Zuletzt aktualisiert am 24. Juli 2024.
Die erste Begegnung Rudolf Steiners mit jener besonderen Form der Theosophie, die im Anschluss an das Werk H.P. Blavatskys entstanden ist, fand Ende der 80er Jahre des 19. Jahrhunderts statt. Rudolf Steiner lebte damals in Wien und war mit der Herausgabe von Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften in Kürschners Deutscher Nationalliteratur beschäftigt. Zwei Bände mit seinen Einleitungen waren bereits erschienen, ebenso die »Grundlinien einer Erkenntnistheorie der Goetheschen Weltanschauung« 1886, eine erste Darstellung seiner Philosophie des Erkennens, seiner Wirklichkeitsauffassung im Anschluss an Goethes Erkenntnisart. Die Gedanken seiner Dissertation »Wahrheit und Wissenschaft« und seiner »Philosophie der Freiheit« lebten bereits in ihm. 1890 sollte Steiner nach Weimar übersiedeln, um die Naturwissenschaftlichen Werke Goethes im Rahmen der Sophienausgabe zu veröffentlichen und zu kommentieren.
Die angloindische Theosophie war nicht die erste Form von Theosophie, die Steiner kennen lernte. Er hatte eine mitteleuropäische, abendländische Form bereits in seiner Auseinandersetzung mit Goethes und Schillers Werk kennen gelernt, in seiner Beschäftigung mit der deutschen Klassik, Romantik und dem deutschen Idealismus, in den Werken Fichtes, Schellings, Hegels, des Novalis, aber auch im Werk christlicher Mystiker und Theosophen und in der Geschichte des Idealismus seit Plato. Diese mitteleuropäische – philosophische – Theosophie war ganz aus der Gedankenentwicklung des Abendlandes herausgewachsen und hatte in den Systemen der großen Idealisten darum gerungen, Offenbarung und Erkenntnis, Aufklärung und Erleuchtung, Immanenz und Transzendenz, Autonomie des erkennenden Menschen und Selbstoffenbarung des Göttlichen miteinander zu versöhnen.
Nun lernte Steiner in einem Kreis von Menschen, in dem er sich in Wien bewegte, eine andere Form von Theosophie kennen. Den Mittelpunkt dieses Kreises bildete Marie Lang. Rudolf Steiner schildert Marie Lang in seiner Autobiografie als eine Frau mit einer mystisch-theosophischen Seelenverfassung, als eine suchende Seele, deren Erkenntnisbedürfnisse – bis zu einem gewissen Grad – von der »theosophischen Mystik« befriedigt wurden. »Aus der Hand eines Freundes«, vermutlich Friedrich Eckstein, erhielt Rudolf Steiner das erste Buch, in dem ihm die angloindische Theosophie entgegentrat, das Buch über den »Esoterischen Buddhismus« von Alfred Percy Sinnett, das 1883 auf Englisch und 1884 in einer schlechten deutschen Übersetzung erschienen war (Übersetzer war der Diplomat Carl Graf zu Leiningen-Billingheim, ein Freund Ecksteins). Dieses Buch machte auf ihn – wie er in seinem Lebensgang schreibt – überhaupt keinen Eindruck. Sein Inhalt wirkte abstoßend auf ihn, er empfand eine Antipathie gegen die Art, wie darin das Übersinnliche dargestellt wurde.
Die Andeutungen Steiners aus seiner Autobiografie können durch einen Aufsatz etwas konkretisiert werden, den er 1897 nunmehr als Redakteur des »Magazins für Literatur«, in Berlin über ein Buch von Franz Hartmann schrieb. Genauer gesagt, handelt es sich um einen kritischen Essay mit dem Titel »Theosophen«, aus Anlass einer Übersetzung der Bhagavad Gita durch Hartmann, der damals zu den führenden Theosophen in Deutschland gehörte. Dieser Essay würdigt die tiefen Erlebnisse, die die »Priesternaturen« des indischen Volkes hatten, denen wie im Traum die Lösungen ihrer Lebensfragen aufgingen. Er weist aber auch darauf hin, dass die Europäer von den Morgenländern verschieden seien, dass sie nicht durch »mystisches« Schauen, durch »traumhaftes Erleben«, zu ihren Erkenntnissen gelangen können, sondern nur durch harte Gedankenarbeit. An den Theosophen kritisiert Steiner, dass sie gerade auf diese harte, entsagungsvolle Gedankenarbeit mit Achselzucken herabschauen, Verstand und Vernunft verachten, die angeblich nur die Oberfläche der Dinge zu erfassen vermögen, von der Tiefe und Innerlichkeit der Begriffe keine Ahnung haben, mit ihrem »dunklen Gerede« vom Erleben der Gottheit im Inneren auf viele Zeitgenossen verführerisch wirken und dass sie durch spiritistische Methoden – also durch physische Mittel – versuchten, zu Erkenntnissen des Geistigen zu gelangen.
