerreiches sah, einer Selbstbestimmung die eine vollumfängliche Berücksichtigung von Minderheitenrechten einschloss. Denn aus dem deutschen Geist, nicht dem deutschen Staat, aus dem verfemten deutschen Gemüt ging ein Idealismus des Willens (Fichte) und ein Idealismus des Denkens (Hegel) hervor, wie ihn die Welt seit der griechischen Antike nicht mehr gesehen hatte. Deshalb konnte Steiner von der Wiedergeburt des antiken Griechentums im deutschen Geist sprechen. Dieser Geist, der mit Nationalität nichts zu tun hatte, sondern die Artikulation des allgemeinen Menschheitsgeistes auf seiner damals höchsten Entwicklungsstufe war, fühlte sich zu einer Mission berufen: zur Mission, den in den Ketten des politischen und geistigen Feudalismus schmachtenden Völkern die Botschaft der Freiheit und der Menschenwürde zu bringen. Dieses Bewusstsein einer Berufung hallte auch noch in den Begründern des Sozialismus und Marxismus, in Marx und Engels nach, auch wenn die Inhalte der Bildung, die allein zu diesem Bewusstsein berechtigten, von ihnen verneint wurden.
Hält man diese Bemerkungen aus dem Brieffragment von 1884 mit Steiners späterer Ablehnung des Nationalismus zusammen, wie sie z. B. in seiner Haltung gegenüber dem tschechischen oder deutschen Nationalismus oder dem Zionismus zum Ausdruck kommt, könnte die Frage entstehen, ob ihm, als er den Deutschen Österreichs die politische Aufgabe zuschrieb, in »echt demokratischem Geist den Autonomismus und die freie Selbstbestimmung der Völker« auf ihre Fahne zu schreiben, bewusst war, welches Potential der Zerstörung das Schlagwort von der Selbstbestimmung der Völker in sich birgt, das er ja später als Wilsonianismus kennzeichnete. Die betreffenden Bemerkungen sind natürlich schwer zu interpretieren, weil sie im nur fragmentarisch überlieferten Brieftext nicht weiter erläutert werden. Denkbar wären folgende Deutungen:
a) Steiner verstand 1884 die Selbstbestimmung der Völker im Sinne einer staatlichterritorialen Autonomie, also nationalistisch oder
b) Steiner schwebte schon damals eine Form der Selbstbestimmung der Völker vor, die staats- und grenzübergreifend sein sollte, weil sich der Staat nicht um die Kultur zu kümmern habe, sondern – wie der kryptische Nachsatz über den geschlossenen Handelsstaat »ohne Geld und Börse« nahelegt – allein um rechtliche Angelegenheiten (der Staat soll sich nicht um »Geld und Börse« kümmern).
Die erstere Möglichkeit ist eher unwahrscheinlich, da er im Falle der deutschen Majorität ja nicht das Nationalstaatsprinzip geltend machte, gemäß welchem die Majorität das Staatsvolk hätte bilden müssen, einer Fiktion, von der etwa in Ungarn die Magyaren nach dem österreichisch-ungarischen Ausgleich von 1867 geleitet wurden, sondern gerade die Autonomie und die Selbstbestimmung der Völker – innerhalb Österreich-Ungarns gedacht.
Jedenfalls scheint er, ganz im Geiste der Humboldtschen Überlegungen, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates in Richtung der individuellen und auch kollektiven Autonomie des geistigen, kulturellen, religiösen Lebens gedacht zu haben und zwar in der Form, dass (national-) staatliche Interessen die Pflege des kulturellen, geistigen und religiösen Lebens nicht beeinträchtigen dürften. Der Versuch, Autonomie und Selbstbestimmung der Völker angesichts von Majoritäten – welcher nationalen Herkunft auch immer – zu verwirklichen, kann nur als Befürwortung von Minderheitenrechten, als Ablehnung des Nationalismus jeglicher Art, also auch des deutschen oder deutsch-österreichischen verstanden werden.
Diese Interpretation würde auch durch Steiners Plädoyer für die individuellen Freiheitsrechte gestützt, das er in seinen Grundlinien einer Erkenntnistheorie … 1886 veröffentlichte, in denen er Überlegungen über das Verhältnis von Einzelmensch und Staat anstellte. Hier heißt es einleitend: »Der Mensch soll nicht wie das Wesen der unorganischen Natur auf ein anderes Wesen nach äußeren Normen, nach einer ihn beherrschenden Gesetzlichkeit wirken, er soll auch nicht bloß die Einzelform eines allgemeinen Typus sein, sondern er soll sich den Zweck, das Ziel seines Daseins, seiner Tätigkeit selbst vorsetzen. Wenn seine Handlungen die Ergebnisse von Gesetzen sind, so müssen diese Gesetze solche sein, die er sich selbst gibt. Was er an sich selbst, was er unter seinesgleichen, in Staat und Geschichte ist, das darf er nicht durch äußerliche Bestimmung sein. Er muss es durch sich selbst sein. Wie er sich in das Gefüge der Welt einfügt, hängt von ihm ab …
Der Geist nimmt nur jene Stelle in der Allgemeinheit, im Weltganzen ein, die er sich als individueller gibt.«100
Hier spricht Steiner nicht nur unmissverständlich für das Prinzip der individuellen Selbstbestimmung: er sieht das Wesen des Menschen in seiner Fähigkeit zur sittlichen und politischen Autonomie, darin besteht kein Zweifel. Der Mensch soll nicht bloß »die Einzelform eines allgemeinen Typus« sein: wäre er dies, dann wäre er mit den organischen Formen der Pflanzen und Tierwelt verwandt, die aus ihrer Typusidee begriffen werden können. Als Geist ist jeder einzelne Mensch aber sein eigener Typus – oder, wie Steiner diesen Gedanken 1904 in seiner Theosophie ausdrückt: als Ich, als Geist, ist jeder Mensch seine eigene Gattung. Jede Form einer typologischen Betrachtung des Menschen ist seinem Wesen unangemessen, also auch eine volkstypologische oder rassentypologische. Die Individualität soll alles, was sie ist, durch Selbstbestimmung sein, die Gesetze ihres Handelns sollen die Gesetze sein, die sie sich selbst gibt. Genau diese Überzeugung spricht Steiner in den Grundlinien … aus, wenn er sagt, die menschliche Persönlichkeit, deren Wesen er in ihrer geistig-kreativen Potenz sieht, besitze nur jene Eigenschaften, die sie sich durch Selbstbestimmung zuschreibe und was an Äußerungen des Denkens, Fühlens und Wollens nicht aus den Tathandlungen des Ich hervorgehe, sei lediglich Ergebnis organischer Tätigkeit. Selbst was der Einzelne im Staat, in der Gesellschaft ist, darf er nicht durch äußerliche Gesetze sein, sondern durch selbstgegebene Gesetze, also durch Gesetze die durch das Mitwirken des Einzelnen, durch demokratische Prozesse, zustande kommen müssen und die das Recht der individuellen Selbstbestimmung vollauf gewährleisten.
99) Ebenda, S. 145-146.
100) Briefe I, Nr. 66, S. 110.
Die Individualität und das größere Ganze, dem sie angehört
Nun konnte Steiner allerdings nicht gänzlich von der historischen und politischen Realität absehen, in der er 1886 seine Grundlinien … schrieb. Es wäre blauäugig gewesen, die Grundsätze einer radikal individualistischen Weltsicht zu erörtern, die nach dem Erscheinen seiner Philosophie der Freiheit 1894 sogar als Weltsicht eines individualistischen Anarchismus bezeichnet wurde101, ohne die historische Wirklichkeit Österreichs, der europäischen Nationen oder die Weltsituation im allgemeinen zu berücksichtigen. Deswegen führt Steiner weiter aus:
»Der Mensch gehört aber nicht nur sich, er gehört auch der Gesellschaft an. Was sich in ihm darlebt, ist nicht bloß seine Individualität, sondern zugleich jene des Volksverbandes, dem er angehört. Was er vollbringt, geht ebenso wie aus der seinen, zugleich aus der Vollkraft seines Volkes hervor. Er erfüllt mit seiner Sendung einen Teil von der seiner Volksgenossenschaft. Es kommt darauf an, dass sein Platz innerhalb seines Volkes ein solcher ist, dass er die Macht seiner Individualität voll zur Geltung bringen kann.
Das ist nur möglich, wenn der Volksorganismus ein derartiger ist, dass der einzelne den Ort finden kann, wo er seinen Hebel anzusetzen vermag. Es darf nicht dem Zufall überlassen bleiben, ob er diesen Platz findet.
Die Weise zu erforschen, wie sich die Individualität innerhalb der Volksgemeinde darlebt, ist Sache der Volkskunde und der Staatswissenschaft.«102
Auch hier betont Steiner wiederum – inmitten der Hochblüte der verschiedenen Kollektivismen in Österreich-Ungarn, die nicht um das Recht der einzelnen Individualität, sondern um das Recht der Volksindividualitäten – die in der Nationalitätendiskussion des Habsburgerreiches als »historisch-politische Individualitäten« oder »Nationalitäten« bezeichnet wurden – kämpften, die Notwendigkeit, die historisch-politische Individualität oder Nationalität so aufzufassen, dass sie die individuelle Selbstbestimmung nicht behindere: ja, noch mehr, der Volksverband muss so organisiert werden, dass der Einzelne die Macht seiner Individualität innerhalb seines Volkes (seiner Nationalität) voll zur Geltung bringen kann. Man unterschied in der Habsburgermonarchie in der Regel zwölf solche Nationalitäten: Deutsche, Tschechen, Polen, Ruthenen (Karpatho-Ukrainer), Slowenen, Italiener, Madjaren, Slowaken, Rumänen, Serben und Szekler. Dazu kamen eine Vielzahl von nationalen Minderheiten in praktisch allen Gebieten dieser Nationalitäten. Individualrechte dürfen nach Steiner durch Verfassungsrechte nicht eingeschränkt oder gar gebrochen werden, sondern müssen diese garantieren und fördern. Der Staat hat dem einzelnen Menschen zu dienen und nicht der einzelne Mensch dem Staat. Volkskunde und Staatswissenschaft werden explizit die Aufgaben zugewiesen, die Art und Weise zu erforschen, wie sich die Individualität innerhalb der Gemeinschaft, der sie angehört, darlebt und darleben kann, wobei die Volkskunde eher historisch ausgerichtet ist und das Wirken der Einzelpersönlichkeiten innerhalb der historisch-politischen Individualitäten untersuchen soll, während die Staatswissenschaft solche Formen von Verfassungen entwickeln soll, die sowohl Ausdruck der jeweiligen historisch-politischen Individualität sind, als auch zulassen, dass sich das einzelne Individuum im Rahmen dieser Verfassung voll zur Geltung bringt. In diesem Sinne weist Steiner an der betreffenden Stelle der Staatswissenschaft die Aufgabe zu, die Volksindividualität zu erforschen: »Die Volksindividualität ist der Gegenstand dieser Wissenschaft. Diese hat zu zeigen, welche Form der staatliche Organismus anzunehmen hat, wenn die Volksindividualität in demselben zum Ausdrucke kommen soll. Die Verfassung, die sich ein Volk gibt, muss aus seinem innersten Wesen heraus entwickelt werden. Auch hier sind nicht geringe Irrtümer im Umlauf. Man hält die Staatswissenschaft nicht für eine Erfahrungswissenschaft. Man glaubt die Verfassung aller Völker nach einer gewissen Schablone einrichten zu können.
Die Verfassung eines Volkes ist aber nichts anderes, als sein individueller Charakter in festbestimmte Gesetzesformen gebracht. Wer die Richtung vorzeichnen will, in der sich eine bestimmte Tätigkeit eines Volkes zu bewegen hat, darf diesem nichts Äußerliches aufdrängen: er muss einfach aussprechen, was im Volkscharakter unbewusst liegt.«103 Dies bedeutet nichts anderes, als dass sich ein Volk, das sich als solches betrachtet, auch selbst seine Verfassung geben können muss, dass ihm diese nicht von außen aufgedrängt werden darf. Gleichzeitig darf diese politische Autonomie natürlich die Individualrechte und die Rechte von Minderheiten nicht verletzen. Steiner geht offenbar von der Überzeugung aus, dass in jeder historisch-politischen Individualität, also in jeder Nationalität, wenn sie die Möglichkeit besitzt, sich ihre Verfassung selbst zu geben, soviel Vernunft waltet, dass ihre Verfassung, wenn sie denn aus dem freien Walten der Vernünftigen hervorgeht, die Freiheitsrechte anderer Volksindividualitäten und einzelner Individuen nicht verletze. Die Volkskunde, die die Individualität des Volkes als vernünftige begreifen soll, setzt voraus, dass sich in jeder ethnischen Gruppe die Vernunft ausspricht, sofern sie nicht von anderen ethnischen Gruppen unterdrückt wird. »Die Volksindividualität als vernünftige zu begreifen, ist die Methode der Volkskunde. Der Mensch gehört einem Ganzen an, dessen Natur die Vernunftorganisation ist.«104 Durch das Walten der Vernunft im einzelnen Menschen und durch das Walten der Vernunft der Einzelnen, die sich als Teile eines größeren, gesellschaftlichen (gemeinschaftlichen) Ganzen verstehen, dem sie angehören, ergibt sich für Steiner ein Ausblick auf die menschheitliche Vernunftorganisation, an der alle menschlichen Individuen teilhaben. Die Vernunft soll walten im Handeln des Einzelnen und sie soll walten im Handeln der historisch-politischen Individualitäten, die durch Einzelne vertreten werden. Steiner beschwört hier das Vernunftideal der Aufklärung angesichts des politischen Irrationalismus, der sich in den anschwellenden Nationalismen der Völker des Habsburgerreiches bekundete, die kollektive Eigenschaftlichkeiten der individuellen Freiheit überordneten.
Greifen wir noch einmal auf einen Aufsatz aus dem Jahr 1888 zurück, aus dem sich ein Aufschluss über jenen kryptischen Satz aus dem oben behandelten Brieffragment ergibt, das von einem anzustrebenden »Handelsstaat ohne Geld und Börse« spricht. Über die von Papst Leo XIII publizierte Enzyklika schreibt Steiner am 13. Juli 1888 in der Deutschen Wochenschrift einen Artikel, in dem er sich zugleich zum wahren Liberalismus bekennt und den hemmungslosen »Börsenliberalismus« – heute würde es heißen »Neoliberalismus« – verwirft. Die Passagen über den positiven Gehalt des Liberalismus, die das Barometer des Fortschritts im Verständnis und der praktischen Verwirklichung der Freiheitsidee sehen und die Vertiefung dieses Verständnisses in der neuesten Zeit mit der christlichen Lehre von der Gleichwertigkeit aller Menschen vor Gott und ihresgleichen in Beziehung setzen, wurden bereits weiter oben besprochen. Nun folgt aber die Kritik jener Form des Liberalismus, durch den dieser seiner eigenen ursprünglichen Intention untreu geworden ist, jenes Liberalismus, den Steiner als »Pseudo-Liberalismus« oder »Börsenliberalismus« bezeichnet:
»Wie jeder an sich richtige Grundsatz, so kann natürlich auch dieser in fehlerhafter Form aufgefasst werden und damit unsägliches Unheil anrichten. Ja, man kann überhaupt von der Einführung der wahren Gestalt dieses Grundsatzes in das praktische Leben noch nicht viel bemerken. Es liegt nämlich der Irrtum nahe, dass mit der Aufstellung der Maxime, nur dem eigenen Innern zu folgen, jedwede Geltendmachung subjektiver Willkür rein individuellen Strebens gerechtfertigt sei. Das aber führt notwendig dazu, dass Willkür gegen Willkür, subjektive Interessen gegen subjektive Interessen stehen und endlich ein Kampf aller gegen alle herauskommt, ein »Kampf ums Dasein«, in dem nicht allein der Stärkere gegen den Schwächeren, sondern der Unredliche gegen den Redlichen, der Unlautere gegen den Freund der Wahrheit siegt. Zu dieser Ausartung ist das Freiheitsprinzip in den letzten Dezennien wirklich gekommen, und was man landläufig heute als Liberalismus bezeichnet, das ist dieses Zerrbild des modernen Geistes. Es ist traurig, aber leider nur zu wahr, dass hier eine ursprünglich richtige Anschauung zu dem scheußlichen System der Ausbeutung des Individuums durch das Individuum geführt hat. Es ist nur schade, dass dieser Börsenliberalismus so lange sein Unwesen getrieben hat, denn nur weil er die Köpfe gegen alles, was wahrhaft den Namen der Freiheit führt, blind machte, haben sich viele sonst nicht unbedeutende Männer von der freiheitlichen Bewegung abgewendet und der Reaktion in die Arme geworfen. Jetzt scheint glücklicherweise die Todesstunde jenes Pseudo-Liberalismus nicht mehr ferne.
Der Mensch ist eben nicht bloß ein individuelles Wesen, sondern er gehört einem größeren Ganzen, einer Nation an. Was man sonst Gattung nennt, das ist für den Menschen die Nation [gemeint im Sinne der historisch-politischen Individualitäten des Habsburgerreichs und nicht im Sinn des Nationalstaats, L. R.]. Und wie, was gleichwertig ist, auch in seinen Äußerungen sich als gleichartig erweist, so wird auch die Stimme der Vernunft, wenn der Mensch wirklich objektiv auf sie hört, nicht in diesem Individuum so, in jenem anders sprechen. Und wenn auch die Vernunft in vielen Menschen numerisch verschieden, so ist sie doch inhaltlich gleich; gibt sich das Individuum wahrhaft in den Bann derselben und nicht in den der subjektiven Willkür und des Egoismus, so kann das Wollen des einen das des andern nicht ausschließen, sondern wird sich mit ihm begegnen, es ergänzen und unterstützen. So werden die Strebungen einer Anzahl von Individuen, die staatlich zusammengehören, ein vernünftig geordnetes System bilden, innerhalb welchem sich der einzelne wirklich frei bewegen kann. In diesem System wird jeder seine Aufgabe erfüllen, ohne von dem andern eingeschränkt, bekämpft oder ausgebeutet zu werden; er wird weder durch eine Autorität, wie in der katholischen Weltanschauung, noch durch den Egoismus des andern, wie beim modernen pseudoliberalen Staate, in seiner Freiheit beengt sein. [Hervorhebung L.R.] Das ist eine Staatsordnung, wie sie dem wahren Liberalismus entspricht und wie sie zugleich als wahrhaft staatssozialistisch bezeichnet werden kann.
Immer klarer zeigen die Ereignisse, dass sich diese Anschauung von unserer Lebensgestaltung in die Wirklichkeit heraufarbeitet. Sie bedeutet den wahren Fortschritt gegenüber der alten kirchlichen Ordnung. Sie ist es, die eine neue Zeitepoche begründen wird; gegen sie werden päpstliche Rundschreiben nichts vermögen. Sie ist eine historische Notwendigkeit, wie es einst das Christentum war. Der Pseudo-Liberalismus ist keine …«
Dieser Text enthält eine Andeutung der späteren Dreigliederungsidee. Das vernünftig geordnete System des Staates, in dem sich der Einzelne frei bewegen kann, besitzt sein Zentrum in einer Sphäre der verfassungsmäßigen Gleichheit der Rechte. Diese Rechtsgleichheit, die die Autonomie des Einzelnen und die gleiche Beteiligung Aller an der Gestaltung des Staates sichert, darf weder durch wirtschaftliche Ausbeutung noch durch religiöse oder kulturelle Autoritäten eingeschränkt werden. Der Staat als vernünftig geordnetes System schränkt die Freiheit nicht ein, sondern sichert sie, die Einzelnen bekämpfen sich nicht, weil das Recht herrscht und den Frieden sichert, und die Entfaltung des Einzelnen ist weder durch ein System der Ausbeutung noch durch geistige Mächte gefährdet, die die Gleichheit der Rechte aufheben könnten. Steiner spielt hier mit den Ideen der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit und ordnet sie unterschiedlichen Sphären des vernünftig geordneten Ganzen zu, wobei das Individuum in die Totalität des Ganzen eingeordnet ist und an allen gesellschaftlichen Sphären teilhat.
101) Rudolf Steiner, Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung, 1886, Dornach 1979, S. 116/17.
102) Siehe die bereits zitierten Vorträge Steiners, GA 183 a aus dem Jahr 1918. Hier bemerkt er am 24. November: »Es war das neunzehnte Jahrhundert schon ziemlich weit herangerückt, da hat ein einsichtiger Mann die schöne Abhandlung geschrieben: Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen. Es war ein preußischer Minister, Wilhelm von Humboldt. Diese Abhandlung lag mir ganz besonders deshalb am Herzen, weil in den neunziger Jahren und noch etwas in das zwanzigste Jahrhundert herein gerade meine Philosophie der Freiheit – nicht durch meinen Willen, aber durch andere – immer unter die Literatur »individualistischer Anarchismus« gestellt wurde. Das erste Werk war immer Wilhelm von Humboldts Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen, als das letzte Werk war gewöhnlich immer meine Philosophie der Freiheit, zeitlich angeordnet, eingereiht. Nun, sie sehen, es ist möglich gewesen, registriert zu werden unter »individualistischer Anarchismus«, aber immerhin zusammen mit einem preußischen Minister!« S. 213.
103) Grundlinien …, a.a.O., S. 123.
104) Ebenda.
Individualität, Nationalität, Universalität
Das österreichische Nationalitätenproblem war aufgrund des grassierenden Imperialismus kein rein österreichisches, sondern ein europäisches Problem.
Die Nationalitätenfrage im Österreich des 19. Jahrhunderts war dadurch bedingt, dass diese von Steiner als historische Notwendigkeit apostrophierte Entwicklung weitgehend ignoriert wurde und zwar von nahezu allen Beteiligten. Die politischen und die ethnischen Grenzen der Volksgruppen im Habsburgerreich stimmten nicht überein und man glaubte vielfach, dieses Problem nur lösen zu können, indem man Österreich in eine Anzahl zentralistischer Einheitsstaaten zergliederte, die ihre Untertanen ebenso bevormundeten und unterdrückten, wie sich diejenigen, die sich von Österreich loslösen wollten, durch dieses unterdrückt fühlten. Das österreichische Nationalitätenproblem war aber kein rein österreichisches, sondern ein europäisches Problem, denn die Interessen der europäischen Großmächte, die Interessen Frankreichs, Englands, Preußens und Russlands und nicht zuletzt des ottomanischen Reiches mussten von den Habsburgern bei der Behandlung der aufkeimenden Emanzipationsbestrebungen stets mit berücksichtigt werden. Spätestens seit dem Krimkrieg war der Drang des Zarenreiches nach dem Südbalkan offensichtlich. Spätestens seit den Frankfurter Bemühungen um eine deutsche Reichsverfassung war deutlich, dass die Mehrheit der liberalen Kräfte einer Aufnahme der nichtdeutschen Länder Österreichs in ein liberalisiertes Deutschland widerstrebte. Das Frankfurter Parlament trat offen für ein Ende des Habsburgerreiches in seiner traditionellen Form ein. Der bonapartistische Cäsarismus Frankreichs führte durch seine Unterstützung Sardiniens den Verlust der italienischen Gebiete Habsburgs herbei. Im Anschluss an den preußisch-österreichischen Krieg von 1866 wurde offensichtlich, dass die neue Großmacht Preußen nur ein dualistisch organisiertes Habsburgerreich dulden wollte, in dem die Deutschen und die Magyaren als Bollwerk gegen den Vorstoß der Slawen nach Westen fungierten. Die Deutschen und seit 1879 die Magyaren dominierten im Reich. Allein schon deshalb übten sie auf die übrigen Volksgruppen einen bedeutenden, leitenden Einfluss aus. Sie schritten voran, die anderen folgten. Die Geschichte der Tschechen spiegelt die Gesamtgeschichte der Wirrungen um die Lösung der Nationalitätenfrage im kleinen wieder. Die Polen lebten einen vom Ausland stark beeinflussten, hoch entwickelten Nationalismus dar. Die kroatische Frage und die Frage der Südslawen beleuchten die Bedeutung des kulturellen Nationalismus für die Entwicklung Gesamtösterreichs. Außerdem spielen in der Frage der Südslawen auch die schwierigen Beziehungen zwischen ethnisch verwandten Gruppen diesseits und jenseits der Grenzen des Reiches eine Rolle.105
Was das Verhältnis von Nationalismus und Übernationalität anbelangt, so meint der Historiker des österreichischen Nationalitätenproblems, Robert A. Kann: »Die Geschichte des habsburgischen Reiches kann man als einen Versuch ansehen, eine … übernationale Ordnung herzustellen. … Wie immer man zu der alten Monarchie stehen mag, ihre ehrwürdige Bedeutung wird durch die Tatsache klargestellt, dass an dieser übernationalen Aufgabe durch fast vier Jahrhunderte gearbeitet wurde, ohne dass der Reichsaufbau selbst zerstört wurde. Ungeachtet aller Irrungen und Wirrungen der österreichischen Geschichte ist dies eine gewiss bedeutsamere historische Tatsache als die Zerstörung der Monarchie im Ersten Weltkrieg.«106
Schaut man diese Sicht der Geschichte des Habsburgerreiches mit der Tatsache zusammen, dass die Deutschen neben den Magyaren – letztere seit 1867 – in diesem Reich die dominierende Rolle spielten, dass die Deutschen zwar einen Führungsanspruch erhoben und tatsächlich eine dominierende und privilegierte Stellung innehatten, aber gleichzeitig einen nicht-deutschen, übernationalen Universalitätsgedanken repräsentierten, ergibt sich eine etwas andere Wertung der politischen und kulturellen Kräfteverhältnisse, als die von Bierl vertretene. Gerade indem die Angehörigen der politischen und kulturellen Führungsschicht im Vielvölkerstaat diesen übernationalen Standpunkt repräsentierten, wurden sie von den Vertretern der anderen Völker angefeindet, die ihre eigenen Nationen von diesem deutschen, übernationalen Universalitätsstandpunkt emanzipieren wollten. Der Nationalismus war keine deutsche Erfindung, es war der aufklärerische Geist der Universalität, der Freiheit und Gleichwürdigkeit aller Menschen, den die Deutschen in die Völker des Reiches trugen. Natürlich fußte die geistige Elite, die dies tat, auf einem sozialen System, das dem unsrigen in kaum etwas ähnelte, aber dies tut ihrem Anspruch, den Geist der völkerverbindenden Humanität und des Kosmopolitismus, von dem sie durchdrungen waren, als Botschaft unter die Völker zu tragen, keinen Abbruch. Das Habsburgerreich, das seine europäische Legitimation aus der Abwehr des Türkenansturms und seiner Repräsentation des römischen Heilsgedankens gegenüber den Schismatikern und Heiden des Ostens bezog, bot unter seinem Mantel den Vertretern der Humanität und der Aufklärung die Möglichkeit, ihre evolutionäre Botschaft in der Welt des südeuropäischen, orientalischen und asiatischen Despotismus zu verbreiten. Ihr Wirken hatte aber einen anderen als den erwarteten Effekt: statt dass ihnen aus den angerufenen Völkern das Echo des Friedens und der Verbrüderung entgegenkam, wurden diese erst ihrer eigenen Nationalität bewusst. Indem das noch-nicht »Völkische« mit dem Übernationalen in Berührung kommt, das letztlich doch als die Botschaft eines Volkes erscheint, von dem es getragen wird, wandelt sich das seiner Nationalität noch nicht Bewusste erst zu einem »Völkischen«. Man könnte den Gedanken auch umkehren: die Intuition der übernationalen, die Völker in einem gemeinsamen Menschheitsbewusstsein auflösenden Humanität erweckt in diesen das Bewusstsein, dass sie nicht dieser Humanität angehören und auch nicht angehören wollen, sondern zuerst sich selbst. Dies ist die Dialektik der Aufklärung, dass sie das Gegenteil von dem hervorruft, was sie erreichen will: statt Befreiung Unterdrückung, statt Licht des Bewusstseins Verdunkelung des geistigen Horizontes, statt Frieden auf Erden den Kampf aller gegen Alle. Das Habsburgerreich musste auseinanderbrechen, nicht weil es den Gedanken der Universalität vertrat, sondern weil die von ihm beherrschten Völker diesem Reich nicht angehören wollten, weil sie nicht die habsburgische Universalität, sondern ihre eigene Partikularität wollten und diese unbedingt und genauso unteilbar, wie das Reich, aus dem sie strebten, nach ihrer Auffassung teilbar sein sollte. Die Irredenta jener Völker und Ethnien, die dem Habsburgerreich angehörten, aber nicht der deutschen Sprachnation, gegen den deutschen Anspruch auf Universalität, führte letztlich zur gewaltsamen Zerstörung der gesamteuropäischen Vorkriegsordnung.
Wer sich angesichts dieses Entwicklungshorizontes, der natürlich bei Anwendung besonnener Urteilskraft abzusehen war, gegen den Nationalismus der nichtdeutschen Völker und Ethnien wandte, versuchte die habsburgische Dynastie gegen die politischen Kräfte zu verteidigen, die sie zerstören wollten: mehr noch, die Europa in seiner damaligen Gestalt zerstören wollten.
Im I. Weltkrieg sollte der deutsche Anspruch auf Universalität vollständig ausgelöscht werden. Dies gelang auch, allerdings nur vorübergehend. Denn aus der übernationalen war man seit Wilhelm dem II. längst in die nationale Rolle zurückgefallen. Als Preußen Österreich die Vorherrschaft im Deutschen Bund entzog, war der geistige Übergang des universalistischen, katholischen Herrschaftsanspruches der Habsburgermonarchie auf eine national sendungsbewusste, protestantische Dynastie bereits vollzogen, die mit der Gründung des Deutschen Reiches in Wahrheit ein unheiliges Reich ins Leben rief. Es konnte nur den Widerstand der anderen europäischen Reiche hervorrufen, die gleich ihrem germanischen Nachzügler bereits vor diesem ihre Nachfolgeansprüche – als britisches Empire und als französisches Empire, ganz zu schweigen vom byzantinischen Zarenreich im Osten Europas – gegenüber dem Heiligen Römischen Reich zum Ausdruck gebracht hatten. Schon das zweite deutsche Reich war eine Usurpation. Das dritte deutsche Reich war die Usurpation einer Usurpation oder die Pervertierung einer Pervertierung des Reichsgedankens durch eine Clique hemmungsloser Fanatiker und Schwerverbrecher, die aus Vernunftgründen allein nicht erklärbar ist. Das Reich des gesunden Menschenverstandes, das die Aufklärung mit ihrem Anspruch auf Universalität gründen wollte, endete in der Tyrannei der Irrationalität, es endete in Auschwitz und Birkenau. Die Deutschen brauchten als »verspätete Nation« nur etwas länger als die Franzosen, für die der Traum von der Vernunft in der Schreckensherrschaft der Guillotine und der Wiedererrichtung eines Imperiums durch Bonaparte mündete. Doch war dies nur deshalb der Fall, weil sich in Deutschland in der Zwischenzeit eine Räuberbande des Universalitätsgedankens bemächtigt hatte, die nicht mehr nach den Wünschen derer fragen wollte, die sie unterdrückte und die ihre pseudo-rationale Partikularität als Rassenadel verbrämt verabsolutierte.
Steiner dagegen schloss sich in seiner Analyse der Reichsgründung Nietzsche an, der in dieser Gründung die Exstirpation des Deutschen Geistes zugunsten des Deutschen Reiches sah, denn für Steiner konnte es nur ein Reich geben und das war das Reich des Geistes. Dieses aber ist nicht von dieser Welt. Man könnte gegen Nietzsches Diagnose natürlich einwenden, welcher reale deutsche Geist denn 1871 überhaupt noch exstirpiert werden konnte. In Steiner jedenfalls hatten diese Identifikation des Reichsgedankens mit dem Reich des Geistes der deutsche Idealismus und die deutsche Klassik erweckt. Obwohl – oder gerade weil – Steiner aus der Habsburgermonarchie stammte, identifizierte er sich mit dem Geisterreich, das ein Reich freier Geister sein sollte, denn das Habsburgerreich war seinem Wesen und seiner Idee nach ein übernationales, ein anti-nationales Reich. Aber dieses Reich konnte nicht bestehen bleiben, bzw. es hatte nie wirklich existiert, denn es war bloß eine Idee. Es war eine Idee, als deren Träger aber jeder erscheinen konnte, der sich im Reich des Geistes zu bewegen verstand: das beinhaltete für Steiner der Begriff des Deutschen. Ein Deutscher ist man nicht von Geburt, so war seine Auffassung, Deutscher wird man: man muss sich das Geburtsrecht im Reich des Geistes erst aktiv erwerben, bevor man als Angehöriger dieses Reiches anerkannt werden kann, aber ohne das Ablegen der Nationalität ist diese Mitgliedschaft nicht zu erreichen. Deutsche waren für ihn nicht jene lärmenden Antisemiten, jene Krawallmacher und politischen Raufbolde, die Juden wegen ihrer Religion, ja wegen ihrer Rassenzugehörigkeit verfemten oder den »Streit der Parteien« in die seiner Ansicht nach »widerlichste Form« desselben, in den »Rassenkampf« herabzerrten. Diese Individuen waren für Steiner keine Vertreter des deutschen Geistes, des Geistes überhaupt, denn sie verhöhnten allen Glauben an die Ideen, sie waren Vertreter dogmatischer, reaktionärer Traditionen, dem Licht des fortschrittsfreundlichen Denkens Feind und mussten, so Steiner 1901, auf allen Gebieten »so energisch als möglich« bekämpft werden. Er hielt so wenig von der Bedeutung einer möglichen Rassenzugehörigkeit, dass er im Blick auf die zionistische Idee, die eine Nationalität, einen Staat auf der Rassenzugehörigkeit aufbauen wollte, schon 1888 meinte, das Beste, was den Juden geschehen könne, sei, wenn sie in den Gastvölkern, in denen sie lebten, aufgingen, dass er Vorkämpfer der zionistischen Idee wie Nordau und Herzl als »Versucher« und »Verführer« ihres Volkes bezeichnete, weil sie ihm, statt des schmackhaften Brotes des Menschheitsgedankens die Steine des Rassen-Nationalismus zu essen gaben. Steiner war keineswegs Antisemit. Er war ein Gegner des jüdischen Nationalismus und Rassedenkens, die Volk und Rasse identifizierten und beides mit einer religiösen Heilssehnsucht verbanden. Dies war genau jene politische Messias Erwartung, die die Heraufkunft des Tieres vorbereitete, deren Bevorstehen Steiner später für 1933 voraussagte.
105) Vgl. Kann, Das Nationalitätenproblem …, S. 12/13.
106) Kann, Das Nationalitätenproblem …, 14.
Der genuine marxistische Antisemitismus
Im Gegensatz dazu trägt die Charakterisierung, die Marx dem Judentum 1844 in seinen Aufsätzen Zur Judenfrage zuteil werden ließ, klassisch-antisemitische Züge,107 an deren unzweideutiger Tendenz auch die Tatsache nichts ändert, dass Marx selbst Jude oder Sozialist war.
»Betrachten wir den wirklichen, weltlichen Juden« ruft Marx 1844 aus, »nicht den Sabbathjuden … sondern den Alltagsjuden.
Suchen wir das Geheimnis des Juden nicht in seiner Religion, sondern suchen wir das Geheimnis der Religion im wirklichen Juden.
Welches ist der weltliche Grund des Judentums? Das praktische Bedürfnis, der Eigennutz.
Welches ist der weltliche Kultus des Juden? Der Schacher. Welches ist sein weltlicher Gott? Das Geld.
Nun wohl! Die Emanzipation vom Schacher und vom Geld, also vom praktischen realen Judentum, wäre Selbstemanzipation unserer Zeit.
Eine Organisation der Gesellschaft, welche die Voraussetzung des Schachers, also die Möglichkeit des Schachers aufhöbe, hätte den Juden unmöglich gemacht. Sein religiöses Bewusstsein würde wie ein fader Dunst in der wirklichen Lebensluft der Gesellschaft sich auflösen. Andererseits: Wenn der Jude dies sein praktisches Wesen als nichtig erkennt und an seiner Aufhebung arbeitet, arbeitet er aus seiner bisherigen Entwicklung heraus, an der menschlichen Emanzipation schlechthin und kehrt sich gegen den höchsten praktischen Ausdruck der menschlichen Selbstentfremdung.
Wir erkennen also im Judentum ein allgemeines allgegenwärtiges antisoziales Element, welches durch die geschichtliche Entwicklung, an welcher die Juden in dieser schlechten Beziehung eifrig mitgearbeitet, auf seine jetzige Höhe getrieben wurde, auf eine Höhe, auf welcher es sich notwendig auflösen muss.
Die Judenemanzipation in ihrer letzten Bedeutung ist die Emanzipation der Menschheit vom Judentum.
Der Jude hat sich bereits auf jüdische Weise emanzipiert.« Marx zitiert aus Bruno Bauers Buch Die Judenfrage: »Der Jude, der in Wien zum Beispiel nur toleriert ist, bestimmt durch seine Geldmacht das Geschick des ganzen Reiches. Der Jude, der in dem kleinsten deutschen Staate rechtlos sein kann, entscheidet über das Schicksal Europas.
Während die Korporationen und Zünfte sich dem Juden verschließen, oder ihm noch nicht geneigt sind, spottet die Kühnheit der Industrie des Eigensinns der mittelalterlichen Institute. (Bauer, Judenfrage)«
Marx fährt, Bauer kommentierend, fort:
»Es ist dies kein vereinzeltes Faktum. Der Jude hat sich auf jüdische Weise emanzipiert, nicht nur, indem er sich die Geldmacht angeeignet, sondern indem durch ihn und ohne ihn das Geld zur Weltmacht und der praktische Judengeist zum praktischen Geist der christlichen Völker geworden ist. Die Juden haben sich insoweit emanzipiert, als die Christen zu Juden geworden sind. …
Ja, die praktische Herrschaft des Judentums über die christliche Welt hat in Nordamerika den unzweideutigen, normalen Ausdruck erreicht, dass die Verkündigung des Evangeliums selbst, dass das christliche Lehramt zu einem Handelsartikel geworden ist, und der bankerotte Kaufmann im Evangelium macht, wie der reichgewordene Evangelist in Geschäftchen … Das Judentum hat sich nicht trotz der Geschichte, sondern durch die Geschichte erhalten.
Aus ihren eigenen Eingeweiden erzeugt die bürgerliche Gesellschaft fortwährend den Juden.
Welches war an und für sich die Grundlage der jüdischen Religion? Das praktische Bedürfnis, der Egoismus.
Der Monotheismus des Juden ist daher in der Wirklichkeit der Polytheismus der vielen Bedürfnisse, ein Polytheismus, der auch den Abtritt zu einem Gegenstand des göttlichen Gesetzes macht. … Der Gott des praktischen Bedürfnisses und des Eigennutzes ist das Geld.
Das Geld ist der eifernde Gott Israels, vor welchem kein anderer Gott bestehen darf. Das Geld erniedrigt alle Götter des Menschen – und verwandelt sie in eine Ware. … Es hat … die ganze Welt, die Menschenwelt, wie die Natur, ihres eigentümlichen Wertes beraubt. Das Geld ist das dem Menschen entfremdete Wesen seiner Arbeit und seines Daseins, und dies fremde Wesen beherrscht ihn, und er betet es an.
