Die Antisekten-Bewegungen in den USA und Frankreich

Die Anti-Sekten-Bewegungen in den Vereinigten Staaten und Frankreich: Ähnlichkeiten und Unterschiede

Von Massimo Introvigne

Verfasst 1999. Übersetzt von Lorenzo Ravagli. Quelle: CESNUR

In den Vereinigten Staaten sind die Soziologen sehr an den Anti-Sekten-Bewegungen interessiert [1]. In Europa hat ihr Beispiel vor allem in Großbritannien Wirkungen gezeitigt [2]. Kurioserweise existieren nur sehr wenige Arbeiten über die Situation in Kontinentaleuropa, wo die Anti-Sekten-Bewegungen hauptsächlich von amerikanischen Soziologen untersucht worden sind [3] – nur wenige europäische Autoren haben ihre Aufmerksamkeit der allgemeinen Problematik zugewandt [4]. Zwar gibt es Untersuchungen über Italien und Deutschland, aber so gut wie nichts zu diesem Thema in Frankreich, obwohl die Anti-Sekten-Bewegungen gerade in diesen Ländern den größten Erfolg gehabt zu haben scheinen, und dies vor allem in den letzten Jahren.

In dieser Arbeit nehme ich mir vor (a) die Wichtigkeit der Unterscheidung zwischen »Bewegungen gegen die Sekten« und »Anti-Sekten-Bewegungen« herauszuarbeiten; (b) das Entwicklungsmodell der Anti-Sekten-Bewegungen darzustellen, das aus der amerikanischen soziologischen Literatur hervorgeht; (c) die Analogien und Unterschiede zwischen diesem Modell und dem speziellen französischen Fall aufzuzeigen; und (d) die zukünftige mögliche Entwicklung der Anti-Sekten-Bewegung in Frankreich zu diskutieren.

a. »Bewegung gegen die Sekten« und »Anti-Sekten-Bewegungen«

Die Gegner der »Sekten« (ein Wort, das die meisten Universitätswissenschaftler, die aus verschiedenen Gründen den Ausdruck »neue religiöse Bewegungen« vorziehen, nicht gerne gebrauchen) sind nicht alle gleich. Die Front der »Sekten«feinde ist uneinheitlich. Die meisten Kenner, die sie untersucht haben, stimmen in der Unterscheidung zweier Strömungen überein: einer Bewegung »gegen die Sekten« (counter-cult movement) christlichen Ursprungs und einer »Anti-Sekten-Bewegung« (anti-cult movement) weltlichen, laizistischen Ursprungs. Diese Unterscheidung war zuerst eine Angelegenheit von Spezialisten (allen voran J. Gordon Melton in den Vereinigten Staaten und der Verfasser in Europa) [5]. Sie ist seither nicht nur im universitären Milieu akzeptiert worden, sondern in den Vereinigten Staaten und einigen europäischen Ländern auch durch die meisten großen Organisationen, die gegen die Sekten arbeiten – insbesondere das Christian Research Institute (CRI), das durch Walter Martin (1928-1989) begründet wurde und das Dialog Center International, das vom lutherischen Pastor Johannes Aagaard in Aarhus [6] geleitet wird, zumindest in dessen dänischem Zweig – und sie ist jetzt in den evangelisch-christlichen Kreisen in den USA geläufig. Im Gegensatz dazu findet sich diese – übrigens evidente – Unterscheidung nicht in den Veröffentlichungen der Anti-Sekten-Bewegungen, deren Organisationen sich gerne als Repräsentanten aller darstellen, die sich – sowohl von einem religiösen als auch weltlichen Standpunkt aus – gegen die »Sekten« wenden.

Die grundsätzlichen Unterschiede zwischen den Bewegungen gegen die Sekten und den Anti-Sekten-Bewegungen finden sich auf drei Gebieten: der Definition des Gegners, den Strategien und den Beziehungen zu den Kirchen. Für eine Oppositionsbewegung ist die Definition des Gegners natürlich von fundamentaler Bedeutung. Die Definition des »Sekten«begriffs (oder des »cult«begriffs im Englischen) ist in den Bewegungen gegen die Sekten und in den Anti-Sekten-Bewegungen unterschiedlich. Der Hauptunterschied besteht in der Trennung zwischen Handlungen (deeds) und (Glaubens-)Überzeugungen (creeds), der die Anti-Sekten-Bewegung kennzeichnet und in der Regel von der Bewegung gegen die Sekten zurückgewiesen wird. »Wir beschäftigen uns nur mit Handlungsweisen und nicht mit Glaubensüberzeugungen« ist der in der Anti-Sekten-Bewegung geläufige Slogan. Aber aus der Sicht der christlichen Bewegungen gegen die Sekten kann diese Position nicht aufrecht erhalten werden. Im Gegenteil, wenn wir Johannes Aagaard folgen, dann »muß man in Betracht ziehen, daß ein Glaube bereits ein Verhalten ist. Wenn man die irrtümlichen Verhaltensweisen aufhalten will, dann muss man zuerst gegen die irrtümlichen Überzeugungen vorgehen. Aber dies macht andere Überzeugungen erforderlich (alternative creeds)! Und hier beginnen die Schwierigkeiten der Anti-Sekten-Bewegung« [7].

Dieser bedeutende Unterschied kann unter drei Aspekten betrachtet werden.

An erster Stelle, auf einem mehr theoretischen Niveau, erheben sich philosophische und theologische Fragestellungen angesichts der Unterscheidung zwischen Handlungen und Überzeugungen. Die philosophische Analyse menschlicher Handlungen, unabhängig von den Überzeugungen, die ihnen zugrunde liegen, ist Ergebnis einer positivistischen Psychologie und Anthropologie, die von den Christen, die häufig Träger der Bewegung gegen die Sekten sind, nicht akzeptiert werden kann. Die Position von Aagaard, die wir zitiert haben, ist für die Auffassung typisch, daß jede menschliche Handlung als einheitliches Phänomen philosophisch untersucht werden muß, und nicht beurteilt werden kann, wenn man nicht gleichzeitig ihre materielle Seite und ihre philosophischen und spirituellen Voraussetzungen berücksichtigt. Die Analyse des menschlichen Handelns durch die christliche Bewegung gegen die Sekten ist stets eine Analyse, die sich auf die philosophischen und theologischen Voraussetzungen bezieht. Gewiss, der Zweck heiligt nicht die Mittel, aber dieselben Handlungen können je nach ihrem Kontext doch unterschiedlich beurteilt werden. Der Einwand des religiösen Gewissens, sagen die christlichen Gruppen gegen die Sekten, muß geschützt werden, im Gegensatz zum Einwand eines Gewissens, das nur von der Sorge bewegt ist, die Beschwerungen und Risiken eines Militärdienstes zu vermeiden.

An zweiter Stelle hat die Bewegung gegen die Sekten die Ernsthaftigkeit der Anti-Sekten-Bewegung anzuzweifeln begonnen, deren Neutralität gegenüber Glaubensüberzeugungen mehr vorgegeben als real sei. Derselbe Aagaard [8] macht darauf aufmerksam, daß die Anti-Sekten-Bewegung selbst eine Orthodoxie zu verteidigen hat, nämlich die des säkularistischen Humanismus oder eine Form von Laizismus, wie ihn das 19. Jahrhundert vertrat. Gewiss, diese Beobachtung gilt nicht für alle Anti-Sekten-Bewegungen, aber vielleicht hat Aagaard nicht Unrecht, wenn man die Positionen des bekanntesten Sprachrohrs der laizistischen Anti-Sekten-Bewegung in den USA betrachtet, die der Psychiaterin Margaret Singer. Als sie gegen die Anhänger der Krishnabewegung in den USA vor einem kalifornischen Gericht aussagte, erklärte sie, daß für sie »die Überzeugungen ohne jede Bedeutung« seien [9]. Aber in einem Interview, das sie der Zeitung einer christlichen Bewegung gegen die Sekten gewährte, erklärte sie, sie betrachte die Positionen religiöser Bewegungen, die sich »außerhalb der wissenschaftlichen Welt, des Liberalismus und des Rationalismus« bewegten, als »sektiererisch« (cultic) und gefährlich, denn »Gegensätze zu unserer allgemeinen wissenschaftlichen Auffassung der Kausalität« [10] blieben ohne Antwort. Man begreift, daß bestimmte Anti-Sekten-Bewegungen eines Interesses an Überzeugungen beschuldigt werden könnten, das sie, ungeachtet ihrer anderslautenden Behauptungen, diesen dennoch entgegenbringen, sofern diese Überzeugungen mit einer Orthodoxie übereinstimmen, die nicht diejenige der Bibel ist, sondern die des »Liberalismus«, des »Rationalismus« oder »der Wissenschaft«. Ebendies nährt den Verdacht der [christlichen] Bewegung gegen die Sekten.

An dritter Stelle führen die Definitionen des »Sekten«begriffs nach den Überzeugungen oder den Tätigkeiten auch zu einer unterschiedlichen Bestimmung der Prioritäten. Eine Analyse der Veröffentlichungen gegen die Sekten in den USA zeigt, daß die Hauptzielscheibe das Mormonentum ist, gefolgt von der Freimaurerei. Im Gegensatz dazu spielen weder das Mormonentum, noch die Freimaurerei eine herausragende Rolle in der laizistischen Anti-Sekten-Literatur. In bestimmten Ländern (insbesondere Italien) findet man Anti-Sekten-Bewegungen, die die Freimaurerei als »Sekte« angreifen (und sogar Gesetze und Urteile erreicht haben, die die Möglichkeiten der Freimaurer einschränken, Zugang zu bestimmten Ämtern zu erlangen, insbesondere im Bereich der Justiz); aber in anderen Ländern, Frankreich eingeschlossen, haben die am meisten rationalistischen Freimaurer-Obödienzen die Tendenz, sich den Kampagnen der Anti-Sekten-Bewegungen anzuschließen. Im Gegensatz dazu, wenn das Abgrenzungskriterium der »Sekte« die (Glaubens-)Überzeugung ist, (oder die Abwesenheit einer [Glaubens-]Überzeugung), dann können das Mormonentum (und selbst die Freimaurerei) der christlichen Bewegung gegen die Sekten als besonders gefährliche Phänomene erscheinen (das Mormonentum aufgrund seiner Erweiterung des traditionellen Christentums, die Freimaurerei wegen ihres in manchen Ländern vorhandenen Antiklerikalismus oder wegen ihrer Auffassungen über Religion, die bestimmten christlichen Gruppierungen als »relativistisch« erscheinen).