Das ist im Wesentlichen die Kritik, die Steiner 1897 an den Theosophen übt, drei Jahre, bevor er seinen ersten Vortrag in der theosophischen Loge in Berlin hält, fünf Jahre, bevor er die Aufgabe übernimmt, als Generalsekretär der deutschen Sektion der TG Adyar die theosophische Arbeit in Deutschland und die deutsche Sektion aufzubauen.
Wenn man Steiners Kritik an den Theosophen von 1897 oberflächlich liest, dann könnte man behaupten, es wäre eine Kritik, die damals jeder Rationalist oder Aufklärer, jedes Mitglied eines Monisten- oder Giordano-Brunobundes hätte üben können. Wenn man sie jedoch etwas genauer liest, dann kann man darin noch etwas anderes entdecken: 1. eine positive Würdigung der orientalischen Weisheit: es ist von »tiefen Erlebnissen« der orientalischen Priesterweisen die Rede, von »Erkenntnissen«, die Lösungen für ihre Lebensfragen darstellten. 2. Eine Charakterisierung der Erkenntnisart dieser »Orientalen«: Steiner bezeichnet sie als traumhaft, als »mystisches Schauen«, als »Intuition« (im Gegensatz zur Reflexion). 3. Einen Hinweis auf den Erkenntnisweg des Abendlandes: der Abendländer ist auf Verstand und Vernunft angewiesen, er muss auf dem Weg des Denkens zum Gipfel der Erkenntnis aufsteigen, Verstand und Vernunft sind nicht nur oberflächlich, sondern besitzen eine Tiefendimension, eine Innerlichkeit, die zum Wesen der Dinge führen kann. 4. Eine Ablehnung spiritistischer Methoden, die darauf abzielen, durch physische Mittel zur Erkenntnis des Geistigen zu gelangen.
All diese Motive finden sich in Steiners Werk auch nach der Jahrhundertwende, in der Zeit, in der er für den Aufbau der theosophischen Arbeit in Mitteleuropa tätig ist. Sehen wir uns einige dieser Motive einmal etwas Näher an.
- Die Würdigung der orientalischen Weisheit und ihres Unterschiedes zur Weisheit des Okzidents tritt uns z.B. in seiner Geschichtsauffassung entgegen. Die Geschichte der Menschheit ist eine Geschichte der Entwicklung des Bewusstseins. Diese Geschichte kann man als die Geschichte eines Abstiegs beschreiben – das ist aber nur ein möglicher Gesichtspunkt. Die erste Bewusstseinsform, die nach der globalen Katastrophe der Sintflut, dem Untergang der Atlantis, gegen Ende der letzten Eiszeit in Erscheinung tritt, ist in höchstem Grade spirituell. Sie tritt im Orient, in Indien, in Erscheinung – wenn sie auch nicht auf den Subkontinent beschränkt ist. Sie stellt eine umfassende Synthese der gesamten Weisheitsentwicklung der vorangegangenen Zeitalter dar, eine Synthese, die seither in dieser Vollkommenheit nie mehr erreicht worden ist, die die Menschheit erst in ferner Zukunft möglicherweise wieder erreichen wird. Das Bewusstsein des Menschen reicht in dieser Zeit bis in die höchsten Höhen der Hierarchienwelt, es ist aber zugleich in hohem Grade traumhaft, inspiriert, oder besser: intuiert. Die sinnliche Welt erscheint in dieser Zeit überleuchtet vom Glanz einer geistigen Wesenswelt, wie ein Schein, etwas Unwirkliches, als »Maja«. Die folgenden Stufen der Bewusstseinsentwicklung bringen eine schrittweise Verengung und Begrenzung dieses universellen Horizontes, während sich der Schwerpunkt der kulturgenetischen Zonen vom Orient Richtung Okzident, Richtung Abendland verlagert. Die letzte Stufe des Abstiegs, den tiefsten Punkt, erreicht die Menschheit – in gewisser Weise – in der Neuzeit, im Abendland. Das Bewusstsein hat sich völlig auf die sinnliche Wahrnehmungswelt verengt, die vollkommen geistlos und zugleich als einzige Realität erscheint. Die Götterwelt, die einmal reales Erlebnis, Fülle der Wirklichkeit, Fülle des Seins war, ist nur noch ein Mythos, ein Märchen, eine Schöpfung des Menschen selbst. Diese Auffassung vertritt etwa Ludwig Feuerbach in der Mitte des 19. Jahrhunderts in seinem Buch über das »Wesen des Christentums«.)