Der Gott der Juden hat sich verweltlicht, er ist zum Weltgott geworden. Der Wechsel ist der wirkliche Gott des Juden. Sein Gott ist nur der illusorische Wechsel. …
Was in der jüdischen Religion abstrakt liegt, die Verachtung der Theorie, der Kunst, der Geschichte, des Menschen als Selbstzweck, das ist der wirkliche bewusste Standpunkt, die Tugend des Geldmenschen. Das Gattungsverhältnis selbst, das Verhältnis von Mann und Weib usw. wird zu einem Handelsgegenstand! Das Weib wird verschachert. …
Der jüdische Jesuitismus, derselbe praktische Jesuitismus, den Bauer im Talmud nachweist, ist das Verhältnis der Welt des Eigennutzes zu den sie beherrschenden Gesetzen, deren schlaue Umgehung die Hauptkunst dieser Welt bildet. …
Das Judentum konnte sich als Religion, es konnte sich theoretisch nicht weiter entwickeln, weil die Weltanschauung des praktischen Bedürfnisses ihrer Natur nach borniert und in wenigen Zügen erschöpft ist. …
Das Christentum ist aus dem Judentum entsprungen. Es hat sich wieder in das Judentum aufgelöst.
Der Christ war von vornherein der theoretisierende Jude, der Jude ist daher der praktische Christ, und der praktische Christ ist wieder Jude geworden. …
Das Christentum ist der sublime Gedanke des Judentums, das Judentum ist die gemeine Nutzanwendung des Christentums …
Nun erst konnte das Judentum zur allgemeinen Herrschaft gelangen, um den entäußerten Menschen, die entäußerte Natur zu veräußerlichen, verkäuflichen, der Knechtschaft der egoistischen Bedürfnisse, dem Schacher anheimgefallenen Gegenständen zu machen. …
Der christliche Seligkeitsegoismus schlägt in seiner vollendeten Praxis notwendig um in den Leibesegoismus des Juden …
Wir erklären die Zähigkeit des Juden nicht aus seiner Religion, sondern vielmehr aus dem menschlichen Grund seiner Religion, dem praktischen Bedürfnis, dem Egoismus. …
Also nicht nur im Pentateuch oder im Talmud, in der jetzigen Gesellschaft finden wir das Wesen des heutigen Juden, nicht als ein abstraktes, sondern als ein höchst empirisches Wesen, nicht nur als die Beschränktheit des Juden, sondern als die jüdische Beschränktheit der Gesellschaft.
Sobald es der Gesellschaft gelingt, das empirische Wesen des Judentums, den Schacher und seine Voraussetzungen aufzuheben, ist der Jude unmöglich geworden …
Die gesellschaftliche Emanzipation der Juden ist die Emanzipation der Gesellschaft vom Judentum.«108
Es ist ebendiese Marsche Denkweise, mit der Steiner sich während seiner Arbeit für die Deutsche Wochenschrift, also 1888 und später befasste, im Hinblick auf welche er in seinem Lebensgang folgende Sätze niederschrieb:
»Es war mir persönlich schmerzlich, davon sprechen zu hören, dass die materiell-ökonomischen Kräfte in der Geschichte der Menschheit die eigentliche Entwickelung tragen und das Geistige nur ein ideeller Überbau dieses ›wahrhaft-realen‹ Unterbaues sein sollte. Ich kannte die Wirklichkeit des Geistigen. Es waren die Behauptungen der theoretisierenden Sozialisten für mich das Augen-Verschließen vor der wahren Wirklichkeit.« (Siehe weiter oben)
Während Marx durch seinen Materialismus dazu verführt wurde, den Geist des Judentums in den Erscheinungen des ökonomischen Lebens, in der Herrschaft des Schachers, in der Verschacherung des Lebens, kurz, im Kapitalismus zu sehen, und das Wesen des Judentums im praktischen Egoismus zu erkennen glaubte, der die Welt beherrscht, was auf die später in die bündige Formel verdichtete These hinausläuft, die Welt sei »verjudet«, während Marx alle Stereotypen der späteren antisemitischen Propaganda bis hin zum notorischen Rassenhang des Juden zu Hehlerei und Zuhälterei in seinem Aufsatz versammelte, schwadronierte Steiner weder über den jüdischen Geist noch über den Geist der jüdischen Rasse, sondern interessierte sich für die geistige Individualität des einzelnen Menschen und ihre Leistungen, unabhängig davon, welchem Volk oder welcher Rasse der jeweilige Mensch angehörte. Denn wie Steiner 1901 schrieb: »Es ist doch einerlei, ob jemand Jude oder Germane ist … Das ist so einfach, dass man fast dumm ist, wenn man es sagt. Wie dumm muss man aber erst sein, wenn man das Gegenteil sagt.«109
107) Karl Marx, Zur Judenfrage, Berlin 1919, herausgegeben und eingeleitet von Stefan Grossmann, ursprünglich erschienen in den deutsch-französischen Jahrbüchern Ruges im Jahr 1844.
108) Ebenda, S. 42-49.
109) Steiner, GA 31, Dornach 1989, S. 198/99.
Steiners Plädoyer für den übernationalen Geist
Wer Steiners ausgereiftes politisches Denken verstehen will, kann nicht umhin, sich mit seinen Ideen zur Dreigliederung des sozialen Organismus zu befassen.
Während um ihn herum alles in der Nationalisierung des Reichsgedankens versank, sah Steiner den deutschen Geist in einem Abwehrkampf, denn der deutsche Geist war für ihn der universelle Geist, der humane Geist, der freie Geist: in einem Abwehrkampf gegen Klerikalismus, Partikularismus, Materialismus, Nationalismus, Sozialismus und Darwinismus, die ihm alle als Ausgeburten desselben Schattenreiches erschienen, eines Reiches der Finsternis und des Todes. Deutscher war man für Steiner nur, wenn man Lust am Denken hatte, als Deutscher wurde man nicht geboren, man konnte also nicht durch irgendeine Rassenabstammung Deutscher sein, man konnte sich nur selbst zum Deutschen, das heißt zum Vertreter der Universalität des Geistes berufen, in dem alle Partikularismen im Hegelschen Sinne aufgehoben waren. Das Reich der freien Geister, das der Philosophie der Freiheit als Idealzustand der Gesellschaft vorschwebt, ist ein Reich des ethischen Individualismus und individualistischen Anarchismus, ein Reich von begeisterten Idealisten, die sich von der Welt sagen lassen, wessen sie bedarf und sie nicht etwa dem tyrannischen Willen einer weltfremden Ideologie unterwerfen. Diesem Reich kann nach Steiners Verständnis jeder Mensch angehören, der sich über die Bestimmtheiten seines Gattungswesens, seine Geschlechtseigentümlichkeiten, seine Rassenzugehörigkeiten, seine Nationalität usw. erhebt. Wer sich aber nicht in dieses Reich erhebt, ist in ihm aufgehoben, wiederum im Hegelschen Sinne, aber nun an sich. Denn das moralische oder bürgerliche Gesetz, das das Handeln der Unfreien leitet, ist für Steiner – wenigstens idealiter – ebenso aus dem Reich des freien Geistes entsprungen, wie das Handeln der ethischen Individualisten. Aufgehoben ist der Unfreie sowohl im positiven Rechtsgesetz, als auch im Naturgesetz, dem nach Steiners Auffassung jene Teile der menschlichen Organisation unterworfen sind, die das von Fichte beschriebene Ich nicht seiner liebevollen Herrschaft unterworfen hat. So schwebte Steiner ein Zusammenleben der Menschen vor, das auf Freiheit und Verständnis beruht, das in gegenseitigem Vertrauen verläuft und in sozialem Frieden mündet, weil es mit Brüderlichkeit im Ökonomischen und mit Gleichheit im Rechtlichen verbunden ist.
Wer Steiners ausgereiftes politisches Denken verstehen will, kann nicht umhin, sich mit seinen Ideen zur Dreigliederung des sozialen Organismus zu befassen, in denen er – in einem historischen Augenblick von besonderer Art – versuchte, die sozialistischen Ideale mit den liberalen Freiheitshoffnungen und den konservativen Ordnungsvorstellungen zu versöhnen. Während schon in den 70er Jahren in Österreich der Gedanke des Reiches im Nationenkampf pervertiert wurde, in dem sich partikulare Egoismen der Universalität bemächtigten, hielt Steiner die Fahne eines Reichsverständnisses aufrecht, das bis zu Joachim von Fiore, ja bis zu Paulus und Jesus zurückweist, indem er in seiner Philosophie der Freiheit die Idee des Reichs der freien Geister formulierte. Wenn Steiner vom Deutschen Reich sprach, dann meinte er damit das Reich der freien Geister, das man durch die Gründung des Deutschen Reiches vom Jahr 1871 endgültig exstirpiert hatte, wie er im Anschluss an Nietzsche beklagte. Schon der Anspruch neuzeitlicher Dynastien, das mittelalterliche Reich fortzusetzen, das von Karl als christliches Reich deutscher Nation gegründet worden war, war Usurpation. Daraus resultierten die imperialen Großmachtansprüche der europäischen Herrscherhäuser und Nationalstaaten. Aber auch das Christenreich des Mittelalters war ein historisches Missverständnis, ebenso wie der Herrschaftsanspruch der Vermittlerin dieses theokratischen Reichsgedankens an den Westen: der römischen Kirche. Denn der Begründer des Christentums, der Sohn Gottes, hatte gesagt: »Mein Reich ist nicht von dieser Welt.« Selbst die Sozialdemokraten und Sozialisten wollten ein Reich errichten: das Reich der Proletarier aller Länder, die klassenlose Gesellschaft, die Diktatur des Proletariats, ein säkularisiertes Christenreich, das jenen ewigen Frieden auf Erden verhieß, der auf Erden nicht zu erlangen ist. Für Steiner jedoch war arm, wer nicht im Reich des Geistes leben konnte: all diese Menschen waren für ihn Bettler um Geist. An das Reichsverständnis Christi knüpfte Steiner 1894 in der Philosophie der Freiheit an, wenn er vom Reich der freien Geister sprach, ein bisher unentdecktes Gedankenmotiv in der Steinerrezeption. Wild und unentwickelt war für ihn, wer durch geschichtliche Bedingungen, soziale Verhältnisse, durch Mangel an Erziehung und Selbsterziehung, durch Traditionen und Umweltbedingungen daran gehindert wurde, sich selbst durch die allseitige Entwicklung seiner Fähigkeiten und durch individuelle Selbstbestimmung Eintritt in das Reich des Geistes zu verschaffen.
Steiner und die Slawen vor dem Hintergrund der Geschichte des Habsburgerreiches
Man kann Steiners Stellungnahmen gegen die seiner Ansicht nach überzogenen Ansprüche mancher Vertreter des Slawentums nicht verstehen, ohne diese in die reale geschichtliche Situation des habsburgischen Vielvölkerstaates im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts einzubetten.
Berücksichtigt man diese, so erscheinen sie keineswegs als chauvinistisch, sie stellen lediglich den Reflex einer geschichtlichen Tatsache dar, ganz abgesehen davon, dass die betreffenden Formeln auf einen völlig anderen Inhalt verweisen, als ähnlich klingende Sätze deutschnationaler Krawallmacher und Demagogen. Wir haben diesen letzteren Sachverhalt bereits erörtert und haben hier deshalb nur noch die Geschichte, den kulturellen und sozialen Status des Slawentums innerhalb des Habsburgerreiches im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zu rekonstruieren.
Der beredte Anwalt der Südslawen, der sozialistische Historiker Hermann Wendel, beschrieb 1925 in seiner Studie Der Kampf der Südslawen um Einheit und Freiheit die Unterdrückung der slawischen Völkerschaften durch die Türken, die für ihn der Hauptgrund für die »Geschichtslosigkeit« dieser Völkerschaften war, sowie den Aufstieg der habsburgischen Schutzmacht gegen die Türken auf dem Balkan:
»Als an der Wende des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts August Ludwig Schlözer als erster von Südslawen sprach … lebten [diese] von Welt und Wissenschaft kaum gekannt, das Dämmerdasein des ›geschichtslosen Volkes‹. Diesem trüben Los waren sie durch die Türken verfallen, die sich seit dem vierzehnten Jahrhundert wie eine Schuttlawine über die gesegneten Gaue der thrako-illyrischen Halbinsel gewälzt hatten (S. 9)
… Der eigenen Herrenschicht für den Abschnitt beraubt zu werden, da nur sie die zeugenden Kräfte des Volkes zu bewahren und zu entwickeln versteht, und so auf die Stufe der Geschichtslosigkeit hinabgestoßen zu sein, war ein Schicksal, das den Slowenen freilich schon vor der Türkenzeit in den Tagen Karls des Großen widerfuhr (11) …
Weit härter traf die Gewalt der asiatischen Eroberer die Kroaten, die im Mittelalter erst unter Fürsten eigenen Geblüts, dann unter den Anjous und Arpaden mit Ungarn durch das gleiche Herrscherhaus verbunden, einen Feudalstaat mit dem Schwergewicht an der Adria gebildet hatten …
Ein Streifen Landes nach dem anderen geriet unter die vernichtende Fremdherrschaft, und noch ehe in der Entscheidungsschacht bei Ubdina … 1493 die Blüte des kroatischen Adels in den Staub sank, sprach man klagend nur mehr von den reliquiae reliquiarum, den Überbleibseln der Überbleibsel des kroatisch-slawonisch-dalmatinischen Königreichs. Slawonien seufzte fast zweihundert Jahre unter dem schonungslosen Druck der Paschas, und in die Sandzaks Klis, Lika und Pozega zerfiel zu Zeiten ein gut Stück des Landes, auf dem Kroaten siedelten. (14/15) …
Als 1526 bei Mohac auch die Ungarn eine nicht mehr wettzumachende Niederlage erlitten hatten, lag die Widerstandskraft all der kleinen und mittleren Staaten des europäischen Südostens, auf die der türkische Vormarsch gestoßen war, eine zerspellte Lanze, am Boden. Ganz von selbst wandte alles, was noch atmete und die Glieder regte, Blick und Hoffnung zu den Habsburgern, mit denen die slowenischen Lande schon im dreizehnten Jahrhundert verknüpft und jetzt noch enger verkittet waren. Wie eine gewitterschwangere Wolke hing die von Suleiman dem Prächtigen drohende Gefahr über dem Januartag 1527, an dem die kroatischen Stände den Habsburger Ferdinand zu ihrem König wählten, und der Beruf des Habsburgerstaates zum Grenz- und Schutzwall des Abendlandes gegen den Islam war … noch Sinn und Inhalt der pragmatischen Sanktion, die 1712 zuerst die Kroaten anerkannten. (15/16) … über die serbischen Lande hinrollend, ließ die Osmanenflut kein winziges Fleckchen frei. Zwar fristeten nach den Unglücksschlachten an der Marica und auf dem Kosovofeld einzelne serbische Staaten noch ganze Menschenalter hindurch ein kümmerliches Dasein, aber 1459 schlug mit dem Fall Smederovs der Raska das letzte Stündchen. 1463 legten die Türken ihre Hand auf Bosnien, 1482 ging die Hercegovina in ihren Besitz über, und 1499 sank der letzte Serbenstaat an der Adriaküste, die Zeta, dahin. (21) … Als die Serben der letzten Reste ihrer Freiheit beraubt wurden, waren die Bulgaren schon mehr als hundert Jahre unter die türkische Herrschaft gebeugt. (24) …
Nicht nur flohen in weiten Strichen des von den Osmanen besetzten Gebietes die Menschen ins Dunkel der Wälder, nicht nur verzogen sich die Dörfer in die Unzugänglichkeit der Berge, sondern dank der Unterbindung aller wirtschaftlichen Entwicklung bildete sich auch das gesellschaftliche Sein der Südslawen zu Formen zurück, die sie bereits auf dem Wege von der ursprünglichen Stammesverfassung über den Lehns- und Ständestaat zum bürgerlichen Gemeinwesen hinter sich gelassen hatten.« (27)
Einer der besten gegenwärtigen Kenner der Materie, der amerikanische Historiker Robert A. Kann, der die Idee einer »ideologischen, kulturellen oder rassenmäßigen Überlegenheit irgendeines Volkes« (S. 19) über andere entschieden ablehnt, kann in seinem Werk über die Geschichte des Habsburgerreiches110 nicht umhin, zuzugestehen, dass die Deutsch-Österreicher in Politik und Wirtschaft dieses Reiches – hinzuzufügen wäre die Kultur – seit dem Beginn des 16. Jahrhunderts die »führende nationale Gruppe« darstellten (S. 19), eine Rolle die ihnen erst seit der Mitte des 19. Jahrhunderts von einer der wenigen nicht-slawischen Nationalitäten, nämlich der magyarischen, streitig gemacht wurde. Diese Vorherrschaft wurde offenbar auch nicht in dem Ausmaß als bedrückend empfunden, dass sie vor der Mitte des 19. Jahrhunderts zu nachhaltigen Widerständen führte. Hier sollen durch die Erinnerung der historischen Tatsachen nicht etwa irgendwelche ideologischen Herrschaftsansprüche abgeleitet oder gerechtfertigt werden, sondern es soll lediglich der Blick auf die realen historischen Gegebenheiten gelenkt werden, für den ideologische Voreingenommenheit den retrospektiven Blick blind macht.
Kann führt drei Faktoren an, die diese Vorherrschaft der deutschsprachigen Österreicher im Habsburgerreich bedingten: die historisch-traditionelle Bedeutung der habsburgischen Erblande, die Verbindung dieser Länder mit der Krone des Heiligen Römischen Reiches und die Lage des administrativen und ökonomischen Machtzentrums des Habsburgerstaates im deutschsprachigen Wien. Hinzuzufügen wären zwei weitere Faktoren: die Tatsache, dass die Habsburger kein französisches, böhmisches oder magyarisches Adelsgeschlecht waren, sondern ein deutsches, und dass die Summe der aufklärerischen Ideen, die die geistvollsten Vertreter der deutschsprachigen Gruppe innerhalb des Habsburgerreiches für eine bestimmte Zeit in sich trugen, diese zu Trägern des historischen Fortschritts gegenüber rückständigen Traditionen machte.
110) Robert A. Kann, Geschichte des Habsburgerreiches, Princeton 1976, zitiert nach der deutschen Ausgabe, 3. A., Wien 1993.
Die »geschichtslosen Nationen« – eine Erfindung von Karl Marx
Nicht Steiner war der Erfinder des Begriffs der »geschichtslosen Nationen«, sondern der Romantiker der Revolution Karl Marx.
»Die Idee einer Unterscheidung zwischen Nationen und Nationalitäten, die eine deutlich erkennbare unabhängige nationale Geschichte haben, und solchen, die sie nicht haben, ist marxistisch … Der ursprüngliche, von Marx und Engels vertretene Gedanke … war ziemlich primitiv … Er unterschied zwischen Volksgruppen, die stark genug waren, um als unabhängige Nationen zu leben, und solchen, die diesen Rang entweder infolge ihrer angeblichen kulturellen Rückständigkeit niemals erlangten oder ihn infolge ihrer politischen Schwäche verloren. Darin ging Marx weiter als Engels, denn er sprach praktisch allen österreichischen Nationalitäten, mit Ausnahme der Deutschen, das Recht auf ein unabhängiges nationales Leben ab. Engels hingegen dehnte das Recht auf nationale Existenz auf die Magyaren und die Polen aus, die einzigen österreichischen Nationalitäten, die Träger des »Fortschrittsgedankens« [d.h. des Gedankens der Revolution des Proletariats] waren.«111
Marx vertrat also, wenn man sich der Bierlschen Begrifflichkeit bedienen will, einen extrem chauvinistischen, deutschnationalen Standpunkt, der aber noch wesentlich weiter geht, als die nicht-nationalistische Auffassung des deutschen Geistes durch Steiner. Denn Steiner war, wie wir gesehen haben, keineswegs der Auffassung, die nicht-deutschen Volksgruppen des Habsburgerreiches hätten kein Recht auf Existenz, er suchte vielmehr nach einer Form der Autonomie, die alles, nur nicht nationalistisch war, die die individuellen Freiheitsrechte wahrte und die Ansprüche der verschiedenen Volksgruppen miteinander versöhnte.
Schon die von Marx und Engels geleitete Rheinische Zeitung ging mit den Kroaten 1848 übel ins Gericht. Der kroatische Banus Jelacic, der zusammen mit Windischgrätz und allen nicht-magyarischen, slawischen Nationalitäten die ungarische Revolution bezwang, wurde zum Anführer einer »kleinen stierköpfigen Nation« niedergeschrieben, gegen die die Sozialisten zum »entschiedensten Terrorismus« aufriefen. Marx und Engels warfen den »panslawistischen Südslawen« vor, dass sie wegen kleinlicher Nationalitätenhoffnungen die Revolution an Petersburg und Olmütz verrieten, sie warfen sie verächtlich zum »Völkerabfall einer höchst verworrenen tausendjährigen Entwicklung« und sagten ihnen voraus, sie würden »im revolutionären Weltsturm untergehen«. Dass diese Bemerkungen keine einmaligen Ausflüsse einer enttäuschten revolutionären Erregung waren, sondern auf dem Boden einer rassistisch durchsetzten, politischen Überzeugung wuchsen, zeigt sich daran, dass Marx auch noch Anfang der 50er Jahre im Exil an seiner Verachtung für das Slawentum festhielt: es zeigt sich vor allem an der Begründung, die Marx seiner Verachtung gab.
Marx schrieb für die New Yorker Zeitung Daily Tribune – an die er durch Ferdinand Freiligrath als Autor vermittelt worden war – in einer Artikelfolge über die Revolution und Konterrevolution in Deutschland am 5. März 1852: »Seit der Zeit Karls des Großen haben die Deutschen ihre beständigsten und beharrlichsten Bemühungen auf die Eroberung oder wenigstens Zivilisierung des Ostens von Europa gerichtet …
Die Slawen, namentlich die westlichen, sind vornehmlich ein Volk von Ackerbauern; Handel und Industrie standen bei ihnen nie in großem Ansehen. Die Folge davon war, dass mit dem Anwachsen der Bevölkerung und dem Erstehen von Städten in jenen Gegenden die Produktion aller Industrieartikel in die Hände deutscher Einwanderer fiel und der Austausch dieser Waren gegen Ackerbauprodukte das ausschließliche Monopol der Juden wurde, die, wenn sie überhaupt zu einer Nationalität gehören, in diesen Ländern sicher eher Deutsche als Slaven sind. Das ist, wenn auch in geringerem Grade, im ganzen Osten Europas der Fall gewesen. Der Handwerker, der kleine Krämer, der kleine Fabrikant ist bis auf den heutigen Tag ein Deutscher in Petersburg, Pest, Jassy und selbst Konstantinopel; während der Geldverleiher, der Schankwirt, der Hausierer – eine sehr wichtige Persönlichkeit in jenen dünn bevölkerten Gegenden – fast ausnahmslos ein Jude ist, dessen Muttersprache in einem grässlich verdorbenen Deutsch besteht. Die Bedeutung dieser deutschen Elemente in den slawischen Grenzbezirken, die mit der Zunahme der Städte, des Handels und der Industrie wuchs, nahm noch zu, als sich die Notwendigkeit herausstellte, fast jedes Element geistiger Kultur aus Deutschland einzuführen; nach dem deutschen Kaufmann und Handwerker ließ sich der deutsche Geistliche, der deutsche Schullehrer, der deutsche Gelehrte auf slawischem Boden nieder …
Die Nationalitätenfrage gab weiter Anlass zu einem Kampf in Böhmen … Die Mähren und Slowaken hatten längst jede Spur nationalen Empfindens verloren, obwohl sie zum größten Teil ihre Sprache erhielten. Böhmen war auf drei von vier Seiten von ganz deutschen Ländern umgeben. Das deutsche Element hatte in Böhmen selbst große Fortschritte gemacht; sogar in der Hauptstadt, in Prag, hielten die beiden Nationalitäten einander ziemlich die Waage, und allenthalben befanden sich Kapital, Handel, Industrie und geistige Kultur in den Händen der Deutschen. Der Vorkämpfer der tschechischen Nationalität, Professor Palacky, ist selbst nur ein übergeschnappter Deutscher, der bis jetzt noch die tschechische Sprache nicht korrekt und ohne fremden Akzent sprechen kann. Aber, wie das oft der Fall, die dahinsterbende tschechische Nationalität, dahinsterbend nach dem Zeugnis aller bekannten Tatsachen der letzten vier Jahrhunderte, machte 1848 eine letzte Anstrengung, ihre frühere Lebenskraft wieder zu gewinnen, eine Anstrengung, deren Scheitern, von allen revolutionären Erwägungen abgesehen, beweisen sollte, dass Böhmen hinfort nur noch als Bestandteil Deutschlands bestehen könne, wenn auch ein Teil seiner Bewohner noch für einige Jahrhunderte hinaus fortfahren mag, eine nichtdeutsche Sprache zu sprechen.«112
Marx formulierte aber noch weitaus schärfer. Im Februar 1852 teilte er seinen amerikanischen Lesern aus dem Londoner Exil folgendes über die »rassischen« Hintergründe des Panslawismus mit: »Weder Böhmen noch Kroatien besaßen die Kraft, als eigene Nation zu existieren. Ihre Nationalitäten, nach und nach durch historische Ursachen untergraben, die sie in kraftvolleren Rassen aufgehen lassen, konnten nur dann erwarten, eine Art Selbständigkeit wiederzugewinnen, wenn sie sich mit anderen slawischen Nationen verbanden … Warum nicht eine mächtige Konföderation aus den 80 Millionen Slaven bilden, um den Eindringling auf dem heiligen slawischen Boden zurückzudrängen oder zu vernichten, den Türken, den Ungarn und vor Allem den verhassten, aber unentbehrlichen »Njemec«, den Deutschen?
So wurde in den Studierstuben einiger slawischer Dilettanten in der Geschichtswissenschaft jene lächerliche antihistorische Bewegung geboren, eine Bewegung, die auf nichts Geringeres abzielte, als die Unterjochung des zivilisierten Westens unter den barbarischen Osten, der Stadt unter das Land, des Handels, der Industrie, des Wissens unter die primitive Agrikultur slawischer Leibeigener. Aber hinter der lächerlichen Theorie stand die furchtbare Wirklichkeit des russischen Reiches, jenes Reiches, das durch jede seiner Bewegungen den Anspruch erhebt, ganz Europa als die Domäne der slawischen Rasse zu betrachten, und ganz besonders des einzigen kraftvollen Teiles dieser Rasse, der Russen …«113
Marx sieht in den Emanzipationsbestrebungen der slawischen Völker Österreich-Ungarns nicht nur einen Ausdruck kultureller, sondern auch ein Ergebnis »rassischer« Differenzen. Marx fährt im zitierten Aufsatz sarkastisch fort: »Die Böhmen und Kroaten beriefen … einen slawischen Kongress nach Prag ein, der die allgemeine Verbrüderung der Slaven vorbereiten sollte. Der Kongress wäre auch ohne das Eingreifen des österreichischen Militärs völlig misslungen. Die verschiedenen slawischen Sprachen sind eben so verschieden von einander wie das Englische, das Deutsche und das Schwedische, und als man die Verhandlungen eröffnete, fehlte die gemeinsame slawische Sprache, durch welche die Redner sich verständlich machen konnten. Man versuchte es mit dem Französischen, aber die Majorität verstand auch das nicht, und die armen slawischen Enthusiasten, deren einziges gemeinsames Empfinden der gemeinsame Hass gegen die Deutschen war, sahen sich schließlich gezwungen, sich in der verhassten deutschen Sprache auszudrücken, als der einzigen, die sie Alle verstanden. Gerade um dieselbe Zeit versammelte sich noch ein anderer Slawenkongress in Prag, in der Gestalt galizischer Ulanen, kroatischer und slowakischer Grenadiere und böhmischer Kanoniere und Kürassiere; und dieser wirkliche, bewaffnete Slawen-Kongress unter dem Kommando von Windischgrätz jagte in weniger als vierundzwanzig Stunden die Begründer der eingebildeten slawischen Suprematie aus der Stadt und zerstreute sie in alle Winde.«114
Karl Kautsky, dem Übersetzer und Herausgeber dieser Aufsätze, war angesichts des darin zum Ausdruck kommenden rassischen Überlegenheitsgefühls offenbar nicht ganz wohl, denn er sah sich in seinem Vorwort genötigt, Marxens Ansicht einerseits zu korrigieren, andererseits als historisch gerechtfertigt zu verteidigen.
Kautsky schrieb 1896: »Namentlich die Tschechen und Kroaten hatten einen ungemein großen Anteil an dem Siege der Gegenrevolution in Österreich, und so ist es denn kein Wunder, dass Marx sich mit der vollen Wucht seiner revolutionären Leidenschaft gegen sie wendet und sie als Verräter an der Revolution brandmarkt. Aber ließ sich nicht Marx von seinem gerechten Zorn zu sehr fortreißen und stellte er nicht eine Behauptung auf, die er nicht verantworten konnte, wenn er diesen slawischen Stämmen, vor allem den Tschechen, geradezu die Möglichkeit einer nationalen Existenz abstritt? Haben ihn nicht die Tatsachen Lügen gestraft? Wird heute nicht die Existenzfähigkeit der tschechischen Nation selbst von ihren erbitterten Gegnern nicht mehr bestritten? Man muss gestehen, es ist anders gekommen, als Marx erwartet, aber daraus folgt noch keineswegs, dass der Standpunkt, den Marx 1851 einnahm, nicht wohlbegründet war. Das Urteil von Marx war durch die damaligen Verhältnisse völlig gerechtfertigt, und es zeugt von einer genauen Kenntnis der österreichischen Verhältnisse.«115
Angesichts der von Marx erwarteten, kurz bevorstehenden revolutionären Wende, sei – fährt Kautsky fort – das Schicksal der tschechischen Nationalität besiegelt gewesen. »Ohne jegliche gewaltsame Germanisation musste einfach die Macht des entfesselten Verkehrs, die Macht der modernen Kultur, welche die Deutschen brachten, die rückständigen tschechischen Kleinbürger, Bauern und Proletarier, denen ihre verkümmerte Nationalität gar nichts zu bieten hatte, zu Deutschen machen.«116 »1851, als Marx die vorliegende Arbeit schrieb, gehörten Böhmen, Mähren und Schlesien noch zum deutschen Bund … Es standen 3, höchstens 4 Millionen Tschechen ungefähr 40 Millionen Deutschen gegenüber, ein Missverhältnis, das allein genügte, die Zukunft des Tschechentums als eine hoffnungslose erscheinen zu lassen. Aber 1866 wurde Österreich aus dem deutschen Bunde gedrängt. Dies bewirkte auf der einen Seite die Vereinigung der Tschechen mit dem größten Teil der anderen Slaven Österreichs, auf der anderen die Loslösung der Deutschösterreicher von Deutschland. Nun standen in Cisleithanien etwa 11 Millionen Slaven 7 Millionen Deutschen gegenüber.«117
111) Ebenda, S. 53. – Friedrich Engels schrieb übrigens 1849 in der »Rheinischen Zeitung«: »Unter all den Nationen und Natiönchen Österreichs sind nur drei, die die Träger des Fortschritts waren, die aktiv in die Geschichte eingegriffen haben, die jetzt noch lebensfähig sind – die Deutschen, die Polen, die Magyaren. Daher sind sie jetzt revolutionär. Alle anderen großen und kleinen Stämme und Völker haben zunächst die Mission, im revolutionären Weltsturm unterzugehen. … Diese Reste einer von dem Gang der Geschichte, wie Hegel sagt, unbarmherzig zertretenen Nation, diese Völkerabfälle werden jedesmal und bleiben bis zu ihrer gänzlichen Vertilgung oder Entnationalisierung die fanatischen Träger der Kontrerevolution, wie ihre ganze Existenz überhaupt schon ein Protest gegen eine große geschichtliche Revolution ist … So in Österreich die panslawistischen Südslawen, die weiter nichts sind als der Völkerabfall einer höchst verworrenen tausendjährigen Entwicklung. … Der nächste Weltkrieg wird nicht nur reaktionäre Klassen und Dynastien, er wird auch ganze reaktionäre Völker vom Erdboden verschwinden machen. Und das ist auch ein Fortschritt …
Wir wiederholen es: Außer den Polen, den Russen und höchstens den Slawen der Türkei hat kein slawisches Volk eine Zukunft, aus dem einfachen Grunde, weil allen übrigen Slawen die ersten historischen, geographischen, politischen und industriellen Bedingungen der Selbständigkeit und Lebensfähigkeit fehlen. Völker, die nie eine eigene Geschichte gehabt haben, die von dem Augenblick an, wo sie die erste, roheste Zivilisationsstufe ersteigen, schon unter fremde Botmäßigkeit kommen oder die erst durch ein fremdes Joch in die erste Stufe der Zivilisation hineingezwungen werden, haben keine Lebensfähigkeit, werden nie zu irgendeiner Selbständigkeit kommen können. Und das ist das Geschick der östreichischen Slawen gewesen. …
Auf die sentimentalen Brüderschaftsphrasen, die uns hier im Namen der kontrerevolutionärsten Nationen Europas dargeboten werden, antworten wir, daß der Russenhaß die erste revolutionäre Leidenschaft bei den Deutschen war und noch ist; daß seit der Revolution der Tschechen- und Kroatenhaß hinzugekommen ist und daß wir, in Gemeinschaft mit Polen und Magyaren, nur durch den entschiedensten Terrorismus gegen diese slawischen Völker die Revolution sicherstellen können.
Wir wissen jetzt, wo die Feinde der Revolution konzentriert sind: in Rußland und den östreichischen Slawenländern; und keine Phrasen, keine Anweisungen auf eine unbestimmte demokratische Zukunft dieser Länder werden uns abhalten, unsere Feinde als Feinde zu behandeln. … Dann Kampf, ›unerbittlicher Kampf auf Leben und Tod‹ mit dem revolutionsverräterischen Slawentum; Vernichtungskampf und rücksichtslosen Terrorismus – nicht im Interesse Deutschlands, sondern im Interesse der Revolution!« – Friedrich Engels: ›Der magyarische Kampf‹; Neue Rheinische Zeitung Nr. 194, 13. Januar 1849. In: Karl Marx, Friedrich Engels. Werke. Hrsg. v. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED. Bd. 6, S. 172.
112) Karl Marx, Revolution und Kontre-Revolution in Deutschland, Stuttgart 1896, herausgegeben und ins Deutsche übertragen von Karl Kautsky, S. 58-62.
113) Ebd, S. 62/3.
114) Ebd, S. 64.
115) Ebd, S. XXI.
116) Ebd, S. XXII.
117) Ebd, S. XXIII.
Die Deutschen in Österreich
Marx befand sich mit seiner Einschätzung der Slawen in bester Gesellschaft mit den meisten deutschen politischen Strömungen im Habsburgerreich.
Marx befand sich, was seine Einschätzung der Rolle der Slawen anbelangt, in bester Gesellschaft mit den meisten deutschen politischen Strömungen im Habsburgerreich, insbesondere mit den Vertretern des Liberalismus. Die Liberalen hielten in den beginnenden Auseinandersetzungen, die schließlich nach der Niederlage von Königgrätz zum österreichisch-ungarischen Ausgleich von 1867 führten, die Fahne des Zentralismus hoch und lehnten jegliche föderale Neuordnung des Vielvölkerstaates ab. Der Wortführer der Deutschliberalen im Abgeordnetenhaus erklärte während der Generaldebatte anlässlich der Auflösung des ungarischen Landtages durch Kaiser Franz Josef im September 1861, die Weltstellung Österreichs mache die Zentralisation zwingend, denn Föderalisierung sei mit der Abdankung Österreichs als europäischer Großmacht gleichbedeutend. Im Hinblick auf die übrigen – weitaus zentralistischeren und imperialistischeren – europäischen Großmächte fragte er rhetorisch, wie denn Österreich »nach europäischer Weise« regiert werden solle, wenn es kein zentralistischer Staat sei. Die zentralistische Staatsauffassung gehörte zu den theoretischen Grundüberzeugungen der Liberalen aller Länder, von der sich auch die österreichischen Liberalen leiten ließen. Giskra forderte in der Debatte die kräftige Macht des Gesamtstaates und meinte, wenn acht Millionen Deutsche in Österreich ein Selbstbewusstsein ihrer Nationalität besäßen, so sei dies gerechtfertigt, weil sie ein Bestandteil jenes großen Muttervolks seien, das – ohne Unbescheidenheit und Überhebung gesprochen – »gewiss für die menschliche Kultur mehr getan« habe, »als jedes andere Volk.« Was an Bildung bei den anderen Völkern Österreichs existiere, sei »auf dieser Wurzel gewachsen.«118 Die Deutschösterreicher wurden in ihrem Bewusstsein von der Überlegenheit der deutschen Kulturnation gegenüber den Slawen von den Magyaren bestärkt, die zwar an einer Föderalisierung der Monarchie interessiert waren, sofern sie ihre eigenen nationalen Bestrebungen begünstigte, aber um so unduldsamer gegen die slawischen und auch deutschen Minderheiten vorgingen, die auf dem von ihnen verwalteten Territorium lebten. So meinte der ungarische Ministerpräsident und spätere Außenminister Österreich-Ungarns, Graf Andrassy, gegenüber dem slawenfreundlichen Belcredi im Jahr 1867: »Die Slawen sind nicht regierungsfähig, sie müssen beherrscht werden.«119
Der Nationalökonom und Soziologe Friedrich von Wieser, ein deutsch-österreichischer Liberaler der alten, orthodoxen Schule, schrieb im Jahr 1905 über die Stellung der Deutschen im österreichischen Kaiserstaat: »Der Name der Nationalitäten wurde noch vor einigen Jahrzehnten bei uns eigentlich nur auf die nicht-deutschen Volksstämme bezogen; heute kann man nicht umhin, ihn auch auf die Deutschen auszudehnen, denn zuletzt sind auch diese in die nationale Bewegung hineingezogen worden. Der Deutschösterreicher in der Zeit unserer Großväter und Väter war deutsch, weil er ein Österreicher und weil für ihn von Österreich das Deutsche nicht zu trennen war. Den nationalen Bestrebungen trat er aus dem allgemeinen Staatsinteresse entgegen, welches ihm ans Herz gewachsen war, die Einbuße an Macht für die Zentralorgane des Staates, die Risse in die Einheitlichkeit der Rechtsprechung und Verwaltung, in die feste Ordnung des Beamtentums, in die Schlagfertigkeit des Heeres waren es, wogegen er sich sträubte. Erst nach und nach kam bei den Deutschen die nationale Empfindlichkeit hervor, sie begannen die fortwährenden Zugeständnisse an die fremden Volksstämme als eine Minderung ihres Volkstums zu fühlen und kamen endlich zu ihrer Auffassung vom nationalen Besitzstand, den sie zu verteidigen hatten. Noch einen Schritt weiter wurden sie in Böhmen gedrängt, hier, wo sie sich als Minderheit verkürzt sahen, gingen sie von der bloßen Abwehr dazu über, nun auch ihrerseits Forderungen zu erheben, um dies zu ihren Ungunsten verschobene Gleichgewicht wieder herzustellen; sie verlangten Sicherung der Parität in allen nationalen Dingen. Durch einen eigentümlichen Rückschlag, wie ihn die Entwicklung öfters bringt, gelangten zum Schlusse die Radikalsten unter den Deutschnationalen wieder in die Nähe des geschichtlichen Anfangspunktes zurück; nachdem sie nationales Interesse und Staatsinteresse zuerst in Gegensatz gestellt hatten, kamen sie zum Schlusse wieder darauf zurück, für den Staat einzutreten, um für ihr Volkstum zu wirken, sie verlangten die deutsche Staatssprache, sie verlangten ein deutschgeführtes Österreich, wie es die geschichtliche Entwicklung in der Zeit vor dem Erwachen des nationalen Sinnes gebildet hatte, nun auch gegenüber den zum Selbstbewusstsein gekommenen fremden Nationalitäten als eine deutschnationale Forderung.«120
Österreich besaß gemäß dieser liberalen Auffassung eine Konstitution, wie Redlich sie beschrieb: »Diese Schöpfung Maria Theresias, die habsburgische Monarchie und in ihr der österreichische Staat, ist naturgemäß zum allergrößten Teile ein Werk der politischen und allgemeinen Kultur des deutschen Stammes in Österreich gewesen, und diese Schöpfung hat daher auch von vorneherein durchaus deutschen Charakter an sich getragen. Mitglieder des hohen erbländischen und deutschen Reichsadels und bürgerliche, gelehrte Beamte deutscher Nationalität bildeten hauptsächlich die Berater und Vollzieher bei dem Werke der Kaiserin. Doch Sprachen und Gewohnheiten der nichtdeutschen Völker innerhalb der Monarchie wurden möglichst geschont: wichtige Gesetze und Verordnungen wurden nicht nur in der deutschen Sprache, sondern auch in den Landessprachen veröffentlicht. Aber politisches Wissen, allgemeine Kultur und gelehrte Bildung konnten damals in Österreich nur in deutscher Sprache vermittelt werden; das Deutsche war die Sprache fast des gesamten Bürgertums auch in den Städten der slawischen Länder und Ungarns … Nur in den erbuntertänigen Massen der Bauernschaft lebten in Österreich west- und südslawische Sprachen, in Ungarn nebst der magyarischen die slowakische, die serbokroatische und die rumänische Sprache als ausschließliche Volksidiome fort. So wurde die neue staatliche Verwaltung, diese Schöpfung der Kaiserin Maria Theresia, trotz ihres durchaus deutschen Charakters von den Massen um so weniger als ein Unrecht empfunden, als ja die Tätigkeit der neuen Behörden zum größten Teil Erleichterung, Schutz und Förderung der mittleren und unteren Schichten der Bevölkerung zur Aufgabe hatte.«121
In der Tat verwendete die Verwaltung unter Maria Theresia die deutsche Sprache für ihren Verkehr im Innern, mit Ausnahme von Ungarn, wo die Amtssprache lateinisch blieb. Doch hatte dies keine nationalistischen Hintergründe, sondern war Ausdruck einer pragmatischen Anpassung an die sozialen Strukturen der Habsburgerländer. Vor ihrer Zeit waren schon französisch oder italienisch in obersten Regierungskreisen verwendet worden. Unter Maria Theresia wurde die Sprachenfrage in erster Linie nach aufklärerischen Gesichtspunkten der Utilität behandelt. Diese Gesichtspunkte galten für die Erblande ebenso wie für Böhmen, Galizien oder die Bukowina.