Zweitens gleichen sich die Strategien der Anti-Sekten-Bewegung und der Bewegung gegen die Sekten nicht. Dies deswegen, weil ihr jeweiliges Ziel unterschiedlich ist. Für die Anti-Sekten-Bewegung genügt es, das »Opfer« von der Sekte zu »befreien«, ohne sich zu sehr um dessen künftige religiösen Überzeugungen zu kümmern. Als Kritik an der Anti-Sekten-Bewegung schrieb die Zeitschrift des Christian Research Institute – der wichtigsten christlichen Bewegung gegen die Sekten in den USA – im Jahr 1992, daß »für die Christen die authentische und hauptsächliche Sorge stets das ewige Leben ist. Welches gute Resultat hat man am Ende erreicht, wenn die Leute von den Sekten befreit werden, aber ihre spirituellen Bedürfnisse, – die sie genaugenommen zu den Sekten geführt haben – und ihr Verlangen nach dem ewigen Heil ohne Antwort bleiben?« [11] Die Strategie der Bewegung gegen die Sekten ist typisch apologetisch und empfiehlt, sich nie auf eine Kritik der »Sekten« zu beschränken, ohne die christlichen Wahrheiten zu verkünden, die jedem einzelnen »Sekten«-Irrtum entgegenstehen. Praktisch heißt dies auch, daß die Bewegung gegen die Sekten staatliche und polizeiliche Repression sowie »harte« Maßnahmen, wie die Deprogrammierung oder selbst die weichste Form, die man in den USA »exit counseling« (Ausstiegsberatung) nennt, immer weniger befürwortet. Auf der einen Seite schätzt man die pastorale Fähigkeit – das heißt, die Möglichkeit, die Adepten der »Sekten« auf den Weg der christlichen Orthodoxie zurück zu führen – vom Standpunkt dieser radikalen Maßnahmen aus als nahezu wirkungslos ein. Auf der anderen Seite fürchtet man, daß die Deprogrammierung oder die Ausstiegsberatung – wie bereits geschehen – auch gegen evangelische oder katholische Gruppen, insbesondere fundamentalistische, eingesetzt werden könnten.

Diese Beobachtungen führen uns zum dritten grundsätzlichen Unterschied zwischen den Bewegung gegen die Sekten und den Anti-Sekten-Bewegungen: den Verbindungen zu den Kirchen. Als die Bewegung gegen die Sekten ihre Präferenzen bezüglich der Gruppen, die in die »Sekten«definition einzuschließen sind, entwickelte, folgte sie demselben Pfad, der sie auch schon bezüglich der Ausschließungen leitete. Für die protestantischen Bewegungen gegen die Sekten besteht kein Grund, eine Gruppe als »Sekte« einzustufen, wenn sie normalerweise im evangelischen Milieu akzeptiert wird und wenn ihre Lehre nicht der traditionellen christlichen Orthodoxie widerspricht, selbst dann nicht, wenn sie sehr aktiv Mitgliederwerbung betreibt und ihre Führer eine starke Autorität für die Gläubigen darstellen. Dies ist insbesondere bei den »Juden für Jesus« in den USA der Fall, die oft in den Sektenlisten der Anti-Sekten-Bewegungen erwähnt werden und deren Verteidigung die Bewegungen gegen die Sekten in der Regel übernehmen. Es existieren auch katholische Bewegungen gegen die Sekten (wie der GRIS in Italien); die sich weigern, katholische Gruppen als Sekten zu betrachten, sofern sie nicht Gegenstand einer formellen Verurteilung durch die kirchliche Autorität geworden sind oder deren Verteidigung die Kirche in Rom selbst betreibt. Dies ist insbesondere der Fall beim Opus Dei und bei bestimmten Gemeinschaften, die aus der charismatischen Erweckungsbewegung hervorgegangen sind, die von bestimmten laizistischen Anti-Sekten-Bewegungen angegriffen werden, die aber keine einzige katholische Bewegung gegen die Sekten als »Sekten« betrachten würde.

Es ist nötig, hier zu betonen, daß der Unterschied zwischen Bewegung gegen die Sekten und Anti-Sekten-Bewegung kein subjektiver, sondern ein objektiver Unterschied ist. Es kann sehr wohl sein, daß Priester wie der Pater Kent Burtner in den USA oder der Pater Jacques Trouslard in Frankreich, die typischen Gewohnheiten der Anti-Sekten-Bewegung übernehmen. Vater Trouslard erklärt, daß »die Sekte nicht durch ihre Lehren, ihre Theorien und ihre Überzeugungen charakterisiert ist und sich definiert«, sondern durch ihre »Schädlichkeit« und daß ihre »Deontologie« darin bestehe, sich »weder mit Religionen noch mit Kirchen« zu befassen [12], was ihn insbesondere dazu führt, Positionen des Episkopats zu ignorieren und Gruppen weiter als »Sekten« anzugreifen, die die hierarchische Kirche verteidigt, wie etwa das Office Culturel de Cluny oder, einmal mehr, das Opus Dei. Es handelt sich hier um typische Positionen der Anti-Sekten-Bewegung; die Tatsache, daß er katholischer Priester ist, hindert Pater Trouslard (und einige andere Priester und Pastoren in den USA) keineswegs daran, Positionen zu vertreten, die in jeder Beziehung typisch für die Anti-Sekten-Bewegung sind. Der Unterschied betrifft nicht die Herkunft oder den subjektiven Glauben des Mitglieds dieser oder jener Bewegung. Wenn sich die Aufmerksamkeit in erster Linie den Glaubensüberzeugungen zuwendet, handelt es sich um eine Bewegung gegen die Sekten. Wenn man, im Gegensatz dazu, erklärt, die Überzeugungen spielten keine Rolle für die Definition einer »Sekte«, dann stehen wir einer Anti-Sekten-Bewegung gegenüber.

In den letzten Jahren sind bestimmte christliche Bewegungen gegen die Sekten – überall in Europa, aber auch in den USA – mehr und mehr durch die Anti-Sekten-Bewegungen beeinflußt worden [13]. Die christlichen Bewegungen zählen häufig keine Professionellen zu ihren Anführern, und besitzen daher einen gewissen Minderwertigkeitskomplex gegenüber der »Professionalisierung« der laizistischen Milieus. Von ihren Gegnern angegriffen, benötigten die christlichen Bewegungen ebenso spezialisierte Verteidiger, die sich häufig nur in der laizistischen Anti-Sekten-Bewegung finden. Man beobachtet deshalb mehr und mehr christliche Bewegungen gegen die Sekten, die ihr spezifisches Interesse für die Theologie bewahren, und gleichzeitig Argumente und eine Sprache benutzen, die für die Anti-Sekten-Bewegungen typisch sind. Andere christliche Bewegungen gegen die Sekten verabscheuen im Gegensatz dazu diese Annäherung, vermehren ihre Attacken gegen den säkularistischen Humanismus und suchen eine Erklärung für den Erfolg der »Sekten« vor allem in der Dämonologie, was sie den laizistischen Anti-Sekten-Bewegungen noch mehr entfremdet.

b. Die Entwicklung der Anti-Sekten-Bewegungen:
das Modell der amerikanischen Soziologen

Die christlichen Bewegungen gegen die Sekten existieren in den USA – ebenso wie in einigen europäischen Ländern – seit dem 19. Jahrhundert. Sie haben einfach dem Verzeichnis ihrer Gegner neue Gruppen und Tendenzen angefügt, und es ist ein Jahrhundert her, daß sie sich vor allem mit den Mormonen, den Zeugen Jehovas, der Christlichen Wissensschaft und – gegebenenfalls – mit der Freimaurerei befaßten. Ihre Geschichte unterscheidet sich von der der laizistischen Anti-Sekten-Bewegungen. Die amerikanischen Soziologen haben ein Modell der Entwicklung der Anti-Sekten-Bewegung ausgearbeitet, das sich nur auf die laizistischen Gruppierungen bezieht, und die die parallele (aber unterschiedliche) Geschichte der christlichen Bewegungen gegen die Sekten nicht berücksichtigt. Auch wenn es zwischen den Anti-Sekten-Bewegungen in den USA Unterschiede gibt, leitet sich aus den Untersuchungen von Experten wie Anson Shupe, David G. Bromley und James T. Richardson ein allgemeines Modell her, das vor allem auf der Analyse der American Family Foundation und des Cult Awareness Network beruht. [14] Man kann dieses Modell referieren, indem man die Geburt, die Entwicklung und die Krise der amerikanischen Anti-Sekten-Bewegungen betrachtet.

Die Geburt der Anti-Sekten-Bewegungen verdankt sich einem besonderen Aspekt des Konfliktes zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft, zwischen den sozialen Formen des Herkommens und des Vertrags [15]. Das »Vertrags«modell der Gesellschaft macht es einerseits für Religionen oder Philosophien die der Tradition eines Landes fremd sind, leichter, sich auf dem Markt der Ideologien erfolgversprechend zu präsentieren und, andererseits erlaubt es den Einzelnen, insbesondere den jungen Erwachsenen, eine Wahl zu treffen, ungeachtet der Mißbilligung ihrer Familie und ihrer unmittelbaren Umgebung. Dieses Phänomen ruft eine Reaktion hervor. Diese Reaktion wird nicht immer durch die traditionellen Kirchen und ihre Bewegungen gegen die Sekten kanalisiert, die vielmehr – in der Zeit des größten Erfolges der neuen religiösen Bewegungen in den USA in den 70er Jahren – dabei waren, ihre Vitalität zu verlieren. Im übrigen waren sie sehr wenig mit wirklich neuen religiösen Bewegungen wie den Kindern Gottes (heute Die Familie) oder der Vereinigungskirche befaßt. Die Eltern der jungen Erwachsenen, die sich einer neuen religiösen Bewegung angeschlossen hatten, organisierten sich also, um die »Sekten« (Kulte) zu bekämpfen, indem sie ein recht naives Modell dessen ausarbeiteten, was später zur Ideologie der Gehirnwäsche wurde. Ihre »Kinder« (die übrigens manchmal dreissig Jahre und älter waren) waren schlicht »Gefangene« der »Sekten« und – da die Autoritäten das Problem nicht begriffen – handelte es sich darum, sie zu »befreien«, wenn nötig, mit Gewalt. Die Elternbewegungen und die Deprogrammierung – d.h., die Entführung des Mitglieds einer neuen religiösen Bewegung mit anschließender – meist gewaltsamer – »Therapie«, durchgeführt von Personen, den Deprogrammierern, die in der Regel keine professionellen Psychiater oder Psychologen waren, nahmen zur selben Zeit in Kalifornien ihren Anfang.

Ungeachtet der Sympathie mancher lokaler politischer Autoritäten hatte die Anti-Sekten-Bewegung von ihren weitgehend schlichten Ursprüngen her keine großen Erfolgschancen. Dennoch – nach dem von Shupe und Bromley zusammengefaßten Modell – erlaubten drei Entwicklungsfaktoren ein kontinuierliches Wachstum von der Mitte der 70er Jahre bis zum Ende der 80er Jahre. Diese bestanden in einer organisatorischen Konsolidierung, in der Professionalisierung und in der Vermehrung der Zielscheiben. [16] Einerseits muß man anerkennen, daß die Anti-Sekten-Bewegungen, die als lokale Gruppen entstanden, imstande waren (dank ihrer guten Beziehungen zu einer gewissen Presse) sich untereinander auf nationaler Ebene zu verbinden und Personen zusammenzubringen, die sich ursprünglich nur für eine einzelne Gruppe interessierten (z.B. für die Kinder Gottes oder die Vereinigungskirche). Unstrukturierte Gruppen schufen nach und nach sichtbare und wichtige Strukturen. Shupe und Bromley bestehen im übrigen darauf, daß diese organisatorische Konsolidierung vor 1980 ohne das einigende Band der Deprogrammierer nirgends möglich gewesen wäre. Es trifft zu, daß in der Folgezeit die größten amerikanischen Anti-Sekten-Bewegungen, nachdem sie Gerichtsentscheide von einer gewissen Indulgenz bis zur größten Strenge gegen die Deprogrammierung erlebt hatten, sich dazu durchgerungen haben, sich von dieser Praktik zu distanzieren, wenigstens in der Öffentlichkeit. Nach Shupe und Bromley sind die »gewaltsamen Deprogrammierer wie Ted Patrick nach und nach ins Abseits geraten, werden in Wirklichkeit jedoch immer noch symbolisch durch die Bewegungen im Inneren als Gründungsheroen geehrt, aber sorgsam vor dem Blick der Öffentlichkeit verborgen« [17].