Aber die Geschichte der Bewusstseinsentwicklung ist nicht nur die Geschichte eines Abstiegs, sondern auch die Geschichte eines Aufstiegs – sie ist beides. Denn während im Gang durch die Kulturepochen der Horizont der Menschheit sich immer mehr verengt und die Götterwelt sich immer mehr vom Menschen zurückzieht, steigt gleichzeitig der geistige Kern des Menschen aus den Tiefen der Seele immer mehr an die Oberfläche und in der Konfrontation mit einer völlig geistentleerten Sinneswelt konturiert sich das persönliche Selbstbewusstsein des Abendländers im Zeitalter der Bewusstseinsseele, das im Lauf der Neuzeit in alle Weltgegenden ausstrahlt. Der Kern des Europäischen, um das gegenwärtig so viel gestritten wird, ist in dieser Bewusstseinsform, der selbstbewussten, selbstverantwortlichen, irdischen, diesseitszugewandten Einzelpersönlichkeit zu sehen.
Nun trägt aber die orientalische Geistesart, die aus der beschriebenen Uroffenbarung hervorgegangen ist und die später in den Religionen des Hinduismus und des Buddhismus, in der spirituellen Praxis des Joga (z.B. Joga-Sutra des Patanjali) Gestalt angenommen hat, eine Einseitigkeit in sich, die mit diesem Ursprung zusammenhängt – so wie ja gewiss die neuzeitliche, abendländische Bewusstseinsform auch eine grandiose Einseitigkeit darstellt – deswegen muss sie ja auch durch die Anthroposophie ergänzt und erweitert werden. Die Einseitigkeit der orientalischen Geistesart, also der Summe der spirituellen Traditionen des fernen Orients, besteht darin, dass nicht nur die sinnliche Welt als Scheinrealität aufgefasst wird, sondern auch die irdische Persönlichkeit, die menschliche Individualität. Gerade, weil der Geist oder die göttliche Welt die alles umgreifende, die einzige Realität ist, erscheint die körperliche Welt und mit ihr die irdische Persönlichkeit nur wie eine Phantasmagorie, ein Traum, eine Illusion. Wenn sich der Mensch mit dem göttlichen Urgrund aller Dinge vereinigen will, muss er sich von der Illusion befreien, die irdische Welt, die Person sei real. Er muss sich über die Illusion der Person erheben, ja, die Erleuchtung besteht gerade in der Erkenntnis der wesenhaften Leere von Person und Sinneswelt (Sunyata). Der Mensch muss also auf die Anwendung der höchsten Erkenntnismittel, die diese Person besitzt, auf das Denken, verzichten, um zu jener mystischen Einheit zu gelangen, die einmal am Ausgangspunkt des Weltgeschehens stand. Dadurch fehlen aber dieser Geistesart die Voraussetzungen, um die Bedeutung des Entwicklungsweges der Menschheit, der zur Herausbildung des irdischen Persönlichkeitsbewusstseins geführt hat und die Bedeutung der abendländischen Wissenschaft richtig einzuschätzen.