Unter der hektischen Regierung Josephs II, dem Nachfolger Maria Theresias, der seinem großen Vorbild, Friedrich II. von Preußen nacheiferte, änderten sich die Verhältnisse, denn als dieser aus Zweckmäßigkeitsgründen durch sein Sprachdekret im Jahr 1784 den öffentlichen ungarischen Beamten auferlegte, innerhalb von drei Jahren Deutsch als Amtssprache zu verwenden, regte sich der erste national motivierte Widerstand bei den Magyaren. Man muss dabei bedenken, dass Deutsch das bisher gebräuchliche Latein als Amtssprache ersetzen sollte und dass vertrauliche Mitteilungen auf der höchsten Regierungsebene zwischen Wien, Buda und Pressburg während der ganzen Reformperiode (1740-1792) auf deutsch oder französisch erfolgten, ohne dass diese Praxis Widerspruch hervorgerufen hätte.122
Josef, der durch sein Toleranzpatent von 1781 verdeutlicht hatte, dass er Minderheiten nationaler oder religiöser Zugehörigkeit in seinem Reich gleich behandeln und Diskriminierung Einzelner aufgrund seiner Überzeugung von der Gleichheit aller Untertanen vor dem Gesetz nicht dulden wollte, sah in der Einführung einer einheitlichen Sprache im Gesamtreich, aufklärerisch gesinnt, wie er war, ein Gebot der Zweckmäßigkeit. Josef II, von dem das Wort stammt »Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein«, war der Überzeugung, die deutsche Sprache in Verwaltung und Unterricht könne seinen Untertanen am besten dienen, gleichgültig welcher Nationalität sie angehörten. Diese Überzeugung stützte sich nicht allein auf die Tatsache, dass die deutsche Sprache in den Kreisen der Gebildeten neben der lateinischen am weitesten verbreitet war, sondern auch auf die Ansicht, die deutsche Kultur sei jeder anderen überlegen. Trotz seines lebhaften Interesses für die slawische und magyarische Kultur und seiner Förderung der beginnenden slawischen Renaissance waren seine Kenntnisse dieser Kulturen gering. Dazu Redlich: »Das Erwachen des magyarischen Nationalgefühls als solchen, und damit des magyarischen Sprachbewusstseins im ungarischen Adel neben dem schon immer bei ihm vorhandenen trotzigen Selbstgefühl, zähen staatsrechtlichen Unabhängigkeitssinn und tiefen Misstrauen gegen »Wien und das deutsche Ausland« gehen auf die Politik Josephs II. unmittelbar zurück.«123
Josef glaubte, gemäß dem absolutistischen Grundsatz »alles für das Volk, nichts durch das Volk«, durch die Vereinfachung der Verwaltung das Wohl des Volkes zu befördern. Er war sich der Möglichkeit eines Widerstandes der Magyaren, Kroaten und Rumänen bewusst, unterschätzte aber dessen Tragweite.
Die überragende Bedeutung Josef II. für die Geschichte Habsburgs kann daraus ermessen werden, dass noch im späten 19. Jahrhundert sich die unterschiedlichsten gesellschaftlichen Gruppierungen auf ihn beriefen und ihn verehrten. Die Deutschnationalen sahen in ihm den »Germanisator«, dem es – zumindest vorübergehend – gelungen war, die deutsche Staatssprache im Vielvölkerstaat einzuführen, ein Ziel, wofür sie bis zum Zusammenbruch des Habsburgerreiches 1918 vergebens kämpften. Josef machte nicht nur aus dem Hofburgtheater, das bisher französische Autoren bevorzugte, ein deutsches Nationaltheater, er unterstützte auch Mozart zuungunsten der italienischen Oper. Die Liberalen wiederum sahen in Josef II. den großen Erneuerer, der Kirche und Adel in die Schranken wies und die Zensur der Presse lockerte. Protestanten und Juden verehrten ihn, weil er ihnen durch sein Toleranzpatent Freiheit der religiösen Betätigung gesichert hatte. Die Bauern und die besitzlose Bevölkerung sahen in ihm den Volkskaiser, der die Leibeigenschaft aufgehoben hatte und als »pflügender Kaiser« den Bauernstand ehrte.124
Kann kommentiert Redlichs Ausführungen: »Die Kräfte, die Österreich zu einem deutschen, oder, besser gesagt, zu einem deutsch gelenkten Staat machten, waren nun gewiss alles eher als nationalistisch … In jedem Falle aber beruhte die evident führende Stellung der deutschen Kulturgemeinschaft auf solch festen Grundlagen, dass es völlig überflüssig erschien, sich auf zusätzliche Argumente eines Nationalismus historisch traditioneller Natur zu berufen, wie sie die schon aufstrebenden nationalen Bewegungen anderer Volksgruppen im Schilde zu führen pflegten.«125
Das Sprachdekret Josef II. rief in Ungarn eine Welle von Widerstand gegen deutsche Sitten und Einrichtungen hervor, die sich mit dem aufflammenden Nationalismus verband. Gebildete Ungarn begannen, sich des Magyarischen und nicht mehr des Deutschen, Französischen oder Lateinischen zu bedienen. Nicht nur in den Städten, die den Mittelpunkt des Widerstands bildeten, auch auf dem Land zeigte sich die Ablehnung. Hier verband sie sich mit dem Unverständnis anderer Reformen: der Umwandlung der bisherigen persönlichen Frondienste, die die Bauern ihren Grundherren leisten mussten, in Geldzahlungen. Ebenso erregten die neue Form der Truppenaushebung und die Beschlagnahme von Getreide für die Armee in den folgenden Jahren den Unwillen der Landbevölkerung. Auch wenn die josefinischen Reformen ihre positiven Aspekte besaßen, gingen diese doch in der Welle der Ablehnung gegen die deutschen Reformer unter. Kurz vor seinem Tod (1790) widerrief Josef II. nach sechs Jahren die Durchführung seines Sprachdekrets.
Die Deutschen fühlten sich mit historisch bedingter Selbstverständlichkeit im Habsburgerreich als führende Volksgruppe und als Staatsnation: an dieser Überzeugung hielten manche auch fest, als diese durch den Widerstand der anderen Ethnien in Frage gestellt wurde und sich als unzeitgemäß zu erweisen begann. Redlich zu dieser Entwicklung: »Als … die Revolution die gewaltige Kraft des nationalen Gedankens bei allen nichtdeutschen Völkern förmlich vulkanisch ans Licht brachte, standen die Deutschen Österreichs den übrigen Völkern fremd und ihrem nationalen Drang verständnislos gegenüber, obgleich sie selbst gerade auch jetzt ihr altes kulturelles Nationalgefühl kraftvoll ins Politische zu wenden begannen: ja vielleicht gerade deshalb empfanden sie die gleiche Erscheinung bei anderen Völkern und vor allem bei den Slawen als eine ihnen gegnerische, sie bedrohende Macht … Mochte auch der bürgerlichen Klasse der Deutschen Österreichs und ihrer jungen politischen »Ideenwelt« dieser »Staat« wegen seines absolutistischen Charakters mehr und mehr aufs schärfste widersprechen, so versöhnte sie doch nur allzubald mit ihm die Vorstellung, dass die Obrigkeit für sie einen nationalen Besitz, den Ausdruck ihrer alten volklichen Herrenstellung in diesem Reiche bedeutete.«126
118) Vgl. Adam Wandruszka und Peter Urbanitsch (Hrsg.), Die Habsburgermonarchie 1848-1918, Band III,
Die Völker des Reiches, 1. Tb., Wien 1980, S. 191 f.
119) Ebd, S. 196.
120) Zitiert nach Kann, Das Nationalitätenproblem …, S.57.
121) Josef Redlich, Das österreichische Staatsund Reichsproblem I, Teil I, S. 37 f.
122) Kann, Habsburgerreich, S. 553, Anm. 43)
123) Zitiert nach Kann, Das Nationalitätenproblem …, 59.
124) Vgl. Hamann, Hitlers Wien, S. 162 f.
125) Kann, Das Nationalitätenproblem …, a.a.O., S. 59
126) Zitiert nach Kann, Das Nationalitätenproblem …, S. 61.
Das Erwachen des slawischen Nationalbewusstseins
In vielen Gebieten Österreichs, in denen Deutsche neben anderen Nationalitäten lebten, war vor der Revolution von 1848 das nationale Bewusstsein dieser Volksgruppen nicht besonders entwickelt.
In den alten Ländern der Wenzelskrone Böhmen, Mähren und Schlesien bekannten sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts unterschiedliche Anteile der Bevölkerung gegenüber der deutschen zur tschechischen Sprache: in Böhmen ca. 61%, in Mähren ca. 72%, in Schlesien ca. 20%. In Mähren, das von einer weitgehend bäuerlichen Bevölkerung bewohnt wurde, herrschte, trotz der Überzahl der eine slawische Sprache sprechenden Bevölkerungsanteile, ein regionales oder vornationales Bewusstsein, das viel österreichfreundlicher war, als in Böhmen, das sich insbesondere nach dem österreichisch-ungarischen Ausgleich von 1867 zur Hochburg des tschechischen Nationalismus entwickelte, weil sich die Tschechen durch den Ausgleich zurückgesetzt fühlten. Nach Kann konnte »die Überlegenheit des deutschen Staatsvolkes, dessen Interessen mit dem Wirken und den Zielen der Zentralregierung weitgehend identifiziert waren«, selbst durch die zahlenmäßige Überlegenheit von Nichtdeutschen »nicht ernstlich gefährdet werden.« Diese Situation war nach Kanns Darstellung in den Beziehungen zwischen den Deutschen und den südslawischen Völkern, insbesondere den Slowenen, die in den südlichen Alpenländern Steiermark, Kärnten und Krain lebten, gegeben. Diesen kaum nationalbewussten Slawen standen indes andere gegenüber, die, wie die Böhmen und nicht-slawischen Magyaren sich auf eine lange Geschichte jener historisch-politischen Individualitäten (Wenzelskrone und Stephanskrone) berufen konnten, als deren Traditionsträger sie sich betrachteten. Der politische Nationalismus der Deutschen in Österreich wurde durch die nationalen Bestrebungen der »böhmischen« (tschechischen) Böhmen hervorgerufen, die sich von der Vorherrschaft der Deutschen befreien wollten. Dieser Emanzipationswille zwang die Deutschböhmen dazu, sich auf ihren eigenen nationalen Besitzstand zu besinnen. Kann tadelt die Deutschen wegen ihrer hartnäckigen Weigerung, in der Nationalitätenfrage als Gleiche unter Gleichen aufzutreten, aber gleichzeitig betont er, der Nationalismus sei den Deutschen von anderen aufgedrängt worden: es sei doch richtig, dass die Deutschen in Österreich durch die unwiderstehliche Gewalt eines bei den anderen Nationalitäten, vor allem bei den Tschechen, entstehenden Nationalismus in den nationalen Kampf hineingezogen wurden. Dieser Kurs sei ihnen mehr oder minder aufgezwungen worden. Die Hauptschuld der Deutschen sieht Kann nicht in ihrem Einschwenken in die nationalistische Auseinandersetzung, sondern in ihrer fehlenden Bereitschaft oder ihrer glatten Weigerung, die Wirkung ihrer Doppelstellung als Staatsnation und nationale Partei auf die andersnationale Umwelt zur Kenntnis zu nehmen.127
Noch in der Zeit des Vormärz (1835-1848) gab es in Österreich keinen radikalen Nationalismus, die besonderen Interessen aller anderen Nationalitäten wurden zu einem erheblichen Teil durch die deutschen Träger von Politik und Kultur mitvertreten. Während noch Herder und Schlözer aus ihrer humanitären, kosmopolitischen Grundhaltung von der Gleichrangigkeit aller Völker ausgingen, wurde dieser aufklärerisch-romantische Geist im Verlauf des 19. Jahrhunderts in Österreich immer mehr von realpolitischen Interessen verdrängt, der Herdersche Gedanke von der Gleichwertigkeit der kulturellen Leistungen aller Völker und Ethnien wurde unter dem Einfluss des liberalen Staatsverständnisses, in den politischen der Identität von Staat und Volk übersetzt. Manche Angehörigen der politischen Klasse des Habsburgerreiches erkannten die Anzeichen der nationalistischen Wende frühzeitig. Der gemäßigte liberale Deutschböhme Franz Schuselka (1811-1886), der wesentlich an der Ausarbeitung der revolutionären Kremsier Verfassung von 1848/49 beteiligt war, sah von Anfang an die Bedeutung des Nationalitätenproblems, ohne jedoch den deutschen Charakter des Kaiserreichs in Zweifel zu ziehen: »Das Kaisertum Österreich kann als solches nur deutsch sein, jede andere Richtung ist Abweichung vom historischen Ursprung und Verlust des einzig möglichen Zieles und Zwecks.« Über Böhmen, sein eigenes Vaterland, meinte er: »Die Bildung Böhmens ist deutsch, und es gibt keine andere in diesem Lande, dies ist aber nicht erst seit gestern, sondern seit tausend Jahren der Fall.«128
Das politische und kulturelle Niveau der Slawen, als deren aussichtsreichste Gruppe er die Tschechen betrachtete, schien ihm niedriger zu sein als das der anderen europäischen Völker, weil die Slawen, die ihrer überwältigenden Mehrheit nach Bauern waren, kein Bürgertum besaßen, um das sich eine Nation kristallisieren konnte.
Kann meint zu Schuselkas Vorstellungen: »Schuselkas Vorhersage, dass eine Herrschaft der Magyaren in Ungarn unmöglich sei, erwies sich im Lauf der Ereignisse als unrichtig. Vom Standpunkt des Jahres 1847 aus gesehen, hatte seine Behauptung jedoch einige Berechtigung. Die meisten Nicht-Magyaren würden ihm heute beipflichten, dass ein Hindernis – wenn nicht das größte – für die Lösung der nationalen Frage Österreichs die tyrannische und halsstarrige Politik der Magyaren gegenüber den anderen Nationalitäten Ungarns war.«129
Blickt man auf die reale historische Situation im Habsburgerreich, kann man nicht umhin, zu konstatieren, dass die Vertreter der deutschen Sprache und Kultur das Vielvölkerreich dominierten. Gäbe es keine sprechenden Tatsachen, könnte sogar ein indirekter Beweis aus dem Vorhandensein der slawischen Erweckungsbewegung geführt werden: denn wozu hätte es einer Erweckungsbewegung und eines Kampfes für die nationale Selbstbestimmung bedurft, wenn die einzelnen slawischen Völkerschaften bereits auf derselben politischen und kulturellen Höhe gestanden hätten, wie die deutschsprachigen Vertreter der habsburgischen Herrschaft? Nicht zuletzt die Zeugnisse der Apostel des Slawismus sprechen diesbezüglich eine beredte Sprache, verbindet sich doch ihr Plädoyer für die Erweckung der slawischen Nation aus ihrer »Geschichtslosigkeit« meist mit der wortreichen Klage über deren desolate kulturelle und soziale Verfassung oder besser, den gänzlichen Mangel einer solchen. Diese beiden Motive der slawischen Erweckungsprophetie, die den Hauptmotiven der alttestamentlichen Prophetie: Klage über das gegenwärtige Elend des jüdischen Volkes im babylonischen Exil und Verheißung einer glorreichen Zukunft durch Rückbesinnung auf die Ursprünge nachgebildet sind, kehren in vielen Werkbiographien slawischer Erneuerer wieder.
Diese Kombination von gedanklichen Motiven, die zugleich politisch gemeint war, tritt bereits beim ersten Apostel des Panslawismus, dem kroatischen Priester Jurij Krisanic auf, der im 17. Jahrhundert als Jesuit für die Bekehrung der Ruthenen zum Katholizismus wirkte. In seinem Werk Politik Russlands, das er 1659 dem Zaren Alexej in Moskau überreichte, schrieb er, von den sechs Zweigen des slawischen Völkerstammes hätten allein die Russen ihre nationale Unabhängigkeit bewahrt. Deswegen sei es die Aufgabe des Zaren, als des einzigen slawischen Herrschers, die Niedergedrückten zu befreien und sie unter seinem Zepter zu vereinigen. Die Donauslawen, Bulgaren, Serben und Kroaten bedürften, so fährt Krischanitsch fort, in ihrem tiefen Verfall der rettenden Hand des Zaren. Auch wenn der Zar nicht imstande sei, ihre einstigen selbständigen Reiche wieder herzustellen, so könne er doch etwas für die Verbesserung ihrer Sprache tun und sie durch gute Bücher aus ihrem sittlichen Tiefstand herausreißen, damit sie wieder zum Gefühl ihrer Menschenwürde erwachten und daran denken könnten, sich zu erheben. Die vereinigten Slawen müssten sich den Türken und den Deutschen entgegenstellen. Auch das ungeheure Übel der Unwissenheit und Roheit, an dem das russische Volk kranke, müsse durch Unterricht und Verbreitung von Kenntnissen geheilt werden. Schwärmerisch rief er den Zaren als Vater der slawischen Nation an: »O Kaiser, Du hältst in Deiner Hand Mosis Wunderstab und vermagst mit ihm Wunder zu wirken; Du bist unumschränkter Selbstherrscher und findest deshalb bei Deinen Untertanen vollkommenen Gehorsam. Mit Hilfe Gottes kannst Du nicht nur Dein eigenes Reich, sondern auch die gesamte slawische Art aufklären und verherrlichen und Dir ihren dauernden Segen erwerben. Zu Dir allein, glorreicher Kaiser, schaut die ganze slawische Nation empor …«130
In seiner für die Erweckung des Slawismus überaus bedeutenden Schrift über die literarische Wechselseitigkeit zwischen den verschiedenen Stämmen und Mundarten der slawischen Nation von 1837 klagte Kollar: »Die Slawen sind Riesen in der Geographie und auf der Landkarte, aber Zwerge in der Kunst und Literatur.« Diese Einschätzung der kulturellen Leistungen der Slawen hinderte ihn aber nicht daran, in seinem Werk Die Tochter der Slawa von einem bevorstehenden glorreichen Aufgang des Slawenvolkes zu sprechen: »Sein ist der Morgen, bei den Deutschen herrscht eben voller Tag, die Engländer feiern schon den Mittag, die Franzosen die Vesper, die Italiener sind schon am Abend angelangt und bei den Spaniern ist es Nacht.«131
Was die Niveaudifferenz der Kulturen anbetrifft, so spricht nicht nur die deutsche oder österreichische Historiographie vom kulturellen und zivilisatorisch-technischen Entwicklungsvorsprung der Deutschen im Habsburgerreich. In Übereinstimmung mit dem amerikanischen Historiker Robert A. Kann schreibt der französische Kulturwissenschaftler Roger Portal 1979 über die tschechische Wiedergeburt im 19. Jahrhundert:
»Die tschechische Wiedergeburt, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein »heroisches Zeitalter« (Denis) erlebt hatte, … hat als Hintergrund jene Bewegung zurück zu den Quellen, dieselbe Freude an Folklore, an der Erforschung der Volkscharaktere und ihres Lebens, wie man sie auch im übrigen Europa zu Ende des 18. Jahrhunderts überall beobachten kann.
Die Wiedergeburt ging von einer Gruppe von deutschen und tschechischen Gelehrten aus, die deutsch sprachen und der deutschen Kultur angehörten und denen sich Universitätsprofessoren, Priester und gebildete Adlige anschlossen, um nun die tschechische Geschichte ohne nationale Voreingenommenheit zu erforschen.
… Der Einfluss Herders und der Romantik, die überall in Brauchtum und Sprache die unsterbliche Seele des Volkes aufzuspüren suchte, sowie der Einfluss der Enzyklopädisten des 18. Jahrhunderts, die jeder Art von Unterdrückung und Intoleranz feind waren, kamen in jener Bewegung wieder zum Vorschein; ihre größte Kraft jedoch schöpfte sie aus der Erinnerung an die kämpferische Vergangenheit, in der das tschechische Volk sein Selbstbewusstsein gewonnen hatte. … Nach 1820 tauchen die großen Namen der tschechischen Nationalisten auf. Der Historiker Frantisek Palacky (1798 bis 1876) hat, nach einem Wort von Denis, die tschechische Wiedergeburt beherrscht und zusammengefasst … Er wollte die Regierung der Tschechen auf den Adel und die reichsten Volksgruppen (man hat ihn mit Guizot verglichen) gründen und nahm dabei die Unterstützung der am stärksten germanisierten Kräfte in Anspruch, die mit geringen Ausnahmen dem nationalen Ideal am wenigsten verbunden waren. … Diese Epoche erlebte noch keinen Zusammenstoß zwischen Tschechen und Deutschen. Gelehrte und Schriftsteller gaben sich einer leidenschaftlichen Suche hin nach allem, was die slawische Vergangenheit betraf, eine idealisierte Vergangenheit, in der die Wahrheit mit Legenden durchsetzt war … Freilich waren diese Anfänge des nationalen Kampfes nur von einer Minderheit getragen, die aus dem von deutscher Kultur geprägten Bürgertum hervorgegangen war. … Aber sehr schnell kam es dazu, dass die erneute Kenntnis der historischen Vergangenheit und die Restauration der Sprache einen latenten Patriotismus erweckte, der die nationalen Werte verteidigen wollte und bald auch die Rechte einer unterworfenen Nation gegen den Siegerstaat.«132
Ganz ähnlich sieht diese Entwicklung auch Robert A. Kann. Er schreibt über die tschechische Wiedererweckung: »Im Grunde verfolgten die Wiedererwecker der Sprache, Geschichte und Tradition des tschechischen Volkes nur aufmerksam einen Kurs, der sich aus den sich allmählich herauskristallisierenden Forderungen ihres Volkes ergab, und zwar Paul Safarik (17951817), Joseph Dobrovsky (1753-1829) und Joseph Jungmann (1773-1847) von der Philologie und Franz Palacky (1798-1876) von der Geschichte her. …
Zwar verdankten sie selbst den bahnbrechenden literarisch-historischen Werken von Deutschen wie August Ludwig von Schlözer (1735-1809) und vor allem Johann Gottfried Herders (1744-1803) Ideen zur Geschichte der Menschheit in bezug auf deren Reichtum an Ideen im allgemeinen und Herders Voraussicht einer ruhmreichen Zukunft der Slawen im besonderen sehr viel. Die ungeheure Wirkung von Herders Gedanken über die Entstehung des humanitären und liberalen Nationalismus sowie der gesamte Einfluss der deutschen historischen Schule Savignys und der deutschen und französischen Romantik äußerten sich jedoch nur im Bereich von Ideen, die in einem komplizierten geistigen Prozess und von weniger bedeutenden Nachfolgern auf das Gebiet der Politik übertragen wurden.«133
Die von Portal und Kann angedeuteten geistigen Abstammungslinien der slawischen Erweckungsbewegung wurden vom Historiker des Panslawismus, Alfred Fischel, scharf herausgearbeitet. Es ist klar, dass Fischel von einer deutschen Kultur spricht, die auch Steiner meinte, wenn er vom deutschen Geist sprach. Diesem Geist sollten die Tschechen keine »Knüppel zwischen die Beine werfen«: zu diesem Geist sollten sich die Slawen nach Steiners Ansicht erst erheben, nachdem einige Angehörige des deutschen Volkes sich bereits zu ihm erhoben hatten, zu denen auch die Slawen aufschauten, statt zu dem Geist aufzuschauen, zu dem jene aufschauten. Die Slawen sollten sich zum Geist erheben, zu dem einige Deutsche sich erhoben hatten, indem sie das Denken zu einem spirituellen Erkenntnisorgan umgestalteten, wie Goethe oder Hegel. Die Slawen sahen aber statt zu diesem Geist zu den Deutschen auf und mussten sich von ihnen emanzipieren, um zum nationalen Selbstbewusstsein zu gelangen. Das war ein Aspekt der Tragik des mitteleuropäischen Geistes. Ein anderer Aspekt dieser mitteleuropäischen Tragik bestand für Steiner darin, dass das Volk, das die abendländische Geistesentwicklung von der Philosophie zur Spiritualität geführt hatte, bereits in den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts nach seiner Überzeugung weitgehend in die Dekadenz verfallen war und die Fähigkeit verloren hatte, sich zu jenem Geist zu erheben. Seine Anrufungen des deutschen Geistes sind daher als Beschwörungen einer Kulturform zu verstehen, deren sich die Angesprochenen erinnern sollten, um sie wieder ins Leben zu rufen. Er rief aber nicht nur die Deutschen auf, sich diesem Geist zuzuwenden, der natürlich kein nationaler, sondern ein allgemeiner Menschheitsgeist war und ist, sondern alle Völker. Steiner sah in diesem Geist die Möglichkeit der übernationalen Friedensstiftung, die Möglichkeit der Versöhnung demokratischer Ideale und individueller Freiheitsrechte. Den staatlichen Organismus so einzurichten, dass in dessen Einrichtung sowohl der Charakter des jeweiligen Volkes oder der jeweiligen Volksgruppen zum Ausdruck kam, die ihn bildeten, als auch die Reichtümer, die aus der individuellen Selbstbestimmung der freien Geister hervorgingen, das war sein Ideal. Kollektivismen aller Art: Volkskollektivismen, Rassenkollektivismen, Sprachkollektivismen, wissenschaftliche und religiöse Kollektivismen standen der Verwirklichung dieses Ideals entgegen und tun es noch. Steiner als Vertreter eines wie auch immer gearteten Kollektivismus misszuverstehen, zeugt nicht nur von vollständiger Ignoranz, sondern geradezu von Böswilligkeit.
Die sogenannte slawische Wiedergeburt, die besser als Erwachen des Nationalbewusstseins der verschiedenen slawischen Völkerschaften bezeichnet wird, nahm das ganze 19. Jahrhundert in Anspruch und kam erst im 20. durch die Auflösung der alten europäischen Ordnung zu einem vorläufigen Abschluss. Der mit der Wiedergeburt zusammenhängende Nationalismus sollte nach dem Zusammenbruch des Ostblocks und des totalitär verordneten sozialistischen Völkerfriedens in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts heftiger ausbrechen als jemals zuvor und ist bis heute nicht wirklich überwunden. Noch 1830 beklagte sich Kollar über das fehlende Gemeinschaftsbewusstsein unter den verschiedenen slawischen Stämmen und meinte, der Serbe glaube eher, der Tscheche sei einem Hottentotten näher verwandt als ihm, während der Tscheche den Moskal für einen Abkömmling der mongolischen Rasse halte.134
Die Wurzeln der slawischen Wiedergeburt reichen bis in das ausgehende 18. Jahrhundert zurück. Die englische, französische und deutsche Aufklärungsphilosophie hatten die Ideale der Freiheit, Gleichheit und Humanität formuliert. Die Physiokraten hatten Grund und Boden als Quell des wirtschaftlichen Reichtums interpretiert und verlangten die Aufhebung der wirtschaftlichen Bedrückung der in Leibeigenschaft und unter steuerlichen Lasten darbenden Bevölkerung.
Rousseau hatte das Bewusstsein von der Bedeutung des mütterlichen Einflusses auf die menschliche Geistesbildung erweckt und die Macht der Sprache, des Gefühls und der Natur gegen die Überbewertung des Rationalismus ins Feld geführt. Die theresianischen und josefinischen Reformen zielten darauf ab, das alte Ständesystem zu überwinden und das Habsburgerreich in ein straff organisiertes, zentralisiertes Staatsgebilde umzuformen. Die Abschaffung der Leibeigenschaft und der Patrimonialgerichtsbarkeit sowie die Einführung staatlicher Elementarschulen unter Maria Theresia zielten auf diese Modernisierung und die Hebung des Bildungsniveaus in der Gesamtbevölkerung ab.
Das stürmische Tempo der Reformen unter Josef II. rief in der nichtdeutschen Bevölkerung zum Teil heftigen Widerstand hervor. Unter dem Einfluss der französischen Revolution, in der ein Volk sich zum Träger des Staates erklärt, und die bisherigen Inhaber der politischen Macht als Usurpatoren des volonté générale demaskiert hatte, wandelte sich auch in der slawischen Welt das vornationale Bewusstsein in ein nationales. In der Besinnung des Slawentums auf seine Ursprünge und seine Einheit machte sich insbesondere der deutsche Einfluss geltend.
Von besonderer Bedeutung waren die Geschichts- und Sprachforschung, die Literatur, Philosophie und Rechtswissenschaft der Deutschen. Die entstehende Geschichtswissenschaft begann sich im 18. Jahrhundert mit den europäischen Partikulargeschichten zu beschäftigen. Aber viel mehr als Sammlungen von Legenden, in denen die Slawen von den Hebräern (Abraham Frenzel, 1693) oder von den Skythen, Kelten oder gar Vandalen hergeleitet wurden, kamen aufgrund des mangelnden kritischen Bewusstseins nicht zustande.
Erst durch die Beschäftigung deutscher Historiker mit der Geschichte des Slawentums in der Mitte des 18. Jahrhunderts begann sich diese Situation zu bessern. Vom Gedanken der Gleichheit von Sprache und Abstammung geleitet, arbeiteten sie die Verwandtschaft der slawischen Völkerschaften heraus. Wegleitend für die slawistischen Forschungen war die Arbeit des Göttingers August Ludwig von Schlözer, der als Vater der slawischen Geschichts- und Sprachwissenschaft gilt. Er wendete die vom Bibelforscher und Orientalisten J. D. Michaelis entwickelte kritische Methode an und vermochte auf diese Weise Legenden von historischen Tatsachen zu scheiden. Schon Michaelis hatte die Tschechen Dobrowsky und Durych auf die Bedeutung der slawischen Bibelübersetzungen aufmerksam gemacht. Schlözer lebte einige Jahre in Russland am Hof Katharina II. und verfasste 1764 eine russische Grammatik. Er wurde zum Professor für Landesgeschichte am akademischen Gymnasium von Petersburg ernannt und veröffentlichte 1768 sein Werk Probe russischer Annalen. Darin wies er auf die Bedeutung einheimischer Geschichtsquellen für eine kritische Historie Russlands hin, und bemängelte die bisherige Behandlung der Staatengeschichte, die den Beitrag der Völker, die sich von den Staaten unterschieden, vernachlässigt habe. In den Russen erkannte er einen Zweig des slawischen Volkes, das bisher noch keinen Historiker gefunden habe, zu dem seiner Auffassung nach auch die Polen, Böhmen, Wenden, Kroaten, Bosnier und Dalmatier gehörten. Die Verwandtschaft der von allen gesprochenen Sprachen galt ihm als Beweis einer gemeinsamen Abstammung. Die meist in Kirchenslawisch verfassten Quellen waren aufgrund fehlender sprachwissenschaftlicher Werke nur schwer auszuwerten, was Schlözer veranlasste, das Forschungsprojekt einer Grammatik aller slawischen Mundarten zu formulieren. Nach dem Vorbild Linnés wollte Schlözer im Geiste des aufklärerischen Systematisierungszwangs ein System der Völker nach Klassen und Ordnungen, Geschlechtern und Arten schaffen, das auf der Vergleichung der jeweiligen Sprachen beruhte, um das Dunkel der Herkunftsgeschichten aufzulichten. In seiner Allgemeinen nordischen Geschichte (1771) nahm er die Verwirklichung dieses Programms in Angriff. Er grenzte die einzelnen Sondergeschichten voneinander ab, unterzog die Fülle des Stoffes einer kritischen Sichtung und entwarf eine systematische Ordnung des »slawischen Völkerstamms«, nach deren Grundriss das System der slawischen Geschichte in Deutschland von Gebhardi, Engel und anderen, aber auch in Polen, Böhmen und Russland ausgearbeitet wurde.
Schlözer war auch der Schöpfer der slawischen Sprachwissenschaft und Völkerkunde. Er schuf aufgrund vergleichender Untersuchungen der Grammatik und des Wortschatzes eine Klassifikation aller slawischen Sprachen, wobei er neun Hauptdialekte unterschied (Russisch, Polnisch, Böhmisch, Polabisch, Windisch, Kroatisch, Bosnisch und Bulgarisch). Schlözers Einteilung blieb, von gewissen umstrittenen Anfechtungen abgesehen, für die slawische Sprachforschung und Geschichte maßgebend. Schlözer entwarf die methodischen Grundlinien für die Ausarbeitung einer vergleichenden Grammatik und eines etymologischen Wörterbuchs aller slawischen Sprachen und forderte im Interesse der Wissenschaften und der Kultur eine Vereinheitlichung der Orthographie der slawischen Dialekte.
Schlözer war nicht nur ein trockener Philologe, sondern auch ein begeisterter, ja schwärmerischer Bewunderer des Slawentums. Voller Enthusiasmus schrieb er: »Kaum hat je ein Volk der Welt seine Herrschaft oder Sprache weiter ausgebreitet als die Slawen. Von Ragusa am Adriatischen Meer an nordwärts bis an die Ostsee und das Eismeer und ostwärts bis nach Kamtschatka in der Nähe von Japan hin, trifft man überall slawische Völker an.« Die Deutschen, so Schlözer, schrieben erst seit 70 Jahren gebildetes Deutsch, während das Slawische schon seit Jahrhunderten in Hochformen existiert habe. (Schlözer, Nestor II, S. 224) Er bezeichnete die Slawen als europäisches Urvolk und wies die Annahme zurück, sie seien erst mit den Hunnen aus Asien nach Europa gelangt. Die Kriege der Deutschen gegen die Slawen brandmarkte er als imperialistische Eroberungszüge und führte die Missionstätigkeit der Kirchen im ideologiekritischen Geist der Aufklärung auf die Habgier der Geistlichen zurück. Die grenzenlose Bereitschaft Schlözers, sich in seinen Gegenstand zu vertiefen, führte ihn zu einer Identifikation, die ihn geradezu zu einem Apostel des Slawentums werden ließ. Josef Dobrowsky (1753-1829) lernte von Schlözer die »kritische Behandlung der Historie« und Kopitar bezeichnete ihn als »Slawenpatron«.135
Neben Schlözer erfuhr die Entwicklung der slawischen Sprachwissenschaft entscheidende Förderung durch die Arbeit des Grammatikers und Lexikographen Johann Christoph Adelung. Nach dem Vorbild seines Wörterbuchs der hochdeutschen Mundart (1774-1786) schuf Linde ein polnisches und Josef Jungmann (1773-1847) ein tschechisches Wörterbuch. Dobrowsky lehnte sich bei der Ausarbeitung seines Lehrgebäudes der böhmischen Sprache an das Lehrgebäude der deutschen Sprache von Adelung an. Dobrowsky betrachtete Tschechisch als seine Muttersprache, beherrschte es aber nur mangelhaft. Seine altslawische Grammatik verfasste er auf lateinisch, seine Geschichte der böhmischen Sprache und Literatur auf deutsch. Jungmann wirkte neben seiner sprachwissenschaftlichen Tätigkeit als Übersetzer von Werken Miltons, Popes, Goethes und Chateaubriands ins Tschechische. Dobrowsky und Jungmann waren, neben Pavel Josef Safarik (1795-1861) und Frantisek Palacky (1798-1876), zwei der großen Slawisten der tschechischen Erweckungsbewegung.