Tatsächlich war die prominente Rolle der Deprogrammierer unvereinbar mit dem zweiten Entwicklungsfaktor der Anti-Sekten-Bewegungen: der Professionalisierung. Nur wenige Gründer der ersten Anti-Sekten-Bewegungen besaßen akademische Abschlüsse. In den 80er Jahren veranlaßte die Notwendigkeit, sich in Prozessen zu verteidigen, mit denen sich zunehmend neue religiöse Bewegungen wehrten, die Anti-Sekten-Bewegungen, mit zwei Arten von Professionellen Beziehungen aufzunehmen: mit Anwälten und Psychiatern (letztere traten in den Prozessen als »Experten« auf). Es entstanden Bündnisse mit bestimmten Anwaltskanzleien, insbesondere in New York, und mit einer Strömung innerhalb der psychologischen und psychiatrischen Berufsgruppe, die zwar nie die Mehrheit besaß, die aber doch in den 80er Jahren eine gewisse Bedeutung gewann und welche ein ausreichend schlichtes Modell der Gehirnwäsche oder der mentalen Destabilisierung vertrat. Nach und nach ersetzten Anwälte (wie Herbert Rosedale, der New Yorker Präsident der American Family Foundation) und Psychiater wie Margaret Singer die Eltern der Mitglieder als Anführer und Sprecher der Anti-Sekten-Bewegungen. Die Ideologie der Gehirnwäsche (oder ihre »zweite Generation«, als das Wort Gehirnwäsche verschwand, aber ihr wesentlicher Gehalt unter der Etikette der mentalen Destabilisierung aufrecht erhalten wurde) [18] erlaubte eine einfache und umfassende Erklärung der Attraktivität der »Sekten« und sogar eine neue Definition des »Sekten«begriffs. Die »Sekte« wurde zu einer Bewegung, die mentale Destabilisierung bewirkt. Übrigens entstand zwischen den Professionellen der Psychiatrie und den Deprogrammierern ein Konflikt. Schon 1981 wurde dieser Konflikt von Shupe und Bromley vorausgesehen, die sich fragten: »wenn die Deprogrammierer, die keinerlei Ausbildung in den medizinischen Berufen besitzen, auf schnellem Wege die Gewohnheiten einer Person verändern können, manchmal viel schneller und viel besser als die Professionellen, was ist dann die Zukunft der Psychiatrie und der Psychologie?« [19] Die Antwort der Psychiater folgte auf dem Fuß: sie forderten, die Deprogrammierung Amateuren zu entziehen und sie durch Verfahren zu ersetzen, die von Professionellen geleitet wurden. Da die Deprogrammierer oft gute Kunden der Anwälte waren, fanden sich die letzteren auf einmal in der schwierigen Mittlersituation zwischen den Psychiatern und den Partisanen der Deprogrammierung wieder.

An dritter Stelle erlaubte die Definition der »Sekte« als einer Bewegung, die Gehirnwäsche oder mentale Destabilisierung praktiziere, die Vermehrung der Zielscheiben. Auch wenn sich zu Beginn die Anti-Sekten-Bewegungen nur für eine sehr geringe Zahl von Bewegungen interessierten (vor allem die Kinder Gottes und – nach ihrem Rückzug aus den USA – »die drei Großen«: die Vereinigungskirche, die Jünger Krishnas und die Scientology), so gab die neue Definition den Anti-Sekten-Bewegungen das nötige Selbstvertrauen, um hunderte unterschiedliche Gruppierungen anzugreifen. Wohlgemerkt, es gab einerseits neue Bewegungen, die in den 70er Jahren nicht existierten. Aber es gab auch alte Bewegungen, wie die Zeugen Jehovas oder das Opus Dei (das vom Standpunkt des katholischen kanonischen Rechts gar keine Bewegung, sondern eine Personalprälatur, eine Diözese ohne Territorium ist), mit denen sich die Anti-Sekten-Bewegungen nicht beschäftigt hatten. Die Vermehrung der Zielscheiben liegt im übrigen in der Logik einer Bewegung, die eine organisatorische Konsolidierung kennt und die ihre Existenz und ihre Strukturen rechtfertigen muss. Man vermag nicht zu wachsen, ohne die Zahl der Klienten zu vermehren, aber für die Anti-Sekten-Bewegungen bedeutet die Ausweitung ihrer Klientel zugleich die Vermehrung ihrer Feinde.

Nach der Mehrheit der amerikanischen Soziologen belegen drei Faktoren die Krise der Anti-Sekten-Bewegungen in den USA in den 90er Jahren: die Unmöglichkeit, dauernde Allianzen mit den Bewegungen der Mehrheitskirchen gegen die Sekten zu schmieden; die Unmöglichkeit, als Einrichtung anerkannt zu werden, die autorisiert ist, »gefährliche Sekten« als solche zu bestimmen; der äußerst begrenzte Erfolg bei den Gerichten und den politischen Autoritäten. Diese Faktoren sind wichtig, auch wenn sie sich offensichtlich nicht auf die Situation in Frankreich anwenden lassen. Was den ersten Faktor anbetrifft, so sind einerseits die Meinungsunterschiede zwischen den Bewegungen gegen die Sekten und den Anti-Sekten-Bewegungen in den USA immer klarer geworden. Andererseits haben die protestantischen und katholischen Bewegungen gegen die Sekten begriffen, welche Gefahr die nichtreligiöse Definition der »Sekte« nach Kriterien wie Gehirnwäsche oder mentale Destabilisierung darstellt. Umsomehr, als die Vermehrung der Zielscheiben die Anti-Sekten-Bewegungen dazu führte, sich für protestantische (vor allem fundamentalistische und pfingstlerische) und katholische Gruppen (besonders das Opus Dei und die großen Gemeinschaften, die aus der charismatischen Erneuerung hervorgegangen sind) zu interessieren. An zweiter Stelle, ungeachtet der Unterstützung durch einen wichtigen Teil der Presse, ist es den amerikanischen Anti-Sekten-Bewegungen nicht gelungen, quasi als Regulationsstellen anerkannt zu werden, die autorisiert sind, darüber zu bestimmen, welche Bewegungen »Sekten« (cults) oder gefährlich sind. Hier kam die Opposition meist aus der akademischen Gemeinschaft, die – man muß es sagen – in den USA weit besser organisiert ist als in Europa. Die Zurückweisung des Berichtes DIMPAC über die mentale Destabilisierung, der von einer durch Margaret Singer angeführten Kommission redigiert worden war, durch ein Büro der American Psycological Association im Jahr 1987, sowie die von derselben Margaret Singer zusammen mit Richard Offshe gegen die American Psycological Association, die American Sociological Association und mehrere Historiker und Soziologen angestrengten und verlorenen Prozesse, zeigen zur Genüge die Natur dieses Konfliktes [20] Ohne die Zustimmung der universitären Gemeinschaft und ihrer Organisationen war es für die Anti-Sekten-Bewegung schwierig, Anerkennung als Agentur zu erhalten, die befähigt sei, den Begriff »Sekte« und seinen Umfang zu definieren. Schließlich hat das amerikanische Rechtssystem – das großes Gewicht auf akademische Experten als Zeugen legt – die Gerichte dazu geführt, insbesondere nach der Affäre Fishman (1990), die Theorien der Gehirnwäsche oder der mentalen Destabilisierung zu verwerfen und Deprogrammierer zunehmend zu schwereren Strafen zu verurteilen. Die Haltung der Gerichte hat sehr stark die Politiker beeinflusst, die zu Beginn eine gewisse Sympathie zugunsten der Anti-Sekten-Bewegungen bekundet hatten (und die im Übrigen, sofern sie Republikaner waren, nicht vergessen durften, welche Antipathie die wichtigen evangelischen und fundamentalistischen Strömungen den Anti-Sekten-Bewegungen entgegen brachten).

Schließlich sind es die Anti-Sekten-Bewegungen selbst, die Probleme mit der amerikanischen Justiz bekamen, insbesondere wegen bestimmter Anführer, die, ungeachtet der offiziellen Erklärungen, weiterhin Beziehungen mit Deprogrammierern unterhielten und ihnen Klienten zuführten. Gewiss, die von Scientology gestarteten Kampagnen haben beim Scheitern des CAN (Cult Awareness Network) eine große Rolle gespielt. Aber dieses Scheitern war 1995 durch das CAN selbst herbeigeführt worden, nachdem es einen Prozess verloren hatte (Scott v Ross), bei dem es um die Deprogrammierung einer jungen Pfingstlerin ging. Am 8. April 1998 hat der Appellationsgerichtshof für den Neunten Bezirk die Verurteilung des CAN bestätigt, weil er überzeugt war, daß das CAN im Geheimen die Beziehungen zu Deprogrammierern aufrecht erhalten hatte [21]. Ironischerweise wurden der Name und die Telefonnummer des CAN nach der Niederlage von einer Gruppe von Aktivisten übernommen, unter denen mehrere Scientologen wichtige Positionen innehatten. Am 30. Juli 1998 hat das Appellationsgericht des Siebten Bezirks die Niederlage und die Unmöglichkeit für das »alte CAN« seinen Namen wieder zu führen, bestätigt, indem es darauf hinwies, daß der Gebrauch des Namens CAN durch Scientologen Risiken der Täuschung in sich berge, Risiken, die man im gegebenen Fall in einem weiteren Prozess behandeln könne [22].

Sicher, die Anti-Sekten-Bewegungen stehen nicht davor, von der amerikanischen Szene zu verschwinden. Sie können immer noch auf die wichtige Unterstützung eines Teiles der Presse und des Fernsehens zählen. Aber in der zweiten Hälfte der 90er Jahre befinden sie sich ohne Zweifel in einer Krise, was zu dem Schluss führen könnte, daß der Erfolg der Anti-Sekten-Bewegungen ein sich selbst begrenzender Prozess ist – und zwar aus denselben Gründen, die die Krise erklären (insbesondere die Professionalisierung, die die Ideologie der Gehirnwäsche und der mentalen Destabilisierung mit sich gebracht hat, sowie die Vermehrung der Zielscheiben).

c. Das amerikanische Modell und die französische Situation

Das von den amerikanischen Soziologen ausgearbeitete Modell gibt uns ein Mittel in die Hand, um die französischen Anti-Sekten-Bewegungen zu untersuchen und stellt einen Referenzpunkt zur Verfügung. Wir werden Analogien zwischen dem amerikanischem Modell und der französischen Lage bemerken, aber auch wichtige Unterschiede.