- Damit hängt ein zweites Motiv, das Motiv der unterschiedlichen spirituellen Schulungswege zusammen. Gerade, weil im Westen die Persönlichkeit, die im denkenden Ich des Menschen zu sich selbst kommt, um sich als einzigartiges geistiges Wesen, als Individualität, zu begreifen, das letzte Produkt der Bewusstseinsentwicklung ist, muss die spirituelle Schulung, die das Denken zum Schauen führen will, auf die Persönlichkeit und ihre Selbstständigkeit Rücksicht nehmen. Sie muss vom selbständigen Denken ausgehen und die Klarheit und Wachheit, die das Ich in diesem Denken erlebt, darf niemals herabgedämpft werden. Wenn aber die menschliche Persönlichkeit als illusionär betrachtet wird, dann ist klar, dass sie nicht das Prinzip einer geistigen Schulung, das Fundament der Erkenntnis sein kann. Dadurch erhält der Lehrer, der Guru, der Mahatma eine zentrale Bedeutung, der das göttliche Bewusstsein bereits in sich realisiert hat, aus dem nicht mehr seine eigene, irdische Persönlichkeit spricht, sondern die Gottheit. Der Schüler, der Chela, muss sich dieser Gottperson, die eigentlich personlos ist, völlig hingeben und die spirituelle Entwicklung oder Erkenntnis als eine Wirkung von außen empfangen. Wenn man Alfred Percy Sinnetts »Geheimbuddhismus« zur Hand nimmt, von dem Steiner in seinem Lebensgang als dem ersten theosophischen Buch spricht, das wegen der äußerlichen Art, in der darin das Übersinnliche dargestellt wurde, abstoßend auf ihn gewirkt habe, dann findet man darin tatsächlich diese jetzt beschrieben Motive. Sinnett schreibt: »Ich danke es der unmittelbaren Belehrung durch einen der Mahatmas, dass ich den Versuch machen kann, einen Abriss ihrer Lehren zu geben.« Und weiter: »Die orientalische und die europäische Art, Wissen zu übertragen, sind so unähnlich, wie nur zwei Verfahren sein können. Der Westen spornt und stachelt bei jedem Schritt den Widerspruchsgeist des Lernenden an. Man ermutigt ihn stets, in Zweifel zu ziehen und der Überredung zu widerstehen. Man untersagt ihm, irgendeine wissenschaftliche Behauptung auf das Zeugnis anderer hin zu glauben … Der Osten befolgt seinen Schülern gegenüber ein vollständig anderes Verfahren. … Der Osten gibt sich nie die Mühe, über irgendetwas zu streiten. … So kommt es, dass das Lehren an sich nie etwas anderes ist, als ein Lehren auf Glauben hin.«
Vergleichen wir mit dieser Geisteshaltung, die in Sinnetts Worten liegt, Rudolf Steiners »Theosophie« von 1904, seine Einführung in übersinnliche Welterkenntnis und Menschenbestimmung. In der Vorrede von 1904 steht ein rätselhafter Hinweis, der aber nach dem eben Gesagten überhaupt nicht mehr rätselhaft sein kann: »Wer noch auf einem anderen Wege die hier dargestellten Wahrheiten suchen will, der findet einen solchen in meiner ›Philosophie der Freiheit‹. In verschiedener Art streben diese beiden Bücher nach dem gleichen Ziele.« Wer also auf einem anderen Weg die in der Theosophie dargestellten Wahrheiten suchen will, findet diesen Weg in der »Philosophie der Freiheit«. Was für Wahrheiten werden denn in der Theosophie dargestellt? 1. Im ersten Teil des Buches entwickelt Steiner ein Bild des Menschen, wonach der Mensch nicht nur ein leibliches, sondern auch ein seelisches und geistiges Wesen ist und er stellt dar, wie jede dieser drei Seiten des Menschenwesens sich durch drei Glieder manifestiert oder entfaltet. 