Außerordentlich anregend wirkte die Deutsche Grammatik (1819) Jakob Grimms auf die Slawistik, dessen Eintreten für die Reformen Vuk Karadzcics und die südslawische Spracheinheit auch für die Entwicklung des slawischen Nationalbewusstseins von großer Bedeutung war. Wendel schreibt über die Bedeutung der deutschen Kultur für die serbische Erweckung 1925:
»So viel Schaden der Entfaltung des Serbentums durch die Berührung mit dem habsburgischen Ungeist erwuchs, so viel Nutzen erblühte ihr aus der Berührung mit dem deutschen Geist. Beredt und laut sprach die Poesie Schillers, die Philosophie Hegels auch zu den Serben. Joakim Vujic, der seine Autobiographie in Pest auf Deutsch herausgab, wandte Stücke von Eckarthausen und Kotzebue ins Serbische. Jovan Hadzic übersetzte Lessings Nathan, und in serbischer Übertragung erschienen nicht nur Wieland und Klopstock, Herder und Bürger, Goethe und Schiller, sondern auch Knigges Umgang mit Menschen und Hufelands Makrobiotik. Lukijan Musicki war in den deutschen Dichtern und Denkern wohl beschlagen, Milan Vidakovic bot einen Abklatsch der deutschen Ritterromane, Djordje Maletic atmete nur in der idealistischen Gedankenwelt Schillers, Jovan Stejic war ein Schüler der Schüler Kants, Sima Milutinovic, der seine Srbianka und anderes in Leipzig drucken ließ, lernte Uhland und Jakob Grimm, vielleicht auch Goethe von Angesicht zu Angesicht kennen, und da Jovan Sterija Popovic, dessen »Roman ohne Roman« sich eng an Rabener anlehnte, auch ganz im Bann der deutschen Bildung stand, führte er, als Sektionschef im Unterrichtsministerium das Schulwesen einrichtend, Klopstock, Lessing, Herder, Wieland, Schiller, Goethe und Kleist in die Oberklassen des serbischen Gymnasiums ein.«136 Ähnliches gilt für Karadzic und Kopitar. Hierzu noch einmal Wendel: »Stand aber Kopitar wie die anderen geistigen Erwecker des Slawentums an des Jahrhunderts Beginn tief im Schatten der deutschen Romantik, so sah sich Vuk bald noch unmittelbarer in den deutschen Bildungskreis gezogen; der als Dreißigjähriger 1817 eine Wienerin heimführte, trat Jakob Grimm sehr nahe, der auch von Musicki als »wackerer, tapferer, ausgezeichneter Serbophile« gepriesen, ihm ein unschätzbarer Mitarbeiter wurde, saß Goethe in Weimar verehrend gegenüber, versah Ranke mit Stoff für seine 1829 erscheinende »Serbische Revolution« und tat sich verschiedentlich in deutschen Städten wie Leipzig, Halle, Kassel, Göttingen und Berlin um. Dem Fuß, der gewohnt war, auf den Straßen des Abendlandes rüstig auszuschreiten, boten die Pfade der Heimat fast nur spitze Dornen und scharfe Steine; zwei Versuche Vuks, sich 1820 und 1828 bis 1831 in Serbien niederzulassen, scheiterten an allerhand Ränken und Anfeindungen. Deutschland aber reichte dem Doktor der Jenenser Universität, dem korrespondierenden Mitglied der Göttinger Gelehrtengesellschaft, der thüringisch-sächsischen Gesellschaft für Altertumskunde wie der Berliner Akademie der Wissenschaften mehr als einen grünen Kranz.«137
Was für die Serben gilt, gilt nicht minder für die Kroaten und deren spezifische, südwest-slawische Einigungsbewegung, den sog. Illyrismus. Dazu Wendel: »An den Brüsten der deutschen Romantik war der Illyrismus gesäugt, wenn auch nicht von jedem seiner Köpfe wie von Vukotinovic zu sagen war, dass er kraft deutscher Erziehung seine Vorwürfe deutsch erfasse und durchdenke und dann erst ins Kroatische übertrage. Gaj gab selbst seine berühmte Kroatenhymne erst auf Deutsch als »Wiederbelebung Kroatiens« in Druck; Vraz war mit der deutschen Dichtung ganz auf du und du; Kukuljevic lehnte sich bei seinen Bühnenspielen eng an Körner und Kotzebue an und folgte in seinem »Was ist des Slawen Vaterland?« Wort für Wort dem Liede Arndts; Demetar schrieb, Schillers »Kabale und Liebe« vor sich, den Text zur ersten Oper des ersten illyrischen Komponisten Vatroslav Lisinski; Schiller, Goethe, Seume, Graf Friedrich Stolberg wurden auch sonst mannigfach von illyrischen Poeten wie Trnski, Mihanovic, Antun Necic, Stjepan Marjanovic und Ferdo Rusan nachgedichtet. Sehr oft war die deutsche Bildung ein dicker Wall, durch den sich der nationale Gedanke mühevoll und langsam seinen Weg zum kroatischen Herzen bohren musste.«138
Die slawische Ethnologie (Volkskunde) wurde durch einen Schüler Schlözers, Karl Gottlob Anton begründet, der durch die systematische Erforschung der Sprachen sowie der Sitten und Gebräuche zwei Hauptquellen für die Erkenntnis des slawischen Altertums, der Mythologie und Sittengeschichte erschloss. Dobrowsky bezeichnete Anton als Slawenfreund und gründete auf dessen Anregung hin ein Periodikum für slawische Literatur und Geschichte.
Während die bisher erwähnten Deutschen vor allem auf die wissenschaftliche Beschäftigung mit der slawischen Sprache, Kultur und Geschichte anregend wirkten, erstreckte sich der Einfluss Herders auf das breite gebildete Publikum.139 In seinem geschichtsphilosophischen Entwurf hatte er ein leuchtendes Bild des Slawentums gezeichnet, das ihm den Ehrentitel des »Vaters der slawischen Wiedergeburt« und des »praeceptor Slavorum« eintrug. Von seinem Ideal für die Erziehung des Menschengeschlechts zur Humanität erfüllt, blickte er in Riga voller Bewunderung auf Katharina II. und sah in Russland ein Land voller Aufgangskräfte, während ihn Europa greisenhaft anmutete. Ihn beschäftigte die aus Rousseaus Werk geschöpfte Vorstellung, die »kindlichen«, noch »halbwilden«, von der Zivilisation nicht verderbten Bewohner der weiten Landstriche Russlands zur vollen Menschheitsbildung empor zu führen, und sie zu einem »Originalvolk« zu erheben. Seine Bevorzugung der ursprünglichen, von Kritik und Bildung nicht verfälschten, authentischen Volksdichtung gegenüber der Kunstpoesie ließ ihn den Wert des slawischen Volksliedes erkennen. Er forderte die »Wenden, Slawen, Polen und Russen« dazu auf, ihre Volkslieder als »die lebendigste Grammatik, das beste Wörterbuch und Naturgeschichte ihres Volkes« zu sammeln und in der Ursprache »unverschönt und unveredelt« zu veröffentlichen. In der von ihm herausgegeben Sammlung Stimmen der Völker veröffentlichte er einige Beispiele slawischer Volkspoesie.
Keiner der slawischen Volksstämme ließ diese Anregung Herders auf sich beruhen. Die Beschäftigung mit dem überlieferten Liedgut und den Schätzen der Volksdichtung erschloss den Bemühungen um die Renaissance der slawischen Literaturen nahezu unversiegliche Inspirationsquellen. Seine geschichtsphilosophische Deutung des Slawentums war aber noch von größerer Bedeutung, denn sie würdigte die historische Rolle des Slawentums in bis dahin beispielloser Art. Herder gab seinen slawischen Lesern den Glauben an sich selbst zurück und versah sie mit der Hoffnung auf eine glorreiche Zukunft. Im Kapitel über die Slawischen Völker seiner Ideen zu einer Geschichte der Menschheit (1784) entwarf er ein ideales Bild der slawischen Vergangenheit und Zukunft, das von den slawischen Lesern wie eine Heilsbotschaft aufgenommen wurde. Nach seiner Auffassung waren die Slawen als Kolonisten, Hirten oder Ackerbauern in die von anderen Völkern verlassenen Länder, die sie noch heute bewohnten, eingewandert. Sie beschäftigten sich mit der Landwirtschaft und gaben sich dem Handel mit ihren Erzeugnissen hin. In seinem geschichtlichen Rückblick erschienen sie als friedliebender Menschenschlag, als Verächter des Krieges, als bis zur Verschwendung großzügige Gastgeber, als ihre Freiheit liebende, Räuberei und Plünderungen verachtende Bauern. Diese Eigenschaften machten sie wenig geeignet, fremde Unterdrückung abzuwehren. Eine Reihe von Völkern, insbesondere aber solche vom deutschen Stamm, hätten sich hart an ihnen versündigt. Franken und Sachsen hätten sie unter dem Vorwand der Christianisierung in ganzen Provinzen ausgerottet oder zu Leibeigenen erniedrigt und ihre Ländereien unter Adligen und kirchlichen Potentaten aufgeteilt. Herder verglich gar die Behandlung der slawischen Bevölkerung durch die Germanen mit der Behandlung der Indios durch die Spanier. Die Abneigung der Slawen gegen Kriegführung machte sie gegen die dauernden Einfälle aus dem Westen, aber auch aus dem Osten – etwa durch Tataren – wehrlos. Doch da sich in Europa der Geist der Humanität und des friedlichen Verkehrs zwischen den Völkern immer mehr etabliere, könnten endlich auch die Slawen aus ihrem langen Schlummer erwachen, sich von ihren Sklavenketten befreien, ihre schönen Ländereien als ihr angestammtes Eigentum wieder in Besitz nehmen und ihre alten Feste des Fleißes und des Handels wieder feiern.
Herders Glorifizierung des Slawentums im Gegensatz zu den düsteren Germanen, die stets auf Eroberung und Unterdrückung besonders der Slawen aus waren, hatte zwar wenig mit den geschichtlichen Tatsachen oder mit der sozialen Realität zu tun, entfaltete aber als Geschichtsmythos eine um so größere Wirkung, nicht nur unter den Slawen. Das geschichtlich weitgehend unerforschte, weitverzweigte slawische Volk erschien – ähnlich wie die »edlen Wilden« für Rousseau – besonders als Projektionsfolie für Herders eigene Sympathien gegenüber Demokratie und Humanität geeignet und so wie zeitgenössische französische Autoren je nach politischer Einstellung Herrschaft und Knechtschaft in die Vergangenheit projizierten, und Franken oder Kelten oder Gallier als deren prädestinierte Träger erkannten, übertrug Herder die Struktur der feudalen Gesellschaft und ihre Grundprobleme auf geschichtlich-volkliche Kategorien, indem er die Germanen zu geborenen Herrschern und Eroberern, die Slawen zu Unterdrückten und Geknechteten formte. Die Geschichte konnte dann als Verfallsgeschichte erzählt werden, die mit der Gegenerzählung vom Aufstieg oder der Rückkehr zum Ursprung verwoben war. Allerdings sah Herder im Gegensatz zu manchen späteren Umdeutern dieses geschichtsphilosophischen Topos das Verhältnis der charakterisierten Stämme von einem humanitären, emanzipatorischen Standpunkt aus und bevorzugte deswegen die slawischen Völker gegenüber ihren Unterdrückern. So wie die Germanen früher den Slawen Unterdrückung und Unglück gebracht hatten, sollten sie ihnen nun – durch die allgemeine geistige Entwicklung geläutert – die Botschaft von der Freiheit und Humanität bringen. Noch heute sind westliche Menschenrechtsaktivisten insbesondere gegenüber östlichen autoritären Regimen diesem Topos verhaftet: dass die früheren, aber nun geläuterten Unterdrücker den ehemaligen Opfern die Botschaft der Freiheit und Gleichheit bringen, indem sie zugleich geflissentlich darüber hinwegsehen, dass sie den früheren Eurozentrismus und die Überlegenheitsideologie der westlichen Kulturnationen – nur erfüllt mit anderen Inhalten – reproduzieren. Darüber hinaus ist bemerkenswert, dass auch Herder den Status der Slawen nicht anders sieht, als die deutschösterreichischen Vertreter der herrschenden Klasse im Habsburgerreich, auch wenn sich diese Sicht bei ihm mit einem politisch-emanzipatorischen Sebstbezichtigungsaffekt verbindet.
Nicht minder bedeutend war der Einfluss der Hegelschen und Schellingschen Geschichtsphilosophie auf die Erweckung des slawischen Nationalbewusstseins, spielte darin doch die Vorstellung einer migrierenden Inspiration einzelner Völker durch das eigentliche Subjekt der Geschichte, den Weltgeist, eine entscheidende Rolle. Auch wenn Hegel den slawischen Völkern keine geschichtliche Bedeutung in der Vergangenheit zumaß, ließ seine Auffassung doch eine zukünftige Inspiration dieser Völker, ein Geschichtlich- und Staatlichwerden denkbar erscheinen. Wenn sich die höchste Stufe der Entwicklung eines Volkes in dessen Staatswerdung zeigte, forderte dieser Gedanke die Nationalisierung der slawischen Völker geradezu als geschichtliche Notwendigkeit. Wenn daher Fallmerayer in seiner Geschichte der Halbinsel Morea 1830 davon sprach, die Herrschaft über das menschliche Geschlecht scheine von den lateinischen und germanischen auf die slawischen Völker überzugehen, dann lag dieser Gedanke lediglich in der Konsequenz sowohl der Hegelschen Geschichtsphilosophie als auch ihrer Interpretation durch die Wortführer der slawischen Erweckung.140 Während Schlözer und Herder das Slawentum für die europäische Zivilisation entdeckten und den Gedanken seiner geistigen Einheit schufen, veranlasste Savigny, der Begründer der historischen Rechtsschule, die Slawen dazu, nach den Formen des slawischen Rechtes zu suchen, die adäquater Ausdruck des Geistes des Slawentums sein sollten. Kopitar rief angesichts des Interesses führender deutscher Gelehrter für die slawische Sprache und Kultur entzückt aus: »Wie muss es die Slawen freuen, ihre Sprache von den größten Männern Deutschlands studiert und gelobt zu wissen.«141
Fischel schreibt über die Bedeutung Herders für die slawische Erweckungsbewegung:
»Herder, der Lobredner der Slawen … war der Schöpfer ihrer Kulturphilosophie. Sie sahen den Gang ihrer bisherigen geschichtlichen Entwicklung mit seinen Augen, sie schöpften aus seinen prophetischen Verheißungen die Gewissheit ihrer künftigen hohen Bestimmung; sie empfingen aber aus seinen Händen auch noch das Rüstzeug zur Entwurzelung der positiven Mächte, welche ein Hindernis auf dem Wege zur Erreichung dieser Zukunftsträume waren.«142 Das Rüstzeug, von dem Fischel spricht, war Herders Unterscheidung von Staat und Volk. Nicht in den Staaten, sondern in den Völkern sah Herder die wahren Subjekte der Geschichte. Diese Auffassung war sicherlich auch durch die staatliche Zersplitterung der Deutschen veranlasst, die eine Identifikation mit einer deutschen Staatsnation verunmöglichte. Staaten waren für Herder abstrakte Einheiten, Völker lebendige Gebilde, beseelt von einer gemeinsamen Geschichte, Sprache und Kultur. Wenn das Naturrecht der Aufklärung dem Menschen qua Geburt unveräußerliche Freiheitsrechte zuschrieb, übertrug Herder diesen Gedanken auf die Völker, als die dem Individuum übergeordneten historischen Individualitäten. Das Ideal der Humanität wird im vielstimmigen Chor der Menschheit durch die Entwicklung der Völker zur höchsten Bildungsstufe verwirklicht. Der natürlichste Staat ist für Herder in den Ideen … ein Volk mit einer in sich geschlossenen Nationalität. Dem Zweck des Staates steht nichts mehr entgegen, als dessen unnatürliche Vergrößerung und die »wilde Vermischung« verschiedener Nationen unter einer Herrschaft. Solche Reiche erscheinen ihm als willkürlich zusammengeleimte Staatsmaschinerien ohne inneres Leben und ohne Sympathie der einzelnen Teile zueinander. Diese künstlichen Gebilde können nur mit äußeren Machtmitteln zusammengehalten werden, deren Anwendung aber zugleich ihren Zerfall herbeiführt.
Aufgrund dieser Ansichten verwarf Herder auch jeglichen Sprachzwang in Staaten, die aus mehreren Nationen zusammengesetzt waren. Jedes Volk ist seiner Auffassung nach gleich unmittelbar zu Gott und trägt den Zweck seines Daseins in sich selbst wie jedes organische Wesen. Herrschaft eines Volkes über ein anderes lässt sich vor dieser Überzeugung ebensowenig rechtfertigen, wie die Unterdrückung von Minderheiten im Interesse des Utilitätsprinzips. Deswegen verwarf Herder in seinen Briefen zur Beförderung der Humanität auch das Sprachdekret Josef II. von 1784. Herder trat in seinen Briefen für die Anerkennung der Rechte aller Volkssprachen im Habsburgerreich ein, wenn er schrieb: »Hat wohl ein Volk etwas Lieberes als die Sprache seiner Väter? In ihr wohnt sein ganzer Gedankenreichtum an Tradition, Geschichte, Religion und Grundsätzen des Lebens, alle sein Herz und Seele. Einem solchen Volk seine Sprache nehmen oder herabwürdigen, heißt, ihm sein einziges unsterbliches Eigentum nehmen. Wie Gott alle Sprachen der Welt duldet, so sollte auch ein Regent die verschiedenen Sprachen seiner Völker nicht nur dulden, sondern auch ehren. Die beste Kultur eines Volkes lässt sich durch eine fremde Sprache nicht erzwingen, am schönsten und, ich möchte sagen, einzig gedeihet sie auf dem eigenen Boden der Nation in ihrer ererbten und sich forterbenden Mundart. Mit der Sprache erbeutet man das Herz des Volks und ists ein großer Gedanke, unter so vielen Völkern, Ungarn, Slawen, Wlachen usw. Keime des Wohlseins auf die fernste Zukunft hin ganz in ihrer Denkart auf die ihnen eigenste und beliebteste Weise zu pflanzen?«
Friedrich Schlegel griff 1812 diesen Herderschen Gedanken in seinen Wiener Vorlesungen auf, als er davon sprach, jede bedeutende und selbständige Nation, zu denen er ausdrücklich die polnische und tschechische zählte, besitze ein Recht auf eine eigene und eigentümliche Literatur und wenn er in der Unterdrückung der Sprache eines Volkes oder Landes und ihrem Ausschluss »von aller höheren Geistesbildung« die »ärgste Barbarei« sah. Während Herders Ideen unter den imperialistischen Umwälzungen, die der europäische Kontinent durch Napoleon erlitt, eine realhistorische Uminterpretation und Anwendung auch in der deutschen Einigungsbewegung erfuhren, übertrugen sie die Magyaren, Serben, Tschechen und Kroaten auf ihre eigene realhistorische Situation im Habsburgerreich. Während Herder und die Romantik das Recht der einzelnen Völker auf ihre eigene Sprache und Kultur im Sinne des Menschheitsorganismus im Geiste der Humanität und Toleranz gedacht hatten, wandelten sich diese Ideen immer mehr in ihre nationalistischen, irredentistischen und chauvinistischen Zerrbilder.143 Die führenden slowakischen Repräsentanten der slawischen Erweckung, Safarik und Kollar, saßen in Jena zu Füßen Ludens, Friesens und Okens und Kollar empfing vom Wartburgfest am 18. X. 1817 Eindrücke, die ihn zutiefst aufwühlten. Die Deutschen kämpften in den Befreiungskriegen gegen Napoleon I. Die Slawen schauten ihnen zu und fragten sich, ob sie nicht gegen Deutsche und Magyaren einen ähnlichen Kampf ausfechten mussten.
127) Vgl. Kann, Das Nationalitätenproblem …, S. 63.
128) Schuselka, Österreichs Vor- und Rückschritte, Hamburg 1847, S. 217; zit nach Kann, Das Nationalitätenproblem ….
129) Kann, Das Nationalitätenproblem …, 70.
130) Zitiert nach: Alfred Fischel, Der Panslawismus bis zum Weltkrieg, Stuttgart 1919, S. 20-21.
131) Zitiert nach Fischel, a.a.O., S. 109, 111.
132) Roger Portal, Die Slawen. Von Völkern zu Nationen, Kindlers Kulturgeschichte des Abendlandes, Bd. XX, München 1979, S. 549-553.
133) Kann, Das Nationalitätenproblem …, S. 155-156.
134) Fischel, Panslawismus, a.a.O., S. 26.
135) Fischel, Panslawismus, a.a.O., S. 35.
136) Wendel, Der Kampf der Südslawen um Freiheit und Einheit, S. 179.
137) Ebenda, S. 181. 138) Ebenda, S. 214-215.
139) Vgl. Holm Sundhaußen, Der Einfluss der Herderschen Ideen auf die Nationsbildung bei den Völkern der Habsburger Monarchie, München 1973.
140) Vgl. Fischel, Panslawismus, a.a.O., S. 41.
141) Kopitar, Grammatik der slawischen Sprache in Krain, Kärnten und Steiermark, 1808, S. 438, zitiert nach Fischel, Panslawismus, a.a.O., S. 42.
142) Fischel, a.a.O., S. 45.
143) Zu dieser Umdeutung siehe Sundhaußen, a.a.O., S. 20 f.
Großdeutschland und Kleindeutschland in den Revolutionsjahren
Die revolutionären Bewegungen von 1848/49 verbanden ihre Feindschaft gegen den reaktionären Absolutismus mit nationalistischen Freiheitsmotiven. Am deutlichsten trat diese Verbindung im ungarischen Freiheitskampf zutage, der mit der Kapitulation von Vilagos 1849 sein Ende fand.
Die neuen demokratischen Bewegungen begnügten sich nicht mehr mit der Forderung nach allgemeiner Menschenliebe, die auf ihre Verwirklichung durch aufgeklärte Monarchen hoffte, sondern verstanden Freiheit inzwischen sowohl als Befreiung der Untertanen von der Vorherrschaft des Adels als auch als Befreiung ihrer Nationalität von Fremdherrschaft gleichgültig welcher Art. Mazzini gab diesen neuen Überzeugungen in seinem Buch Foi et avenir 1835 beredt Ausdruck, wenn er im Hinblick auf die Heilige Allianz der Reaktion schrieb: »Wir glauben an die heilige Allianz der Völker, wir glauben an die Freiheit und Gleichheit der Völker, wir glauben an die Nationalität, das Gewissen der Völker, wir glauben an das heilige Vaterland!«
Hauptschauplatz der Revolution von 1848 im Habsburgerreich vom Sturz Metternichs im März bis zur Unterdrückung des Oktoberaufstandes in Wien durch die Truppen Windischgrätz‘ und des Kroaten Jellacic‘ waren die deutschen Gebiete und die Reichshauptstadt. In Frankfurt war im Mai 1848 die Hauptversammlung zusammengetreten. Die österreichischen Abgeordneten nahmen bis zum März 1849 an den Sitzungen teil. Im Zuge der Unterdrückung der Revolution in Österreich durch den Fürsten Schwarzenberg, der auch den österreichischen Reichstag in Kremsier auflöste, wurden sie aus Frankfurt abberufen. Fünf Monate nach der Kapitulation der aufständischen ungarischen Armee restituierte das neo-absolutistische Regime für die folgenden zehn Jahre seine Macht in den Habsburgerländern und wischte die liberalen Ideen beiseite. Die österreichische Revolution fand aber nicht erst durch die Abberufung der Abgeordneten aus Frankfurt ihr Ende, sondern bereits mit der von Marx weiter oben erwähnten Auflösung des Prager Slawenkongresses im Juni 1848 und die nachfolgende Installation der Militärdiktatur durch Windischgrätz. Die Bemühungen der Reichstage von Wien und Kremsier zur Lösung der österreichischen Nationalitätenfragen gingen in der Wiedererrichtung des Absolutismus unter. Frankfurt war 1848 auch das Zentrum der deutschen Einigungsbewegung. Nicht geringen Anteil am Wachsen der Bewegung kam der Reaktion in Österreich, Bayern und Preußen zu. Der Einigungsgedanke gewann im Volk zunehmende Sympathien, erlitt aber durch die Wahl des preußischen Königs zum deutschen Kaiser einen Rückschlag. Während in Frankfurt die Mehrheit des Reichstags Österreich aus dem künftigen deutschen Reich ausschloss, beendigte Windischgrätz in Wien die Revolution. Der Reichsgedanke überlebte, die Revolution verschied.
Schon die Bundesakte von 1815 hatte nur die deutschen Länder Österreichs als Mitglieder des Bundes betrachtet. Seit dem Wiener Kongress gehörte das Habsburgerreich nur mit einem Drittel seiner Länder dem Bund an: die Länder der ungarischen Krone mit Kroatien und Slawonien, Galizien, Istrien, das Lombardo-Venetische Königreich und die Militärgrenze waren ausgeschlossen. Dagegen schlossen die deutsch-österreichischen Länder im Sinne der Bundesakte die deutschen Erbländer, die Länder der entmachteten böhmischen Krone, also die gesamte tschechische und einen großen Teil der slowenischen Bevölkerung Habsburgs ein. Wie auch immer die Frankfurter Versammlung das Problem der Zugehörigkeit zum künftigen deutschen Reich regelte, die Regelung konnte nur der Ausgangspunkt künftiger Konflikte sein. Die Länder der Monarchie wären zwischen der Loyalität gegenüber einem deutschen Bundesstaat und der Krone Habsburgs hin- und hergerissen gewesen. Außerdem bestand die Gefahr, dass die deutschen Länder Österreichs in einem deutschen Bundesstaat durch ihre Verbindung mit den übrigen Gebieten des Habsburgerreiches ein zu großes Gewicht erhalten hätten, was den Interessen Preußens entgegenstand. Die Rivalität zwischen dem aufstrebenden Imperialismus Preußens und der alten Großmacht Habsburgs verhinderte letztlich eine weitsichtige Lösung des politischen Problems. Dennoch bemühte sich der deutsche Liberalismus sowohl auf der deutschen als auch der deutschösterreichischen Seite darum, die nationale Einigung herbeizuführen. Die Auseinandersetzung um die großdeutsche oder kleindeutsche Lösung zeugt von der Fülle sich widersprechender Loyalitäten und nationaler Gefühle, die bei diesen Lösungsversuchen eine Rolle spielten.
Im Oktober 1848 schließlich stimmte die Mehrzahl der Abgeordneten für die Annahme des Entwurfes einer deutschen Verfassung, die in ihren Artikeln 2 und 3 festlegte, dass kein Teil des deutschen Reiches mit nichtdeutschen Ländern zu einem Staat vereinigt sein dürfe (§ 2) und dass ein Staatsoberhaupt, das ein deutsches Land regiere und gleichzeitig ein nichtdeutsches, letzteres nur durch eine Personalunion an sich binden dürfe (§ 3). Beide Paragraphen waren eindeutig als Ablehnung eines österreichischen Beitritts zum großdeutschen Bundesstaat formuliert. Die Annahme dieser Bedingungen wäre einem »politischen Selbstmord« (Kann) des Habsburgerreiches gleichgekommen. Die österreichischen Abgeordneten, die in der entscheidenden Abstimmung gespalten waren, sahen sich hin- und hergerissen zwischen ihren Loyalitätsgefühlen gegenüber ihrer Heimat und dem 600 Jahre alten Herrscherhaus und dem Gefühl der Zugehörigkeit der deutsch-österreichischen Stämme zur deutschen Kulturnation.
Palacky, damals der Wortführer eines gemäßigten tschechischen Nationalismus, der die Beteiligung tschechischer Abgeordneter an der Frankfurter Versammlung ablehnte, erkannte hellsichtig, dass der Anschluss an einen großdeutschen Bund eine Umwandlung des österreichischen Kaiserstaats in einen Bundesstaat gleichberechtigter Völker auf immer verunmöglichen müsste. Palacky, der »Vater der tschechischen Nation« schrieb am 11. April 1848 jenen berühmten Brief an den Frankfurter Fünfzigerausschuss, in dem er sich, trotz seines Einsatzes für die Wiedergeburt der tschechischen Nation, im Interesse der europäischen Humanität für den Erhalt des österreichischen Kaiserstaates aussprach, den er als das einzig verlässliche Bollwerk gegen den imperialen Drang des Zarenreiches nach Westen und Süden betrachtete: »Sie wissen, welche Macht den ganzen großen Osten unseres Welttheils inne hat; Sie wissen, dass diese Macht, schon jetzt zu kolossaler Größe herangewachsen, von Innen heraus mit jedem Jahrzehend in größerem Maße sich stärkt und hebt, als solches in den westlichen Ländern der Fall ist und sein kann; dass sie im Inneren fast unangreifbar und unzugänglich, längst eine drohende Stellung nach Außen genommen hat, und wenn gleich auch im Norden aggressiv, dennoch, vom natürlichen Instinct getrieben, vorzugsweise nach dem Süden zu sich auszubreiten sucht und suchen wird; dass jeder Schritt, den sie auf dieser Bahn noch weiter vorwärts machen könnte, in beschleunigtem Lauf eine neue Universalmonarchie zu erzeugen und herbeizuführen droht, d. i. ein unabsehbares und unnennbares Übel, eine Calamität ohne Maß und Ende, welche ich, ein Slawe an Leib und Seele, im Interesse der Humanität deshalb nicht weniger tief beklagen würde, wenn sie sich auch als eine vorzugsweise slawische ankündigen wollte. Mit demselben Unrecht, wie in Deutschland als Deutschenfeind, werde ich in Russland von Vielen als Russenfeind bezeichnet und angesehen.
Nein, ich sage es laut und offen, ich bin kein Feind der Russen: im Gegentheil, ich verfolge von jeher mit Aufmerksamkeit und freudiger Theilnahme jeden Schritt, den dieses große Volk innerhalb seiner natürlichen Grenzen auf der Bahn der Civilisation vorwärts thut. Da ich jedoch, bei aller heißen Liebe zu meinem Volke, die Interessen der Humanität und Wissenschaft von jeher noch über die der Nationalität stelle; so findet schon die bloße Möglichkeit einer russischen Universalmonarchie keinen entschiedeneren Gegner und Bekämpfer als mich; nicht weil sie russisch, sondern weil sie eine Universalmonarchie wäre.
Sie wissen, dass der Süd-Osten von Europa, die Gränzen des russischen Reichs entlang, von mehren in Abstammung, Sprache, Geschichte und Gesittung merklich verschiedenen Völkern bewohnt wird, – Slawen, Walachen, Magyaren und Deutschen, um der Griechen, Türken und Schkipetaren nicht zu gedenken,– von welchen keines für sich allein mächtig genug ist, dem übermächtigen Nachbar im Osten in alle Zukunft erfolgreichen Widerstand zu leisten; das können sie nur dann, wenn ein einiges und festes Band sie alle miteinander vereinigt. Die wahre Lebensader dieses nothwendigen Völkervereins ist die Donau: seine Centralgewalt darf sich daher von diesem Strome nicht weit entfernen, wenn sie überhaupt wirksam sein und bleiben will. Wahrlich, existierte der österreichische Kaiserstaat nicht schon längst, man müsste im Interesse Europa‘s, im Interesse der Humanität selbst sich beeilen, ihn zu schaffen.
Warum sahen wir aber diesen Staat, der von der Natur und Geschichte berufen ist, Europa‘s Schild und Hort gegen asiatische Elemente aller Art zu bilden, – warum sahen wir ihn im kritischen Momente, jedem stürmischen Anlauf preisgegeben, haltungslos und beinahe rathlos? – Weil er in unseliger Verblendung, so lange her die eigentliche rechtliche und sittliche Grundlage seiner Existenz selbst verkannt und verlängert hat: den Grundsatz der vollständigen Gleichberechtigung und Gleichbeachtung aller unter seinem Scepter vereinigten Nationalitäten und Confessionen. Das Völkerrecht ist ein wahres Naturrecht; kein Volk auf Erden ist berechtigt, zu seinen Gunsten von seinem Nachbar die Aufopferung seiner selbst zu fordern, keines ist verpflichtet, sich zum Besten des Nachbars zu verläugnen oder aufzuopfern. Die Natur kennt keine herrschenden, sowie keine dienstbaren Völker. Soll das Band, welches mehre Völker zu einem politischen Ganzen verbindet, fest und dauerhaft sein, so darf keines einen Grund zur Befürchtung haben, dass es durch die Vereinigung irgend eines seiner theuersten Güter einbüßen werde: im Gegentheil muss jedes die sichere Hoffnung hegen, bei der Centralgewalt gegen allenfällige Übergriffe des Nachbars Schutz und Schirm zu finden; dann wird man sich auch beeilen, diese Centralgewalt mit so viel Macht auszustatten, dass sie einen solchen Schutz wirksam leisten könne. Ich bin überzeugt, dass es für Österreich auch jetzt noch nicht zu spät ist, diesen Grundsatz der Gerechtigkeit, die sacra ancora beim drohenden Schiffbruch, laut und rückhaltlos zu proclamieren und ihm praktisch allenthalben Nachdruck zu geben; doch die Augenblicke sind kostbar, möchte man doch um Gotteswillen nicht eine Stunde länger zögern! Metternich ist nicht bloß darum gefallen, weil er der ärgste Feind der Freiheit, sondern auch darum, weil er der unversöhnlichste Feind aller slawischen Nationalität in Österreich gewesen.
Sobald ich nun meine Blicke über die Gränzen Böhmens hinaus erhebe, bin ich durch natürliche wie geschichtliche Gründe angewiesen, sie nicht nach Frankfurt, sondern nach Wien hinzurichten, und dort das Centrum zu suchen, welches geeignet und berufen ist, meines Volkes Frieden, Freiheit und Recht zu sichern und zu schützen. Ihre Tendenz, meine Herren! scheint mir aber jetzt offen dahin gerichtet zu sein, dieses Centrum, von dessen Kraft und Stärke ich nicht für Böhmen allein Heil erwarte, nicht nur, wie gesagt, unheilbar zu schwächen, sondern sogar zu vernichten. ….
Um des Heiles von Europa willen darf Wien zu einer Provinzstadt nicht herabsinken! Wenn es aber in Wien selbst Menschen gibt, die sich Ihr Frankfurt als Capitale wünschen, so muss man ihnen zurufen: Herr! vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie wollen!«144
Im deutschen Reichstag wurde die österreichische Frage im wesentlichen nach drei Richtungen diskutiert. Die großdeutsche Lösung sah nicht unbedingt die Abschaffung des Habsburgerreiches vor. Die kleindeutsche Lösung entsprach zwar den Intentionen der Hohenzollern, war aber auch demokratisch ausgerichtet. Die radikalen Linken strebten einen in sich geschlossenen nationalen Bundesstaat mit republikanischer Verfassung an. Der linke Flügel brachte dem österreichischen Absolutismus die größte Ablehnung entgegen und wollte in erster Linie die deutschen Länder unter Habsburgischer Krone dem Bund angliedern, gegen einen Zerfall des restlichen Habsburgerreiches hatten die Linken nichts einzuwenden. Im Widerspruch zu dieser Intention artikulierten aber gerade die Linken auch ihre Furcht vor der Entstehung eines großen slawischen Reiches oder eines magyarischen Bundesstaates.
Einer der Vertreter der radikalen Rechten im Frankfurter Reichstag, Eugen (Megerle) von Mühlfeld (1810-1868), der Anfang der sechziger Jahre zu den Führern der deutschen Liberalen in Österreich gehörte, setzte sich für die großdeutsche Lösung ein, wenn diese nicht mit Souveränitätsverlusten auf seiten Österreichs verbunden war. Dabei dachte er an ein föderalistisch aufgebautes Österreich, das all seinen Nationalitäten gleiche Rechte zubilligte. Einer seiner Mitstreiter, der konservative Abgeordnete Unterrichter hielt eine Verfassung für die österreichische Monarchie nur für möglich, »wenn jeder einzelne Volksstaat autonom nach angestammter Nationalität und Sonderwesen konstituiert« werde.145
Der Liberale Josef Redlich vertrat die These, von Frankfurt seien zwei Grundformen des deutsch-österreichischen politischen Denkens ausgegangen. Die eine stellte das Habsburgerreich über die deutsche Einheit, die andere bevorzugte die Vereinigung der Deutschen und Deutsch-Österreicher und vertrat die Auffassung, der Vielvölkerstaat besitze ohnehin keine reellen Überlebenschancen. In Frankfurt zeichnete sich aber auch eine dritte Möglichkeit ab: die Umgestaltung des Habsburgerreiches in eine echte Föderation gleichberechtigter Nationalitäten, in der die Deutsch-Österreicher als Gleiche unter Gleichen lebten. Diese politische Idee war das zentrale Anliegen des österreichischen Reichstags von Kremsier, der ebenso wie sein Verfassungsentwurf dem Neo-Absolutismus zum Opfer fiel.
Die Stellung der Deutschen veränderte sich in der neo-absolutistischen Ära von 1849 bis 1867. Mehr als bisher wurden sie nach der Niederschlagung der ungarischen Freiheitsbewegung mit den Unterdrückern schlechthin identifiziert, obwohl die Magyaren ihre eigenen Minderheiten in Kroatien, Siebenbürgen und der Wojwodina nicht weniger, sondern mehr unterdrückten. Andererseits gehörten sie selbst in ihren demokratischen Kräften ebenso zu den Opfern der Niederschlagung der liberalen Revolution. Kann sagt über die Lage der Deutschen nach der Unterdrückung der Revolution: »Infolge ihrer alten hohen kulturellen und privilegierten rechtlichen Position waren die Deutschen in Österreich begreiflicherweise diesbezüglich empfindlicher als einige der kleineren Nationalitäten im Osten. Objektiv gesehen aber ging es ihnen sicher nicht schlechter als irgendeiner anderen Volksgruppe.«146 Er sieht die Tragik ihrer Situation vielmehr darin, dass alle nichtdeutschen Nationalitäten den Deutschen vorwarfen, sie zwängen den unterdrückten Ungarn nach der Revolution eine deutsche Verwaltung auf bzw. verrieten die loyalen Volksgruppen in und außerhalb Ungarns, die nun zwar nicht mehr durch den magyarischen Adel, aber dafür durch die deutsch-österreichische Bürokratie unterdrückt wurden. In diesem Sinne sollen die Kroaten gesagt haben, sie hätten als Belohnung erhalten, womit die Magyaren bestraft worden seien. Dass die deutsch-österreichische Bürokratie weniger willkürlich und besser organisiert war, als die Herrschaft der magyarischen oder polnischen Feudalherren, machte für die Betroffenen wenig Unterschied. Die »Bach-Husaren« (Verwaltungsbeamten) erschienen den Kroaten, Rumänen und Magyaren noch fremder als ihre früheren feudalen Unterdrücker, die zwar grausamer gewesen sein mochten, aber immerhin demselben Stamm angehörten.
144) Palacky, Gedenkblätter, Prag 1874, S. 149 f.) 172/3.
145) Zitiert nach Kann, Das Nationalitätenproblem …, S. 79.
146) Zitiert nach Kann, Das Nationalitätenproblem …, S. 79.
Die Sonderstellung der Magyaren (Dualismus)
Es dauerte fast zwanzig Jahre und bedurfte des Krimkrieges, eines österreichisch-italienischen und eines österreichisch-deutschen Krieges, den Habsburg verlor, bevor sich die Monarchie mit Ungarn aussöhnte.
Diese Aussöhnung war zwingend erforderlich. Die neue Verfassung Österreich-Ungarns von 1867 war weniger ein Ergebnis eines spezifisch deutsch-österreichischen Gestaltungswillens, auch der neu berufene »Reichskanzler«, der ehemalige sächsische Ministerpräsident Graf Beust, von dem sich der Hof vergeblich eine Konterkarierung des Bismarckschen Ränkespiels erhoffte, war nicht ihr Schöpfer: in ihr flossen die preußischen Vorstellungen über die Neuordnung des Habsburgerreiches und die ungarischen Forderungen zusammen. »Die gesetzliche Verwirklichung des vor allem durch die privilegierte deutsche Volksgruppe repräsentierten Zentralismus« in der cisleithanischen Reichshälfte, so Kann, war »zum großen Teil die Folge magyarischer Forderungen«.147
Die ungarischen Führer Deák und Andrássy waren die eigentlichen geistigen Urheber des Ausgleichs. Die Konstitution der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn, ihre Gliederung in die beiden durch eine Realunion verbundenen Reichshälften Cisleithanien und Transleithanien, war Ausdruck eines ausgeprägten ungarischen nationalen Willens. Was sich im dualistischen Aufbau letztlich durchsetzte, war nicht die große Tradition des magyarischen Liberalismus, dessen Bannerträger Deák, Eötvös und der ältere Andrássy waren, was sich durchsetzte, war der ungarische Nationalismus in seiner schärfsten Form. Die herrschenden magyarischen Kreise, die aristokratischen Großgrundbesitzer, der niedere Landadel (die Gentry) und das gehobene Bürgertum, die in den ungarischen Ländern eine Minderheit bildeten, konnten ihre Herrschaft nur aufrechterhalten, wenn die Fiktion bestehen blieb, Ungarn sei kein Vielvölkerstaat wie Österreich, sondern ein magyarischer Nationalstaat. Diese Fiktion setzte voraus, dass auch Österreich seinen nicht-deutschen Volksgruppen keine Autonomie gewährte.
Die dem Ausgleich zugrunde liegende Idee – die souveräne Gleichheit der beiden Staaten und die gleichmäßige Verteilung der Macht auf Deutsche und Magyaren – wurde schicksalsbestimmend für die zwei letzten Generationen des Habsburgerreiches: sie verhinderte eine weitere Föderalisierung des Reiches und führte schließlich in die Apokalypse.