Was die Entstehung der Anti-Sekten-Bewegungen betrifft, so ist es im allgemeinen zutreffend, sowohl in Frankreich als auch in den USA, daß sie auf die Eltern junger Erwachsener zurückgehen, die ihre Familie verlassen haben, um in eine religiöse Gemeinschaft einzutreten (zu Beginn meistens die Vereinigungskirche). Dies ist bei Claire Champollion der Fall, die sich (zusammen mit ihrem Gatten) am Ursprung der ADFI (Associations pour la Défense de la Famille et de l’Individu, neugruppiert seit März 1982 in einer Union Nationale namens UNADFI) findet, deren Sohn Yves Mitglied der Vereinigungskirche geworden war, was sie zur Gründung der ersten ADFI im Jahr 1974 veranlaßte. Dies war auch der Fall bei Roger Ikor (1912-1986), einem Pariser Schriftsteller, dessen Sohn als Anhänger eines Jungen, der eine rigorose makrobiotische Zenpraxis befolgte, gestorben war, was zur Entstehung des Centre contre les manipulations mentales (CCMM – Zentrum gegen mentale Manipulationen) führte, das auch heute noch seinen Namen trägt. Es trifft auch zu, daß die Ideologie zu Anfang schlicht genug war, und daß man, um die »Opfer« zu »befreien«, nicht zögerte, die Dienste von Deprogrammierern in Anspruch zu nehmen. 1976 erklärte Lidwine Ovigneur, die Leiterin der ADFI von Lille, gegenüber der Zeitung L’Aurore in bezug auf Brigitte Backeland, eine junge Anhängerin der Vereinigungskirche, daß diese sich nun, nach der »Abholung« [Entführung], dem »Kampf aussetzen werde, in dem sie deprogrammiert« werde. Das war nach Frau Ovigneur nicht der erste Fall, die hinzufügte: »Unsere Techniken der Deprogrammierung sind, dank amerikanischer Experten, jetzt auf dem neuesten Stand« [23]

Es ist auch nicht weniger zutreffend, daß es zu Beginn wichtige Unterschiede zwischen den Anti-Sekten-Bewegungen in Frankreich und ihren Entsprechungen in den USA gab. Man kann sagen, daß die Anti-Sekten-Bewegungen in den USA zu Beginn keine Ideologie besaßen, abgesehen von der rudimentären Idee, daß die »Opfer« der »Sekten« »Gefangene« seien, die durch Deprogrammierung befreit werden müßten. Vielmehr, enttäuscht von den Mehrheitskirchen oder auch den Politikern – die ihnen keine besondere Aufmerksamkeit schenkten – strengten sich die ersten amerikanischen Anti-Sekten-Aktivisten an, keine Zugeständnisse an klar umrissene philosophische Ideen zu machen. Bei bestimmten Persönlichkeiten, die sich am Ursprung der Anti-Sekten-Bewegung in Frankreich finden, verlief die Entwicklung vollkommen anders. Wenn die ADFI zu den laizistischen Anti-Sekten-Bewegungen gezählt wird, dann weist man gerne darauf hin, daß sich beim Ursprung dieser Assoziation Katholiken finden, was ohne Zweifel für Claire Champollion zutrifft. Selbst heute noch wird die ADFI oft von Gegnern angegriffen, die sie als »katholische ADFI« bezeichnen [24]. Noch in den ersten Zeiten der Publikation ihrer Zeitschrift BULLES (1984), findet man manchmal Kritiken gegen bestimmte Bewegungen, die sich eher auf einer doktrinären Ebene bewegen. Wenn man BULLES durchblättert, stellt man fest, daß die rigide Unterscheidung zwischen deeds und creeds nach und nach die Oberhand gewinnt, wahrscheinlich nicht ohne den Einfluss der Kontakte mit den USA, in die sich Claire Champollion im Oktober 1982 begeben hatte, um an einem Kongress von Anti-Sekten-Vereinigungen teilzunehmen. Sie pflegte eine zweideutige Haltung gegenüber der Deprogrammierung. In derselben Nummer publizierte BULLES 1984 ihren zusammenfassenden Bericht über den Kongress und das – die Deprogrammierung befürwortende – Zeugnis eines ehemaligen, deprogrammierten Krishnajüngers [25]. In ihrem Bericht versichert Claire Champollion bezüglich des »rechtlichen Aspektes des Unternehmens« (der Deprogrammierung), daß »unser Respekt vor dem Gesetz, das muß man gestehen, oft nichts weiter ist, als die Furcht vor dem Polizisten. Die Umstände und die Mentalitäten sind in den USA anders, wo jeder viel mehr daran gewöhnt ist, vor allem anderen seine Verantwortung selbst zu übernehmen« und »die Konsequenzen zu tragen«. Im übrigen bemerkt sie, daß infolge dieses Kongresses sich bei ihr die Überzeugung gebildet habe, »daß es keine mechanischen Deprogrammierungen« gebe und daß die Sache erheblich komplizierter sei, als es scheine [26]. Die selbe Nummer von BULLES veröffentlicht außerdem einen Artikel von Margaret Singer, in dem diese sich von der Deprogrammierung distanziert [27].

In jedem Fall kann man in den 80er Jahren den fortschreitenden Aufstieg der Ideologie der Trennung zwischen Handlungen und Lehren innerhalb der ADFI beobachten (sowie die immer wichtiger werdenden Kontakte mit den amerikanischen Anti-Sekten-Bewegungen). Die ADFI, die in ihren Anfängen gewisse Eigenarten einer christlichen Bewegung gegen die Sekten besaß, säkularisiert ihren Diskurs ebenso wie ihre Organisation (was einzelne Mitglieder wohlgemerkt nicht daran hindert, ihren individuellen Diskurs weiterhin aus christlichen Referenzen zu speisen) und präzisiert ihre Identität als einer Anti-Sekten-Bewegung. Man findet einen vollkommen anderen Glockenton von seiten des CCMM. Ungeachtet der Anschuldigungen bestimmter christlicher Bewegungen gegen die Sekten, besaßen die amerikanischen Anti-Sekten-Bewegungen in ihren Anfängen (vor ihrer »Professionalisierung«) keinerlei präzise Philosophie, auch nicht die des säkularistischen Humanismus. Roger Ikor – dessen Positionen gewiss nicht die aller Mitglieder des CCMM repräsentierten – war jedoch Vizepräsident der Union Rationaliste (Rationalisten-Vereinigung) und radikal antireligiös. Er schrieb 1980 in den »Cahiers Rationalistes«: «Wenn wir uns selbst verstehen würden, dann würden wir all diesen Glasperlenspielen, jenen der Sekten, aber auch jenen der großen Religionen, ein Ende setzen. Man kann schwerlich vom Gesetz verlangen, daß es all diese Hydrenköpfe abschlägt; es wäre jedoch die einzige Art sie aufzuhalten, da es ein einzelner nicht tut« [28]. In derselben Zeitschrift, schrieb er im selben Jahr in bezug auf die großen Religionen, daß »wir hinsichtlich dieser letzteren, keine Toleranz mehr üben. Warum? Seien wir offen und mutig vor uns selbst. Stellen wir uns Personen vor, die dafür einzutreten beginnen, daß man Neugeborenen die Ohrläppchen abschneiden muß, weil Gott es will. Und sie gehen zur Aktion über. Wir werden mit den Schultern zucken und ohne Zögern unser »Hoppla …!« gegenüber einer solchen Albernheit von uns geben. Aber wenn diese Leute zu Hunderttausenden auftreten, werden wir sie mit derselben Ernsthaftigkeit aufhalten, vorausgesetzt wir haben die Mittel dazu? Lassen wir den öffentlichen Aufruhr außer Acht, den ein Verbot nach sich ziehen würde« [29]. Kurz und gut, bei Roger Ikor findet man die selbe Position wie bei gewissen belgischen Rationalisten, die am Beginn der Anti-Sekten-Bewegung in diesem Land stehen: zwischen großen Religionen und Sekten »gibt es nur einen Unterschied des Grades und der Dosierung« [30]. Man muss sagen, daß man Behauptungen dieser Art heute nur selten beim CCMM findet. Selbst in diesem Fall mußte das CCMM, um sich als eine Anti-Sekten-Bewegung zu konstituieren, die per definitionem an Handlungsweisen und nicht an Überzeugungen interessiert ist, durch einen Prozess der Entideologisierung hindurchgehen und seine zu ausschließliche Bindung an eine enge und geschlossene rationalistische Ideologie aufgeben. Trotzdem finden sich die – entgegengesetzten, aber gemeinsamen – ideologischen Ursprünge der ADFI und des CCMM manchmal in ihrem heutigen Diskurs wieder. Auf der einen Seite huldigt das CCMM dem obersten Prinzip des Anti-Sekten-Geistes, der Unterscheidung zwischen Lehre (für die es sich angeblich nicht interessiere) und gefährlichen Handlungsweisen. Auf den Einwand, wonach »die von den Sekten verkündeten Meinungen oder Glaubensüberzeugungen ebenso schwer wiegen wie anderes«, antwortet das CCMM heute: »Das Problem liegt nicht darin, denn es ist nicht der Lehrinhalt, der diese Gruppen gefährlich macht, sondern die subtile Transformation, der sie ihre Adepten unterwerfen, also ihre Handlungen, ihre Methoden und ihre Zielsetzungen« [31]. Dennoch findet man zuweilen im aktuellen Diskurs der Anti-Sekten-Bewegungen in Frankreich Behauptungen, die sich nicht auf »Handlungsweisen« beziehen. Über kleine Pfingstlergemeinden liest man z.B. in einem Werk des CCMM, daß sich »das größte Misstrauen« empfehle, da sie »durch die protestantische Föderation von Frankreich nicht anerkannt sind« [32]. Nun, die protestantische Föderation von Frankreich – ebenso wie der Ökumenische Rat der Kirchen – »anerkennt« nicht (oder wird nicht anerkannt durch) gut die Hälfte des zeitgenössischen Protestantismus, Insbesondere die evangelikale oder Pfingstlerbewegung. Es handelt sich hierbei um interessante Probleme, die aber nichts mit »gefährlichen Handlungsweisen« oder »sektiererischen Abweichungen« zu tun haben, vielmehr sind die Differenzen eher theologischer, spiritueller, wenn nicht gar politischer Natur. Wenn man die Abwesenheit integralistischer katholischer Gruppierungen wie der Brüderschaft des Hl. Pius X. oder anderer extremistischer Abweichungen des Islam in den von diesen Bewegungen aufgestellten »Sekten«listen feststellt, dann kann man sich fragen, ob – trotz aller Versicherungen, daß Lehren nicht interessierten – nicht viel mehr Toleranz geübt wird, wenn dieselben Praktiken sich in Gruppen finden, die sich an der Peripherie der großen Religionen ansiedeln, als wenn sie z.B. bei den UFO-Gläubigen auftauchen. Andererseits hat die Anti-Sekten-Bewegung in Frankreich ihre amerikanischen Vorbilder sogar überholt, wenn man den Übergang des psychologischen in den politischen Diskurs betrachtet: die Sekten seien vor allem »totalitär«. Aber der Beweis für ihren Totalitarismus wird selten in der Abwesenheit von Demokratie gesucht (in diesem Fall müßte, da in der katholischen Kirche der Pfarrer nicht durch die Gläubigen gewählt wird, ebensowenig wie der Bischof durch die Pfarrer, auch diese unter die »Sekten« eingeordnet werden), als vielmehr in der unterstellten Praxis der mentalen Manipulation, die als Verletzung der Freiheit des Individuums betrachtet wird, was die politische Analyse auf ihren psychologischen Ursprung zurückführt.

