Zuletzt aktualisiert am 19. Juli 2024.
Eine profunde Einführung in das Gebiet der Esoterikforschung und eine glänzende Zusammenschau ihrer Geschichte vermittelt Nicholas Goodrick-Clarke mit seinem jüngsten Buch »The Western Esoteric Traditions. A Historical Introduction«.
Goodrick-Clarke, der seit einigen Jahren den Lehrstuhl für Esoterikforschung in Exeter leitet, der vom Blavatsky Trust mitfinanziert wird, erzählt auf rund 250 Seiten die Geschichte all jener spirituellen Strömungen des Abendlandes, die von der Leitkultur im 19. und 20. Jahrhundert zu Unrecht marginalisiert worden sind.
Wie in dieser jungen Disziplin meist üblich, geht er zurück bis in die Zeit des Hellenismus, in der aus einem nicht präzise bestimmbaren ideellen und sozialen Kontext die Hermetik und der Gnostizismus hervortraten. Verbunden mit diesen und sie beeinflussend, prägten die großen Neuplatoniker, Plotin, Porphyr, Iamblichus und Proklus jene Denkformen aus, die seit Antoine Faivres Typologie als charakteristisch für die westliche Esoterik betrachtet werden. Nach einer von Goodrick-Clarke nicht näher behandelten Zwischenzeit führte die Wiederentdeckung der hermetischen und neuplatonischen Schriften im 15. Jahrhundert zu einer Wiedergeburt paganer Spiritualität, insbesondere der Magie, Astrologie und Alchemie und dem Versuch, das Christentum mit ihr zu versöhnen. Bedeutender noch als Plato erschien der Renaissance Hermes Trismegistos, was sich daran zeigt, dass Marsilio Ficino seinen Auftrag, die Schriften Platos zu übersetzen, beiseite legte, um das eben entdeckte Corpus Hermeticum ins Lateinische zu übertragen. Herrschte doch damals die Überzeugung, Hermes Trismegistos sei der Verfasser der in diesem Werk versammelten Schriften und er sei der Urheber jener gnostischen Theologie, deren Spuren sich auch in Platos Werken und in der mosaischen Religion fänden. Bedeutender noch als das Jahr 1492 erscheint das Jahr 1463, als ein innerer Kontinent entdeckt wurde, der diese vergessene Tradition der beginnenden Neuzeit erschloss, ja diese Neuzeit erst herbeiführte. In der Reformationszeit führte diese spirituelle Strömung zur Entstehung einer christlichen Theosophie, die als Gegenbewegung zum Purismus der protestantischen Schriftreligion verstanden werden muss, die über den Akt des bloßen Glaubens hinaus auf der Erfahrbarkeit des Transzendenten bestand. Auch das Rosenkreuzertum und die mystisch-hermetischen Strömungen in der Hochgradmaurerei wären ohne die Wiederentdeckung der Hermetik, die Integration der Kabbala in einer verchristlichten Form und den Neuplatonismus nicht möglich gewesen. Schließlich mäandrierte dieser Strom in das Bett der romantischen Naturphilosophie, des Spiritismus, des Okkultismus im 19. Jahrhundert und in die Blavatsky-Theosophie, die Anthroposophie und den Perennialismus des 20. Jahrhunderts.
Besondere Aufmerksamkeit lässt Goodrick-Clarke genuinen Gestalten der neuzeitlichen Esoterik zukommen, die nicht bloß antike Traditionen erneuerten, sondern selbst zu Ausgangsspunkten von Traditionen geworden sind: in jeweils eigenen Kapiteln werden Paracelsus, Jacob Boehme, Emanuel Swedenborg und Helena Petrowna Blavatsky abgehandelt. Unter dem Titel »Moderne Esoterik und neue Paradigmen« arbeitet Goodrick-Clarke im letzten Kapitel die anthroposophischen Beiträge zur Versöhnung erfahrungswissenschaftlicher Paradigmen mit der Esoterik heraus.