Der Ausgleich von 1867 behandelte Cisleithanien und Transleithanien wie zwei souveräne Staaten, die sich durch eine Realunion zusammenschlossen. Er bestimmte, neben den jeweiligen Sonderrechten der beiden Staaten, auch gemeinsame Verpflichtungen, die im Bereich der Außenpolitik, des Kriegswesens und der gemeinsamen Finanzen bestanden. Während der ganzen Zeit des Dualismus, also bis zum Ende des Habsburgerreichs im Jahr 1918 überstieg der Anteil Ungarns nie 36,4 Prozent der gemeinsamen Ausgaben, »d.h. er war wesentlich geringer, als auf Grund seiner wirtschaftlichen Mittel und Möglichkeiten angemessen gewesen wäre.«148 Damit war der Beitrag Österreichs zu den gemeinsamen Ausgaben unverhältnismäßig hoch und besaß den Charakter uneingestandener Tributzahlungen für das staatstragende Wohlverhalten der Magyaren. Darüber hinaus bestanden erhebliche Unterschiede zwischen der österreichischen und der ungarischen Auslegung des Ausgleichs. Vor allem machten die Ungarn die Gültigkeit des Ausgleichs vom Vorhandensein einer konstitutionellen Regierung in Österreich abhängig. Gemäß der ungarischen Auslegung der Verfassung verstand man diese Bedingung so, dass die im Dezember 1867 eingeführten Verfassungsgesetze ihre uneingeschränkte Gültigkeit behielten. Diese Gesetze bestimmten, dass Österreich ebenso wie Ungarn ein einheitlich-zentralistischer Staat sein sollte, ein Staat also, der anderen nationalen Gruppen als politischen Einheiten Selbstbestimmungsrechte verweigerte, und sie höchstens den Einzelpersonen zugestand. Eine Änderung in Richtung Föderalismus hätte die Vorherrschaft der Magyaren in Ungarn gefährdet. Diese einseitige, ja willkürliche Auslegung des Ausgleichs war in der Tat der Hauptgrund, der eine umfassende Lösung der nationalen Fragen in der Habsburgermonarchie nach 1867 verhinderte.149
Kann kommentiert in seiner Geschichte des Habsburgerreiches die Wirkungen des österreichisch-ungarischen Ausgleichs wie folgt: »Der Ausgleich brachte kein Ende der deutschen Vorherrschaft über andere Nationalitäten im westlichen Teil der Monarchie. Sie wurde nur in Ungarn von einer betonten Oberherrschaft der Magyaren über die nicht-magyarischen nationalen Gruppen abgelöst, die nicht erschüttert werden konnte, es sei denn durch eine Revolution. Die bevorzugte Stellung zweier nationaler Gruppen, der Deutschen und der Magyaren, gegenüber neun anderen stellte ein größeres Problem dar als die Teilung des Reiches in zwei Staaten. Von diesen zwei Staaten mangelte es in Ungarn, in den Ländern der Heiligen Stephanskrone, an nationalem Gleichgewicht, ja es herrschte sogar nationale Ungerechtigkeit, vor allem in bezug auf Rumänen, Ruthenen, Serben und Slowaken, aber auch auf Deutsche und Kroaten … Die Tatsache, dass die Deutschen und die Magyaren in der Doppelmonarchie eine bevorzugte Stellung einnahmen, war sicher unbillig. Hingegen kam auf dieser Grundlage das Bündnis mit dem Deutschen Reich von 1879 zustande, das den drohenden russischen Zarismus in die Schranken wies und der Donaumonarchie einschließlich der slawischen Bevölkerung eine friedliche Entwicklung und vielleicht sogar die Aussicht auf eine evolutionäre Anpassung an modernere nationale und soziale Zustände ermöglichte … Wäre Bismarck anders vorgegangen, hätte er versucht, Österreich-Ungarn zu beherrschen, statt es durch die deutsch-ungarische Koalition innerhalb der Monarchie beherrschen zu lassen, so wäre der Zerfall des Habsburgerreiches früher eingetreten, vor allem zum Vorteil des zaristischen Russlands. Andererseits bedeutete die Erhaltung der Monarchie und der Unverletzlichkeit ihrer Gebiete für ein weiteres halbes Jahrhundert, dass ihre konstitutionellen Einrichtungen geachtet wurden, die Slawen in Österreich immerhin begrenzte nationale Rechte besaßen und wenigstens die Möglichkeit für sie bestand, sie auch in Ungarn zu erlangen.«150
Graf Stephan Széchenyi (1791-1860), der liberale magyarische Reformer, der der nationalen Geschichtsschreibung als der »größte der Magyaren« gilt, beschrieb im Jahr 1842 in einer Rede vor der von ihm begründeten ungarischen Akademie der Wissenschaften den psychologischen Hintergrund des nationalen Willens der Magyaren: »Während ein anderes Volk sich einzig durch die Güte der Sache bestimmen lässt, wenig bekümmert, woher und in welcher Gestalt es kommt, will der Ungar alles, vom Kleinsten bis zum Größten, in ein magyarisches Gewand hüllen und was nicht in diesem erscheint, ist ihm schon verdächtig. Mir wenigstens ist kaum ein wirklicher Ungar bekannt, der, wie sehr auch sein Haar gebleicht sei, wie tief ihm auch Erfahrung und Lebensweisheit die Stirne gefurcht, nicht, gleich einem Verrückten, dessen fixe Idee berührt wird, sich den Regeln der Billigkeit, ja sogar der Gerechtigkeit, mehr oder weniger entzöge, wenn die Angelegenheit unserer Sprache und Nationalität aufs Tapet kommt. Bei solchen Gelegenheiten wird der Kaltblütigste hingerissen, der Scharfsichtigste mit Blindheit geschlagen und der Billigste, Gerechteste ist bereit, die erste von den unveränderlichen Regeln der ewigen Wahrheit, die man bei keiner Gelegenheit aus den Augen verlieren sollte, die Regel: »Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg‘ auch keinem anderen zu!« zu vergessen!151 Der magyarische Nationalismus war ohne Zweifel auch durch die »rassemäßige Isolierung der Magyaren« (Kann) bedingt, die als finnisch-ugrischer Volksstamm inmitten von Deutschen und Slawen lebten. Die Magyaren sorgten dafür, dass ihre Herrschaft auch unter parlamentarischen Bedingungen nicht beeinträchtigt wurde. Im nationalen ungarischen Parlament hatten die Magyaren, die ungefähr 54 Prozent oder, wenn die kroatischen Gebiete mitgerechnet werden 45 Prozent der Gesamtbevölkerung Ungarns bildeten, 405 von 413 Abgeordnetensitzen inne. Die übrigen 45 Prozent der Bevölkerung des eigentlichen Ungarn besaßen acht Sitze, fünf die Rumänen und drei die Slowaken. Auch die Zivilverwaltung war ähnlich strukturiert: 96 Prozent der Staatsangestellten, 92 Prozent der Mittelschullehrer und 93 Prozent der Hochschulprofessoren waren Magyaren. Etwa 800.000 Schüler, die den kleineren nationalen Minderheiten angehörten, hatten ungefähr 5.000 Lehrer, auf eine Million magyarischer Schüler entfielen etwa 26.000.152
Der magyarische Patriotismus wurde von Mihály Vörösmarty (1800-1855) in begeisterten Gesängen verdichtet:
»Von deinem Vaterland lass nie Und nimmermehr, Magyar;
‘s ist Wiege Dir und Grab auch einst, Dein Hort unwandelbar.
Nicht bietet auf der weiten Welt Ein andrer Raum sich Dir;
Ob gütig dein Geschick, ob hart, Musst leben, sterben hier.«
Der österreichische Nationalökonom und kurzzeitige Handelsminister (1917-18) Friedrich von Wieser beschrieb die Entwicklung Ungarns im 19. Jahrhundert 1905 folgendermaßen:
»In Ungarn fiel die Herrschaft den Magyaren zu. Sie hatten durch die längerdauernde ständische Überlieferung, durch die Selbstverwaltung der Komitate, durch die Einrichtung des revolutionären Staates von 1848 eine höhere politische Schulung, sie hatten in ihrem nationalgesinnten Adel, der fast durch das ganze Land – auch in den nicht-magyarischen Gebieten – reich begütert war und überwiegenden Einfluss besaß, eine geborene volkstümlich herrschende Klasse, in den überlebenden Kriegern von 1848 eine politische Kerntruppe und in den Führern von damals ihre anerkannten Leiter. Vor allem aber war das ganze Volk durch seine nationale Leidenschaft geeinigt und wirkte in urwüchsigem Instinkt auf dem Jagdpfade der Politik zu einem Plan zusammen, die Radikalen, um als lärmende Treiber das Wild aufzuscheuchen, die Gemäßigten, um es als vornehme Schützen zu erlegen. In jeder anderen Hinsicht, an Menschenzahl, Reichtum und allgemeiner Bildung hinter der westlichen Reichshälfte zurückstehend, erwiesen sie sich nicht dennoch als die politisch überlegene Nation? Sie zeigten sich fähig, ihren Staat zu leiten und ihn zu benützen, um ihre Hilfsmittel in ungeahnter Weise zu steigern, um zahlreiche Bürger der fremden Nationalitäten erst ihrem Staatsgedanken und sodann selbst ihrer Nationalität zu gewinnen, um ihre Kultur, ihren Reichtum zu heben.«153
Friedrich Tezner, der die ungarischen Wünsche nach unbeschränkter nationaler Herrschaft ablehnte, bemerkte im selben Jahr 1905: »Die Österreicher – und das gilt von ihnen allen ohne Unterschied der Nationalität, von den Polen abgesehen, – besitzen aus der Zeit ihrer neueren Geschichte keine werbende Persönlichkeit von epischer Größe. Dagegen ist die ungarische Geschichte ein ununterbrochenes Heldengedicht.«154
Über die ungarische Verfassung von 1867 äußerte sich einer der führenden Sozialisten Österreichs, Karl Renner: »Welch ein Wunder von einer Verfassung musste das sein, das imstande war, eine Volksvertretung zu schaffen und dennoch das Volk nicht zur Vertretung zu bringen, einen Staat auf das Nationalbewusstsein aufzubauen und doch das Nationalbewusstsein von fünf Nationen zu ertöten, gegen den Hof alle Mittel der Demokratie spielen zu lassen und doch die Aristokratie als unumschränkte Herren einzusetzen, die Freiheit zum Triumphe zu führen und die halbe Bevölkerung in nationaler, neun Zehntel derselben in sozialer Knechtschaft zu erhalten.«155
Auch Ungarn erlebte in der Zeit des Vormärz eine Periode der geistigen Horizonterweiterung. Für diese Zeit sind vor allem zwei Persönlichkeiten bedeutend: der Reformer Graf Stephan Széchenyi (1791-1860) und das »seltsame Genie« (Kann) Ludwig Kossuth (1802-1891).
Széchenyi gründete nicht nur die ungarische Akademie der Wissenschaften, er reformierte auch den Unterricht und war für die Einführung der magyarischen Sprache verantwortlich, die das in den oberen Schichten verbreitete und im offiziellen Verkehr allgemein eingeführte Lateinische ablöste. Dass diese Sprachreform später im Sinne der nationalen Unterdrückung missbraucht wurde, stand im Gegensatz zu seinen aufklärerischen Intentionen. Seit 1840 setzte er sich im Landtag für die Befreiung der leibeigenen Bauern ein, und setzte ihr Recht durch, Grund und Boden zu erwerben. Die Steuerfreiheit des Adels, von dem über 700.000 Personen Nutzen zogen, vermochte er aber nicht abzuschaffen.
Kossuth war der Anführer einer nach dem Vorbild Mazzinis gebildeten nationalistischen Bewegung »Junges Ungarn«, die Széchenyis Politik erfolgreich Widerstand leistete und letztlich eine vollständige Trennung Ungarns von Österreich anstrebte. Kossuth war glühender Nationalist. Er hielt die Garantie individueller Freiheitsrechte für ausreichend und lehnte die Einräumung nationaler Freiheiten für andere Nationalitäten ab. Sein hartnäckiger Widerstand gegen die Einführung ethnischer Rechte erwies sich für das Schicksal der Magyaren als verhängnisvoll. Noch 1881 beharrte Kossuth auf dem Standpunkt, der magyarische Liberalismus habe das Nationalitätenproblem optimal gelöst. In einer Erklärung ließ er verlauten: » … die Freisinnigkeit fremden Rassen gegenüber blieb durch alle Folgezeit in solchem Maße eine leitende Maxime für die ungarische Politik, dass es kein zweites derartiges Beispiel in der ganzen Weltgeschichte gibt; und niemals hat eine staatenbildende Rasse selbst den bloßen Gedanken an eine Ausschließlichkeit ihrer Rechte zum eigenen Nachteil aus ihrer Politik gleichsam verbannt und den Begriff »Bürger« gleich sehr von dem Begriff »Rasse« unabhängig gemacht wie die Ungarn … Wenn dieser feste Wille und Entschluss das Brandmal der herrschenden Rasse auf unsere Stirne drückt, nun dann, dann möchte ich dieses Brandmal für den Adelsbrief meiner Rasse erkennen.«156
Für Kossuth waren die Begriffe Magyar und Ungar gleichbedeutend: für jemanden, der auf ungarischem Boden aufgewachsen war, konnte es kein höheres Ziel geben, denn als Mitglied des magyarischen Herrenvolkes anerkannt zu werden. Ungarischen Serben, die Kossuths Auffassung 1848 widersprachen, hielt er entgegen: »Dann mag das Schwert entscheiden!«157 Selbst noch 1918 wies ein anderer magyarischer Politiker, der Graf Stephan Tisza, die Vorstellungen einer serbisch-bosnischen Abordnung mit folgenden Worten zurück: »Mag sein, dass wir (die Magyaren) zugrunde gehen, aber vorher werden wir noch die Kraft haben, euch zu zermalmen.«158
Die Unduldsamkeit Kossuths verhinderte eine Berücksichtigung der anderen Nationalitäten durch den revolutionären Reichstag von 1848. Seit den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts hatte die Bewegung zugunsten der Einführung des Magyarischen als Staatssprache an Bedeutung zugenommen. Sie stieß bei den Nichtmagyaren auf heftige Ablehnung, der aber nur die Kroaten als einzige im Reichstag vertretene nicht-magyarische Nationalität Ausdruck verleihen konnten. Kossuth erklärte in den Verhandlungen, Ungarn, deren Muttersprache nicht das Magyarische sei, stellten keine Volksgruppen dar. Deshalb müsse das Magyarische die offizielle Sprache der Gesetzgebung, Rechtsprechung und Verwaltung werden, notfalls unter Androhung von Gewalt. Für eine Übergangszeit von sechs Jahren könne anstelle der örtlichen Landessprachen auch das Lateinische verwendet werden. Der stürmische, aber ohnmächtige Protest der südslawischen Abgeordneten konnte die Annahme eines entsprechenden Sprachengesetzes nicht verhindern. Ebenso wurde ein Siedlungsgesetz angenommen, das das Recht, sich in Ungarn dauernd niederzulassen, von der Beherrschung des Magyarischen abhängig machte. Mitunter wurde die Auffassung vertreten, der eigentliche Grund für den Ausbruch der ungarischen Revolution sei die Absicht gewesen, die nicht-magyarischen Völker Ungarns zum Schweigen zu bringen. So etwa sagte Palacky: »Der eigentliche Grund der Revolution war die Weigerung der Magyaren, den in Ungarn wohnenden Slawen, Deutschen und Rumänen gleiche nationale Rechte zuzugestehen.«159
Zwar mag dies übertrieben sein, spielten doch auch in der ungarischen Revolution die liberalistischen Ideen eine Rolle, aber die mangelnde Bereitschaft der Ungarn, den nicht-magyarischen nationalen Mehrheiten in ihrem Herrschaftsgebiet eigene Rechte zuzugestehen, bildete einen der Hauptgründe für das Scheitern der Revolution. Ja, in der Revolution scheinen die Rollen der verfeindeten Mächte geradezu vertauscht: während der zentralistische habsburgische Absolutismus aus Gründen der Opportunität die nicht-magyarischen Nationalitäten unterstützte, vertraten die liberalen ungarischen Revolutionäre die Sache der nationalen Unterdrückung der nicht-magyarischen Nationalitäten.
Das von den Magyaren beherrschte Ungarn ging aus den Verhandlungen von 1867 als begünstigter und gestärkter Partner hervor. Die weitere politische Entwicklung in Ungarn, die auf eine vollständige Magyarisierung hinauslief, wurde von Jászi wie folgt charakterisiert: »Seit dem Tode Deáks im Jahre 1876 beherrschte eine neue Generation die politische Arena, eine Generation der ›gentry‹, welche die große Lehre von 1848/49 vergessen hatte und welche die Lage des Landes ausschließlich vom Gesichtspunkt ihrer finanziellen Interessen beurteilte. Der Führer dieser Generation, der Ministerpräsident zwischen 1875 und 1890, Koloman Tisza, kam zur Macht, indem er seine Prinzipien zynisch preisgab … Die neue herrschende Partei, die sogenannte ›liberale‹ stellte eine Verschmelzung zwischen den Parteien Deáks und Tiszas dar. Ihre einzigen liberalen Züge waren ihre freundliche Einstellung gegenüber dem jüdischen Finanzwesen und dem Großhandel« (und die Anerkennung der Idee der religiösen Toleranz).160
Die letzten fünf Dezennien zwischen dem österreichisch-ungarischen Ausgleich und dem Ende des Habsburgerreiches wurde das nationalistische Programm der Magyarisierung in Transleithanien konsequent zu Ende geführt. Die Radikalisierung des Nationalismus verschärfte auch in Cisleithanien die Nationalitätenkrise und stärkte die Kräfte, die das Reich auseinandertrieben. In Ungarn führte das Anwachsen des Nationalismus unter den Magyaren und den nichtmagyarischen Nationalitäten zu einer Steigerung der magyarischen Intoleranz, aber nicht zu einer Hebung des politischen Status der nichtmagyarischen Nationalitäten.
Während die Vorherrschaft der Deutschen in den Ländern Cisleithaniens durch den Widerstand der nicht-deutschen Nationalitäten zunehmend zurückgedrängt wurde, setzte sich die Magyarisierung in Ungarn unaufhaltsam fort. In bemerkenswerter Konsequenz haben ungarische Ministerpräsidenten zur Nationalitätenfrage in diesen fünfzig Jahren Stellung bezogen. Kálmán von Tisza, Ministerpräsident von 1875 bis 1890, erklärte, die Nationalitäten müssten dem magyarischen Sprichwort »Schweig und zahle« gehorchen. Die Nichtmagyaren könnten sich nicht auf so etwas wie eine »nationale Geschichte« berufen.161
Baron Desider Bánffy, Ministerpräsident von 1895 bis 1899: »Ungarn kann nur dann ein Rechtsstaat werden, wenn es ein einheitlicher nationaler Staat wird.«162 Bei einem anderen Anlass meinte Baron Desider Bánffy: »Ohne Chauvinismus ist es unmöglich, den einheitlichen magyarischen nationalen Staat zu begründen.«163
Kálmán Széll, Ministerpräsident von 1899 bis 1905: »Wir kennen nur einen kategorischen Imperativ, den magyarischen Staatsgedanken, und müssen fordern, dass jeder Staatsbürger ihn anerkennt und sich ihm bedingungslos fügt. In diesem Punkt sind wir Politiker Ungarns sämtlich unnachgiebig … Ich werde auch erklären, warum. Weil Ungarn seine uralten, heiligen und gesetzlichen Rechte hat, um den Gedanken eines solchen Staates zu bekräftigen. Die Magyaren haben dieses Land für die Magyaren erobert und nicht für andere. Die Oberherrschaft und die Hegemonie der Magyaren ist vollauf berechtigt.«164
Graf Stephan Tisza, Ministerpräsident von 1903 bis 1905 und von 1913 bis 1917:
»Unsere Staatsbürger nicht-magyarischer Zunge müssen sich vor allem daran gewöhnen, dass sie der Gemeinschaft eines Nationalstaates angehören, eines Staates, der kein Konglomerat verschiedener Völker ist.«165
Zusammenfassend zum kulturellen und gesellschaftlichen Status der Magyaren im 19. Jahrhundert sei der Verfasser des Beitrages über die Ungarn im von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften herausgegebenen Sammelband über die Habsburgermonarchie, Laszlo Katus, zitiert: »Das Grunderlebnis der geistigen und politischen Elite des ungarischen Reformzeitalters vor 1848 war das Gefühl der Gefährdetheit der in Rückständigkeit und in den Fesseln des Feudalismus dahinsiechenden nationalen Existenz. Die Revolution von 1848 und die darauf folgenden institutionellen und politischen Umgestaltungen schufen günstige Vorbedingungen für die Überwindung der Rückständigkeit und die Herausbildung der modernen bürgerlichen Nation. Die sieben Jahrzehnte zwischen den beiden Revolutionen von 1848 und 1918 waren in der Geschichte des ungarischen Volkes ein Zeitalter der raschen Entwicklung und der großen Veränderungen. Das gilt vor allem für das demographische und wirtschaftliche Wachstum, für die Adaptierung der modernen westeuropäischen wirtschaftlichen und politischen Institutionen, produktiven und administrativen Techniken, für die Umgestaltung und Modernisierung der äußeren Lebensbedingungen, der materiellen Kultur …, für die Anhebung des allgemeinen Bildungsniveaus und für die Herausbildung der modernen gesellschaftlichen Strukturen.«166
147) Kann, Das Nationalitätenproblem …, S. 90.
148) Kann, Geschichte des Habsburgerreiches, S. 304.
149) Vgl. Kann, Geschichte des Habsburgerreiches, S. 305 f.
150) Kann, ebd, S. 307-308.
151) Rede in der von ihm gegründeten ungarischen Akademie der Wissenschaften am 27. Nov. 1842, zitiert in Arthur von Polzer Hoditz, Kaiser Karl, Wien 1929, S. 45.
152) Kann, Das Nationalitätenproblem …, S. 110.
153) Friedrich von Wieser, Über Vergangenheit und Zukunft der österreichischen Verfassung, Wien 1905, S. 29.
154) Friedrich Tezner, Die Wandlungen der österreichisch-ungarischen Reichsidee, Wien 1905. S. 112.
155) Rudolf Springer, [Karl Renner], Warum uns die ungarische Verfassung imponiert?, zitiert nach Kann,
Das Nationalitätenproblem …, 115/6.
156) L. Kossuth, Meine Schriften aus der Emigration, Preßburg, Leipzig 1881, 3. Bde, II, S. 148 ff., S. 157 – das Zitat stammt aus einem Essay über Ungarn von 1858, zitiert nach Kann, Das Nationalitätenproblem …, 120
157) M. Hodza, Federation in Central Europe, S. 20 f.
158) E. Glaise-Horstenau, Die Katastrophe. Die Zertrümmerung Österreich-Ungarns und das Werden der Nachfolgestaaten, Wien 1929, S. 287, zitiert nach Kann, Das Nationalitätenproblem …, S. 120.
159) Aurel C. Popovici, Die vereinigten Staaten von Groß-Österreich, Leipzig 1906, S. 150 f.
160) O. Jaszi, The dissolution of the Habsburg Monarchy, Chicago 1929, S. 318 f.
161) R.W. Seton-Watson [unter dem Pseudonym Scotus Viator], Racial Problems in Hungary, London 1908, S. 211 f.
162) Treumund, Baron Desider Bánffy, Österreichische Rundschau, XXVII, 1911, 5. 437 ff. Siehe auch R.W. Seton-Watson [unter dem Pseudonym Scotus Viator], Racial Problems in Hungary, London 1908, S. 197.
163) Ebenda, S. 182.
164) O. Jászi, The Dissolution of the Habsburg Monarchy, a.a.O., S. 321.
165) Ebenda, S. 321.
166) Adam Wandruszka und Peter Urbanitsch (Hrsg.), Die Habsburgermonarchie, 1848-1918, Band III, Die Völker des Reiches, 1. Tb., Wien 1980, S. 488.
Die Tschechen
Wenden wir uns den Tschechen zu, im Hinblick auf deren nationale Forderungen Steiner 1888 jene Bemerkungen über die Slawen fallen ließ, die ihm der Ökolinke Bierl als Bekundung eines deutschnationalen Chauvinismus zum Vorwurf macht und die Anlass für diese historischen Erörterungen sind. Wie wir gesehen haben, könnte man Steiner genau so gut vorwerfen, er hätte eine marxistische Position übernommen. In Wahrheit hatte aber seine Ablehnung der tschechischen Forderungen nach einem Nationalstaat einen ganz anderen Hintergrund: die Verurteilung von Nationalismus ganz gleich welcher Art.
Brigitte Hamann fasst die historische Entwicklung Ende des 19. Jahrhunderts in ihrem Buch Hitlers Wien treffend zusammen, wenn sie schreibt: »Die Tschechen waren in Cisleithanien gleich hinter den Deutschen die mächtigste Nation mit hoher Bildung und großer wirtschaftlicher Produktivität. Sie machten den Deutschböhmen harte Konkurrenz, zumal sie als Arbeitskräfte billiger waren. Unter dem starken nationalen Druck wanderten viele deutschböhmische Arbeiter nach Sachsen oder Niederösterreich ab. Tschechen wanderten zu, und so tendierten manche bisher deutschsprachige Orte zur Zweisprachigkeit, und dies um so mehr, als die tschechische Geburtenrate weit höher als die deutsche war. … Ein Beispiel: Die südböhmische Stadt Budweis war um 1850 eine fast rein deutsche Stadt, 1880 hielten sich Deutsche und Tschechen die Waage, 1910 hatten die Deutschen nur noch einen Anteil von 38,2 Prozent bei abnehmender Tendenz. In Prag inklusive der Vorstädte lebten 1880 noch 228.019 Tschechen und 41.975 Deutsche, also rund 82 Prozent gegenüber 18 Prozent. 1900 war das Verhältnis schon 92,3 Prozent zu 7,5 Prozent.«167 Hamann fährt fort: »Klagen über eine »Slawisierung« waren keineswegs auf Anhänger der radikal-nationalen Parteien beschränkt. Deutschbewußt, freilich in verschiedener Intensität, waren alle deutschen Parteien bis zu den deutschen Sozialdemokraten, den liberalen Parteien, den Christlichsozialen. Einem Elitebewusstsein auf der deutschen Seite stand auf der tschechischen Seite ein kraftvolles, wachsendes nationales und wirtschaftliches Selbstbewusstsein gegenüber.«168
Ganz ähnlich Jiri Koralka und R.J. Crampton in ihrem Beitrag zum Geschichtswerk über die Habsburgermonarchie der österreichischen Akademie der Wissenschaften 1980: »Wenn man das soziale und politische Niveau an der Wende des 19. und 20. Jahrhunderts vergleicht, ist es wohl keine Übertreibung zu behaupten, dass die Tschechen unter jenen Völkern Europas, die keinen eigenen Nationalstaat besaßen, gesellschaftlich am höchsten entwickelt waren … Trotz aller verhältnismäßigen Reife fehlte jedoch der tschechischen Nationalgesellschaft vor 1918 ein ungezwungenes Verhältnis zum Staat, wie es im westlichen und nördlichen Europa gang und gäbe war«169, was natürlich nicht verwunderlich ist, da es den Tschechen bis zum I. Weltkrieg verwehrt war, die von ihnen angestrebte Eigenstaatlichkeit innerhalb oder notfalls auch außerhalb der Habsburgermonarchie auszubilden.
Ebenso Fischel 1919 über die Zeit nach dem österreichisch-ungarischen Ausgleich:
»In Österreich, d.i. der westlichen Reichshälfte, besaßen die Deutschen … nicht die Mehrheit. Doch waren sie der weitverbreitetste, wohlhabendste, gebildetste und zugleich der relativ stärkste unter allen österreichischen Volksstämmen, die ihnen gegenüber keine kompakte Masse darstellten.«170
1963 schrieb der Historiker der Sozialdemokratie Hans Mommsen in seinem Buch über die Sozialdemokratie und die Nationalitätenfrage die verzweifelten Sätze nieder, der Nationalismus sei »ein massenpsychologisches Phänomen« gewesen, »eine kollektive Hypnose [besser wäre: Psychose], deren sich auch die einsichtigeren unter den tschechischen Parteiführern nicht entziehen konnten.«171
Der Sozialist Otto Bauer sah 1907 in der tschechischen Frage vor allem ein Problem von Anlehnung und Abgrenzung seitens der Tschechen: »Solange Deutschland stark war, galt für die Tschechen immer noch Palackys Wort, dass man Österreich erfinden müsste, wenn es nicht bestünde; konnte also nur der tschechische Staat innerhalb des habsburgischen Reiches ihr Ziel sein. Sobald Deutschland geschlagen war, sobald nicht mehr die Gefahr bestand, dass nach der Auflösung des Habsburgerreiches auch die Sudetenländer an Deutschland fallen könnten, hatte das tschechische Volk an der Existenz des habsburgischen Reiches kein Interesse mehr. Nun dachte es an das andere Wort Palackys: »Wir waren vor Österreich, wir werden nach Österreich sein«.«172
Der politisch gemäßigte Friedrich Kleinwächter sah Anfang des 20. Jahrhunderts im Verhältnis zwischen Deutschen und Tschechen in Böhmen und Mähren hauptsächlich ein kulturelles Problem: »Zwei Fünftel der Bevölkerung Böhmens sind Deutsche, drei Fünftel Tschechen. Die Vorherrschaft der zwei Fünftel über die drei Fünftel war nur solange möglich, als diese Zahlendifferenz durch Kulturdifferenz ausgeglichen war. In dem Momente, wo die Kulturdifferenz die Zahlendifferenz nicht mehr auszugleichen vermochte, war die deutsche Vorherrschaft vernichtet.«173
Josef Redlich schließlich sah in den Zwanzigerjahren des 20. Jahrhunderts Böhmen als Schauplatz eines Abwehrkampfes der Deutschen gegenüber slawischen Emanzipationsbestrebungen: »Begreiflicherweise ist aber, was Österreich betrifft, der nationale Gegensatz zwischen Deutschen und Slawen zuerst in Böhmen zum offenen politischen Kampf aufgeflammt, in einem Lande, in welchem die Deutschen von Anfang an sich als Minorität in der Verteidigung befanden und wo die Offensive der Tschechen der slawischen Bewegung scheinbar sogleich überraschend große politische Erfolge gebracht zu haben schien.«174
Kann sieht in der tschechischen Frage das Problem »des vielleicht am höchsten entwickelten slawischen Volkes in Österreich, das ausschließlich innerhalb der österreichischen Grenzen lebte und das auf seinem eigenen geschichtlichen Gebiet gegen eine starke deutsche Volksgruppe kämpfte, deren Stammesverwandte nicht nur in Österreich selbst, sondern in ganz Mitteleuropa die Herrschaft ausübten. Die Stellung der Deutschen war daher, wie Bauer bemerkt, der bestimmende Einfluss auf die tschechische Politik und blieb es auch – zumindest bis 1918. Es ist ferner richtig, wie Kleinwächter bemerkt, dass der Aufstieg der Masse des tschechischen Volkes zur kulturellen Gleichheit mit der deutschen Minorität den nationalen Konflikt unvermeidlich machte.«175
Kann sieht allerdings das Scheitern aller Lösungsversuche für die nationalen Probleme zwischen Deutschen und Tschechen nicht allein im unmittelbaren Verhältnis der beiden (österreichischen) Nationalitäten begründet, für ihn wirken sich in den politischen Spannungen vielmehr gesamteuropäische Kräftekonstellationen aus: »Die Ursache des Scheiterns … war größtenteils die Tatsache, dass hinter den Deutschen in Böhmen die gesamte nationale Macht der Deutschen und hinter den Tschechen, im letzten Halbjahrhundert der Geschichte der Monarchie, der von Russland ausgehende Panslawismus stand. Sein Einfluss war gewiss weit weniger augenfällig, aktiv und unmittelbar, aber deshalb in seiner Wirkung doch von erheblicher Bedeutung. Mit anderen Worten, die Stellung des einzigen Volkes in der westlichen Reichshälfte, das ethnisch nicht über die österreichischen Grenzen hinausreichte, war nicht nur ein österreichisches politisches Problem, sondern ein Weltproblem, wie die Geschichte beider Weltkriege es bezeugt hat.«176
Der Entwicklungsstatus des »am höchsten entwickelten«, von Deutschen dominierten, »slawischen Volkes« in Österreich spiegelt sich auch in der Statistik wieder. Die Volkszählung des Jahres 1900 in Cisleithanien wies aus, dass von 1000 Personen über sechs Jahren mit tschechischer Umgangssprache 937,7 Lesen und Schreiben konnten, von 1000 Personen mit deutscher Umgangssprache waren es 918,4. Demgegenüber führte die Volkszählung aus dem Jahr 1880 in Transleithanien, also dem von Ungarn beherrschten Teil der Doppelmonarchie, folgende Alphabetisierungsgrade auf: Lesen und Schreiben konnten in Prozent der Gesamtbevölkerung in Ungarn 36,4 Prozent, in Kroatien 20,6 Prozent, in ganz Transleithanien 34,5 Prozent. Verteilt auf die Volkszugehörigkeit ermittelten die Statistiker folgende Zahlen: Magyaren 44,6 Prozent, Deutsche 56,8 Prozent, Slowaken 32,9 Prozent, Rumänen 9,2 Prozent, Ruthenen 7,3 Kroaten und Serben zusammen 19,8 Prozent.177
Zieht man den Anteil der beiden Bevölkerungsgruppen an verschiedenen Berufsklassen hinzu, wobei die bäuerlich-agrarische die technologisch am wenigsten elaborierte darstellt, die industriellen und Handelsberufe zu den Tätigkeiten im öffentlichen Dienst und in freien Beschäftigungen hinüberführen, die ein Höchstmaß an Bildungseinsatz und persönlicher Emanzipation voraussetzen, stellen sich die Verhältnisse in Cisleithanien etwas anders dar. Von je 1000 Angehörigen tschechischer oder deutscher Umgangssprache gehörten im Jahr 1900 die aus folgender Übersicht entnehmbaren Promillanteile den einzelnen Berufsklassen an178:
Charles Sealsfield, der in Österreich unter dem Namen Karl Postl publizierte, beschrieb 1826 das tschechische Nationalgefühl: »Man braucht nur den Namen eines freien Volkes auszusprechen und ihre [der Tschechen] Züge verfinstern sich. Ja, man kann die Böhmen sogar mit den Zähnen knirschen hören, wenn man die englische Freiheit zu preisen beginnt. Dagegen erfüllt es sie mit unaussprechlicher Trauer, wenn ihres eigenen Landes Erwähnung geschieht, der Schlachten, die sie für eine fremde Sache haben schlagen müssen, der Heere, für welche sie die Rekruten stellen und die Kosten tragen, und die eigentlich ihrer eigenen Unterdrückung dienen. Sie empfinden es schmerzlichst, für eine Herrscherfamilie da zu sein, die ihnen und ihren Wünschen, trotz jahrhundertelangen Regimentes, fremd geblieben und in ihrer Unfähigkeit nur darauf bedacht ist, Böhmen unterworfen zu halten und die nationalen Ziele zu verkümmern. Ein instinktives Hassgefühl gegen Fremde, besonders die Deutschen, ist allen slawischen Nationen eigen.«179
Sealsfield unterschied zwischen dem gesteigerten Nationalgefühl in Böhmen und der weniger gespannten Lage in Mähren: »Es wird kaum zu einem gemeinsamen Aufstand nach einem vorgefassten Plan kommen, um mit Blut dem Volk Rechte zu erringen. Dazu sind die Provinzen zu scharf überwacht und ihre inneren Gegensätze zu groß. Die Böhmen würden nicht zögern, gegen die Ungarn zu marschieren, die Polen gegen die Italiener und die deutschen Österreicher sogar gegen all die Genannten.«180
Graf Schirnding schrieb 1844 aus solider historischer, literarischer und wirtschaftlicher Kenntnis Böhmens: »Böhmen ist schon jetzt überwiegend böhmisch, d. h. national gesinnt und wird dies immer mehr und mehr … wir gedenken auch … den Beweis herzustellen, dass Böhmen mehr denn je danach strebe, seine Nationalität auf dem Wege der loyalsten Gesinnungen und der unwandelbarsten Unterthanentreue an das österreichische Herrscherhaus zu befestigen.«181
Auch Graf Andrian-Werburg beschrieb die Tendenz des aufstrebenden tschechischen Nationalismus im Jahr 1848: »Böhmen betrachtet sich täglich mehr als bestimmt und berufen, seine eigene abgesonderte Nationalität zu behaupten und mit dem Gefühle seiner Kraft und Einheit nimmt auch sein Widerwille gegen die fremde Herrschaft zu.«182
Der böhmische Graf und Vertreter eines spezifisch böhmischen Landespatriotismus im Sinne des alten böhmischen Staatsrechts, Joseph Matthias Thun, schrieb allerdings 1845 über das Verhältnis von Deutschen und Tschechen in Böhmen: »Das Cechentum entwächst reineren Elementen, und je selbstbewusster sich die cechische Nationalität entwickelt, desto ferner wird sie dem erstarrenden Norden. Wir wollen Böhmen sein, und Böhmen bleiben – das wünschen die Cechen wie die Deutschen im Lande, und Böhmen sind die Deutschen wie die Cechen; nur verrückt hiebei nationelle Einseitigkeit das gemeinsame Ziel.« Nach Thuns Auffassung ist das Tschechentum zwar unvermögend, »den auf seine höhere Bildung so stolzen Deutschen bald einzuholen und dann wohl gar zu überholen«, doch sollte dies Anlass sein, den Tschechen Zugang zu allen Bildungsmöglichkeiten zu gewähren, denn: »Dieses geistige Leben ist die eigentliche Seele des wahren Cechismus; es ist der einzige, aber auch richtig erkannte Weg zu dem heiß ersehnten Ziele, welches kein anderes ist und kein anderes sein kann, als: die aufgedrungene Schmach der Unbildung zu tilgen und würdig sich einzureihen den übrigen Völkern Europas. Und dieses Ziel – die Cechen werden es erreichen; langsam vielleicht, aber erreichen werden sie es doch.« Bis dahin aber »vertragen wir uns jetzt schon als Brüder! Laßt uns alle Böhmen sein!«183
Für die Lösung der nationalen Frage in den alten Ländern der Wenzelskrone – Mähren, Österreichisch-Schlesien und dem Kerngebiet Böhmen – standen drei Alternativen zur Auswahl: die Herrschaft der Deutschen, eine vollständige Trennung zwischen Deutschen und Tschechen, und die Vorherrschaft der Tschechen im Rahmen der alten historischen Rechte und Privilegien, dem sog. »böhmischen Staatsrecht«, wobei niemals völlig klar war, »was eigentlich das böhmische Staatsrecht in materieller Hinsicht beinhaltete, vielmehr wurde es als »ein von Generation zu Generation sich forterbendes Gewohnheitsrecht« bezeichnet.«184 Auf jeden Fall schloss es die Vorstellung einer nicht nur sprachlich-kulturellen, sondern auch staatspolitischen Hoheit der Tschechen über die alten böhmischen Länder ein.