2. Im zweiten Teil entwickelt er rein gedanklich die Anschauung von der Reinkarnation des Menschengeistes und vom gesetzmäßig wirkenden Schicksal: der Mensch als Fähigkeitswesen ist geistiger Erbe seiner selbst und im Schicksal begegnet er den Tatenfolgen von Handlungen vorausgegangener Inkarnationen, von Handlungen die er selbst begangen hat. 3. Im dritten Teil befasst er sich mit der Seelenwelt und dem Geisterland und dem Leben von Seele und Geist nach dem Tod. 4. Im vierten Teil beschreibt er den Pfad der Erkenntnis. Werfen wir einen Blick in dieses letzte Kapitel. Gleich zu Beginn heißt es: »Der Mensch ist ein Gedankenwesen. Und er kann seinen Erkenntnispfad nur finden, wenn er vom Denken ausgeht.« »Wer sich behufs höherer Erkenntnis, unter Verschmähung der Gedankenarbeit, an andere Kräfte im Menschen wenden wollte, der berücksichtigt nicht, dass das Denken eben die höchste Fähigkeit ist, die der Mensch in der Sinneswelt besitzt.« »Man kann gar nicht stark genug betonen, wie notwendig es ist, dass derjenige die ernste Gedankenarbeit auf sich nimmt, der seine höheren Erkenntnisfähigkeiten ausbilden will.« (S. 174/175) »Der Geistesforscher tritt seinem Schüler entgegen mit der Zumutung: nicht glauben sollst du, was ich dir sage, sondern es denken, es zum Inhalte deiner eigenen Gedankenwelt machen …« Solche Hinweise auf die »Philosophie der Feiheit«, auf »Wahrheit und Wissenschaft« und auf die »Grundlinien …« finden sich immer wieder im Werk Steiners nach der Jahrhundertwende, meist verbunden mit Ausführungen darüber, dass diese Schriften die Grundlegung der – sagen wir jetzt ruhig – späteren Anthroposophie darstellen, dass ihnen eine bedeutende Rolle bei der spirituellen Schulung der Anthroposophie zukommt. Ich greife nur einen einzigen dieser Hinweise heraus. Am 17. Juni 1923 (GA 258) spricht sich Rudolf Steiner in einer Vortragsreihe über die Geschichte der anthroposophischen Bewegung folgendermaßen aus: »Man muss unterscheiden zwischen dem, was als eigentliche Geistessubstanz durch die anthroposophische Bewegung geflossen ist, und dem, was zunächst aus den Zeitverhältnissen heraus die Ausdrucksform sein musste … Anthroposophie führt in gerader Linie zurück zu dem, was, allerdings auf philosophische Art, angeschlagen ist in meinen Goetheschriften und in der ›Philosophie der Freiheit‹. Wenn sie das nehmen, was dort angeschlagen ist, so ist es dies, dass der Mensch im Innersten seines Wesens in Verbindung ist mit einer geistigen Welt … Ich habe schon in den Goetheschriften angedeutet, dass die Gottheit so vorzustellen ist, dass sie in unendlicher Liebe in das Dasein ausgeflossen ist und in jedem einzelnen Wesen nun gesucht werden müsse … Es musste gezeigt werden, wo im Menschen selber das Göttliche lebt, in dem er sowohl die Geistigkeit der Natur, wie namentlich die Geistigkeit der Moralgesetze gründen kann. Das führte zu dem Individualismus der ›Philosophie der Freiheit‹. … Weil in jedem einzelnen menschlichen Individuum der Quell der sittlichen Impulse in jenem Göttlichen nachgewiesen werden musste, womit der Mensch im Innersten seines Wesens zusammenhängt.« Die geistige Substanz der Anthroposophie, die sich nach 1900 entfaltet hat, ist also bereits in den philosophischen Werken, die Steiner vor 1900 verfasst hat, enthalten.