Die Entwicklung der französischen Anti-Sekten-Bewegung ist dem amerikanischen Modell sehr ähnlich, auch wenn es Unterschiede gibt. Die organisatorische Konsolidierung ist in Frankreich ebenso bemerkenswert wie in den USA, besonders wenn man den Übergang der lokalen ADFIs in die nationale UNADFI betrachtet. Zu den Faktoren, die diese Konsolidierung erklären, muß man in Frankreich auf jeden Fall die Bedeutung der internationalen Kontakte hinzufügen. Schon Ende der 70er Jahre bemerkten amerikanische Soziologen die »Missionen« der amerikanischen Anti-Sekten-Bewegungen in Europa und Japan [33]. Diese »Missionen« haben in den letzten Jahren an Bedeutung zugenommen, da die Krise in den USA die amerikanischen Anti-Sekten-Bewegungen dazu veranlaßt hat, ihre »Erfolge« mehr im Ausland zu suchen. Die französischen Anti-Sekten-Bewegungen sind keineswegs von ihren amerikanischen Entsprechungen »gegründet« worden, aber sie haben deren Einfluss sowohl hinsichtlich ihrer Organisationsform als auch hinsichtlich ihrer ideologischen Entwicklung aufgenommen und dies seit den 80er Jahren. Ein neueres Zeichen dieser internationalen Verbindungen ist die Teilnahme der UNADFI und des CCMM an der 1994 in Paris vollzogenen Gründung einer Europäischen Föderation von Forschungs- und Informationszentren über den Sektarismus (Fédération Européenne des Centres de Recherche et d’Information sur le Sectarisme – FECRIS). Die Statuten erklären ausdrücklich, daß die Absicht bestehe, sich mit »Praktiken bestimmter totalitärer sektiererischer Organisationen« zu befassen, und es ist interessant, zu beobachten, daß die Vereinigung, die Gruppen einschließt, an deren Ursprung sich Christen finden, nur Anti-Sekten-Bewegungen in sich aufnimmt. Die großen europäischen Bewegungen gegen die Sekten, seien sie protestantisch (wie das dänische Dialog Center) oder katholisch (wie das GRIS in Italien), bleiben außerhalb (während für Italien eine um so kleinere laizistische Organisation, die ARIS, dabei ist).

Was die Professionalisierung anbetrifft, so kann man in Frankreich denselben Prozess beobachten, wie in den Vereinigten Staaten auf dem Gebiet der Ideologie, in dem Sinn, daß die Gehirnwäsche und später, deren Variante der »zweiten Generation«, die mentale Destabilisierung, zum universellen Schlüssel werden, um Sekten zu identifizieren und ihre Dynamik zu erklären. Im Gegensatz dazu bleibt die Leitung der französischen Anti-Sekten-Bewegungen in den Händen von Aktivisten, die meistens nicht durch Professionelle des Rechtes oder der Psychiatrie ersetzt wurden wie in den USA , auch wenn ein Psychiater, Doktor Jean-Marie Abgrall, eine zunehmend wichtiger werdende Rolle im französischsprachigen Anti-Sekten-Milieu zu spielen scheint. Das französische Rechtssystem, das sich vom amerikanischen erheblich unterscheidet, erlaubte es jedoch Anwaltskanzleien nicht, sich ausschließlich auf Fragen der religiösen Bewegungen zu spezialisieren. Trotzdem konnte man – an der Seite der organisierten Anti-Sekten-Bewegungen – die Entstehung eines breiten »Anti-Sekten-Milieus« beobachten – das ein Pendant des Sekten-Milieus bildet – in dem sich Personen finden, die, ohne Leiter oder selbst Mitglieder der Anti-Sekten-Vereinigungen zu sein, nichtsdestoweniger von den Medien als Wortführer der Anti-Sekten-Bewegung als Ganzer betrachtet werden, wie Doktor Abgrall oder Pater Jacques Trouslard, oder – nach dem Parlamentsbericht von 1996 – sogar Politiker, die sich plötzlich zu Gelehrten in Sachen Sekten verwandelten, wie der ehemalige Abgeordnete Alain Gest [34] oder der Abgeordnete Jean-Pierre Brard. Wie in den USA hat das Hinzutreten von Professionellen eine gewisse Kritik an der Deprogrammierung eingeleitet. Auch wenn die »Zwangsbehandlungen« nicht ohne Zweideutigkeit verurteilt wurden (Abgrall schreibt, daß sie »so weit wie möglich vermieden werden müssen«), so ziehen die Professionellen der Brutalität der Deprogrammierung doch »Maßnahmen der Hospitalisierung (HO) aufgrund behördlicher Verfügung oder auf Antrag Dritter (HDT)« vor, die »von zivilrechtlichen Pflege- und Vormundschaftsverfahren« [35] begleitet werden, zivilrechtlichen Verfahren, die übrigens inzwischen in den meisten Fällen von amerikanischen Gerichten zurückgewiesen werden. Genau betrachtet hat die französische Anti-Sekten-Bewegung bis heute noch nicht die Aufmerksamkeit von Galionsfiguren der Anwaltschaft – insbesondere in Paris – auf sich gezogen, ebensowenig wie die der Universitätspsychiatrie (wo die Thesen des Dr. Abgrall wegen ihres Extremismus Randthemen bleiben), was einen Unterschied im Vergleich zu den USA darstellt [36].

Schließlich kann man in Frankreich ebenso die Vermehrung der Zielscheiben und der Gruppierungen feststellen, die Gegenstand der Kritik der Anti-Sekten-Bewegungen sind, auch wenn der Angriff gegen Gruppen innerhalb der katholischen Kirche, die »sektiererischer Abweichungen« bezichtigt werden (meist das Opus Dei und die großen Gemeinden, die aus der charismatischen Erneuerungsbewegung hervorgegangen sind), eher die Angelegenheit bestimmter Einzelpersonen des Anti-Sekten-Milieus zu sein scheint, als der Organisationen. Die Tendenz zur Ausweitung und Vermehrung der Zielscheiben scheint überall in Frankreich vorhanden zu sein, wenn man etwa die Angriffe des Anti-Sekten-Milieus gegen das New Age und die Hellseherei (Wahrsagerei) betrachtet, die allerdings Phänomene darstellen, die kaum dem Modell der »Sekte« entsprechen, das die Assoziationen propagieren.

Hinsichtlich der Elemente der Schwäche oder der Krise der Anti-Sekten-Bewegung, wie sie die amerikanischen Soziologen auffassen, findet man vielleicht die gravierendsten Unterschiede zwischen Frankreich und den USA. Was den Konflikt mit den Kirchen anbetrifft, so muss man hervorheben, daß konfessionell inspirierte Bewegungen gegen die Sekten von gleicher Heftigkeit wie in den USA in Frankreich nicht existieren. Die Gruppe »Pastorale, sectes et nouvelles croyances« (Seelsorge, Sekten und neue Glaubensbewegungen) der katholischen Bischofskonferenz ist eine offizielle Einrichtung, die nicht die selbe Handlungsfreiheit besitzt (ebensowenig das polemische Feuer), wie eine private Körperschaft. Ungeachtet dieser Tatsache liegt der Konflikt mit den Mehrheitskirchen in der Natur der Anti-Sekten-Bewegungen und ihrer Ideologie. Dieser Konflikt war in Frankreich lange Zeit versteckt, aber er schwelt sozusagen unter der Asche. Die Anti-Sekten-Bewegungen haben versucht, Pater Trouslard als quasi-offizielle Stimme der französischen katholischen Kirche als Ganzer bis hin vor die Kommission des Parlaments zu präsentieren, was das Generalsekretariat der Bischofskonferenz veranlaßt hat, in seinem Dokument »Die katholische Kirche und die Sekten« vom 8. Februar 1996 darauf hinzuweisen, daß ihr einziger Beauftragter auf diesem Gebiet Ihre Exzellenz Jean Vernette sei [37]. Derselbe Vernette war oft Ziel von äußerst deutlichen Angriffen, die von den Leitern des ADFI ausgingen [38]. Wohlgemerkt, der Konflikt dreht sich um die Person von Vernette. Der Konflikt zwischen Anti-Sekten-Bewegungen und Mehrheitskirchen hat eine internationale Dimension und wurzelt in der Philosophie der Anti-Sekten-Bewegung selbst und in ihrem Anspruch, Handlungen und Lehren voneinander zu trennen. Auf der Grundlage dieser Trennung können die Anti-Sekten-Bewegungen nicht anders, als Gegebenheiten anzugreifen, die sie im Inneren der großen Kirchen vorfinden, bei denen ihnen die Handlungsweisen »sektiererisch« erscheinen (wie das Opus Dei, das Office Culturel de Cluny oder die Gemeinschaften, die aus der charismatischen Erneuerung hervorgegangen sind, um nur katholische Bewegungen zu erwähnen). Aus soziologischer Sicht ist offensichtlich, daß die Kirchen – insbesondere die katholische Kirche – niemals ein Eindringen in den Kern ihrer symbolischen Macht werden akzeptieren können, die Macht nämlich, Orthodoxie zu definieren, die natürlich auch die Macht einschließt, zu bestimmen, welche Gruppierungen, die sich als katholisch bezeichnen, nicht orthodox sind. Indem die Anti-Sekten-Bewegungen katholische Gruppen als »Sekten« anklagen, treten sie in unmittelbare Konkurrenz zur Macht der Kirche, die Orthodoxie – und Orthopraxie – zu definieren, die typisch ist für das Lehramt und das Episkopat; diesen Konflikt zu vermeiden scheint von daher betrachtet unmöglich.

Der Konflikt mit der Mehrheit der Universitätsangehörigen ist in Frankreich nicht so offensichtlich wie in den USA, und er stellt sich auch in einer etwas anderen Art dar: seine Konsequenzen sind insofern für die französische Anti-Sekten-Bewegung, zumindest im Augenblick, weniger gewichtig. Auch hier bewegt sich der Konflikt auf der Ebene der symbolischen Macht. In den Statuten der europäischen Föderation der Anti-Sekten-Bewegung FECRIS steht, daß die Vereinigungen, die ihr angehören, »Studien in den Gebieten der Soziologie, der Ökonomie und der Wissenschaft« betreiben. Trotzdem weigern sich die Anti-Sekten-Milieus normalerweise, speziell was die Soziologie anbetrifft, sich auf die Methodologie einzulassen, die in dreißigjähriger Forschung über die neuen religiösen Bewegungen entwickelt wurde, die mehrere Tausend Titel hervorgebracht hat, insbesondere (aber nicht ausschließlich) in englischer Sprache. Diese Methodologie geht nahezu vollständig aus teilnehmender Beobachtung und Feldforschung hervor und bevorzugt keineswegs (ohne sie auszuschließen, entgegen den gelegentlichen Behauptungen der Anti-Sekten-Vereinigungen) die Erzählungen der ehemaligen Mitglieder oder »Apostaten«. Die Information der Anti-Sekten-Bewegungen über die religiösen Bewegungen scheint den universitären Kennern der neuen religiösen Bewegungen oft mehr theoretisch als praktisch, denn sie ist gefiltert durch den Diskurs ehemaliger, nun feindlich eingestellter Mitglieder, eine Quelle, die man nicht vernachlässigen darf, die aber aus Dynamik der Konstruktion einer Erzählung verstanden werden muß, die etwas Vergangenes rechtfertigen soll, und die nicht angemessen gewertet werden kann, ohne daß man sie mit dem Diskurs der nicht feindlich eingestellten ehemaligen Mitglieder und der Mitglieder, die immer noch Teil der Bewegung sind, vergleicht (einem Diskurs, den man wohlgemerkt nicht immer für bare Münze nehmen darf). Das Anti-Sekten-Milieu glaubt auch, den Korpus an soziologischer und psychosoziologischer Literatur über die neuen religiösen Bewegungen ignorieren zu können, insbesondere den englischen, und fährt, ungeachtet der Kritik, damit fort, das zu benützen, was die Soziologie des Wissens als »widerlegtes Wissen«, »rejected knowledge« bezeichnet. Wenn Theorien für seine Militanz günstig sind, dann fährt das Anti-Sekten-Milieu fort, sie zu benutzen, selbst wenn diese Theorien in der universitären Forschung – im Rahmen des darwinschen Kampfes zwischen den Theorien, von dem Popper spricht – verworfen worden sind. Es handelt sich wohlgemerkt um »mechanische« Theorien über die Gehirnwäsche à la Margarete Singer und um die Idee, daß in Sekten die persönliche Beziehung zu einem Guru eine herausragende Rolle spiele, obgleich Soziologen in Dutzenden von Studien gezeigt haben, daß in den wichtigsten Bewegungen, die gerade die bevorzugten Zielscheiben der Anti-Sekten-Bewegungen sind, es entweder gar keinen Guru gibt – wie bei den Zeugen Jehovas – oder die Mehrzahl der Mitglieder den spirituellen Meister niemals getroffen hat; im übrigen pflegt die Mehrzahl der Bewegungen die Zahl ihrer Mitglieder in ihrer post-charismatischen Phase, wenn der Guru tot und durch eine Bürokratie ersetzt ist, nicht zu vermindern, sondern zu vermehren [39].