Von der Wiedererweckung des böhmischen Nationalgefühls wurden nicht wenige überrascht. Albert E. Schäffler, Minister im Kabinett Hohenwart im Jahr 1871, gehörte zu jenen, die selbstkritisch über diesen Vorgang nachdachten: »Ich hatte früher geglaubt, Böhmen sei bereits germanisiert und mehr als zweihundert Jahre vereinigter Bürokraten- und Jesuitenarbeit unter dem Absolutismus seit der Schlacht am Weißen Berge bis in das vierte Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts hatten es ja zustande gebracht gehabt, dass die gebildeten Schichten der Tschechen deutsch sprachen. Aber das Volk war nicht deutsch geworden und kaum zwei Jahrzehnte haben genügt, die ganze tschecho-böhmische Bevölkerung kulturell und politisch in einem Nationalbewußtsein der zähesten Art neu zu verschmelzen. Diese Wiederbelebung war so schnell, ich möchte sagen, so hussitisch gekommen, dass sie selbst die Erwartung der Wiederentdeckung ihrer Nationalität Palackys und Safariks übertraf.«185
Von nicht zu unterschätzender Bedeutung für die tschechische Wiedergeburt war der Panslawismus, so wie der Slowake Jan Kollár (1793-1852) ihn vertrat. Er strebte in erster Linie nach einer kulturellen und geistigen Zusammenarbeit der slawischen Völker und weniger nach ihrer politischen Vereinigung, die allerdings in seiner mystischen Konzeption des Slawentums durchaus mitenthalten war.
Benes charakterisiert Kollárs Panslawismus folgendermaßen: »Kollár ist der Vater des westlichen Slawismus von romantischer Konzeption; die aus dem ursprünglichen Slavophilentum entstandene russische Konzeption des Panslavismus und Panrussismus näherte sich jenem an und benutzte ihn politisch.«186
Kollárs wissenschaftliches Hauptwerk Über die literarische Wechselseitigkeit zwischen den verschiedenen Stämmen und Mundarten der slawischen Nation erschien zuerst 1837 in deutscher Sprache in Pest. Kollár geht von der Existenz einer großen slawischen Mutternation aus, die sich in einzelne Stämme mit unterschiedlicher Sprache auseinander entwickelt habe. Kollárs Werk über die Wechselseitigkeit rief in der gesamten slawischen Welt eine gewaltige Wirkung hervor. Es ist für den westslawischen kulturellen und romantischen Panslawismus grundlegend. Bereits in seiner Sammlung von Sonetten, die unter dem Titel Tochter der Slava (Slávy dcera) das erste Mal 1824 in Pest erschien, deren Wirkung auf das tschechische literarische Publikum ungeheuer groß war, nicht zuletzt, weil man es als heftig antideutsch ansah, hatte Kollár in einer poetischen Form seinen Grundgedanken im Mythos von der göttlichen Slava niedergelegt, die im Mittelpunkt der Welt steht und von einem Riesen träumt: das Haupt dieses Riesen bildet Russland, Polen dessen Brust, Böhmen die Arme, Serbien die Beine usw. Würde der Riese erwachen, müsste Europa vor ihm erzittern.
In Kollárs panslawistische Ideen gingen die Überlegungen der russischen Slawophilen ein. Chomjakow, die Brüder Kirejewski, die Brüder Aksakov, Walujew und Samarin hatten an deutschen Universitäten Motive aus der Geschichtsphilosophie Herders, Schellings und Hegels in sich aufgenommen und übertrugen diese auf die russisch-slawischen Verhältnisse. Die Slawophilen verurteilten die sklavische Nachahmung des Abendlands und seines Geistes, den Peter der Große in Russland eingeführt hatte. Sie lehnten die emanzipatorischen Ideen und den Individualismus des Westens ab. Sie sahen in diesen den Quell unablässigen Aufruhrs. Die irreligiös gewordenen, persönlich zwar freien, aber wirtschaftlich versklavten Individuen im Westen, seien geistig orientierungslos und sozial entwurzelt. Die im Inneren verfaulte westliche Kultur stünde tiefer als die ursprüngliche russische. Im Westen wüte der Kampf Aller gegen Alle, der aus dem entfesselten Individualismus hervorgehe, in dem jeder seinen Mitmenschen die eigene politische und wirtschaftliche Herrschaft aufzwingen wolle. Die auf Äußerlichkeiten aufbauende westliche Kultur trage den Keim des Todes in sich. Sie faule wie ein Leichnam, vor dessen Ansteckungskräften man sich hüten müsse. Nicht im aristokratischen und eroberungssüchtigen germanischen Stamm lebten die Keime einer künftigen europäischen Kultur, sondern im Slawentum, insbesondere im russischen Volk. Diese Slawen seien, wie Herder gezeigt habe, von Natur aus friedfertig und demokratisch veranlagt. Ihnen stehe als Ackerbauern und Freunden der Freiheit eine glänzende Zukunft bevor. Die Westslawen seien dem Einfluss des Romanen- bzw. Germanentums erlegen, nicht aber die Ostslawen. Allen voran die Russen befänden sich als Bekenner der Orthodoxie, die den Aufruhr der Vernunft gegen die Autorität zuverlässig unterdrücke, im Besitz der höchsten (religiösen) Wahrheit. Für Aksakow ist die bäuerliche Dorfgemeinde (Mir), die allen Angehörigen den gleichen Anteil an Grund und Boden gewährt, die Wurzel des Rußentums. In der Ablehnung des persönlichen Eigentums zeige sich die Veranlagung des Russen, seine Individualität zugunsten der größeren Gemeinschaft aufzuopfern. Die Slawen besitzen nach Aksakow, der hier einen Gedanken äußert, auf den sich später Andrássy und andere berufen konnten, die die politische Emanzipation des Slawentums als historischen Irrweg oder zumindest als verfrüht betrachteten, keine Kraft zur Staatenbildung. Deswegen hätten die Russen die Waräger unter Rurik zu sich gerufen, damit er sie regiere. Das Land, das Volk habe sich dem Herrscher freiwillig unterworfen. Die Macht des Staates gründe in Russland nicht auf Gewalt, sondern auf Freiheit. Nicht die vom abendländischen Geist seit Peter dem Großen infizierte Elite, sondern der russische Bauer verkörpere die russische Seele und repräsentiere das russische Volk. Das russische Volk sei selbst in der Leibeigenschaft noch freier, als das westliche Proletariat. Durch die Bindung an den gemeinsamen Landbesitz verhindere die Dorfgemeinde die Entstehung eines wurzellosen Proletariats. Das Volk habe zugunsten der Autokratie des Zaren freiwillig auf seinen Anteil an der politischen Macht verzichtet. Die Unterstützung der zarischen Autokratie und der Kampf gegen den westlichen Emanzipismus sei deswegen eine Verteidigung der Ursprünglichkeit des russischen Volkes. Mit dieser romantischen Verklärung der Ursprünge und der sozialen Verhältnisse verband sich ein spezifisch slawischer politisch-religiöser Messianismus. Die Russen sind wegen ihrer unverderbten Moralität und ihres reinen Glaubens zur Rettung des Abendlands berufen. An die Epoche der Vorherrschaft des dekadenten Westens schließe sich eine Epoche des Slawentums an, von dem die Erneuerung der Menschheit ausgehe. Russland komme die Aufgabe zu, die unterdrückten Brüder zu befreien, nicht aber, sie zu beherrschen.
Andere slawische Völker griffen diesen Messianismus auf, sahen aber jeweils sich selbst in der Rolle der führenden geistigen und politischen Macht bei der Vereinigung aller Slawen und der Überwindung der westlichen Dekadenz. Diese innerslawische Rivalität fasst Fischel sehr gut zusammen, wenn er schreibt: »Die Tschechen hielten sich vermöge ihrer alten literarischen Kultur und ihrer jüngsten großen Fortschritte sowie als Vorhut des Slawentums vor allem zur Führerrolle berufen. Die Slowaken machten sie ihnen streitig. Die Polen, welche von der hohen Warte ihrer Sonderkultur auf die slawische verächtlich herabsahen, meinten, insoweit sie den Panslawismus als ein brauchbares Werkzeug ihrer Unabhängigkeitsbestrebungen ansahen, dass ihnen die Spitze der slawischen Pyramide nicht fehlen könne. Die Russen hegten nicht den leisesten Zweifel darüber, dass sie gemäß ihrer gewaltigen politischen Macht oder doch nach dem sittlichen Vorrang, den ihnen der Besitz des orthodoxen Glaubens gewährleistete, das Einigungswerk zu vollenden und die Gemeinschaft zu leiten haben werden.«187
Kollárs mystischer Panslawismus brachte dem tschechischen Volk nicht die ersehnte Freiheit. Seine Verehrung von »Mütterchen Russland« schloss ein autoritäres System ein, das nicht nur reaktionärer war als das österreichische, sondern das sich auch explizit als politische Vormacht der Reaktion in Europa verstand. Die auf Betreiben Alexander I. begründete Heilige Allianz, deren politische Tendenz von Nikolaus I. und Alexander II. fortgeführt wurde, ermutigte auch den absolutistischen Kurs der österreichischen Regierung. Russland begünstigte eine Politik, die gegen die nationalen Volksbewegungen gerichtet war. Die russische Unterstützung des tschechischen Nationalismus rief deswegen in den Tschechen zwiespältige Gefühle hervor. Doch trotz der Bedeutung des russischen Panslawismus für das Erwachen des slawischen Nationalbewusstseins im Habsburgerreich, rückte die tschechische Nationalbewegung nicht von ihren alten Vorstellungen ab. Selbst der Vater der tschechischen Nation, Palacky, der sich für die friedliche Trennung von den Deutschen einsetzte, kehrte nach einem kurzen panslawischen Intermezzo zu den alten sozialen und politischen Begriffen des böhmischen Staatsrechts zurück.
Was Steiner den Tschechen vorwarf, war dieser auf Mythen begründete Nationalismus. Insofern sie von ihren Idealen des alten böhmischen Staatsrechts, von den panslawischen Ursprungsund Zukunftsmythen erfüllt waren, lebten sie in einem pseudomythischen Bewusstsein: sie glaubten an Mythologeme, die sie erst selbst erfunden hatten. Dieses Bewusstsein hatten die Deutschen seiner Ansicht nach in ihrem Entwicklungsgang durch die kritische Arbeit Kants, die Beiträge der Klassiker und Idealisten an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert bereits überwunden. Diese Bildungsstufe repräsentierte eine höhere Entwicklungsstufe des Geistes: die Überwindung des Mythos durch den Begriff, der Anschauung durch das Denken, der gefühlsgetränkten Imagination durch die Vernunft.
Der bereits erwähnte aufgeklärte Konservative, der Deutschböhme Graf Leo Thun (1811-1888), verwarf als Realist und Pragmatiker diesen panslawistischen, politischen Mystizismus als illusionären Traum. Er unterstützte bereits vor der Revolution das tschechische Kulturprogramm und plädierte für eine breitere Anerkennung der tschechischen Sprache. Er vertrat die Auffassung, die tschechischen und deutschen Sprachforderungen müssten nicht in Konflikt miteinander geraten, wenn ihre Verwirklichung von pragmatischen Gesichtspunkten bestimmt würde. Doch wurde die Sprachenfrage in Böhmen immer weniger von rationalen Gesichtspunkten und immer mehr von nationalen Emotionen bestimmt. Von weitaus größerem Einfluss als Thuns Überlegungen waren das Wirken Palackys und Havliceks.
Palackys großer Einfluss vor dem Jahr 1848 beruhte hauptsächlich auf seiner Geschichte von Böhmen bzw. des tschechischen Volkes, wie sein mehrbändiges Werk in der tschechischen Ausgabe hieß. Seiner Auffassung nach sind die Tschechen zu Märtyrern bestimmt und der Kampf gegen die Deutschen ist Sinn und Inhalt ihrer Geschichte. Der Panslawismus reichte nach Palackys Darstellung bis zu den Hussitenkriegen zurück, in denen bereits die Unterdrückung der böhmisch-tschechischen Nationalität durch den germanischen Imperialismus zutage trat. Alle großen tschechischen Führer, bis zu Benes, waren in der einen oder anderen Beziehung von Palacky abhängig. Der Grund für diese Abhängigkeit lag einerseits in der umfassenden Arbeit, die er für das Erwachen der tschechischen Nationalität geleistet hatte, es lag aber auch an dem breiten Spektrum von politischen Positionen, die er im Verlauf seines Lebens einnahm.
Redlich beschreibt den Unterschied zwischen den beiden Vordenkern der tschechischen Nationalität Frantisek Palacky (1798-1876) und des liberaleren Karel Havlicek (1821-1856) wie folgt: »… die nationale Idee bildet den Ausgangspunkt und doch auch wieder das Ziel, wenn Palacky auch selbst als ein treuer Schüler der Humanitätsphilosophie noch immer den übernationalen Gedanken, die Idee der Völkervereinigung, als universalistisches Prinzip über die rein nationale Idee ausdrücklich stellt. Diese weltbürgerliche Grundidee fällt aber schon bei Palackys Jünger und Mitarbeiter, bei Havlicek, als bloße Hülse zu Boden, um so kräftiger und eindringlicher tritt dagegen in der durchaus volkstümlichen, bildhaften und überzeugenden Sprache dieses großen Popularisators der Palackyschen Ideen der rein nationale Gedanke hervor. Dieser aber empfing durch die durchaus urwüchsige, dem tschechischen Volke unmittelbar entsprechende Persönlichkeit Havliceks von Anfang an jene echt demokratische Fassung, die dem innersten Wesen des Westslawentums, der Psyche seiner Bauern- und Kleinbürgervölker allein entsprechen konnte. Dabei blieb aber Palacky doch immer der Lehrer, Havlicek sein Schüler. Das zeigt sich am besten darin, dass Havlicek durchaus an dem historischen böhmischen Staatsgedanken, wie ihn Palacky geprägt hat, festhält und daher im weiteren Verfolg in der Föderation die einzige Form sieht, in welcher der nationale Gedanke der Tschechen sowie der Südslawen praktisch verwirklicht werden kann. …
Nationale Gleichberechtigung, Demokratie und das Dogma vom unverwüstlichen Rechte des böhmischen Volkes auf seinen Staat als Einheit der Länder der Wenzelskrone: das sind die drei Grundlehren des tschechischen Nationalprogrammes von 1848, wie Palacky sie formuliert, Havlicek sie volkstümlich gemacht hat und nach denen nur der erste als »Praeceptor« seines Volkes im Fortgang der Bewegung von 1848 das speziell »österreichische« Programm der Tschechen, den österreichischen Föderalismus aufzubauen, sich bemüht.«188
Die Geschichte der österreichisch-tschechischen Beziehungen im Habsburgerreich ist eine Geschichte der enttäuschten Hoffnungen auf die Verwirklichung des von Palacky umschriebenen Programms.
Die tschechische revolutionäre Bewegung in Österreich war nicht nur die erste, die 1848 tatkräftig in Erscheinung trat und scheinbar echte Erfolge erzielte; sie war auch die erste der revolutionären Erhebungen in Mitteleuropa, die durch Gewalt unterdrückt wurde. Die tschechische Revolution dauerte nur knappe drei Monate – von dem Entwurf der ersten Petition im Prager Wenzelsbad im März 1848 bis zur Errichtung der Militärdiktatur des Fürsten Windischgrätz in Prag Mitte Juni 1848. Der Prager Juni-Aufstand war nach Jahrhunderten der erste Auftritt von Tschechen mit der Waffe in der Hand für politische Forderungen. Während der Vorbereitungen für den Mai-Aufstand von 1849 machten sich Tschechen das erste Mal im Rahmen einer revolutionären Bewegung die Vorstellung einer Zerstörung des Habsburgerreiches zu eigen. Doch Palacky erteilte wie bereits weiter oben beschrieben, der Frankfurter Versammlung eine Absage, denn er sah in einer der deutschen Übermacht unterworfenen slawischen Bevölkerung Habsburgs keine positive Perspektive für die Emanzipation des tschechischen Volkes vom Absolutismus.
Ein kaiserliches Manifest vom 15. März 1848 versprach angesichts der revolutionären Bewegungen die Einführung einer konstitutionellen Regierung und das fünf Tage später ernannte Kabinett Kolowrat-Pillersdorf hatte die erklärte Aufgabe, Österreich in eine konstitutionelle Monarchie umzuwandeln. Das von Kaiser Ferdinand am 17. März erlassene »Reskript«, das er als König von Ungarn erließ, versprach die Gewährung der Forderungen des Reichstages von Preßburg, was auf die Bewilligung einer dem Volk verantwortlichen konstitutionellen Regierung in Ungarn hinauslief. Das kaiserliche Reskript vom 8. April 1848 ging sogar noch weiter: es anerkannte die Gleichberechtigung der deutschen und »böhmischen« Nationalität, bewilligte die Einberufung eines böhmischen Landtages auf Grund eines verhältnismäßig demokratischen Wahlrechtes und die Schaffung eines gemeinsamen Landtages aller böhmischen Länder. Des weiteren stellte es die Errichtung einer gemeinsamen Verwaltung für alle drei Länder in Aussicht. Die Abschaffung der Patrimonialgewalt des Adels, die demokratische Selbstverwaltung der Städte und die Presse- und Versammlungsfreiheit wurden versprochen.
Doch die Urkunde vom 8. April fand keine Verwirklichung. Die zügige Unterdrückung der Revolution in Prag machte die böhmischen Hoffnungen zunichte. Die Deutschen äußerten ihren Protest gegen das kaiserliche Reskript, das die Autonomie der böhmischen Krone bewilligte, bereits am 9. April. Am 11. April schrieb Palacky seinen Brief an den Fünfzigerausschuss, der die Teilnahme der Tschechen an der Tätigkeit des Frankfurter Vorparlaments ablehnte.
Die nach dem Scheitern der liberalen Umgestaltung eintretende neoabsolutistische Wende verhinderte eine Weiterentwicklung der böhmischen Nationalitätenrechte. Havlicek starb im Exil. Rieger und Palacky zogen sich aus der Politik zurück. Das politische Leben beschränkte sich auf die kleinlichen Reibereien im Sprachenkonflikt, der seit der Revolution virulent war. Redlich dazu: »Damit war nun der Grund gelegt zu dem ganzen, durch sieben Jahrzehnte fortgesponnenen und hoffnungslosen Kampf um das österreichische Amtssprachenrecht, ein Kapitel der neueren österreichischen Geschichte, das wohl als der stärkste Beweis der politischen und legislativen Unfähigkeit des neu-österreichischen Obrigkeitsstaates dauernd angesehen werden wird.«189
Die politische Kapitulation des tschechischen Nationalismus vor der sozialen Reaktion in der Zeit des Neoabsolutismus wirkte sich zum Vorteil der kaiserlichen Regierung aus. Der österreichisch-ungarische Ausgleich von 1867, der die tschechischen Forderungen vollständig ignorierte, wäre wohl kaum so reibungslos akzeptiert worden, wenn nicht inzwischen die Alttschechische Partei in Böhmen das Ruder übernommen hätte. Dass sich daneben aber Teile der böhmischen politischen Klasse radikalisierten, zeigte sich an der aktiven Teilnahme der Tschechen am zweiten panslawistischen Kongress, der in Moskau im Jahr 1867 stattfand, anlässlich dessen sich sogar der Alttscheche Rieger zu einem Bekenntnis zur panslawischen Solidarität genötigt sah (siehe weiter unten).
Der Ausgleich von 1867 hatte aber eine umfassende föderalistische Lösung des Nationalitätenproblems in der Doppelmonarchie ein für allemal versperrt. Die nationalen Forderungen der politisch führenden Nationalitäten, der Deutschen und Magyaren, waren zumindest vorläufig befriedigt worden. Daneben gab es die Politik der provisorischen Lösungen aufgrund derer die Ansprüche der Polen und Kroaten im ungarisch-kroatischen Ausgleich von 1868 und durch Zugeständnisse in der Verwaltung Galiziens an die Polen beschwichtigt wurden. Hätte das 1871 ernannte Kabinett Hohenwart einen tschechisch-deutschen Ausgleich erzielen können, wären die fünf größten Nationalitäten des Kaiserreichs zumindest vorübergehend zufriedengestellt worden, ja möglicherweise wären sie sogar zur Unterstützung des Reichsgedankens gewonnen worden. Aber das Ministerium Hohenwart versagte vollständig. Die deutschliberale Politik hatte keine andere Folge als die Förderung eines militanten Nationalismus.
Der Ausgleich hatte auch ein Anschwellen der nationalen Bewegung in Böhmen in den Jahren 1868-1871 zur Folge, die jetzt die Dimensionen einer demokratischen Massenbewegung annahm. Mehr als hundert große Volksversammlungen, sog. »tabory« fanden in diesen Jahren in Böhmen statt, weitere vierzig in Mähren und Schlesien, auf denen sich die Unzufriedenheit der tschechischen Bevölkerung artikulierte.
Diese Entwicklung suchte Hohenwart als Ministerpräsident abzufangen, indem er nach einer Versöhnung mit den Tschechen strebte. Zusammen mit diesen arbeitete er Gesetzentwürfe aus, die sog. Fundamentalartikel, die einen allgemeinen Landtag der drei Länder der böhmischen Krone (Böhmen, Mähren und Schlesien) einführen sollten. Hohenwart hatte auch ein Nationalitätengesetz ausgearbeitet, das auf einen Kompromiss zwischen den deutschen und tschechischen Forderungen hinauslief. Das Vorhaben scheiterte aber am Einspruch des ungarischen Ministerpräsidenten, des Grafen Andrássy, der in der Installation dieser Gesetze den Anfang vom Ende des dualistischen Systems witterte. Auch der deutsche Kaiser hatte seine Befürchtung anklingen lassen, durch die Verabschiedung der Nationalitätengesetze könne eine deutsche Irredenta in Böhmen und Mähren entstehen.
In dieser Zeit trat auch das »Janusgesicht« (Fischel) der tschechischen Politik deutlicher zutage, die »österreichisch schillerte, wenn die nationalen Wünsche erfüllt wurden, russisch, wenn dies nicht der Fall war.«190 Schon vor dem Zustandekommen des Ausgleichs zwischen Österreich und Ungarn hatte der »Vater der tschechischen Nation«, Frantisek Palacky, orakelhaft verkündet, das Slawentum werde sich im Geiste des Panslawismus gegen Österreich auflehnen. In einer Reihe von Zeitungsartikeln über die Idee des österreichischen Staates schrieb er 1865:
»Der Tag der Ausrufung des Dualismus wird mit unabwendbarer natürlicher Notwendigkeit zugleich auch der Geburtstag des Panslawismus in seiner am wenigsten wünschenswerten Form werden. Dessen Gevatter werden die Urheber jener Staatsform sein. Was darauf folgen wird, kann jeder selbst ermessen. Wir Slawen werden dem mit aufrichtigem Schmerz, aber ohne Furcht entgegensehen. Wir waren vor Österreich und werden auch nach ihm sein.«191 Nun, nachdem eben dieser Dualismus realisiert worden und die Böhmen unberücksichtigt geblieben waren, nachdem die neuerlichen Hoffnungen auf eine Föderalisierung des Reiches zugunsten der Tschechen durch das Ministerium Hohenwart am gemeinsamen Widerstand der Deutschen und der Magyaren gescheitert waren, wandte sich Palacky von seinem einstigen vorbehaltlosen Plädoyer für die Existenz des Habsburgerreiches ab und brachte seine Enttäuschung und seine Wut gegen die teutonischen Träger des österreichischen Staatsgedankens in seinem politischen Vermächtnis am 31. Juli 1872 in maßloser Gehässigkeit zum Ausdruck. Er distanzierte sich von seinem früheren Hochlied auf Habsburg und die deutsche Kultur des Humanismus und Kosmopolitismus, insbesondere von der Formel, »wenn Österreich nicht bestünde, so müsste es geschaffen werden« und bezeichnete diese Ansicht als den größten Irrtum seines Lebens. Er hege, was die Zukunft des Habsburgerreiches anbetreffe, keine großen Hoffnungen mehr, seit die Deutschen und Magyaren aus ihm eine Rassendespotie machten. Deutsche und Magyaren seien, wie die Mongolen, eroberungssüchtige Rassen, die Slawen hingegen Repräsentanten der Friedfertigkeit und Gerechtigkeit. Sollten die Tschechen Untertanen des Hohenzollernreiches werden, würden sie sich mit diesem Schicksal niemals abfinden und die Preußen wegen der Germanisation als »geschworene Feinde und Mörder ihrer Nationalität« betrachten. Kämen sie unter russische Vorherrschaft, könne sich dies nur zu ihrem Vorteil auswirken. Die geschworenen Feinde der Tschechen bemühten sich deshalb auf jede nur denkbare Art, diese zu schwächen, ja sie auszurotten. Dadurch suchten sie zu verhindern, dass wenn der zukünftige Weltkampf zwischen dem Germanentum und dem Slawentum ausbreche, sich die Tschechen an die Seite ihrer natürlichen Verbündeten im Osten, an die Seite der Russen stellen könnten. Die von Jahr zu Jahr wachsende Hoffahrt, Herrschsucht und Habgier der Deutschen, die bereits schamlos verkündeten, sie seien zur Herrschaft über die Slawen berufen, werde das Bewusstsein der panslawischen Solidarität stärken und die Freundschaft zwischen Tschechen und Russen vertiefen. Aus dieser könne nur die glorreiche Zukunft der Überwindung der Mongolen, Magyaren und Deutschen hervorgehen.
Im Hinblick auf dieses Schwanken zwischen Glorifizierung und Verteufelung der deutschen Kultur und österreichischen Politik hatte bereits 1849 der spätere polnische Minister Florian Ziemialkowski vom Tschechen als einem slawischen Ulysses gesprochen: »Der Tscheche ist der slawische Ulysses. Er lebt von der Falschheit. Er verteidigt die Integrität Österreichs, um es dann zu beherrschen. Der Pantschechismus ist der leibliche Sohn des Panslawismus.«192
Rieger stand diesbezüglich Palacky in nichts nach. Auf dem sog. zweiten Slawenkongress erklärte er angesichts der russischen Expansionsbestrebungen: »Die Slawen sind zwar auf der Bahn der Kultur hinter den anderen Nationen, den Griechen, den Italienern, Franzosen und zuletzt den Deutschen ein wenig zurückgeblieben. Nun brach die Zeit der slawischen Kultur an, wo auch die Slawen wieder sagen können, sie seien die grande Nation nicht bloß an Zahl, sondern auch an Geist und Kultur. Hiezu bedarf es aber der geistigen Arbeit und in dieser Beziehung fällt den Russen die Hauptaufgabe zu. Nun wartet ihrer aber auch die Arbeit der Eroberung. Ihnen obliegt es, die Südslawen zu befreien, damit der slawische Stamm nicht mehr unter dem Türkenjoch seufze. Wenn Russland seine Aufgaben erfüllt, werden sich alle Slawen vor ihm beugen.«193 Die Hoffnungen der Panslawisten sollten erst nach dem II. Weltkrieg, allerdings in einem anderen, als dem von ihnen angestrebten Sinn, in Erfüllung gehen.
Infolge des österreichisch-ungarischen Ausgleichs kam es 1868 auch zu einem kroatischen Ausgleich. Die Kroaten erhielten ein Maß an Selbstverwaltung, das nahezu staatliche Unabhängigkeit verbürgte. Die innere Verwaltung wurde ihnen überlassen. Die kroatische Sprache wurde zur alleinigen öffentlichen Sprache erhoben. Ein Minister ohne Portefeuille vertrat das Land im Rat der Krone. Über einen Großteil der Steuereinnahmen konnten die Kroaten selbst verfügen. Allerdings sahen sich Teile der kroatischen Opposition durch den Ausgleich nicht befriedigt. Der Vertreter der großkroatischen Idee, Anton Starcevic, der die Wiedererrichtung des dreieinigen Königreichs Kroatien-Slawonien-Dalmatien verfocht, für den Südslawen oder Serbokroaten nichts als ein »Volkskehricht und Verräter am kroatischen Volk und Reich« waren, kämpfte verbissen gegen die für ihn unbefriedigende Lösung. Während Ungarn sein Magyarisierungsprogramm mit konsequenter Unerbittlichkeit fortsetzte, kam es im österreichischen Teil der Doppelmonarchie trotz verschiedener nationaler Widerstände infolge des Ausgleichs zu einer fortschreitenden Liberalisierung und Föderalisierung.
Anlässlich des russisch-türkischen Krieges, der entgegen der russischen Propaganda kein Krieg zur Befreiung der Christen vom Türkenjoch war, sondern ein nationaler Expansionskrieg, erklärte der bereits zitierte Rieger (am 3. Mai 1877) im Namen der alttschechischen Landtagsabgeordneten in einer Grußadresse an J. S. Aksakow als den Vorsitzenden des slawischen Wohltätigkeitskomitees in Moskau unter anderem: Nun beginne für die russische Nation, ja für den gesamten slawischen Völkerstamm die Periode, in der das Ehrenamt des Vortritts in der Weltgeschichte von der arischen Völkerfamilie, der Schöpferin der Zivilisation, an die Slawen übergehe. Der jüngsten und zahlenmäßig größten der slawischen Nationen sei es bisher nicht vergönnt gewesen, in der Geschichte eine ihrer Größe entsprechende Rolle zu spielen. Nur ihre schwächeren Stämme im Westen, die dem Strom der christlichen Kultur näher standen, und dem Andrang der asiatischen Barbaren nicht unmittelbar ausgesetzt waren, hätten bisher für sie eintreten können. Der Anteil der Tschechen am Fortschritt der allgemeinen Kultur habe an jenem Tag begonnen, als durch sie das Licht des Christentums, von den Slawenaposteln auf dem tschechischen Welehrad angezündet, dem ganzen Osten aufging und seinen Höhepunkt in der großen Hussitenzeit erreicht, als die Tschechen als erste in Europa den Kampf für eine Idee aufgenommen hätten … Die große Mission des Slawentums in der Geschichte der Zivilisation müsse einer größeren Kraft überlassen bleiben. Nun sei das russische Volk ins Jünglingsalter eingetreten, indem es den Kampf für eine Idee, für das Christentum, die Humanität, die Befreiung seiner slawischen Brüder auf sich genommen habe. Europa sei gealtert und scheine kaum mehr imstande, sich für die Interessen der Kultur und Humanität zu begeistern, denn es sei zu seiner Schande bereits so sehr entchristlicht, dass die Enkel der Kreuzfahrer einen Halbmondszug nach der Krim unternommen hätten, um die weitere Unterdrückung der Christen und die kulturmörderische Herrschaft der Erbfeinde der Christenheit aufrechtzuerhalten. Die große Nation der Russen möge das Schwert der Humanität ergreifen und es zum Heil der christlichen Kultur, zur Begründung einer großen Zukunft der Slawenwelt schwingen.194
Auf Hohenwart folgte Andrássy als Ministerpräsident, von dem die Tschechen wenig Gutes zu erwarten hatten. Die Ablehnung ihrer Forderungen führte zu einer Radikalisierung des tschechischen Nationalismus und zum Übergang der politischen Führung von den Alt- auf die Jungtschechen. Als das liberale Kabinett Auersperg 1878 gegen die Besetzung Bosnien-Herzegowinas protestierte, die Österreich im Auftrag der europäischen Großmächte und mit dem zähneknirschenden Einverständnis der Türkei vollzog, führte dieser Protest zum Sturz des Liberalismus im Habsburgerreich.
Der deutsche Widerstand gegen die Okkupation war Ausdruck der Befürchtung, ein weiterer Zuwachs an Gebieten mit einer nichtdeutschen Bevölkerung werde den deutschen Einfluss im Habsburgerreich gefährden. Diese Befürchtung war keineswegs irreal. Rudolf Mattausch schreibt über die reale Bedrohung der deutschen Privilegien und ihre psychosozialen Folgen 1973:
»Die Deutschen fühlten sich tatsächlich bedroht. Die beginnende Industrialisierung brachte schon damals tschechischen Zuzug in die nord- und westböhmischen Industriezentren und erzeugte damit nicht nur soziale, sondern auch nationale Reibungsflächen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg hat sich dieser Druck immer mehr verstärkt. So gab der Beginn der nationalen Auseinandersetzung den Deutschen das bedrückende Gefühl, sich als nationale Minderheit in eine politische Defensivstellung gedrängt zu sehen. Das hat bis zum Ersten Weltkrieg ihre Einstellung zu Österreich in positiver wie negativer Weise beeinflusst … Auch ihre Einstellung zum deutschen Gesamtvolk und zum deutschen Reich – gleichgültig welcher politischen Form – resultierte aus dem Gefühl, in der eigenen Heimat als nationale Minderheit dauernd bedroht zu sein.«195 Immerhin hätte Ende der 70er und Anfang der 80er Jahre die Möglichkeit bestanden, durch die Vertiefung der bereits in Angriff genommenen föderalistischen Reformen eine Entspannung der Beziehungen zwischen den einzelnen Nationalitäten herbeizuführen. Die Südslawen in- und außerhalb der Monarchie zur Zeit der Befreiung Serbiens von der türkischen Herrschaft waren einer Lösung der südslawischen Frage nicht abgeneigt, die alle Serben und Kroaten – möglicherweise auch die Slowenen – dem Reich als selbständige Einheiten eingegliedert hätte. Aber der Schatten des deutsch-magyarischen Ausgleichs von 1867 lag über dem Bewusstsein der Handelnden, und hinderte sie daran, eine der letzten Chancen zu einer solchen Lösung zu ergreifen.
Das zentralistische Staatsverständnis hatte die anderen Nationalitäten nicht nur gegenüber den Deutsch-Liberalen, sondern auch gegenüber dem Liberalismus insgesamt entfremdet. Die liberalen Zugeständnisse an die Nationalisten hatten diese nicht etwa endgültig befriedigt, sondern begierig auf mehr gemacht. Die Liberalen konnten ihre Ordnungsvorstellungen auf kulturellem Gebiet durch ihre Reform des Unterrichts und des Rechtswesens durchsetzen, aber sie waren in anderer Hinsicht politisch vollkommen erfolglos. Die Frage ist, ob ihre Außenpolitik – langfristig gedacht – erfolgreicher war, als ihre Innenpolitik. Die deutsch-liberale Parteiorganisation in Österreich verfiel zusehends der Bedeutungslosigkeit.
Graf Taaffe, der konservative Jugendfreund Franz Josephs, der nach Metternich die längste Amtszeit innehatte, stützte sich ab 1879 auf eine Koalition von deutsch-klerikalen, tschechischen und polnischen Konservativen. Keine dieser Gruppierungen hatte etwas gegen die Besetzung Bosnien-Herzegowinas einzuwenden: die Tschechen und die Polen nicht, weil sie sich von der Vermehrung der Slawen im Habsburgerreich eine Stärkung ihrer eigenen Position versprachen, die konservativ-klerikale Gruppe nicht, weil sie ihr die Vertreibung der Liberalen verdankten.
Taaffe gelang es durch eine Reihe von politischen Versprechungen, die Tschechen nach einer sechzehnjährigen »starren und völlig erfolglosen«196 Politik der Abstinenz wieder ins Parlament und in die Regierung zurückzuholen. Die Tschechen hatten eingesehen, dass sie durch eine Mitarbeit im Parlament möglicherweise mehr für die Verwirklichung ihrer politischen Interessen erreichen konnten, als dadurch, dass sie lediglich die Rolle einer außerparlamentarischen Opposition spielten und dem Reichstag fernblieben. Sie waren unter gewissen Zugeständnissen bereit, wieder ins Parlament zurückzukehren. Was Taaffe zu geben bereit war, ging auf Kosten der Deutschen: die vom Justizminister Karl von Stremayr erlassenen Sprachenverordnungen von 1880, die die Verwaltungsorgane in den Ländern der ehemaligen böhmischen Krone dazu verpflichteten, deutsch und tschechisch im Parteienverkehr gleichberechtigt zu behandeln sowie die Teilung der Prager Universität im Jahr 1882. »Der Wiedereintritt der Tschechen ins Parlament«, so Friedrich Prinz im Handbuch der Geschichte der böhmischen Länder, »war mit einer Reihe nationalpolitischer Konzessionen verknüpft, zu denen ihre staatsrechtliche Verwahrung und Grundsatzerklärung gehörte, ferner die Bestellung eines tschechischen Landsmannministers … Des weiteren erhielten die Tschechen feste Zusagen hinsichtlich einer Teilung der Prager Universität in eine tschechische und eine deutsche Hochschule, ferner Garantien über die Gleichberechtigung beider Landessprachen bei den staatlichen Behörden und den Selbstverwaltungsorganen, doch unter Aufrechterhaltung der deutschen Sprache im innerbehördlichen Dienstverkehr.«197
Durch die im Jahr 1882 durchgeführte Wahlrechtsreform, die eine bedeutende Erweiterung des Kreises der Stimmberechtigten mit sich brachte, bereitete sich ein politischer Umschwung vor, der 1890 den Sieg der radikalen Jungtschechen über die konservativen Alttschechen nach sich zog. Während mit den Jungtschechen und ihrer Klientel kleinbürgerliche, von »intransigentem Nationalismus« und »ideologischem Doktrinarismus« (Prinz) erfüllte Kräfte in die politische Arena drangen, entwickelten sich diesen gegenüber als Abwehrbewegung die unterschiedlichsten deutschnationalen Bestrebungen. Prinz sieht einen weiteren Faktor, der das Wachstum der deutschnationalen Bewegung in den böhmischen Ländern begünstigte, wie viele andere Historiker, in der Isolierung des österreichischen Deutschtums seit dem Ausscheiden der Habsburgermonarchie aus dem Deutschen Bund 1866: »das deutsche Element sah sich in immer stärkerem Maße dem wachsenden politischen und sozialen Gewicht der Slawen Zisleithaniens gegenüber, und dieses Gefühl der nationalen Bedrohung erzeugte in seiner radikalen Konsequenz einen prodeutschen, sich an der Bismarckverehrung emporrankenden »Irredentismus« …«198
Als es im Sommer 1881 in Prag zu schweren tschechischen Ausschreitungen kam, riefen diese unter den Deutschböhmen eine starke nationale Bewegung hervor. Es kam zur Gründung einer Reihe von kulturellen Schutzvereinen für die deutschen Interessen in den Ländern der ehemaligen böhmischen Krone. Diesen standen entsprechende Vereinigungen auf tschechischer Seite gegenüber. Eine nicht zu unterschätzende Rolle spielten die tschechischen Turnervereinigungen im sich entwickelnden politischen Kampf der Straße. »Doch lässt sich nicht leugnen«, so Prinz, » dass die Abwehrreaktionen der Deutschen in den böhmischen Ländern durch die Furcht vor dem scheinbar unaufhaltsamen bevölkerungspolitischen Vormarsch des tschechischen Volksteils verstärkt wurden, der seit den sechziger Jahren eingesetzt hatte und mit dem industriell bedingten Einstrom tschechischer Landbevölkerung in die gemischtsprachigen Städte im Inneren Böhmens und Mährens eine rasche Tschechisierung bewirkte.«199
Die Deutschen wurden in der Gesamtpolitik ebenso wie in der Landespolitik immer mehr in die Defensive gedrängt und unter ihnen gewann die Idee einer administrativen Teilung des Landes, die sich an den ethnischen Grenzen orientieren sollte, immer mehr Anhänger. Die Taaffe-Stremayrschen Sprachenverordnungen vom April 1880 legten für Böhmen und Mähren die Doppelsprachigkeit im Parteiverkehr der Gerichte und Ämter fest. »Betroffen wurden durch die Sprachenverordnungen vornehmlich Behörden in den geschlossen deutschen Gebieten der böhmischen Länder, weil sie nun zur Amtshandlung in tschechischer Sprache verpflichtet wurden. Da die Tschechen ohnehin meist beider Landessprachen mächtig waren und die Landesverwaltung schon zum Großteil in tschechischen Händen lag, bedeuteten die Verordnungen eine weitere bevorzugte Einstellung tschechischer Beamter und Richter. Von den Taffe-Stremayrschen Sprachenverordnungen an datiert der »Sprachenstreit« in den böhmischen Ländern, der bis zum Ende der Monarchie währen sollte und auf beiden Seiten ein Übermaß politischer Kräfte in die Sackgasse steriler Negation des Nachbarvolkes führte.«200
Unter der Regierung Taaffe nahm der kulturelle und wirtschaftliche Stand der Tschechen einen bedeutenden Aufschwung. Sie erhielten 1882 durch nationale Teilung der ältesten deutschen Universität, einer Gründung der Lützelburger, ihre eigene Alma Mater in Prag, sie konnten zwei technische Hochschulen, eine eigene Akademie der Wissenschaften und eine große Zahl an Mittelschulen sowie Volksschulen begründen. Manche gebildete Tschechen wandten sich von der romantisch-nationalistischen Auffassung ab, die bisher das gesamte geistige Schaffen dominiert hatte, und suchten ihre Gegenstände in der allgemein-menschlichen Entwicklung. Am klarsten distanzierte sich der tschechische Realismus unter der Führung Thomas G. Masaryks von heroischem Historismus und nationaler Romantik, die sich unter Preisgabe der Verwirklichung konkreter politischer Ziele nostalgisch der mystifizierten Vergangenheit hingaben.