Sehen wir uns diese philosophischen Werke unter diesem Gesichtspunkt etwas Näher an. 1886 untersuchen die »Grundlinien« das menschliche Erkennen. Diese Untersuchung führt zu dem Ergebnis, dass der Ideengehalt der Welt im denkenden Bewusstsein des Menschen erscheint und zu seinem Selbstbewusstsein kommt, dass das Denken das Wesen der Welt ist und das individuelle menschliche Denken die einzelne Erscheinungsform dieses Wesens. Aber eine Erscheinungsform, die nicht von selbst erscheint, sondern vom denkenden Bewusstsein zur Erscheinung gebracht werden muss. Geradezu hymnisch bringt Steiner diesen Gedanken im Kapitel über die menschliche Freiheit zum Ausdruck: »Der Weltengrund hat sich in die Welt vollständig ausgegossen; er hat sich nicht von der Welt zurückgezogen, um sie von außen zu lenken, er treibt sie von innen; er hat sich ihr nicht vorenthalten. Die höchste Form, in der er innerhalb der Wirklichkeit des gewöhnlichen Lebens auftritt ist das Denken und mit demselben die menschliche Persönlichkeit. Hat somit der Weltengrund Ziele, so sind sie identisch mit den Zielen, die sich der Mensch setzt, indem er sich darlebt. Nicht indem der Mensch irgendwelchen Geboten des Weltenlenkers nachforscht, handelt er nach dessen Absichten, sondern indem er nach seinen eigenen Einsichten handelt. Denn in ihnen lebt sich jener Weltenlenker dar.« 1887 im zweiten Band der »Einleitungen« zu Goethes Naturwissenschaftlichen Schriften drückt Steiner diese Anschauung wir folgt aus: »Indem sich das Denken der Idee bemächtigt, verschmilzt es mit dem Urgrunde des Weltendaseins; das, was außen wirkt, tritt in den Geist des Menschen ein; er wird mit der objektiven Wirklichkeit auf ihrer höchsten Potenz eins. Das Gewahrwerden der Idee in der Wirklichkeit ist die wahre Kommunion des Menschen.« 1894 in der »Philosophie der Freiheit« wie folgt: »In dem Denken haben wir das Element gegeben, das unsere besondere Individualität mit dem Kosmos zu einem Ganzen zusammenschließt. Indem wir empfinden und fühlen (auch wahrnehmen) sind wir Einzelne. Indem wir denken, sind wir das all-eine Wesen, das alles durchdringt … « »Das gemeinsame Urwesen, das alle Menschen durchringt, ergreift somit der Mensch in seinem Denken. Das mit dem Gedankeninhalt erfüllte Leben in der Wirklichkeit ist zugleich das Leben in Gott.« Das ist die philosophische Substanz, der diamantene, ideelle Kern der Anthroposophie.
Nun fragen wir uns, wer oder was ist denn dieser Weltengrund, der sich vollständig in die Welt ausgegossen hat, dessen höchste Erscheinungsform das menschliche Denken und mit demselben die menschliche Persönlichkeit ist, mit dem sich der erkennende Mensch in einer wahren Kommunion vereinigt, dieses gemeinsame Urwesen, das alle Menschen durchdringt? Nun, dieser Weltengrund, dieses gemeinsame Urwesen, ist ohne Zweifel der Logos – es ist jener Logos, von dem es im Prolog des Johannes Evangeliums heißt: »Im Urbeginne war der Logos und der Logos war bei Gott und ein Gott war der Logos. Dort war er, wo alles entstanden ist und nichts ist entstanden außer durch den Logos. Im Logos war das Leben und das Leben war das Licht des Menschen. … Das wahre Licht, das alle Menschen erleuchtet sollte in die Welt kommen … Und der Logos ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt« Aus diesem Logos ist die Welt hervorgegangen, aber er hat sich nicht von der Welt zurückgezogen, um sie von außen zu lenken, er hat sich in die Welt, in die Schöpfung ausgegossen, er ist Mensch geworden – auf dass sich das erkennende Menschen-Ich in einer geistigen Kommunion mit ihm vereinigen kann – und jeder Mensch, der sich denkend mit diesem Wesen vereinigt, hat Teil an seinem Wesen, denn sein Wesen teilt sich dem denkenden Menschen-Ich mit. Die philosophischen Schriften Rudolf Steiners sind aus einer christlichen Substanz heraus gedacht. In ihnen sind die Denkformen veranlagt, die geistigen Keimformen, die später in der Anthroposophie als einer neuen Erkenntnis des Christus aufgehen sollten.