In jedem Fall muss bemerkt werden, daß es in Frankreich sehr wenige universitäre Kenner der neuen religiösen Bewegungen gibt. Diejenigen, die sich ausschließlich mit diesem Thema befassen, lassen sich an den Fingern einer Hand abzählen, während es – nach einer Untersuchung der American Academy of Religion – in den Vereinigten Staaten mindestens zweihundert gibt. Die Gruppe »Neue Religiöse Bewegungen« der American Academy of Religion zählt mehrere nicht-amerikanische oder europäische Mitglieder, darunter aber kein einziges französisches. Zwar gab es aus den Reihen der französischen Universitätswissenschaftler gegen den Parlamentsbericht von 1996 Proteste, und zwar weitgehend von in anderen Bereichen ausgewiesenen Spezialisten, wie denen der Geschichte der Christentums oder der Esoterik. Es ist inzwischen üblich, daß man bei internationalen Kolloquien, die den neuen religiösen Bewegungen oder der Freiheit der Religion gewidmet sind, Angriffe gegen die Haltung der französischen Regierung hört, aber diese Angriffe werden von nicht-französischen Forschern vorgebracht (die meist sehr angesehen sind). Diese Kritiken haben in anderen europäischen Ländern mehr Reaktionen hervorgerufen als in Frankreich: wenn Belgien 1997 einen Parlamentsbericht angenommen hat, der auf eine ähnliche Inspiration wie der französische zurückging, so hat sich im Jahr 1998 in einer zweiten Generation von Berichten eine erheblich gemäßigtere Haltung durchgesetzt – die die Weigerung einschloss »Sekten«listen zu veröffentlichen – (so in einem deutschen Bericht, einem schweizer Bericht über Scientology, dem Bericht Berger, der dem europäischen Parlament vorgelegt wurde – für den aber nicht gestimmt wurde – im Bericht der Generaldirektion der italienischen Polizei, im schwedischen Bericht, im Bericht des Kantons Tessin in der Schweiz). Unter Bezugnahme auf diese Kritiken hat die Delegation der Vereinigten Staaten bei der OSZE vor der Konferenz zur Überprüfung der Anwendung der Vereinbarungen der OSZE in Warschau (27. Oktober 1998) Frankreich kritisiert, indem sie im Hinblick auf die Interministerielle Mission zum Kampf gegen die Sekten (MILS) bemerkte, daß »allein schon der Name dieser Mission eher eine Konfrontation mit den religiösen Minderheiten als Toleranz erwarten« lasse, und daß die Aktivitäten der französischen Regierung diese »bis zum Exzess in die öffentliche Debatte verwickeln«, die in Sache »Sekten« geführt werde und ihr die »Rolle des religiösen Schiedsrichters« zuwiesen [40]. Diese Kritiken sind durch mehrere Experten und Delegationen vor der Ergänzenden Konferenz über die Freiheit der Religion, die von der OSZE am 22. März 1999 in Wien organisiert wurde, aufgegriffen worden (übrigens wurde ihnen durch M. Denis Barthélemy, den Generalsekretär der MILS, der Angehöriger der französischen Delegation war, heftig widersprochen). Der Bericht der schwedischen Regierung über die neuen religiösen Bewegungen (Oktober 1998) hat seinerseits kommentiert, daß »in Frankreich der Staat als Ganzer gemeinsame Sache mit der Anti-Sekten-Bewegung gemacht« habe [41]. Auf seiner Seite mit Kommentaren zu Weihnachten schrieb der Londoner »Guardian«: »eine Welle der Hysterie breitet sich nach der Sonnentempler-Episode von 1994 im frankophonen Europa hinsichtlich der Sekten aus. Die Glaubensfreiheit ist ihr in kürzester Zeit in durchweg demokratischen Ländern zum Opfer gefallen. Es fehlt nicht an Anti-Sekten-Gruppen, die glücklich darüber sind, Denunziationen feilbieten zu können. Wenn Politiker die Gelegenheit ergreifen, sich auf billigem Wege Verdienste zu erwerben, dann wird ein Kreislauf von Denunziationen und Beleidigungen Verfolgungskomplexe hervorrufen, die wahrhaftig harmlose Bewegungen in paranoide Sekten verwandeln können.« [42].

Man muß auch die Verknüpfung des »Sekten«begriffs mit dem Begriff »extreme Rechte« in Frankreich berücksichtigen, die in der englischsprachigen Welt so gut wie unbekannt ist, die aber bei der allgemeinen Behandlung der »Sekten« in Frankreich als eines »Problems« eine große Rolle spielt. Dies hat zur Konsequenz, dass es in Frankreich als »politisch korrekt« angesehen wird, den Anti-Sekten-Kampf zu unterstützen (in dieser Beziehung eher ein Gegensatz zu den Vereinigten Staaten). Politische Gründe (ohne dass es die einzigen wären), erlauben eine Erklärung der Stellungnahmen der französischen Universitätswissenschaftler, die bei vollem Bewußtsein der Schwächen des Parlamentsberichts von 1996 dennoch denken, dass es bestimmte Gründe gebe, um dem Kampf der Regierung und der Assoziationen gegen die Sekten eine gewisse Unterstützung zu gewähren. Der gegen die Sekten eingestellte Universitätswissenschaftler ist gewiss im englischsprachigen Milieu nicht unbekannt, aber er kommt sehr selten vor und wird von der Mehrzahl seiner Kollegen stark kritisiert (es genügt, an einer der jährlichen Versammlungen der Gruppe »Neue religiöse Bewegungen« der American Academy of Religion über die Deontologie teilzunehmen, um sich davon zu überzeugen). Diese kritische Majorität, die jede militante Anti-Sekten-Position marginalisieren würde, existiert unter den französischen Universitätswissenschaftlern schlichtweg nicht [43].

Es handelt sich wohlgemerkt nicht darum, diese Mehrheit internationaler Universitätswissenschaftler, die die Anti-Sekten-Sichtweise kritisieren, als Besitzer der Wahrheit darzustellen und die Anti-Sekten-Bewegungen so, als wären sie in die Finsternisse des Obskurantismus abgetaucht, oder umgekehrt die Anti-Sekten-Aktivisten als Ritter der Wahrheit und die Universitätswissenschaftler als naive oder korrumpierte »Sekten-Freunde«. Was die Soziologen betrifft, so dürften diese kein Problem haben, ihre Soziologie auf sich selbst anzuwenden und zu erkennen, dass ihre Reaktion gegen die Anti-Sekten-Bewegungen auch einen Schutz ihrer symbolischen Macht darstellt, die Methode ihrer Wissenschaft zu bestimmen. Wenn es einen Unterschied gibt, dann liegt dieser vielmehr auf der Ebene der Epistemologie. Die zeitgenössische Wissenschaft – dies lässt sich ebenso auf die Humanwissenschaften anwenden – wurde von Karl Popper und seinen Schülern als fortgesetztes Aufstellen von Hypothesen und Theorien, die für Falsifikation empfänglich sind, definiert, das heißt, man akzeptiert diejenigen, die »als falsch erwiesen werden können« sowie, dass dies früher oder später geschehen wird und dass diese dann durch neue Theorien ersetzt werden. Aber diese neuen Theorien werden Ihrerseits per definitionem keine Fotografie der Realität sein, sondern lediglich eine bessere Erzählung, eine bessere Annäherung, ohne dass das Missverhältnis zwischen Theorie und Realität jemals vollständig überwunden werden kann. Die Anti-Sekten-Bewegung vermittelt im Gegensatz dazu oftmals den Eindruck, als biete sie »die Wahrheit« (ein Wort, das sie gerne und häufig gebraucht) über die Sekten und dass sie sich dem unabschließbaren Prozess der Falsifikation von Hypothesen und Theorien, der die typische Epistemologie des zeitgenössischen Wissens konstituiert, entziehen könne.

Der bei weitem wichtigste Unterschied zwischen Anti-Sekten-Bewegungen in den USA und Frankreich liegt jedoch auf dem Gebiet der Beziehungen zur staatlichen Macht. So sehr in diesem Bereich jeder Erfolg der amerikanischen Anti-Sekten-Bewegungen nur vorübergehend war, so sehr scheinen ihre französischen Entsprechungen gegenwärtig einen Honigmond mit der Administration zu verbringen. So versicherte bereits im Februar 1989 ein Budget-Entwurf der Direction départementale des interventions sociales des Département de Loire Atlantique, dass »die ADFI eng mit den Renseignements Generaux (Verfassungsschutz) zusammenarbeiten« [44] – was in den Vereinigten Staaten schwer vorstellbar gewesen wäre –, aber auch der offensichtliche und bekundete Einfluss der Anti-Sekten-Assoziationen auf den Bericht der parlamentarischen Kommission von 1996, die Anerkennung der UNADFI als eines gemeinnützigen Vereins, der Vorschlag, dass die Anti-Sekten-Bewegungen sich als Zivilparteien an Prozessen beteiligen können, das Rundschreiben des Justizministers vom 1. Dezember 1998 (das verlangt, dass die ADFI und das CCMM »engstens an den Kampf der Staatsanwaltschaften gegen die Sekten angeschlossen« werden sollen) [45], die öffentlichen Bezuschussungen: all dies sind Zeichen des Erfolgs der Bemühungen des französischen Anti-Sekten-Milieus (ohnegleichen in irgendeinem Land der Welt, auch wenn ähnliche Prozesse in Deutschland und Japan stattfinden), politische und administrative Allianzen herzustellen. Aus dieser Sicht betrachtet, befindet sich die Anti-Sekten-Bewegung in Frankreich nicht in der Krise, sondern vielmehr in der Expansion.

d. Die Zukunft der Anti-Sekten-Bewegung in Frankreich

Kann sich die Expansion der Anti-Sekten-Bewegung in Zukunft fortsetzen, oder handelt es sich um einen selbstbegrenzenden Prozess wie in den USA? Alles hängt von den komplexen Beziehungen zwischen den drei Verhältnissen ab, welche die Anti-Sekten-Bewegung mit den anderen an der Definition und Beschreibung der religiösen Bewegungen interessierten Institutionen geschaffen hat: den Mehrheitskirchen, der Universität und der öffentlichen Gewalt. Der Honigmond mit der öffentlichen Gewalt dauert in Frankreich aus zwei Gründen an: der Konflikt der Anti-Sekten-Bewegungen mit bestimmten Instanzen der Mehrheitskirchen ist präsent, aber nicht deutlich zum Ausdruck gekommen; es existiert in Frankreich kein universitäres »Anti-Anti-Sekten«-Milieu (so nennt es Aagaard) das ebenso bedeutsam und organisiert wäre, wie in den USA, dessen Entstehung durch mehrere Gründe (politische eingeschlossen) behindert wird [46]. Gewiss, es gibt internationale Kritiken an Frankreich (auch solche durch Regierungen); aber sie werden bis heute ignoriert (was in Deutschland nicht der Fall war). Sollte sich der Konflikt mit den etablierten Kirchen zuspitzen (was in Frankreich geschehen könnte, wenn z.B. die Anti-Sekten-Vereinigungen sich durch ihr Milieu zu einer Kritik an Gruppen drängen lassen, welche die katholische Hierarchie – die römische noch eher als die französische – ohne Zweifel mit Heftigkeit verteidigen würde, wie das Opus Dei oder die charismatische Erneuerung), dann könnte die öffentliche Gewalt – und die politischen Parteien, die stets aufmerksam die Wahlaspekte jeder Affäre beobachten – nicht mehr umhin, diesem Konflikt Rechnung zu tragen. Dennoch existiert eine französische Auffassung von Laizität, die außerhalb Frankreichs (und Belgiens) keine wirklichen Entsprechungen hat.