Masaryk gehörte der jungtschechischen Partei an, die sich im Jahr 1863 als radikale tschechisch-nationale Bewegung zu entwickeln begann. In Wirtschaftsfragen vertraten deren Angehörige die Interessen des Handels und der Industrie, während die Alttschechen unter feudalagrarischer Führung standen. Was die nationalen Ziele anbetraf, unterschied sich die Politik der Jungtschechen der Theorie nach nicht sehr von jener der Alttschechen. Aber in der Praxis war sie viel indulgenter, viel mehr durch die leidenschaftliche, religiös-nationale Tradition Zizkas und Hus‘ beeinflusst, als die sich auf das böhmische Staatsrecht berufenden Alttschechen.
Der Einfluss Masaryks erstreckte sich auf einen Teil der akademischen Jugend und ergriff nicht die breite Bevölkerung. Er vermochte auch nicht die führenden Kreise in Böhmen für seinen Realismus zu gewinnen, der nicht etwa eine Distanzierung von den nationalen Zielen bedeutete, sondern lediglich die Suche nach zeitgemäßen Formen, diese nationalen Ziele zu artikulieren und zu realisieren. Realismus im politischen Sinn bedeutete, sich vom nationalen Mythos einer selbständigen Staatsform zu verabschieden, die einer bald vierhundert Jahre zurückliegenden Zeit angehörte, und auf dem feudalen Ständesystem beruhte, um sich nach zeitgemäßen Formen einer tschechischen Nationalstaatsidee inmitten der gegenwärtigen politischen Wirklichkeit Europas umzusehen, es bedeutete aber nicht, sich vom panslawistischen Mythos zu befreien. Wenn Masaryk 1909 den im Abgeordnetenhaus versammelten Parlamentariern zurief: »Wir rühmen und preisen Ihren Herder als – ich möchte fast sagen – einen tschechischen, als slawischen Mann, der unseren Palacky, Jungmann, der auch die Polen, Russen und die Slawen überhaupt gelehrt hat, dass Humanität Vermenschlichung, aber auch Nationalisierung bedeutet …« dann brachte er mit diesem »aber auch« das Problem auf den Punkt, denn es gehörte zum tschechischen und mittlerweile auch zum deutschen Mythos im Habsburgerreich, dass Humanität nur um den Preis der Nationalität zu haben war. Deshalb war Masaryk nur konsequent, wenn er anschließend meinte, dass die »Entwicklung des Nationalismus nicht vollendet sei«, dass das Reich so bald als möglich vom Dualismus zu einer föderalistischen Aufgliederung übergehen müsse, dass die Macht zugunsten der Nichtdeutschen, vor allem auch der Böhmen, umverteilt werden müsse.201
Die große Mehrheit des tschechischen Volkes hielt auch in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts am alten nationalen Mythos fest und träumte von den panslawischen Bestrebungen als einem möglichen Weg zur Verwirklichung tschechischer Eigenstaatlichkeit. Viel näher stand den Emotionen des tschechischen Volkes der populäre Dichter Swatopluk Cech, der als geistiger Erbe Kollars am slawischen Vereinigungsgedanken weiterspann und dessen rassischen Messianismus an die aktuellen historischen Verhältnisse anpasste. In seinem allegorischen Gedicht Slavie (Slawien) malte er eine bevorstehende Apokalypse Europas aus, das durch die soziale Frage in den Strudel des Untergangs gezogen werde. Im Augenblick der größten Gefahr verbinden sich alle Slawenstämme unter der Führung Russlands zu einer großen Familie und retten die verzweifelte Menschheit vor dem Abgrund, der sie zu verschlingen droht. Im Rahmen dieses apokalyptischen Szenarios versöhnen sich endlich auch die verfeindeten Brüder: die Russen und die Polen.
Der zunehmend föderalistischer werdende Zentralismus blieb in Österreich auch nach dem politischen Untergang der Liberalen in Kraft. Er wurde sogar von den Tschechen durch ihre Teilnahme an den Verhandlungen des Reichsrates unterstützt. Ein besonderer Landsmannminister nahm, so wie der der Polen, ihre Belange wahr. Durch die Übernahme der Mehrheit im böhmischen Landtag konnten die Tschechen nun die Entwicklung im Sinn ihrer nationalen Interessen beeinflussen und begannen die Deutschen in Böhmen zurückzudrängen. Die Bevölkerung Böhmens zerfiel immer mehr in zwei sich heftig befehdende Teile. Den Hauptstreitpunkt bildete in der Folgezeit die deutsche Geschäftssprache der öffentlichen Verwaltung. Wegen des Sprachkonflikts musste Taaffe schließlich zurücktreten.
Prinz schreibt über die »Slawisierungstendenzen« unter der Ära Taaffe in den achtziger Jahren: »Die Ansammlung großer tschechischer Minderheiten in den deutschen Industriegebieten Nordböhmens, die von den Unternehmern aus Gründen des Lohndrucks herangeholt wurden, und deren ghettoartige Unterbringung, die ihre nationale Assimilation verhinderte, veränderte die Sprachenkarte dieser Gebiete erstaunlich rasch, besonders in Pilsen, Dux-Brüx-Teplitz, Reichenberg und Brünn. Parallel dazu ist eine Abwanderung der deutschen Arbeiterschaft aus gemischtsprachigen Gebieten in die lohnintensiveren Industriebezirke Nordböhmens, Wiens und Niederösterreichs festzustellen. Der Eindruck, dass die böhmischen Länder und letztlich auch Österreich vor einer rassischen »Slawisierung« ständen, war auch im deutschböhmischen Bürgertum allgemein, wobei man neben der Politik Taaffes vor allem eine größere Vitalität der Slawen in Anschlag brachte, nachdem die Statistik einen erheblichen tschechischen Geburtenüberschuss festgestellt hatte. Überzeugungen solcher Art förderten das »Vordringen biologisch-rassischer Denkweisen und die Anwendung darwinistischer Theorien auf den österreichischen Nationalitätenkampf«, sie impften einerseits den Tschechen optimistische Illusionen über eine baldige Assimilation und Verdrängung des Deutschtums der böhmischen Länder ein und erzeugten andererseits bei den Deutschen vielfach eine nationale Abwehrpsychose; beide Reaktionen hemmten jedoch die zum Ausgleich bereiten Kräfte im eigenen nationalen Lager.«202
Die Tschechen wurden durch die österreichische Verfassung in ihrer nationalen Entwicklung gefördert und genossen ebenso wie die Kroaten bereits seit dem ungarisch-kroatischen Ausgleich von 1868 weitgehende Selbstverwaltung. Paragraph 19 des Staatsgrundgesetzes von 1867 lautete: »Alle Volksstämme des Staates sind gleichberechtigt, und jeder Volksstamm hat ein unverletzliches Recht auf Wahrung und Pflege seiner Nationalität und Sprache.« Die staatlichen Behörden setzten sich, soweit sie konnten, für die Verwirklichung dieses Verfassungsgrundsatzes ein, auch gegen den Widerstand von Nationalisten jedweder Couleur. Nicht nur nationale Minderheiten wie Ruthenen, Slowaken und Slowenen sahen in diesem Verfassungsgrundsatz, für dessen Geltung Kaiser Franz Josef persönlich einstand, eine Garantie ihrer Rechte, auch die Juden »empfanden die strikte Rechtsstaatlichkeit als sicheren Hort.«203 Stefan Zweig schrieb rückblickend: »Wer dort [in Wien] lebte und wirkte, fühlte sich frei von Enge und Vorurteil. Nirgends war es leichter, Europäer zu sein, und ich weiß, dass ich zum guten Teil dieser Stadt zu danken habe … dass ich frühzeitig gelernt, die Idee der Gemeinschaft als die höchste meines Lebens zu lieben.«204 Aber manchen Nationalisten war selbst dies zu wenig. Dass es den Tschechen bis anhin nicht gelungen war, ihre geschichtlichen Ansprüche durchzusetzen, schien vielen schon als nationale Unterdrückung, die zum Himmel schrie. Zwar stimmten die Tschechen in der Ära Taaffe, was die Vertretung ihres nationalen Interesses anbetraf, einen etwas moderateren Ton an, doch blieben sie in der Sache hart. Noch immer übte die Utopie eines slawischen Weltreichs unter russischer Führung eine mächtige Anziehungskraft auf die Tschechen aus.
Steiner verfasste für die Deutsche Wochenschrift im ersten Halbjahr 1888 nicht nur längere Aufsätze und politische Kommentare, sondern auch wöchentlich zusammenfassende Berichte über die politischen und geschichtlichen Ereignisse. Was seine Auffassung betrifft, die Tschechen würden innerhalb des Habsburgerstaates »Obstruktion« betreiben und sich durch die Betonung ihrer nationalen Forderungen ins Abseits stellen, lassen seine Berichte einen geschichtlichen Hintergrund aufscheinen, vor dem seine Äußerungen zusätzlich verständlich werden. So berichtet Steiner etwa zur Woche vom 12.-18.01.1888: »In der Prager Landstube kam es am 13. Januar zu stürmischen Szenen, welche dadurch hervorgerufen wurden, dass die Aristokraten bei der Abstimmung über den Antrag Vataschys auf Einführung der sprachlichen Gleichberechtigung sitzenblieben. Die Jungtschechen ballten darob die Fäuste gegen die Großgrundbesitzer und riefen ihnen zu: »Ist das der tschechische Adel? Die tschechische Nation wird sich’s merken. Schmach unserem Adel!« Und so weiter. Es entstand ein Tumult im Hause, und der Vorsitzende musste die Galerien räumen lassen. «205
Über die Woche vom 18.-24.01.1888: »Es sind nicht die besten nationalen und politischen Auspizien, unter denen das österreichische Parlament seine Arbeiten wieder aufnimmt; die Ausgleichsverhandlungen zwischen Deutschen und Tschechen in Böhmen sind gescheitert, und dass dergestalt die wichtige böhmische Frage weiter von ihrer Lösung entfernt ist denn je, drückt den Zuständen in Österreich überhaupt seinen Stempel auf. Am 22. Januar beriet das Exekutivkomittee der deutschböhmischen Landtagsabgeordneten in Prag über die letzten Vorschläge des Fürsten Lobkowitz und beschloß, auf die Wahl von Delegierten zu weiteren Verhandlungen nicht einzugehen … Damit ist die »Versöhnung« in die Brüche gegangen … [Aus dem Briefwechsel zwischen dem Fürsten Lobkowitz und Dr. Schmeykal geht hervor] dass die tschechischen Parteien gar nicht daran dachten, die Forderungen der Deutschen zu erfüllen. Was die Tschechen an Zugeständnissen boten, enthielt nicht die Hälfte von dem, was die Deutschen verlangten, und namentlich lehnten sie es ab, auf die deutschen Landtagsanträge einzugehen, welche die Aufhebung der [Stremayrschen] Sprachenverordnungen [von 1880] und die vollständige nationale Zweiteilung des Landes zum Gegenstande hatten.«196
Obwohl sie ihre Maximalziele innerhalb des Habsburgerreichs nicht verwirklichen konnten, stieß »der nationale Aufstieg der Tschechen von etwa 1860 bis 1914«, wie Koralka und Crampton schreiben, von seiten des österreichischen Staates »auf keine ernsthaften Hindernisse mehr« , »vielmehr wurde er durch verschiedenartige legislative, wirtschafts-, sozial-, und kulturpolitische Maßnahmen begünstigt.«207 Fischel sieht dies ebenso: »In Österreich war der kulturelle Fortschritt der nichtdeutschen Nationalitäten ein unaufhaltsamer, da die im Artikel 19 der Grundrechte gewährleistete Gleichberechtigung aller Volksstämme und Sprachen von der im wesentlichen deutschen Verwaltung im ganzen und großen ehrlich durchgeführt wurde. Das Selbstgefühl der Slawen hob sich zusehends. Der große Fortschritt der Tschechen in Bildung und Wirtschaft war selbst für den oberflächlichen Beobachter unverkennbar.«208
1890 sabotierten die Tschechen erneut einen österreichisch-tschechischen Ausgleichsversuch – diesmal unter der Führung der panslawistischen Jungtschechen Kramar und Masaryk –, weil er ihrem Maximalismus zuwenig entgegenkam.
Kann fasst die Entwicklung zwischen 1848 und 1918, was die Rolle der Deutschösterreicher im Habsburgerreich anbetrifft, in seiner ausgewogenen Art zusammen: »Die im wesentlichen noch unangefochtene Herrschaft des deutschen, genauer gesagt deutschorientierten Zentralismus in Österreich rief bis 1848 ein Minimum von Antagonismus unter den anderen Volksgruppen hervor. Zwanzig Jahre später konnte die von dieser Volksgruppe vertretene großartige Kulturleistung keinen übernationalen Anspruch mehr erheben. Ohne im absoluten Maßstab im geringsten an Bedeutung zu verlieren, fiel die deutsche politische und kulturelle Stellung relativ gesehen gegenüber den anderen Volksgruppen zurück. Als nationale Gruppe nahmen die Deutschösterreicher bis 1918 vielleicht noch den Rang eines primus inter pares ein, aber nicht mehr.«209 Wenn Bierl im Anschluss an seine wahnwitzige Behauptung bezüglich eines Deutschnationalismus bei Steiner meint: »Jahrzehnte später referierte Steiner in Berlin zustimmend Schröers Ansicht, die Deutschen Österreichs seien die Makedonier der Neuzeit: So wie die Makedonier unter Alexander dem Großen griechische Kultur nach Asien brachten, müssten die deutschen Österreicher dem Osten beziehungsweise den Slawen Kultur beibringen. Den Vortrag hielt Steiner im Februar 1916, im Sommer zuvor hatten deutsche und österreichische Truppen Warschau, Brest-Litowsk und Wilna erobert.« (B, 18), um mit dieser historischen Verknüpfung zu suggerieren, Steiner sei ein blindwütiger deutschnationaler Imperialist gewesen, der für die Verwirklichung seiner Vorstellung von der europäischen Ordnung bereit war, über Leichen zu gehen, dann ist dieser Suggestion die Frage entgegenzuhalten, was denn so schlimm daran gewesen wäre, wenn die Deutschen in den Slawen tatsächlich das Bewusstsein von Kultur und Humanität und nicht die Unkultur des Nationalismus erweckt hätten? Es ist eine Folge des vollständigen Versagens der Deutschen gegenüber ihrer kulturellen Aufgabe, dass die Geschichte Europas im 20. Jahrhundert jenen katastrophalen Verlauf nahm, dem Dutzende Millionen von Menschen zum Opfer gefallen sind. Andererseits verkennt Bierl, indem er auf die Eroberung von Warschau usw. verweist, vollkommen, dass Steiner seine Ansichten über die deutsche Kulturmission gegenüber dem Slawentum im Kontrast zu den politischen Ereignissen und nicht in Zustimmung zu diesen vorbrachte: eben die imperiale Machtentfaltung des deutschen Reiches veranlasste ihn dazu, nachdrücklich zu betonen, dass die Aufgabe der Deutschen nicht darin bestehen könne, mit Militärgewalt ein Weltreich zusammen zu klauben, sondern durch geistige Fernwirkung die Kultur der Humanität, des Friedens und der Gerechtigkeit zu befördern. Aber so falsch wie diese wenigen Suggestionen Bierls, ist alles, was er über Steiner und die Anthroposophie zu sagen hat. In Wahrheit hat er nichts über sie zu sagen.
167) Brigitte Hamann, Hitlers Wien, München 1996, zitiert nach der 2. Aufl. , S. 438.
168) Ebenda, S. 439.
169) Adam Wandruszka und Peter Urbanitsch (Hrsgb.), Die Habsburgermonarchie, 1848-1918, Band III, Die Völker des Reiches, 1. Tb., Wien 1980, S. 516.
170) Fischel, Geschichte des Panslawismus, S. 334.
171) Hans Mommsen, Die Sozialdemokratie und die Nationalitätenfrage im habsburgischen Vielvölkerstaat 1867-1907, Wien 1963, S. 413.
172) Zitiert nach Kann, Das Nationalitätenproblem …, S. 147.
173) Zitiert nach Kann, Das Nationalitätenproblem …, S. 147.
174) Zitiert nach Kann, Das Nationalitätenproblem …, S. 147.
175) Kann, Das Nationalitätenproblem …, S. 147.
176) Kann, Das Nationalitätenproblem …, S. 147.
177) Die Statistiken sind veröffentlicht in: Adam Wandruszka und Peter Urbanitsch (Hrsgb.), Die Habsburgermonarchie, 1848-1918, Band III, Die Völker des Reiches, 1. Tb., Wien 1980, S. 484 und 511.
178) Siehe: Adam Wandruszka und Peter Urbanitsch (Hrsgb.), Die Habsburgermonarchie, 1848-1918, Band III, Die Völker des Reiches, 1. Tb., Wien 1980, S. 506.
179) Charles Sealsfield, Österreich, wie es ist, Wien 1934, 1.A. 1826, S. 63 f.
180) Charles Sealsfield, ebd, 87 f.
181) Graf Friedrich Leopold Schirnding, Zwei Fragen aus Böhmen, Leipzig 1845, S. 6.
182) Victor von Andrian-Werburg, Österreich und dessen Zukunft, Hamburg 1834, S. 173.
183) Graf Joseph Matthias Thun, Der Slawismus in Böhmen, Prag 1845, S. 16-23.
184) Wandruszka, S. 504.
185) Albert Eberhard Schäffle, Aus meinem Leben, 2 Bde, Berlin 1905, S. 173.
186) Edvard Benes, Die Politik als Wissenschaft und Kunst, Gedanke und Tat, 4 Bde, Prag 1937, I, S. 104 f.
187) Fischel, Panslawismus, a.a.O., S. 223.
188) Redlich, Das österreichische Staats- und Reichsproblem I, Teil 2, S. 167 ff., 163/4
189) Redlich, a.a.O., S. 184 f.
190) Fischel, Panslawismus, a.a.O., S. 308.
191) Zitiert nach Fischel, a.a.O., S. 328.
192) Zitiert nach Fischel, a.a.O., S. 308.
193) Zitiert nach Fischel, a.a.O., S. 387.
194) Nach Fischel, a.a.O., S. 418 f.
195) Rudolf Mattausch, Geistige und soziale Voraussetzungen der nationalen Wiedergeburt in Böhmen vor 1848, in: Bohemia 14 (1973), S. 176.
196) Wandruszka, Das Habsburgerreich, a.a.O., S. 210.
197) Friedrich Prinz, Die böhmischen Länder im Habsburgerreich 1848-1919, in: Handbuch der Geschichte der böhmischen Länder, hrsg. im Auftrag des Collegium Carolinum von Karl Bosl, Bd. III, Stuttgart 1968, S. 154 f., Zitat S. 155.
198) Prinz, a.a.O., S. 156.
199) Prinz, a.a.O., S. 157.
200) Prinz, a.a.O., S. 158.
201) Stenographische Protokolle HdA, 4.02.1909, S. 8583 ff. 202) Prinz, a.a.O., S. 161-162.
203) Hamann, Hitlers Wien, S. 133.
204) Stefan Zweig, Die Welt von gestern, Hamburg 1965, S. 33.
205) Rudolf Steiner, Gesammelte Aufsätze zur Kultur- und Zeitgeschichte, GA 31, S. 24.
206) Ebenda, S. 27-28.
207) Jiri Koralka und R.J. Crampton in: Wandruszka, a.a.O., S. 520.
208) Fischel, Panslawismus, a.a.O., S. 357.
209) Wandruszka, S.1319.
Steiner in Weimar
Richtig ist, wie Bierl erwähnt, dass Steiner sein Hochschulstudium ohne eine venia legendi beendete und Hauslehrer bei der Wiener Familie Specht wurde (B, 19/20). Bei Bierl klingt dies allerdings so, als hätte Steiner sein Studium abbrechen müssen, weil er ein Versager war, um dann sein Dasein als Hauslehrer zu fristen. In Wahrheit konnte Steiner aufgrund seines bisherigen Ausbildungsganges und der Zugangsvoraussetzungen in Österreich sein Studium gar nicht mit einem akademischen Grad abschließen. Diesen erwarb er 1891 in Rostock mit der bereits erwähnten Dissertation über Fichtes Wissenschaftslehre, die kurz darauf unter dem Titel Wahrheit und Wissenschaft. Vorspiel einer »Philosophie der Freiheit« erschien.210 Der Hauptgrund für den Abbruch des Studium ist aber in jenem ehrenvollen Auftrag zu sehen, den der zweiundzwanzigjährige Student der Naturwissenschaften und der Philosophie durch die Vermittlung eines angesehenen Literaturprofessors, der diesen für die Bewältigung dieser Aufgabe befähigter hielt als sich selbst, erhielt: dem Auftrag nämlich, die naturwissenschaftlichen Schriften Goethes für Kürschners Deutsche Nationalliteratur zu edieren, eine Aufgabe, der er sich mit Bravour entledigt, wenn man der Beurteilung nicht philologische, sondern philosophische Maßstäbe zugrunde legt. Die erste öffentliche Anerkennung für seine geistigen Leistungen wurde Steiner in der Folge auch für diese Goethearbeit zuteil. Auch vergisst Bierl die Tatsache zu erwähnen, dass die Familie Specht eine jüdische Familie war, in der Steiner eine höchst erfolgreiche und von den Mitgliedern dieser Familie zutiefst geschätzte erzieherische Tätigkeit ausübte, die u.a. die Heranziehung eines Hydrozephalen zur Hochschulreife einschloss.211
Bierl erwähnt Steiners Übersiedelung nach Weimar, wohin er ans Goethe und Schillerarchiv zur Edition der Naturwissenschaftlichen Schriften Goethes im Rahmen der Sophien-Ausgabe berufen wurde, was wohl kaum möglich gewesen wäre, wenn man ihn nicht für befähigt gehalten hätte, diese Aufgabe zu bewältigen. Die folgenden Sätze enthalten nichts als Unsinn und Irrtümer. Bierl schreibt: »In diesen Weimarer Jahren verfasste er drei Bücher, von denen zwei, die Philosophie der Freiheit (1894) und Goethes Weltanschauung (1897), zu den Grundlagen der Anthroposophie zählen. In seinem dritten Werk, Friedrich Nietzsche. Ein Kämpfer gegen seine Zeit vertritt Steiner nach seiner Wende zur Theosophie … eine atheistische Position.« (B, 20)
Erstens vergisst Bierl hier wiederum, Steiners Dissertation von 1891 zu erwähnen. Zweitens ist völlig rätselhaft, wie er dazu kommt, zu behaupten, das Buch Goethes Weltanschauung werde als Grundlage der Anthroposophie betrachtet. Weder Steiner noch ein Autor der Sekundärliteratur hat diese Behauptung je aufgestellt. Wenn überhaupt von einer Grundlegung der Anthroposophie durch Schriften Steiners vor der Jahrhundertwende die Rede sein kann, dann erfolgte diese nach Steiners Selbstverständnis in den Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung von 1886, in Wahrheit und Wissenschaft von 1890/91 und in der Philosophie der Freiheit von 1893/94. Sinnvoller ist es allerdings, davon zu sprechen, diese Schriften stellten eine philosophische Form der Anthroposophie dar.
Drittens ist die Behauptung, Steiner habe sein Buch über Nietzsche nach seiner Wende zur Theosophie verfasst, völliger Unsinn. Den ersten Vortrag in der Theosophischen Bibliothek hielt Steiner auf Einladung von Graf und Gräfin Brockdorff erst nach seiner Übersiedelung nach Berlin im Herbst 1899. Weder aus Steiners Nietzschebuch, noch aus sonst einer Publikation des Jahres 1897 geht hervor, dass Steiner 1897 eine Wende zur Theosophie vollzogen hätte. Bierl benötigt aber diese Wende, weil er im Anschluss an seine irrige Behauptung die Rede vom Übermenschen – bei dem es sich bekanntlich um ein zentrales Philosophem Nietzsches handelt – zu einer Vorwegnahme des Anspruches der Anhänger der Anthroposophie umleugnen will, die sich als »karmisch prädestinierte Elite« betrachteten. Im Stile Bierls könnte man gleich auch noch Nietzsche als Theosophen denunzieren, weil er die Idee des Übermenschen konzipierte.
Was Bierl über die beiden anderen von ihm erwähnten Werke verkündet, ist hanebüchener Unsinn. Steiner vertrat nie die Auffassung, die »Intuition« sei »die einzig wahre Methode des Denkens«. Vielmehr stellte Steiner die Intuition der Beobachtung gegenüber: letztere vermittelt dem Menschen den Zugang zur Welt als Wahrnehmung, erstere den Zugang zum Gedankeninhalt der Welt. Intuition in diesem Sinn bezeichnet nichts anderes als die Tätigkeit des Denkens, die allerdings erst im Zusammenwirken mit der Beobachtung zur Erkenntnis führt.
Wenn Bierl behauptet, Steiners »Ausgangspunkt« in der Philosophie der Freiheit sei – »ganz in der Tradition der bürgerlichen Aufklärung der Mensch als vernunftbegabtes Wesen« (B, 20), so widerspricht diese Bemerkung einerseits grundlegend einem seiner Hauptvorwürfe gegen Steiner und die Anthroposophie, nämlich dem Vorwurf des angeblichen Irrationalismus, andererseits zeugt sie von seiner gänzlichen Unbekanntschaft mit der Geistesgeschichte des Abendlandes, die schon in ihren Anfängen den Menschen als vernunftbegabtes Lebewesen verstand. Was an der Voraussetzung, der Mensch sei ein vernunftbegabtes Lebewesen, »bürgerlich« sein soll, ist nicht zu verstehen. Steiner vertrat in der Philosophie der Freiheit im übrigen keineswegs, wie Bierl behauptet, »die pantheistische Ansicht«, dass »ein göttliches Prinzip alle Erscheinungen der Welt beseele«, vielmehr lehnte er Vorstellungen wie die der Weltseele und überhaupt die herkömmliche Gottesvorstellung als Anthropomorphismen ab.
Ebenso irrational und mystifizierend ist Bierls Behauptung, Erkenntnis werde bei Steiner zu »göttlicher Selbsterkenntnis« und sei deswegen »irrational und mystisch, inhaltlich unbestimmt und willkürlich auslegbar.« (B, 21) Die philosophische Tradition, die das menschliche Erkennen als göttliche Selbstauslegung im Menschen auffasst, geht bis in die griechische Antike zurück und spielt in der philosophischen Theologie des Mittelalters nicht nur eine entscheidende Rolle, sie ermöglichte auch die Argumentation der neuzeitlichen emanzipatorischen Geistesströmungen gegen den Machtanspruch der Kirche und noch die englischen, französischen und deutschen Aufklärer führten die Gottebenbildlichkeit des Menschen, die in seiner Vernunftbegabtheit liege, ins Feld, wenn sie gegen kirchliche oder politische Denkverbote kämpften. Kein Geringerer als Hegel, ohne den es keinen Marxismus gäbe, der bekanntlich die Verkehrung der Hegelschen Philosophie in ihren Widersinn darstellt, sah im menschlichen Erkennen die Selbstbewusstwerdung des Absoluten, was sein Denken nicht etwa unbestimmt und inhaltsleer werden ließ, sondern ihm eine solche Bestimmtheit, Klarheit und Rationalität verlieh, dass sie sich völlig dem Verständnishorizont ihrer materialistischen Interpreten entzog. Was eine »willkürlich auslegbare Erkenntnis« sein soll, müsste uns Bierl erst noch erklären. Denn entweder eine Erkenntnis ist tatsächlich eine Erkenntnis, dann bedarf sie keiner Auslegung, weil sie sich selbst auslegt, oder aber eine Behauptung wird als Erkenntnis ausgegeben und stellt in Wahrheit die willkürliche Auslegung eines Sachverhaltes oder der Ansichten eines anderen dar, stellt also die Erektion von Unkenntnis zu Erkenntnis dar. Letzteres ist offensichtlich das einzige methodische Prinzip, das Bierl in seiner Arbeit verfolgt.
Bierl erklärt aber Steiner auf zwei aufeinanderfolgenden Seiten seines Machwerks nicht nur zu einem verschwommenen Mystiker, weil für ihn jede Rede vom Göttlichen Zeugnis verschwommener Mystik ist, sondern zugleich auch noch zu einem schlichten Positivisten, weil er Steiners strenge Betonung des Erfahrungsprinzips nicht versteht (B, 22), zu einem Anti-Ethiker (23), weil er selbst Anhänger einer kollektiven Moral ist, einem biologistischen Atheisten (23), weil er nicht zu begreifen vermag, dass Steiner sich als Verfechter des Erfahrungsprinzips gegen traditionalistische Formen des Supranaturalismus wenden musste und wiederum zu einem Pantheisten (27), da er die subtile Differenz von Pantheismus und Panentheismus nicht nachzuvollziehen vermag. Diese Ansammlung von verworrenen Widersprüchen ist aber nichts als Ausdruck der verworrenen Denkweise Bierls, der aufgrund seiner mangelnden Kenntnis und seiner willkürlichen Interpretationen den roten Faden verliert, und von der Fülle der Gedanken, der er in Steiners Werkentwicklung gegenübersteht, schlicht überfordert ist. »Du gleichst dem Geist, den du begreifst, nicht mir«, möchte man ausrufen.
Wenn Bierl Steiner vorwirft, er habe seine Selbstwidersprüche verschleiern wollen (B, 26), was von einer »pathologischen Veranlagung« Steiners zeuge, dann ist der erste Teil dieser Behauptung schlicht unrichtig, der zweite Teil trifft indessen auf Bierl selbst zu, dessen Pathologie in seinem fanatischen Hass gegen jegliche Form von Spiritualität, ja Idealismus zu sehen ist. Steiner versuchte weder »notorisch, sein Leben als geradlinige Entwicklung darzustellen«, noch versuchte er, seine »Meinungsänderungen zu vertuschen« (B, 26). Wie hätte denn Steiner sonst in den späteren Auflagen seines Nietzschebuches die positive Darstellung von 1895 über Nietzsches Philosophie, die bereits in einen Hinweis auf einen entscheidenden Mangel des Nietzscheschen Denkens mündet, zusammen mit seinen Studien über Nietzsche als psychopathologisches Problem veröffentlichen können? Es zeugt nicht vom Willen Steiners, die »Änderungen seiner Meinung zu verschleiern«, sondern von seiner wissenschaftlichen Redlichkeit, wie er verfuhr. Das Problem liegt ganz woanders: es liegt darin, dass Bierl schlicht unfähig ist, die Vielfalt der gedanklichen Standpunkte, die Steiner seinem Gegenstand gegenüber einnimmt, zusammenzuschauen und die geistige Einheit, die diese Standpunkte miteinander verbindet und aus der sie hervorgegangen sind, zu erfassen. In dieser Vielfalt von Gesichtspunkten liegt allerdings ein methodisches Prinzip, das von Steiners multiperspektivischer Wirklichkeitssicht zeugt, die weiß, dass sie einem Gegenstand nicht durch eine einförmige Betrachtungsweise gerecht werden kann, sondern nur durch das Streben nach Universalität und Totalität. Bierl vermag sich auf diese Multiperspektivität nicht einzulassen, weil er selbst in bornierten, spießbürgerlichen, materialistischen Zwangsvorstellungen befangen ist.
210) Steiners Studium und Abschlüsse sind in der Faksimileausgabe der Dissertation dokumentiert: Rudolf Steiners Dissertation, Hrsg. von D. Hoffmann, W. Kugler u. U. Trapp, Rudolf Steiner Studien, Bd. V, Dornach 1991, S. 155-222. Die Dissertation trug den Titel: Die Grundfrage der Erkenntnistheorie mit besonderer Rücksicht auf Fichtes Wissenschaftslehre. Prolegomena zur Verständigung des philosophierenden Bewusstseins mit sich selbst.
211) Steiners erzieherische Tätigkeit im Hause Specht ist dokumentiert in: Rudolf Steiner als Hauslehrer und Erzieher Wien 1884-1890, Beiträge zur Gesamtausgabe, Heft Nr. 112/113, Dornach, Frühjahr 1994.
Steiner und die Theosophie – »Antirationalismus«
Für seine Behauptung, die Grundlagen der Anthroposophie stammten nicht aus Steiners Geistesschau, sondern von der Begründerin der modernen Theosophie, von H.P. Blavatsky (B, 32), die ebenso frei erfunden ist, wie seine frühere Behauptung, Steiner habe von Fercher von Steinwand dessen deutschnationale Ansichten übernommen, vermag er keinerlei Beweise zu erbringen.
Wie könnte er diese Behauptung auch beweisen, da ihm jedes Verständnis für die Erkenntnisquellen der Steinerschen Weltsicht fehlt? Bierls Eklektizismusvorwurf ist der alte philosophische Grundsatz post hoc ergo non propter hoc entgegenzuhalten: das zeitliche Nacheinander ist kein Beweis für eine kausale oder inhaltliche Abhängigkeit des Späteren vom Früheren. Ebenso gilt: similia non sunt idem, sed coincidunt in tertium. Wenn scheinbar ähnliche Idiomata in der Geistesgeschichte erscheinen, beweist deren Ähnlichkeit nicht, dass sie identisch sind, sie verweist vielmehr auf etwas Drittes, dem sie jeweils neu entsprungen sind. Dass Steiner bereits vom Oktober 1902 bis zum April 1903 im Kreise der »Kommenden« eine öffentliche Vortragsreihe über die Weltgeschichte von Zarathustra bis Nietzsche an der Hand der Weltanschauungen von den ältesten orientalischen Zeiten bis zur Gegenwart, oder Anthroposophie, von der bedauerlicherweise keine Nachschrift existiert212, hielt, ist Bierl ebenso unbekannt, wie die Tatsache, dass Annie Besant von der fundamentalen Verschiedenheit der Steinerschen Auffassung von Theosophie und der von ihr vertretenen sprach. Im Juni 1907 schrieb Annie Besant an Hübbe-Schleiden: »Dr. Steiners okkulte Schulung ist von der unsrigen sehr verschieden. Er kennt den östlichen Weg nicht, daher kann er ihn auch nicht lehren. Er lehrt den christlich-rosenkreuzerischen Weg, der für manche Menschen eine Hilfe, aber von unserem verschieden ist. Er hat seine eigene Schule und trägt auch selbst die Verantwortung dafür. Ich halte ihn für einen sehr guten Lehrer in seiner eigenen Richtung und für einen Mann mit wirklichen Erkenntnissen. Er und ich arbeiten in vollkommener Freundschaft und Harmonie, aber in verschiedener Richtung.«213 Steiner knüpfte nicht etwa an die Theosophie Blavatskys oder Annie Besants an, sondern an die christlich-abendländische Theosophie der platonischen Tradition, Scotus Eriugenas, Thomas von Aquins, Jakob Böhmes, Lessings, Schillers, Schellings, I.H. Fichtes, Deinhardts, Troxlers u.a. an. Dass Steiner als Generalsekretär der Deutschen Sektion der Theosophischen Gesellschaft sich anfänglich der in dieser Gesellschaft gebräuchlichen Terminologie bediente, um seine Auffassungen darzulegen, dass er sich mit dem in der theosophischen Bewegung verbreiteten Lehrgut auseinandersetzte, um dieses allmählich seinen Einsichten gemäß umzuschmelzen, ist ebenso wenig verwunderlich, wie die Tatsache, dass Steiner im Rahmen seiner Arbeit in der Berliner Arbeiterbildungsschule sich auf die in sozialistischen Kreisen verbreiteten Ansichten einließ, um diese über sich selbst hinauszuführen. Dass sowohl seine Tätigkeit in der Arbeiterbildungsschule wegen ideologischer Vorbehalte seitens der Leiter dieser Schule als auch seine Arbeit im Rahmen der Theosophischen Gesellschaft wegen ebensolcher Vorbehalte seitens der Leitung dieser Gesellschaft zu Ende ging, zeugt nur von Steiners Originalität und Konsequenz.214
Zwei weitere Unterstellungen aus den hier behandelten Textpassagen: Theosophie und Anthroposophie lehnten »den neuzeitlichen Rationalismus als Wurzel allen Übels ab« (B, 34) und Steiner hätte 1910 den »Völkermord mit Karma entschuldigt«, weil er in einem Vortrag gesagt habe: »Nicht deshalb, weil es den Europäern gefallen hat, ist die indianische Bevölkerung ausgestorben, sondern weil die indianische Bevölkerung die Kräfte erwerben musste, die sie zum Aussterben führten.« (B, 34)
Wie kann Bierl eine Frontstellung der Anthroposophie gegen den »neuzeitlichen Rationalismus« behaupten, wenn er gleichzeitig davon spricht, Steiner sei in seiner Philosophie der Freiheit, die als Grundlegung der Anthroposophie betrachtet werde, von der »bürgerlichen Tradition« der Vernunftbegabtheit des Menschen ausgegangen? Vertritt Bierl etwa die Auffassung, es gebe eine nicht-bürgerliche Sicht des Menschen, in der dieser als nicht vernunftbegabt erscheine, und diese sei nicht »antirationalistisch«? Wie konnte Steiner gleichzeitig den Grund der Anthroposophie in der Vernunftbegabtheit des Menschen sehen und Antirationalist sein? Wie konnte Steiner Antirationalist sein, wenn er das menschliche Denken in seinen Grundlinien … als die höchste Erscheinungsform des Weltengrundes bezeichnete? Wie konnte Steiner Antirationalist sein, wenn für ihn das Erkennen in der begrifflichen Durchdringung der Wahrnehmungswelt bestand? Wie konnte er Antirationalist sein, wenn er in der Theosophie 1904 schrieb, der Mensch sei ein Gedankenwesen und sein Erkenntnisweg müsse vom Denken ausgehen und das rationale Denken müsse die Entwicklung des geistigen Schauens nicht nur begleiten, sondern dieses auch durchdringen? Wie konnte er Antirationalist sein, wenn er die Auffassung vertrat, seine Anthroposophie sei eine konsequente Weiterentwicklung der abendländischen Aufklärung, der Philosophie Hegels und Fichtes?