In seinem Vorwort, das hier von besonderem Interesse ist, macht Goodrick-Clarke deutlich, dass es sich bei der westlichen Esoterik nicht um eine durch den Rationalismus der Aufklärung überwundene Wissensform handelt, sondern um eine spezifische Form von Spiritualität, die das Denken des Abendlandes von der Spätantike bis in die Gegenwart erleuchtet und befruchtet hat. Sie war für die Geschichte der Philosophie, der Wissenschaften und der Religion von herausragender Bedeutung und jede Geistesgeschichte, letztlich auch jede politische oder Ereignisgeschichte des Abendlandes ist ohne Berücksichtigung der Esoterik unvollständig. Die Esoterikforschung gibt ihrem Gegenstand seine realhistorische Bedeutung zurück und befreit ihn aus der Opferrolle, in die er durch die verengten Perspektiven des Positivismus und Materialismus im 19. Jahrhundert gedrängt worden ist.
In seiner Skizze der Geschichte der Esoterikforschung weist Goodrick-Clarke auf die bedeutende Rolle hin, die das Warburg-Institut in London gespielt hat. Aus der kulturgeschichtlichen Schule dieses Instituts sind so bedeutende Renaissanceforscher wie Edgar Wind, Ernst Cassirer, Frances Yates und D.P. Walker hervorgegangen, die zu den ersten gehörten, die die progressivistischen Narrative des 19. Jahrhunderts über den Gang der abendländischen Geistesgeschichte in Frage stellten. D.P. Walker lenkte mit seinen Untersuchungen über die zentrale Rolle der Magie im Weltbild der Renaissance von Marsilio Ficino bis zu Francis Bacon und Campanella den Blick von Frances Yates auf ein Thema, das sie in ihrem epochemachenden Werk über »Giordano Bruno und die hermetische Tradition« tiefgründig ausleuchtete. Sie wies nach, dass die Hermetik mit ihren Motiven der geistigen Souveränität des Menschen und seiner Berufung zum Mitschöpfertum für die Geistesgeschichte der Neuzeit, für die Entstehung des Selbstverständnisses der Moderne von herausragender Bedeutung war. Goodrick-Clarke würdigt auch die herausragende Figur Henry Corbins, der mit seinen vergleichenden religionsgeschichtlichen Untersuchungen eine Brücke zwischen der Spiritualität des iranischen Sufismus und der christlichen Theosophie baute und nachwies, dass es eine Welt der Imagination gibt, die unabhängig von historischen oder geographischen Zufälligkeiten Mystikern und Theosophen aller Kulturen zugänglich war. Schließlich umreißt er mit wenigen Strichen die Verdienste der gegenwärtig führenden Esoterikforscher, referiert das Faivre-Paradigma, charakterisiert die Forschungsansätze von Wouter Hanegraaff und Arthur Versluis und setzt sich kritisch mit Kocku von Stuckrad auseinander. Dessen Versuch, das Esoterische zu einem rein diskursiven Phänomen zu erklären (»alles kann zeitweise zu Esoterik erklärt werden«), veranlasst ihn zu einem deutlichen Bekenntnis: seiner Ansicht nach ist das Geistige und das Wissen vom Geist eine eigenständige ontologische Realität, kein bloß diskursives Konstrukt. Esoterik beruht auf spirituellen Einsichten und Erfahrungen, die nicht auf soziologische oder literarische Kategorien reduzierbar sind, und sie enthält zeitlose ideelle Motive, die wesentliche Aspekte der Beziehung des menschlichen Geistes zum Kosmos zum Ausdruck bringen. Ein Überblick über die soziale und kulturelle Geschichte des Abendlandes zeigt, dass esoterische Strömungen immer dann ihre besondere kulturschöpferische Kraft entfalten, wenn die Kultur in Orthodoxie und Dogmatismus zu erstarren droht, seien diese nun religiöser oder wissenschaftlicher Natur.
Nicholas Goodrick-Clarke, The Western Esoteric Traditions: A Historical Introduction
Fortsetzung:
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