Es könnten sich auch andere Konflikte ergeben, insbesondere auf dem Gebiet der Behandlung ehemaliger Mitglieder und der Familien von Mitgliedern der religiösen Bewegungen. Diese Konflikte sind z. B. in Quebec unübersehbar, wo das Informationszentrum über die neuen Religionen, das vom katholischen Episkopat unterhalten wird, eine andere Behandlung vorschlägt als die Anti-Sekten-Bewegung: es handelt sich für die ehemaligen Mitglieder vor allem darum, eine spirituelle und religiöse Identität wiederzufinden und für die Familien (in dem für sie von der Groupe Alliance in Montreal geschaffenen Rahmen) zu lernen, die »Kontroverse« zu vermeiden die das Risiko in sich trägt, »eine Haltung der Zurückweisung, der Abschließung und der Aggressivität angesichts der so umfassenden und komplexen Phänomene der neuen Religionen zu bevorzugen«, das Recht ihrer Sprösslinge auf Zugehörigkeit zu einer Religion ihrer Wahl anzuerkennen, die positiven Aspekte der Erfahrung des Andersartigen zu entdecken und ihre spirituellen Anfragen ernstzunehmen«. Innerhalb der Groupe Alliance ist klar, wie Pater Richard Bergeron es ausdrückt, dass »selbst wenn eine neue Religion sich als wenig empfehlenswert erweisen und Praktiken vorschlagen sollte, die für die seelische Gesundheit des Adepten abträglich wären, dies nicht im geringsten das Recht eines erwachsenen Individuums beeinträchtigt, sich für sie zu entscheiden« und »es darf die Akzeptanz des Anderen weder beeinträchtigen, noch sein Recht auf die Religion seiner Wahl mindern«: was nicht heißen will, dass, wenn diese Freiheit einmal gewährleistet ist, man nicht einen kritischen, selbst sehr schweren Dialog führen könnte, aber auf einer religiösen und spirituellen Ebene [47]. Die Präsenz der Groupe Alliance, die in einem katholischen Rahmen etwas anbietet, was Pater Bergeron als »Alternative zur Anti-Sekten-Sicht« bezeichnet, ist eines der Elemente, die einen Konflikt mit den Anti-Sekten-Bewegungen fördern, insbesondere auf dem Gebiet der Behandlung der Eltern der Mitglieder der neuen religiösen Bewegungen, wo die autorisierten katholischen Milieus nicht bereit zu sein scheinen, den Laienbewegungen ein Monopol zuzuerkennen. Dies ist nur ein Beispiel des Konflikts, der zwischen laizistischen Anti-Sekten-Bewegungen, Mehrheitskirchen und sogar christlichen Bewegungen gegen die Sekten entstehen kann. Die Tatsache, dass das Dialog Center International in seiner Kritik gegen bestimmte religiöse Bewegungen sehr aggressiv sein kann (insbesondere gegen Scientology), hindert seinen Präsidenten Johannes Aagaard nicht daran, zu schließen – indem er die Anti-Sekten-Bewegung kritisiert – dass »der gute Glaube, bona fides, weniger wichtig ist als der Glaube an das Gute, fides bona: es ist die Qualität des Glaubens, die mehr zählt als die Methoden, die Handlungsweisen, die Strukturen« [48].

Im übrigen kann man eine Entwicklung der Anti-Sekten-Bewegungen selbst nicht ausschließen. In den Vereinigten Staaten, bemerkt etwa der Bericht der schwedischen Regierung von 1998, hat »die Anti-Sekten-Bewegung eine Haltung entwickelt, die mehr in Richtung Forschung geht« (»aber ihr Einfluss in der Debatte ist relativ schwach, was in Frankreich nicht der Fall ist«). Gewisse amerikanische Anti-Sekten-Bewegungen suchen jetzt einen Dialog mit den Universitätswissenschaftlern, die stets als »Apologeten der Sekten« kritisiert worden sind. Wenn sie wirklich einen fruchtbaren Dialog wünschen, dann müssen die Anti-Sekten-Bewegungen ihre Fähigkeit beweisen, eine autokritische Analyse auf dem Gebiet der Epistemologie zu führen. Sie müssen fähig sein, sich als Mitspieler des Spiels zu erkennen, und nicht als Schiedsrichter; als Partei und nicht als Richter; als Zentrum, von dem Theorien und Hypothesen ausgehen, die, wie alle Theorien im modernen Wissen, dazu bestimmt sind, in das Spiel der Kritik und der Falsifikation einzutreten und nicht als Verkünder einer »Wahrheit«. Unter diesen Bedingungen könnten bestimmte Anti-Sekten-Bewegungen nützliche Beiträge zur Debatte liefern; selbst ihre Kritiken an bestimmten Forschern könnte diese dazu veranlassen ihre Schlussfolgerungen von einer kritischen Warte aus neu zu überdenken. In Frankreich scheint es für den Augenblick schwer vorstellbar, daß die Anti-Sekten-Bewegungen diese positive Rolle spielen könnten: sie ziehen es vielmehr vor, jene, die die Verhaltensweisen der Regierung kritisieren, mit dem Verdacht zu überziehen, sie stünden im Sold der »Sekten«, und ihr Diskurs beschränkt sich oft genug auf persönliche Angriffe. Im Gegensatz dazu zeigen sich die Anti-Sekten-Bewegungen in der englischsprachigen Welt mehr an einem Dialog interessiert, der, wenn er auch schwierig bleiben sollte, doch nicht als unmöglich betrachtet werden muss.

Es könnte auch nützlich sein, wenn alle Mitspieler in diesem Spiel – die Mehrheitskirchen, die französischen und ausländischen Universitätswissenschaftler, die Anti-Sekten-Bewegungen und selbst die öffentlichen Gewalten – in Betracht ziehen, daß ihre Aktivität für die Zukunft der neuen religiösen Bewegungen nicht wirklich entscheidend ist. Im besten Fall – oder im schlimmsten Fall -, kann man bestimmten individuellen Tragödien zuvorkommen oder einzelne kleine Gruppierungen stören. Im Extremfall ist es möglich – falls Frankreich sich dazu entschließen sollte, das Edikt von Nantes ein zweites Mal aufzuheben – daß sich neue Hugenotten dazu entschließen, auf die andere Seite des Atlantiks zu flüchten und Rael zu folgen, der sich bereits bequem in Quebec eingerichtet hat, wohin ihm möglicherweise bald andere französische Anführer folgen werden. Aber all dies wird wenig an den Grundbedingungen der Postmoderne und der Krise der modernen wissenschaftlichen Rationalität ändern, die unablässig neue Ableger des Religiös-Imaginären, die Konsolidierung bestimmter größerer religiöser Bewegungen und die Geburt weiterer Generationen neuer religiöser Bewegungen hervorrufen wird. Man muß kein Kenner der Religionsgeschichte sein, um zu wissen, daß die Religionen selten durch Verfolgungen aufgehalten werden, aus denen sie sehr oft gestärkt hervorgehen. Die Untersuchungen über die neuen religiösen Bewegungen unter dem Nazismus in Deutschland und unter dem Kommunismus in Rußland zeigen, daß wenn auch einzelne Zeugen Jehovas oder Krishnajünger die Schrecken der Konzentrationslager kennengelernt haben, ihre Bewegungen weiterexistiert, ja selbst im Verborgenen gewachsen sind. Man kann sich schwerlich vorstellen, daß die französische Gendarmerie (oder die Mission Interministerielle oder der Verfassungsschutz) dort Erfolg haben, wo die Gestapo oder das KGB offensichtlich versagten.


1. Siehe die Bibliographie in Anson Shupe und David G. Bromley (dir.), Anti-Cult Movements in Cross-Cultural Perspective, Garland, New York-London 1994.

2. Siehe z.B. James A. Beckford, Cult Controversies, Tavistock, London 1985.

3. Siehe z.B. James T. Richardson und Barend van Driel, »New Religious Movements in Europe: Developments and Reactions«, in A. Shupe – D.G. Bromley (Her.), op. cit, pp. 129-170.

4. Siehe Robert Towler (Her.), New Religions and the New Europe, Aarhus University Press, Aarhus und Cambridge 1995; und meine Untersuchung »L’évolution du ‘mouvement contre les sectes’ chrétien 1978-1993«, Social Compass, vol. 42, n. 2, juin 1995, pp. 237-247.

5. Für eine Diskussion der Geschichte dieser Unterscheidung und eine Bibliografie, siehe meine Untersuchung »The Secular Anti-Cult and the Religious Counter-Cult Movement: Strange Bedfellows or Future Enemies?«, in R. Towler (Her.), New Religions and the New Europe, op. cit., pp. 32-54.

6. Siehe Hank Hanegraaf, Christianity in Crisis, Harvest House, Eugene (Oregon) 1993, und – für das Dialog Center International – Johannes Aagaard, »A Christian Encounter with New Religious Movements & New Age«, Update & Dialog, vol. 1, n. 1 (1991), pp. 19-23.

7. J. Aagaard, op. cit., p. 21.

8. J. Aagaard, op. cit., pp. 21-22.

9. Margaret Singer, »Expert Witness Testimony«, George v. ISKCON, 22-75-65 Orange County California Supreme Court, vol. 5 (1985), pp. 452-453.

10. Margaret Singer, »Interview«, Spiritual Counterfeits Newsletter, n. 2 (März-April 1984), pp. 6, 12.

11. William M. Alnor und Ronald Enroth, »Ethical Problems in Exit Counseling«, Christian Research Journal, vol. 14, n. 3 (1992), pp. 14-19.

12. Jacques Trouslard, »Une secte se caractérise par sa nocivité«, interview par Félix Chiocca, Témoignage Chrétien, 26 janvier 1996.

13. Siehe meine Untersuchungen: »L’évolution du ‘mouvement contre les sectes’ chrétien 1978-1993«, op. cit.; »The Secular Anti-Cult and the Religious Counter-Cult Movement: Strange Bedfellows or Future Enemies?«, op. cit.