Dass Steiner allerdings das Wesen der Ratio tiefer auffasste als alle Rationalisten und Antirationalisten der Geistesgeschichte, ist eine andere Sache. Er versuchte das Wesen der abendländischen Rationalität zu erfassen, er versuchte deren Entstehung aus einem umfassenderen geistigen Weltzusammenhang zu beschreiben und diese spezifische Form der Rationalität in den Weltzusammenhang einzubetten, kurz, er historisierte die abendländische Rationalität wie viele Historiker der Wissenschafts- oder Geistesgeschichte im 20. Jahrhundert zu seiner Zeit und mehr noch nach ihm. Seine Art der Historisierung der abendländischen Rationalität greift aber weit über die wissenschaftshistorischen oder geistesgeschichtlichen Ansätze des 19. und 20. Jahrhunderts, über Dilthey, Duhem, Kuhn usw. hinaus, weil er die neuzeitliche Rationalität nicht nur ratioimmanent als Produkt einer Selektion konkurrierender Paradigmen oder als eine Reihe von Versuchen und Irrtümern, sondern als eine Form des Geistes begreift, die aus ihren bewusstseinsgeschichtlichen Entstehungsbedingungen und aus ihrer spirituellen Sinnbestimmung begriffen werden muss. Für Steiner, der weder als Rationalist noch als Antirationalist bezeichnet werden kann, weil diese Begriffsschablonen aus dem Zettelkasten von Erstsemestern völlig ungeeignet sind, seine philosophische Positionenvielfalt auch nur annähernd zu beschreiben, stellt die neuzeitliche abendländische Ratio nur eine von vielen Formen möglicher Rationalität dar, kurz, eine partikulare Rationalität mit der Tendenz, sich zu verabsolutieren. Seine Konzeption der Menschheitsgeschichte als Bewusstseinsgeschichte fasst diese als eine Aufeinanderfolge, eine Reihe von Metamorphosen der Rationalität auf, deren derzeit letzte, aber keineswegs endgültig letzte, die abendländische Form der Ratio ist. Von Steiners Standpunkt aus kann man die Greuel der Guillotine, die Umerziehungslager der sozialistischen Diktaturen und die Schrecknisse der nationalsozialistischen Vernichtungslager als notwendige Konsequenzen partikularer Rationalitäten begreifen, die sich und ihre Gültigkeit verabsolutierten. Diese Teilrationalitäten sind in der umfassenderen Form der abendländischen Rationalität aufgehoben, die durch die Zurückdrängung der realen Geisterfahrung aus den antiken und mittelalterlichen Bewusstseinsformen hervorgegangen ist. Die neuzeitliche Rationalität, die selbst wiederum die Tendenz der Verabsolutierung ihrer Partikularität in sich trägt, steht in unmittelbarem ursächlichem Zusammenhang mit den katastrophischen Entwicklungen der letzten Jahrhunderte im Verhältnis der Menschen untereinander und im Verhältnis des Menschen zur Natur. Steiner sah in der Entstehung der abendländischen Rationalität dennoch eine geschichtliche Notwendigkeit, die etwa in seiner Äußerung vom 16. 8. 1902 gegenüber Hübbe-Schleiden zum Ausdruck kommt: »Ich möchte … alles tun, um die Theosophie in der Gegenwart in das Fahrwasser zu bringen, das in Ihren Worten liegt: »Dieser Weg ins spirituelle Reich des Geistes führt heute durch das intellektuelle Reich.««215
Die neuzeitlich-abendländische Rationalität beruht zwar auf der Verneinung des kosmischen Geistes, aus dem sie hervorgegangen ist. Durch diese Zurückdrängung oder reale Verneinung des übermenschlichen bzw. vormenschlichen Geistes wird aber erst die Entwicklung eines individuellen Selbstbewusstseins des Menschengeistes möglich. Der Verlust traditioneller Formen von Spiritualität ist Voraussetzung für die Bewusstwerdung des Geistes in Gestalt der gegenwärtigen, den Globus beherrschenden Wissensformen. Der im einzelnen Menschen zu sich selbst kommende Geist nimmt im Abendland die Gestalt der Ratio an, die gegenwärtig die wissenschaftlich-technisch durchformte Lebenswelt beherrscht. Die sozialen und ökologischen Folgen der Verdrängung des im Kosmos und in der Natur wirkenden realen Geistes, aus dem die neuzeitliche Ratio hervorgegangen ist, traten bereits im vergangenen Jahrhundert zutage und werden ohne Zweifel in Zukunft noch deutlicher zutage treten. Diese realen katastrophischen Entwicklungen, die nicht mehr eine Folge der natürlichen Evolution, sondern eine Folge der Einwirkungen der menschlichen Ratio auf die Natur und die Gesellschaft sind, rufen die Träger dieser Ratio dazu auf, sich deren Begrenztheit und Untauglichkeit angesichts der Komplexität der Welt bewusst zu machen. Steiner, der zu Beginn des Jahrhunderts prognostizierte, die sich selbst verabsolutierende, partikulare Ratio der imperialen Nationen werde Pandemien des Wahnsinns hervorrufen, denen gegenüber die Zerstörung der alten europäischen Weltordnung sich als harmlos erweisen werde, hat das reale Eintreten der von ihm prognostizierten Ereignisse seit 1925 nicht mehr miterlebt. Die Eskalation des Menschenhasses und des ideologischen Machtwahns im 20. Jahrhundert ist nicht etwa nur aus dem Einbruch des Irrationalen in die Sphäre aufgeklärter Rationalität zu erklären, sondern sie ist eine Folge jener Form des verschleierten Wahnsinns, der darin besteht, dass der menschliche Verstand seine Geistigkeit und damit die Geistförmigkeit der Welt verneint. Materialismus, der aus der Blindheit des Geistes gegenüber sich selbst hervorgeht, ist eine Form von Geisteskrankheit, die sich für rational hält. Ihre Folgen in der pandemischen Verbreitung des Nationalismus, Imperialismus, Rassismus sind im Verlauf des 20. Jahrhunderts sichtbar geworden. Dennoch liegt in der menschlichen Ratio die Kraft, sich von ihrem Wahnsinn selbst zu befreien: dann nämlich, wenn sie sich auf sich selbst besinnt und sich ihrer irreduziblen geistigen Natur bewusst wird und die in ihr liegenden Entwicklungskeime zur Entfaltung bringt, um eine individuelle, vollbewusste, ichdurchdrungene Beziehung zum geistigen Weltgefüge herzustellen.
212) Siehe Hans Schmidt, Das Vortragswerk Rudolf Steiners, Dornach 1978, S. 32 f.
213) Siehe Rudolf Steiner, Zur Geschichte und aus den Inhalten der ersten Abteilung der Esoterischen Schule 1904-1914, Dornach 1984, GA 264, S. 270.
214) Die Tätigkeit Steiners in der Berliner Arbeiterbildungsschule und die ideologischen Vorbehalte, die zu seiner Ablösung trotz des großen Zuspruchs seitens der Arbeiter führten, ist dokumentiert in: Wissen ist Macht, Macht ist Wissen. Rudolf Steiner an der Arbeiterbildungsschule in Berlin und Spandau 1899-1904, Beiträge zur Gesamtausgabe, Heft Nr. 111, Dornach, Michaeli 1993.
215) Briefe II, Dornach , S. 274.
Indianer
Was die Indianer betrifft, so spricht Steiner von deren »Ausrottung« durch die Europäer, so etwa am 20.7.1919 anlässlich einer Kritik des europäischen Kolonialismus und Imperialismus, in der es heißt: »Diese Indianer, die man ausgerottet hat bei der Eroberung von Amerika … Aber man hat [den Kontakt zu Amerika] so entdeckt, dass man die damaligen Amerikaner, die amerikanischen Indianer massakriert hat. Diese Art von Kulturausdehnung, das war die erste Etappe auf dem Wege, auf dem wir dann nach und nach weitergegangen sind. Ja, es war in der Tat so, dass … die Europäer … gefunden haben ein hohes spirituelles Leben bei diesen sogenannten wilden Menschen, denen sie den Garaus gemacht haben.« (GA 192)
Es wurden aber nicht alle Indianer, die durch die Begegnung mit Europäern gestorben sind, von diesen »ausgerottet«, sondern eine bei weitem größere Zahl starb an einem Mangel an Immunität gegen von Europäern eingeschleppte Krankheiten. Diese geschichtliche und medizinische Tatsache wird nicht durch die Ausrottung erklärt. Auf diesen Vorgang bezieht sich Steiners Bemerkung, nicht auf die Ausrottung durch Europäer, die er genauso verurteilte, wie jede Art von Tötung von Menschen und nicht-menschlichen Lebewesen.
Im übrigen sind nach Steiners Auffassung Handlungen von Menschen nicht »karmisch« bedingt, weil sie aus einer Freiheitssphäre entspringen, in der der Einzelne die unmittelbare Verantwortung für sie trägt. Eine Handlung kann also im Sinne Steiners nie mit dem Argument ihrer karmischen Bedingtheit gerechtfertigt werden. Bierls Vorwurf beruht auf einer vermutlich absichtlichen Verwechslung von Erklärung und Rechtfertigung, Deskription und Präskription. Wenn ein Pathologe davon spricht, das Ableben eines Menschen, der durch Gewalt zu Tode kam, sei mit Notwendigkeit aufgrund der gewaltsamen Verletzung lebenswichtiger Organe eingetreten, so würde jedermann im Vorwurf, der Pathologe wolle den Mord an diesem Menschen nachträglich rechtfertigen, sogleich eine Absurdität erkennen. An diesem Beispiel kann der Unterschied von Erklärung und Rechtfertigung verdeutlicht werden. Niemand würde behaupten, der Pathologe wolle die Tat, durch die der betreffende Mensch sein Leben verlor, nachträglich als notwendige Handlung rechtfertigen. Die Erklärung ist erst post factum, nach dem Eintreten der Ereignisse möglich und bezieht sich auf den gesetzmäßigen Zusammenhang von Ursache und Wirkung. Die unmittelbare Ursache des Todes ist die Zerstörung lebenswichtiger Organe, die mittelbare der Wille und die Handlungen des Mörders, die zur Zerstörung der Organe führten. Der Mörder ist voll verantwortlich für seine Tat und schuldig am Tod seines Opfers. Der Pathologe kann sogar aus seiner Kenntnis des menschlichen Organismus den Satz aufstellen, dass bestimmte Verletzungen lebenswichtiger Organe notwendig zum Tode führen müssen. Dennoch wird niemand behaupten, ein solcher Satz stelle eine Rechtfertigung von Mord oder gar dessen Präskription dar. Die Sätze des Pathologen haben einen deskriptiven und keinen präskriptiven Charakter, d.h., sie beschreiben einen Gesetzeszusammenhang und schreiben nicht ein Handeln oder Verhalten vor.
Ebensowenig schreibt der – wie stets aus dem Zusammenhang gerissene – Hinweis Steiners darauf, dass sich Indianer »Todeskräfte« erwerben mussten, ein Handeln vor oder rechtfertigt ein solches ex post oder ex ante: er rechtfertigt es überhaupt nicht. Steiner erklärt lediglich deskriptiv ein Geschehen, nachdem es eingetreten ist. Steiner hat nie die Ausrottung von Indianern oder anderen Populationen (Ethnien) als »karmische Notwendigkeit« bezeichnet, er hat nie einen Genozid gerechtfertigt, er hat die Handlungsweise der europäischen Kolonialisten vielmehr ausdrücklich verurteilt. Jeder, der Steiner eine solche Auffassung – Rechtfertigung von Völkermord – unterstellt, muss als Lügner bezeichnet werden.
Es ist eine geschichtliche Tatsache, dass die europäischen Einwanderer große Teile der autochthonen Kulturen, ja große Teile der indianischen Ethnien aus Amerika verdrängt haben, dass die Einwanderung von Europäern (sog. »Weißen«) das Verschwinden der einstigen unangefochtenen Herren seiner unendlichen Weiten, seiner Berge und Wälder, Küsten und Seen zur Folge hatte. Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts sah es in der Tat so aus, als würden die amerikanischen Eingeborenen ebenso zum Aussterben verurteilt sein, wie andere Eingeborenenvölker Asiens, Ozeaniens oder Afrikas. Es ist auch eine geschichtliche Tatsache, dass die Kulturen, Zivilisationen und Staaten, die sich auf den beiden amerikanischen Kontinenten im Anschluss an die europäische Einwanderung und gewaltsame Verdrängung der indianischen Kulturen und Ethnien entwickelt haben, keine indianischen Kulturen sind, sondern Metamorphosen der Mutterkulturen der europäischen Einwanderer.
Man kann das weitgehende Verschwinden der autochthonen Bevölkerung beider Amerika, man kann den massenhaften gewaltsamen Tod oder das Hinsterben durch eingeschleppte Krankheiten bedauern, die Tragik dieses Geschehens kann mit tiefem Schmerz erfüllen, man kann darüber hinaus die Brutalität und Grausamkeit europäischer Einwanderer verurteilen. Ja, man kann sogar als Nachfahre der europäischen Einwanderer, der in Europa lebt, Reue und Scham angesichts der Handlungsweise der eigenen Vorfahren empfinden, auch wenn die unmittelbaren Antezedenten nicht direkt an jenem Genozid beteiligt waren oder davon profitiert haben. Man sollte noch heute bestehendes Unrecht aufgrund von ethnischen Zugehörigkeiten endgültig beseitigen. Aber dies alles sind Selbstverständlichkeiten für jeden Anthroposophen. Es kann keinen Augenblick ernsthaft bezweifelt werden, dass Steiner, der seine Grundüberzeugung, dass man das Geringste, was man seinem Menschenbruder angetan habe, sich selbst angetan habe, oft und deutlich genug zum Ausdruck brachte, der Auffassung war, dass kein Unrecht ungerochen bleibt und kein Anderen angetanes Leid nicht auf den Täter zurückfalle.
Aber Steiner, der bereits in einer Lüge einen »astralen Mord« sah, ging es um etwas anderes, ihm ging es um die Beschreibung eines universalen Sinnzusammenhangs des Weltgeschehens, ihm ging es angesichts des Bösen in der Welt um eine Anthropodizee, ihm ging es darum, in jedem seiner Zuhörer die höchsten moralischen Antriebe wachzurufen, in ihnen das Bewusstsein der Menschenliebe und der Verantwortlichkeit für das Weltganze zu wecken. Wer auf dem heute epidemisch verbreiteten Standpunkt des Nihilismus steht, wie Bierl, wird im Leid nie etwas anderes als das absolut Sinnlose sehen können. Wer sich aber wie Steiner auf den heute schon nahezu vergessenen christlichen Standpunkt stellt, dass das Leid des Menschen das Leid des alles Sein durchdringenden, menschgewordenen Gotteswesens ist, wird das eigene und das fremde Leid stets als Folge der eigenen Unvollkommenheit betrachten. Er wird das Böse, das anderen zugefügt wird, stets als etwas empfinden, das er an sich selbst erleidet und solange nicht ruhen, als dieses Böse, diese Krankheit im Körper der Menschheit, durch Liebe geheilt ist. Er wird der Überzeugung sein, dass sich die Menschheit solange Todeskräfte erwerben und leiden muss, solange nicht jeder Einzelne, der ihr angehört, mit dem göttlichen Quell der Liebe und der Güte eins geworden ist. Es kann im Sinne Steiners nur eine einzige Anthropodizee geben: das unentwegte Streben nach sittlicher, moralischer Vollkommenheit, nach Freiheit und Liebe.
Die Anthroposophie, die Steiner nach der Wende zum 20. Jahrhundert öffentlich darzustellen begann, ist ein einziges Schuldbekenntnis. Schuld und Sühne sind die großen Lebensthemen Steiners. Der Mensch ist schuldig geworden durch alles, was er getan hat. Er hat sich von der göttlichen Welt abgewandt unter der Führung von Versuchern und hat die Gier in die Welt gebracht, hat den Irrtum in die Welt gebracht, hat die Krankheit und den Tod in die Welt gebracht und von dieser seiner Sündenkrankheit ist die gesamte Schöpfung infiziert. Aber in den leidenden Kreaturen harrt die Erlösungssehnsucht dem Aufgehen der Logoskeime in den Menschen entgegen, auf dass das Licht der Freiheit und Liebe die Welt aus ihrer Verirrung führe (Paulus, Johannes). Der europäischen, abendländischen Menschheit kommt eine Führungsaufgabe zu, die nur durch freiwilligen, aber notwendigen Verzicht realisierbar ist, ihr kommt nicht die Aufgabe zu, die übrigen Teile der Menschheit zu unterjochen, sie in politische Knechtschaft, wirtschaftliche Abhängigkeit oder Gottferne zu führen. Ihr kommt, als der gegenwärtigen Spitze der zivilisatorischen Entwicklung, die Aufgabe zu, die Menschheit zum Geist zu führen, zum Geist der Liebe und Freiheit. Denn der Geist der Liebe und Freiheit, der Geist Christi, waltet nicht in den Mysterien der Entichung oder den Mysterien der leiblichen Vererbung, als der Schützer der Freiheit des Ich, des heiligsten Gutes des Kosmos, waltet er in den freien Taten, die die Menschen vollbringen, in der Liebe (nicht der Gier), die sie einander entgegenbringen, im Vertrauen, das sie sich schenken, in der Gewissheit, dass der Andere im selben Geiste verwurzelt ist, in dem sie selbst verwurzelt sind: dem Geist des Friedens und der Menschenliebe. Das ist die Botschaft Steiners, das ist die zentrale Botschaft der Anthroposophie: sie ist eine Botschaft des Dienens und des freiwilligen Verzichts. Diese Botschaft kann nie unwahr werden, sie kann auch nie veralten, solange noch ein Mensch in Gier, Hass und Verblendung, in Krankheit und Elend befangen ist oder darbt, solange das Werk der Erlösung oder Befreiung noch nicht vollbracht ist.
Die Botschaft der Anthroposophie ist zutiefst christlich, aber in einem zutiefst überkonfessionellen Sinn, der die Gültigkeit anderer Religionen einschließt. Sie sieht in allen Formen des Menschseins die Befangenheiten, die uns von der Sphäre des allgemeinen Menschheitsgeistes trennen und weist uns darauf hin, wie wir diese Befangenheiten überwinden können. Gerade weil die abendländische Menschheit an der gegenwärtigen Spitze der zivilisatorischen Entwicklung steht, die auf die Befreiung von Seele und Geist von der Knechtschaft des Vergänglichen zielt, auf dass aus dem Untergang des Verweslichen am Menschen dessen unverwesliches Wesen hervorgehe, steht sie am meisten in der Gefahr, ihr Menschsein zu verlieren, wie Steiner 1922 vor den Arbeitern am Goetheanumbau darlegte, während Angehörige anderer Zweige des Menschheitsbaumes noch aufgrund der Beschaffenheit ihrer Organisation vor dem Verlust ihres Menschseins geschützt sind, wie die negriden und mongoliden Bevölkerungen Afrikas und Asiens. Die Fülle an weisheitsdurchdrungener Lebenskraft und kosmischer Astralität, für die sie empfänglich waren, hatten Teile derselben bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts davor bewahrt, ihre Verbindung mit dem göttlichen Ursprung oder ihre Erinnerung an diesen zu verlieren, während die abendländische Menschheit sich von diesen Kräften emanzipiert hat, um zum individuellen, gedankenerfüllten Selbstbewusstsein zu gelangen. Die abendländische Menschheit darf ihre Gabe der Dekadenz, des Abfalls von der göttlichen Welt, nicht zu äußerer, imperialer Machtentfaltung, zu Usurpation und Expropriation missbrauchen, sie muss vielmehr das Evangelium des freien Menschengeistes, die Botschaft von der unveräußerlichen Menschenwürde und friedenstiftenden Liebefähigkeit unter die Völker der Erde tragen. Tut sie dies nicht, besteht die Gefahr, dass die sog. weiße Rasse, deren Aufgabe darin besteht, »am Geiste zu schaffen« und nicht »am Fleische« – d.h. an der Anhäufung von Macht und Besitz –, die gesamte Menschheit in den Abgrund der sittlichen Verderbnis, der Geistesöde und des Todes reißt und mit ihrem eigenen Untergang den Untergang der Menschheit besiegelt. Die Seelen, die in der abendländischen Zivilisation zu Beginn des 20. Jahrhunderts inkarniert waren, besaßen nach Steiners Auffassung aufgrund der historischen Entwicklung dieses Abendlandes eine privilegierte Möglichkeit, sich für den Geist weltweiter Solidarität, für die Befreiung des einzelnen Menschen aus kollektiven Normen, religiöser, staatlicher oder ethnischer Bevormundung einzusetzen und waren durch dieses Privileg in höchstem Maße verpflichtet, es zu nutzen. Deswegen betonte er die Notwendigkeit und Bedeutung dieser Mission, schließlich ging es um einen Großteil der Menschheit, der unter Lebensbedingungen dahinvegetierte, die menschenunwürdig, mit großem Leid und Unglück verbunden waren.
Nach Steiners Auffassung hatte eine Reihe von Persönlichkeiten, im 18. und 19. Jahrhundert, die sich der deutschen Sprache bedienten, um ihre Ideale der Humanität, der Freiheit und spirituellen Welterklärung auszudrücken, als erste und am deutlichsten in der Neuzeit die formativen Ideale der unmittelbar bevorstehenden Zukunft zum Bewusstsein gebracht. Vor diese Ideale und ihre Verkünder stellte sich Steiner schützend, weil er glaubte, sie könnten die Menschheit am ehesten vor dem zu erwartenden Kampf aller gegen Alle bewahren. Leider wurden seine Hoffnungen enttäuscht. Zu mächtig waren die materialistischen Suggestionen, die den Menschen vorgaukelten, ihre nationale, rassische oder Klassenidentität stehe höher als das Menschsein. Dieselben Mächte, die damals das Durchdringen seiner spirituellen Friedensbotschaft verhinderten, sprechen heute aus jenen bigotten Zeloten, die ihn der rassistischen Hetze, des nationalen Chauvinismus, kurz, des Irrsinns bezichtigen: sie versuchen auch heute durch eine Verleumdung seines Werkes das öffentliche Interesse vom Gewahrwerden des spirituellen Elends abzulenken, unter dem die Menschheit leidet. Heute hat die Menschheit gegenüber dem Anfang des 20. Jahrhunderts, durch das unermessliche Leid, das aus dem Versagen der Angehörigen der sog. weißen Rasse entstanden ist und die Auseinandersetzungen mit dessen Ursachen einen gewaltigen Entwicklungsschritt vollzogen. Das Bewusstsein von der unveräußerlichen Menschenwürde ist weltweit verbreitet und gewachsen, auch wenn deren Schutz noch längst nicht hinreichend gewährleistet ist.
Jüdische Reinkarnationslehren
Es darf in diesem Zusammenhang auf die innerjüdische Diskussion um die Holocaustopfer verwiesen werden, die von Rabbi Jonassan Gershom in den USA und Rabbi Ovadia Josef in Israel öffentlich angestoßen wurde.
Ersterer hat eine umfangreiche Sammlung von Spontanerinnerungen ehemaliger Holocaustopfer veröffentlicht, die von diesen und ihm selbst als Zeugnisse der Wiedergeburt verstanden werden.216 Die Veröffentlichungen von Gershom sind in verschiedener Hinsicht bedeutungsvoll. Sie dokumentieren, dass das kollektive Trauma des Judentums, das bis vor kurzem von den Überlebenden des Holocaust verdrängt wurde, in die Erinnerung zurückkehrt und seelisch verarbeitet werden will. Sie thematisieren eine lebendige spirituelle Tradition des Judentums, den an die Kabbala angelehnten Chassidismus, der in der Gegenwart einer der Hauptvertreter des Reinkarnationsgedankens ist. Sie weisen auf, dass immer mehr Menschen in der westlichen Welt die Reinkarnation nicht bloß als theoretische Überzeugung erwägen, sondern als konkreten Erlebnisinhalt erfahren. Sie zeigen nicht zuletzt, dass kein Unrecht zu groß ist, um nicht Verzeihung erfahren zu können.
Gershom weist darauf hin, dass die zeitliche und erlebnismäßige Nähe der Juden zu den Greueln des Holocaust sie bis vor kurzem daran gehindert hat, überhaupt über ihn zu sprechen. Wenn das Grauen und das Trauma zu groß sind, dann bleibt dem Menschen meist nichts anderes übrig, als diese seelischen Verwundungen zu verdrängen, weil die Kraft nicht ausreichen würde, sie zu verarbeiten. Er müsste daran zerbrechen. Häufig ist es erst der lange zeitliche Abstand, der eine Auseinandersetzung mit schweren Traumata möglich macht. Von diesem Gesichtspunkt aus kann man die Zunahme der inner-jüdischen Auseinandersetzung mit der erlittenen Massenvernichtung deuten.
Das Schicksal des Judentums während der Zeit des Nationalsozialismus kann nicht einfach schweigend übergangen werden, das Judentum selbst muss sich geistig damit auseinandersetzen, es muss einen religiösen Gesichtspunkt finden, von dem aus es möglich ist, das unvorstellbare Grauen einzubauen in die Beziehung, die es zu Gott hat. Ist der Holocaust eine Strafe Gottes für den Abfall vom göttlichen Gesetz, ist er eine Prüfung wie die Prüfung Hiobs, ist er ein Zeichen der besonderen Auserwähltheit, weil die Söhne Belials ihre ganze teuflische Wut an den Kindern Gottes auslassen müssen? Das Sprechen über den Holocaust wird dadurch erleichtert, dass immer mehr Menschen – von denen Gershom in seinem Buch berichtet – auftauchen, die mit spontanen Erinnerungen an frühere Inkarnationen konfrontiert werden. Bei diesen Erinnerungen handelt es sich nach Angabe der Betroffenen um Erinnerungen an eine frühere Inkarnation, in der diese Menschen Opfer des Holocaust geworden sind oder Misshandlungen während der Zeit der nazistischen Herrschaft erfahren haben. Die geistige Arbeit an dieser Frage ist nicht abgeschlossen und man kann davon ausgehen, dass die religiöse Auseinandersetzung mit ihr bedeutende spirituelle Entwicklungen im modernen Judentum in Gang setzen wird.
Gershoms Buch ist aber auch insofern bedeutsam, als es von einer lebendigen jüdischen Spiritualität Zeugnis ablegt, in der die Tatsache der Reinkarnation unzweifelbar feststeht. Die mittelalterliche Kabbala und der Chassidismus haben diese Lehre ausgestaltet. Sie stellen eine sich lebendig fortbildende Strömung innerhalb des orthodoxen Judentums dar. Der Chassidismus geht zurück auf den Mystiker Baal Schem Tow (Rabbi Israel ben Elieser), der im 18. Jahrhundert wirkte. Für den Chassidismus spielen die esoterischen Lehren der Kabbala eine zentrale Rolle, die Baal Schem Tow popularisierte. Jonassan Gershom, der im Unterschied zu Gershom Sholem die Überlieferungen der Kabbala nicht als Gegenstand historisch-philologischer Forschung, sondern als religiösen Lebensinhalt behandelt, lebt in diesen Überlieferungen als einem gegenwärtigen spirituellen Lebensgehalt. In diesem Zusammenhang sei auf die Darstellung über die verschiedenen Auffassungen vom Leben nach dem Tode im Judentum hingewiesen: neben der Vorstellung, der Verstorbene lebe in seinen Nachkommen weiter, existieren auch die Vorstellung von der leiblichen Auferstehung, von einem Weiterleben als unsterbliche Seele im Himmel und eben die Reinkarnationsauffassung.
Für Gershom, der die Auffassung vertritt, die Seele des Verstorbenen lebe in seinen Nachkommen weiter, bedeutet die Vernichtung von Millionen jüdischer Leben nicht nur die Vernichtung einzelner menschlicher Existenzen, sondern die Vernichtung von Millionen potentieller Welten, von geistigen Traditionen, die in den vergangenen und künftigen Generationen lebten, die durch den Massenmord ausgelöscht wurden. Der Glaube an die leibliche Auferstehung hat durch die massenhafte Verbrennung und Zerstreuung der Asche der Ermordeten viele Anhänger verloren.
»Wie können sich«, frägt Gershom, »wenn der Körper verbrannt und die Asche in alle vier Winde verstreut ist, nichtexistente Gebeine wieder zusammenfügen und auferstehen?« Die Vorstellung vom Weiterleben als unsterbliche Seele im Himmel hat eine besondere Beziehung der Lebenden zu den Verstorbenen gestiftet, denn, so die verbreitete Auffassung, im Garten Eden können keine Mizwot (gute Taten) mehr vollbracht werden. Wer in den verschiedenen Regionen des jüdischen Himmels nach dem Tode vorankommen will, ist deswegen auf die guten Taten der Hinterbliebenen angewiesen, die seiner gedenken und das Verdienst, das sie mit ihren Mizwot erwerben, auf den Verstorbenen übertragen.
Bei seinem kurzen Abriss über die Geschichte der jüdischen Reinkarnationsauffassung geht Gershom auf den Unterschied zwischen Gilgul, Ibbur und Dibbuk ein: Ibbur und Dibbuk sind Formen der Besessenheit oder Einwohnung, bei denen eine Seele oder ein geistiges Wesen vorübergehend Besitz von einer anderen Seele ergreift, ein Ibbur ist ein gutartiges Wesen, ein Dibbuk ein bösartiges. Gilgul ist der spezifische jüdische Begriff für Reinkarnation.
Aus seiner Verwurzelung im Judentum ergeben sich für Gershom aber auch spezifische Fragestellungen gegenüber der Reinkarnation. Eine dieser Fragestellungen nötigt ihm besondere argumentative Anstrengungen auf: die Frage nach den jüdischen Seelen in nicht-jüdischen Körpern. Gershom formuliert das damit verbundene Problem so: »Nichtjuden …, die sich daran erinnern, dass sie in einem anderen Leben Juden waren, sehen sich sehr oft mit dem Problem konfrontiert, dass sie sich wie »Deserteure« vorkommen, wie Verräter an ihrem eigenen Volk, was sie ja in gewissem Sinne auch sind. Diese Seelen haben den Entschluss gefasst, nicht wieder jüdisch zu sein …« (102) Die Wiedergeburt einer jüdischen Seele in einem nicht-jüdischen Körper, in einer nicht-jüdischen Familien- und religiösen Tradition ist deswegen ein besonderes Problem, weil der Sinaibund für alle jüdischen Seelen durch alle Inkarnationen hindurch bindend bleibt.
»Im Idealfall sollen alle Juden diesen Bund einhalten, und genau wie viele Juden seit Jahrhunderten glaube ich, dass diese Verpflichtung über alle Inkarnationen hinweg Gültigkeit besitzt.« (103) Demnach gälte der Satz des Lubowitscher Rebbe: »Einmal Jude, immer Jude.« (99) Die Frage ist nur, was dies genau bedeutet. Deutlich ist, dass die Konfrontation Gershoms mit dem Phänomen der Reinkarnationserinnerungen zu einem Nachdenken darüber führt, ob Judentum in erster Linie eine Sache der Vererbung sei oder nicht. Wer einmal den Bund mit der Thora geschlossen hat, kann diesen Bund nicht wieder aufheben, denn die Thora, der Wille und das Wesen Gottes, ist ewig gültig. Kann aber dieser Bund nur in einem jüdischen Körper eingehalten werden? Ist man Jude, weil man eine jüdische Seele besitzt? »Ein Buch wie das vorliegende vermag die Frage, ob die Seelen von Juden grundsätzlich anders sind als die von Nichtjuden, nicht zu beantworten. Ich glaube jedoch, dass es einer Seele freisteht, sich auf einen Bund festzulegen, über viele Inkarnationen hinweg und in vielen Welten.« (99)
Andererseits kann und muss es auch Seelen geben, die durch ihre Inkarnationen hindurch zwischen den Kulturen (und Religionen) hin und her wandern. Gerade diese Seelen sind es, die das Verständnis zwischen den verschiedenen Kulturen und Religionen fördern können. Alle Menschen können – so Gershom – dem Schöpfer dienen. »Wir glauben, dass auch Nichtjuden in den Himmel kommen und »errettet« (ein Begriff, den die Juden in der Regel nicht gebrauchen) werden können« (106) und zwar nicht nur dann, wenn sie konvertieren und von einem der jüdischen Stämme adoptiert werden, sondern schon dann, wenn sie die sieben noachidischen Gebote befolgen. Die noachidischen Gebote besiegelten den Regenbogenbund, den ersten von drei Bünden Gottes mit der Menschheit. Betrachtet man die drei Bünde als drei Stufen der Manifestation, als Hypostasen der kosmischen Thora, könnte man sagen, wer die noachidischen Gebote befolge, sei Jude, ohne in einem jüdischen Körper geboren zu sein. Die sieben noachidischen Gebote finden sich auch in anderen Weltreligionen: sie verlangen, dass der Mensch keine Götzen anbetet, den Namen Gottes nicht entweiht, nicht tötet, nicht stiehlt, kein Blut oder Fleisch von lebenden Tieren zu sich nimmt, weder Ehebruch noch Inzest begeht und nicht Selbstjustiz übt, sondern seine Streitigkeiten vor einem Gericht beilegt.
Man kann aus diesem wenigen ersehen, welche bedeutende Kraft im Reinkarnationsgedanken steckt. Er vermag aus dem Schoß des orthodoxen Judentums eine Horizonterweiterung zu entbinden, die die Möglichkeit der Versöhnung der Kulturen in sich birgt.
Der Rabbiner Ovadia Josef, der geistige Mentor der jüdisch-orthodoxen Schas-Partei, hat in der Tradition der Kabbala geradezu behauptet, die Opfer der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik seien wiedergeborene (jüdische) Sünder gewesen: im Rahmen einer spezifisch jüdischen Theodizeeproblematik stellt hier das Leiden der Gerechten nicht Gottes Gerechtigkeit in Frage, weil ihr Leiden eine Strafe für in früheren Leben begangene Vergehen ist.
Friedrich Niewöhner schrieb jüngst in der FAZ über Rabbi Josef: »Was Rabbi Josef in Jerusalem über die Opfer des Holocaust sagte, kann nach dieser kabbalistischen Lehre verstanden werden als ein Versuch, Gottes Gerechtigkeit und Güte nicht durch den scheinbar unerklärlichen Völkermord in Frage stellen zu lassen. Der Rabbi redet darum eigentlich gar nicht von den Opfern, sondern von Gott, der nicht ungerecht und willkürlich sein kann. Ist Gott gerecht, dann können die Gerechten, die bestraft worden sind, nur »wiedergeborene Sünder« sein.«
Die sechs Millionen Opfer des Holocaust, so Rabbi Josef, seien Reinkarnationen früherer Sünder gewesen. Sünder hätten um das Goldene Kalb getanzt, als Moses die Zehn Gebote Gottes erhielt. Diese Sünderseelen seien in die Judenheit Europas gefahren, »um sich (durch den Opfertod) zu reinigen«. Während Gott die europäischen Juden in der Schoa gestraft habe, sei den Juden in orientalischen Ländern dieses Los erspart geblieben. Jörg Bremer am 24.8.2000 zu diesen Äußerungen des Rabbi in der FAZ: »Auch europäische Ultraorthodoxe teilen die Vorstellung von der Reinkarnation, auch sie können sich die Geschichte nicht ohne Gott als den alles – auch die Nationalsozialisten – Beherrschenden vorstellen.«217
Peter Bierl, der noch orthodoxer als diese jüdischen Ultraorthodoxen sein will, schlägt unter dem Titel Die esoterische Variante der »Auschwitz-Lüge« voll triumphierender Häme auf einen Esoterikautor ein218, weil er eben diese Auffassung vertreten habe und von einem deutschen Gericht wegen Antisemitismus verurteilt wurde. (Die Auffassung Hardos versucht Bierl übrigens auch anachronistisch in Steiner hinein zu interpretieren). O tempora, o mores, kann man da nur ausrufen.
Niewöhner sieht in der Lehre von der Seelenwanderung und der Bestrafung durch Wiedergeburt einen »aus Verzweiflung und Entsetzen geborenen Versuch, der Rechtfertigung Gottes angesichts der Bösen in der Welt. Darum ist erst die Belastung der Opfer eine Entlastung Gottes.«219
Verblendeten Antifaschisten wie Bierl oder Colin Goldner dürfte es schwerfallen, den gegenwärtigen rabbinischen Vertretern des jüdischen Gerechtigkeitsdenkens und der Reinkarnation einen spezifisch jüdischen Antisemitismus vorzuwerfen, gerieten sie doch darob selbst in Antisemitismusverdacht. Niewöhners rationalistische Projektion, der in der Konzeption der Wiedergeburt (gilgul) durch mittelalterliche Kabbalisten und deren heutige jüdische Vertreter lediglich einen aus Verzweiflung und Entsetzen geborenen Versuch einer Theodizee erblickt, mag dahingestellt bleiben. Immerhin könnte diese Lehre auch auf den von der mittelalterlichen Kabbala zur Genüge thematisierten mystischen Erfahrungen beruhen, die manche Kabbalisten zu Einsichten in das post-mortem-Schicksal Verstorbener brachten.
Im Gegensatz zu diesen der chassidischen Tradition verbundenen Rabbinern, deren Problem das der Theodizee ist, fasste aber Steiner das Leiden unschuldiger Opfer nicht als Strafe für frühere Vergehen dieser Opfer auf, sondern sprach vom Ausgleich und der Versöhnung, die den Opfern für ihr Leid aus der lebendigen Essenz der Christuswesenheit zuteil werde. Die Täter hingegen trifft nach Steiners Auffassung die Unerbittlichkeit der göttlichen Gerechtigkeit. Die Bedeutung der Steinerschen Lehre von Christus als dem Herrn des Karma ist darin zu sehen, dass Christus, der Beschützer des menschlichen Ich, der Ermöglicher von Freiheit und selbstloser Liebe, zugleich der Verwalter der kosmischen Gerechtigkeit ist. Das Leid Unschuldiger, das vor diesem Hintergrund als unfreiwillige imitatio Christi erscheint, verbindet die Opfer mit der geistigen Zentralsonne des Universums, mit dem menschgewordenen Gott, der als Auferstandener bis ans Ende aller Tage bei uns weilt, und heilt die Wunden ihres Leides mit dem Balsam der allversöhnenden Liebe, die die Essenz seines Wesens ist, während die Täter ihre Unfähigkeit, sich mit der Christuswesenheit nach dem Tode zu vereinen, die eine Folge ihres Handelns auf der Erde ist, als verzehrende Qual erleben, aus der es kein Entrinnen gibt, es sei denn, sie entschließen sich dazu, für ihre Taten Sühne zu leisten.
216) Jonassan Gershom, Kehren die Opfer des Holocaust wieder?, Dornach 1997.
217) FAZ, Nr. 196, S. 16.
218) Tom Hockemeyer alias Trutz Hardo, vgl. Bierl, S. 184 f.
219) FAZ, 23.8.2000, Nr. 195, Seite N 5.
Fazit
Wir haben anhand von einigen Beispielen gezeigt, welchen Wust von falschen Behauptungen, ideologischen Verdrehungen, Halbwahrheiten und Lügen Bierl nicht nur über Steiner und die Anthroposophie, sondern schlicht über den Verlauf der Geschichte und die Wirklichkeit aufstellt. Durch unsere Untersuchung dürfte seine fehlende Qualifikation, zu einem angemessenen Urteil über die erwähnten Gegenstände zu kommen, genügend deutlich geworden sein. Bierl stellt in seinem von Verblendung und Fanatismus zeugenden Machwerk buchstäblich Hunderte von falschen Behauptungen auf, die unmöglich im Einzelnen widerlegt werden können, nicht zuletzt deshalb, weil die mindere Qualität der Bierlschen Arbeit einen solchen Aufwand nicht rechtfertigen würde. Indes ist dringend davon abzuraten, in den Bierlschen Zerrspiegel der Wirklichkeit zu blicken, denn die Folge kann nur ernsthafte geistige Verwirrung sein. Eine wissenschaftliche Diskussion über Bierls Pamphlet erscheint angesichts dieser Tatsachen nicht nur obsolet, es würde dieses Kuriosum der Publikationslandschaft auch unnötig aufwerten. Es steht nur zu befürchten, dass Bierls Wahngebäude auf genügend urteilslose Zeitgenossen aufgrund seines suggestiven, geradezu hypnotisierenden Tons Wirkungen ausübt, und sie mit dem Fanatismus infiziert, von dem Bierl mit jeder Zeile seines Pamphlets Zeugnis ablegt.
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