14. Für eine Übersicht über diese Positionen, siehe Anson Shupe et David G. Bromley, »The Modern North American Anti-Cult Movement 1971-1991: A Twenty-Year Retrospective«, in A. Shupe – D.G. Bromley, Anti-Cult Movements in Cross-Cultural Perspective, op. cit., pp. 3-31.

15. Siehe David G. Bromley und Bruce Bushing, »Understanding the Structure of Contractual and Covenantal Social Relations: Implications for the Sociology of Religion«, Sociological Analysis, vol. 49 (Dezember 1988), pp. 15-32.

16. A. Shupe – D.G. Bromley, op. cit., p. 4.

17. Ibid., p. 9.

18. Zu diesem Punkt siehe James T. Richardson, »Une critique des accusations de ‘lavage de cerveau’ portées à l’encontre des nouveaux mouvements religieux. Questions d’éthique et de preuve«, in Massimo Introvigne – J. Gordon Melton (dirs.), Pour en finir avec les sectes. Le débat sur le rapport de la commission parlementaire, 2e éd., Dervy, Paris 1996, pp. 85-97.

19. Anson Shupe und David G. Bromley, »The Deprogrammer as Moral Entrepreneur«, Beitrag präsentiert auf dem jährlichen Kolloquium der American Academy of Religion, San Francisco 1981.

20. Siehe J. Gordon Melton, The Modern Anti-Cult Movement in Historical Perspective, The Institute for the Study of American Religion, Santa Barbara 1995, p. 14.

21. Der vollständige Text des Urteils ist auf der Website von CESNUR publiziert: https://www.cesnur.org/press/Scott.htm

22. Es handelt sich also nicht um einen schlichten »Sieg« von Scientology, wie der vollständige Text des Urteils zeigt, siehe: https://www.cesnur.org/press/Scott.htm

23. Francis Schull, »L’étonnante histoire d’un patron ‘mooniste’«, L’Aurore, 27 Januar 1976.

24. Siehe das Werk — in dem man noch extremere Behauptungen findet – des Anwalts und Zeugen Jehovas Christian Paturel, Sectes, religion et liberté publique, La Pensée Universelle, Paris 1996.

25. Jordi Bell, »J’ai été déprogrammé«, BULLES. Bulletin de Liaison pour l’Étude des Sectes, n. 4 (4. Trimester 1984), pp. 12-14

26. Claire Champollion, »Où l’on parle ouvertement de ‘deprogramming’. Treffen von Arlington (U.S.A.)«, ibid., pp. 9-12 (p. 10).

27. Margaret Singer, »Adeptes et ex-adeptes: approche d’une psychologue américaine«, ibid., pp. 3-6.

28. Les Cahiers Rationalistes, Dezember 1980.

29. Ibid., n. 464.

30. Michèle Mat-Hasquin, Les sectes contemporaines, 2e éd., Éditions de l’Université de Bruxelles, Bruxelles 1983, p. 84.

31. Michel Monroi, »Les dangers des sectes. Comment les reconnaître. Comment s’en protéger«, in CCMM – Centre Roger Ikor, Les Sectes: état d’urgence, Albin Michel, Paris 1994, pp. 275-302 (p. 278).

32. Ibid., p. 72.

33. Siehe James Roberts, »Happiness Ginseng from Earth-Conquering Moonies«, Far Eastern Economic Review, 23 juin 1978, pp. 58-60; J.A. Beckford, op. cit.; Anson Shupe, Bert L. Hardin et David G. Bromley, »A Comparison of Anti-Cult Movements in the United States and in Germany«, in Eileen Barker (Her.), Of Gods and Men: New Religious Movements in the West, Mercer University Press, Macon (Georgia) 1983, pp. 177-193.

34. Siehe sein Werk Sectes. Une affaire d‘Etat, L‘Archer, La Ferté Saint-Aubin 1999.

35. Jean-Marie Abgrall, La Mécanique des sectes, Payot, Paris 1996, pp. 296-297.

36. Doktor Abgrall ist übrigens sehr geneigt, den Amateurhistoriker oder -soziologen zu spielen, der manchmal irritierende Behauptungen in einem Werk von sich gibt, von dem er sagt, er habe »die größte Strenge beobachten wollen, und die gewissenhafteste Sachlichkeit« (ibid., p. 10). Man liest hier z.B., daß »Nazismus seine Themen aus der Quelle des Golden Dawn« geschöpft habe (ibid., p. 24) – eine These die seit mehreren Jahren von allen Kenner sowohl der esoterischen Aspekte des Nazismus als auch des Golden Dawn verworfen wird – ja selbst, daß Jesus Christus aus den Essäern »hervorgegangen« sei (ibid., p. 23). Die Tatsache, daß er einen »gewissen Delancre« als den bedeutendsten französischen Richter in den Hexenprozessen bezeichnet (ibid., p. 50) zeigt, daß die Geschichte der Magie nicht die Stärke des guten Doktors ist. Im übrigen auch nicht die Geschichte des Christentums, denn – offensichtlich wenig informiert über die Komplexität der Situation der Pfingstler, insbesondere in Lateinamerika – er bildet sich die Existenz einer »Pfingstgemeinden-Kirche« ein und versichert, daß die Universelle Kirche des Reiches des Herrn »der Versammlung Gottes [sic] und der Viereckigen Kirche folgt«, obgleich die beiden letzteren Denominationen sich unter den schärfsten Kritikern der Universellen Kirche befinden. Wenn es wahr ist, daß die Universelle Kirche des Pastors Macedo in Brasilien einen gewissen politischen Einfluss besitzt (wenn man von ihrem Erfolg ausgeht), sich vorzustellen, daß sie »die persönliche Garde des peruanischen Präsidenten Fujimori und zu gleicher Zeit jene des Präsidenten von Guatemala« bilde, bedeutet Bewegungen pfingstlerischer und fundamentalistischer Provenienz zu verwechseln, die sich erheblich voneinander unterschieden (ibid., p. 53), und zeigt die Vorliebe des Doktor Abgrall für Verschwörungstheorien.

37. Generalsekretariat der Bischofskonferenz, L’Église catholique et les sectes, Dokument vom 8 Februar 1996, La Croix, 10 février 1996.

38. Madame Jeanine Tavernier, Präsidentin der UNADFI, erklärte 1996, daß die »Stellungnahmen« Ihrer Exzellenz Vernette »zugunsten bestimmter Sekten« »ihm alle Kreditwürdigkeit entzogen haben« (Félix Chiocca, »Des ‘spécialistes’ complaisants avec les sectes«, Témoignage Chrétien, 21 juin 1996).

39. Siehe Timothy Miller (Her.), When Prophets Die. The Post-Charismatic Fate of New Religious Movements, State University of New York Press, New York 1991. Über die »Gurus« sollte man das interessante Werk des englischen Antisekten-Psychiaters Anthony Storr, Feet of Clay. A Study of Gurus, Harper Collins, London 1996 lesen, der sehr gut zeigt, wie unmöglich es ist, zwischen alten und neuen Religionen zu unterscheiden, wenn man den Standpunkt der laizistischen Anti-Sekten-Bewegung einnimmt. Nachdem er ein unglaubliches Gurumodell vorgestellt hat, das auf der mentalen Manipulation und dem Totalitarismus im Dienste des Glaubens aufgebaut ist, nennt Storr als Beispiele Gurdjieff und Rajneesh, aber auch den Hl. Ignatius von Loyola und Jesus, ja selbst Freud und Jung. In bezug auf das Christentum versichert Storr, daß »die jungfräuliche Geburt, die Auferstehung des Herrn, die Unsterblichkeit der Seele und die leibliche Auferstehung, obgleich integrierte Bestandteile des christlichen Glaubens, für einen biologisch orientierten Skeptiker nicht weniger unglaubliche Lehren sind, als die Glaubenssätze Gurdjeffs über den Mond oder Steiners über die kosmischen Entitäten. Wenn es nur Hundert gläubige Christen auf der Erde gäbe, würden wir sie als Exzentriker betrachten so wie all jene, die davon überzeugt sind, daß es sich bei den Behauptungen Gurdjeffs oder Steiners um die reine Wahrheit handelt« (ibid., p. 204).

40. Der vollständige Text des amerikanischen Dokument in französischer Übersetzung findet sich auf der Website des CESNUR: https://www.cesnur.org/testi/USGov_fr.htm

41. In Good Faith: Society and the New Religious Movements, offizielle Zusammenfassung des schwedischen Berichts auf der Website des CESNUR: https://www.cesnur.org/testi/swedish.htm

42. »Religion is a Right — It Has to Be Fought For«, The Guardian, 24 Dezember 1998, Text auf der Website des CESNUR: https://www.cesnur.org/testi/Guardian.htm

43. Über diesen Punkt siehe Françoise Champion – Martine Cohen (dirs.), Sectes et démocratie, Seuil, Paris 1999.

44. Département de Loire Atlantique, Direction départementale des interventions sociales, Propositions pour le budget primitif 1989, 3 Februar 1989.

45. Text des Zirkulars auf der Website des CESNUR: https://www.cesnur.org/testi/guigou.htm

46. Über diesen Punkt siehe Émile Poulat, »Le savant, le politique et le secouriste«, in Massimo Introvigne et J. Gordon Melton (Hers.), Pour en finir avec les sectes. Le débat sur le rapport de la commission parlementaire, op. cit., pp. 59-62.

47. Siehe Richard Bergeron, »Une alternative à l’approche anti-sectes: le Groupe Alliance (récit d’une expérience)«, ibid., pp. 221-230.

48. Johannes Aagaard, »A Critical Learning Process: Theological Studies of Religion«, Spirituality in East and West. Update & Dialog, n. 2 (1996), pp. 16-19 (p. 19).

49. Über diesen Punkt siehe die Kritiken gegenüber den USA durch den Präsidenten der Interministeriellen Kommission M. Alain Vivien im Interview von Claude Castelnau, »Une liberté sous contrôle«, Réforme, n. 1797 (19 November 1998), p. 7.

50. Selbst französische Forscher, die die Legitimität der »militanten Logik« der Anti-Sekten-Bewegungen anerkennen (eine Position, die in der englischsprachigen Welt weniger häufig ist), stellen sich Fragen über die Haltung bestimmter französischer Institutionen, die sie als ihre einzige Informationsquelle betrachten. Gewiss, schreiben François Champion und Martine Cohen, »man sollte von ihnen nicht Objektivität verlangen, denn dies würde bedeuten, daß sie auf ihre Militanz verzichten«. »Und es gehört zum guten Krieg, wenn eine pressure-group die Meinung vermitteln will, daß ihr Engagement nicht in Frage gestellt werden dürfe. Es ist auf der anderen Seite schädlich, wenn nicht nur die öffentliche Meinung, sondern auch Erzieher und viele für Erziehungsfragen, Jugendfreizeit und Sozialarbeit Verantwortliche, ebenso wie ›Politiker‹ die Anti-Sekten-Vereinigungen als einzige Informationsquellen betrachten (die Politiker bedienen sich auch des Verfassungsschutzes). Bei allen anderen – oder fast allen anderen – Themen, ist es nicht üblich, daß die Presse oder die damit befaßten Verantwortlichen die Informationen und Analysen der pressure-groups für bare Münze nehmen« (»Introduction. Les sectes: un problème social passionnel et complexe», in F. Champion und M. Cohen [Hers.], Sectes et démocratie, op. cit., pp. 7-55 [pp. 13-14]).


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