Nun ist diese Ausgießung des Logos in die Welt nicht nur eine mystische Tatsache, sondern auch eine historische, eine weltgeschichtliche Tatsache, ja, die geschichtliche Tatsache ist sogar Voraussetzung dafür, dass die Auferstehung des Logos in der erkennenden Menschenseele, die Geburt des Sohnes im Menschen zustande kommen kann. Die Fleischwerdung des Logos als geschichtliche Tatsache, als Voraussetzung für die Geburt des Logos in jeder Menschenseele, für die Wiedergeburt des Ich im Logos ist einmalig, wie jede geschichtliche Tatsache. Durch die Fleischwerdung hat sich der Logos in die Welt ausgegossen, er ist zum Geist der Erde, zum Ich der Menschheit geworden. Was heißt das? Das heißt, dass der Logos seither im geistigen Umkreis der Erdenmenschheit lebt und dass der einzelne Mensch sich mit diesem Logos erkenntnis-mystisch vereinigen kann. Es wäre also widersinnig, zu glauben, diese Tatsache der geschichtlichen Ausgießung des Logos, der Fleischwerdung, könnte oder müsste sich wiederholen. Christus, der Logos, konnte nur einmal Mensch werden und durch diese Menschwerdung wurde die Voraussetzung geschaffen, dass er in jedem Menschen geboren, wiedergeboren werden kann.
Damit haben wir alle wesentlichen Elemente zusammengefügt, die notwendigerweise zu den Konflikten zwischen der angloindischen Theosophie und der Anthroposophie führen mussten, oder zu dem einen Urkonflikt, – denn im Grunde gab es nur einen großen Konflikt. Dass dieser Konflikt veranlagt war, war Steiner von Anfang an bewusst und er hat dies auch ausgesprochen, z.B. in einem Brief an Wilhelm Hübbe-Schleiden, den er im Vorfeld der Gründung der Deutschen Sektion der TG Mitte August 1902 schrieb: »Das Risiko, dem ich mich aussetze, schwebt mit klar vor Augen. Und ich glaube, ich muss mich demselben aussetzen … Ich will auf die Kraft bauen, die es mir ermöglicht, ›Geistesschüler‹ auf die Bahn der Entwicklung zu bringen. Das wird meine Inaugurationstat allein bedeuten müssen. Deshalb möchte ich in allem positiv sein. Auch die Leipziger [unter der Leitung von Franz Hartmann] werden ja dann nachzusehen haben, ob sie ferner contra uns sein wollen … Ich werde sie natürlich niemals als ›Gesellschaft‹ bekämpfen. Ich glaube nämlich, dass die Bewegung, die HPB [Helena Petrowna Blavatsky] und Annie Besant eingeleitet haben, über HPB und Annie Besant hinaus schreiten kann, dass aber die Leipziger Gesellschaft höchstens bis zu HPB und Annie Besant vordringen kann. Ich möchte alles tun, um die Theosophie in der Gegenwart in das Fahrwasser zu bringen, das in Ihren Worten liegt: ›Dieser Weg ins spirituelle Reich der Geister, führt heute durch das intellektuelle Reich.‹ Die meisten, die heute etwa Leadbeaters Vortrag über die unsichtbaren Helfer unterschreiben, wollen oder können (noch nicht) durch das intellektuelle Gebiet.« (Briefe II, S. 270/74)
Mit diesem Charles Webster Leadbeater, der ab 1879 einige Jahre Priester der anglikanischen Hochkirche war, 1883 Mitglied der Theosophischen Gesellschaft wurde und 1884-1889 in Ceylon im Dienst der TG verbrachte, hängt ein Skandal zusammen, der 1906 die theosophische Welt erschütterte. Leadbeater war 1889 von Ceylon nach London zurückgekehrt, um Privatlehrer des Sohnes von Alfred Percy Sinnett – des Verfassers des »Esoterischen Buddhismus« – zu werden. Er kam zusammen mit dem Hinduknaben Jinarajadasa nach London, dem er ein Studium in Cambridge ermöglichen wollte. Jinarajadasa war 1889 vierzehn Jahre alt, Leadbeater zweiundvierzig. Worin bestand der Skandal, in den Leadbeater verwickelt war? Ihm wurde vorgeworfen, sich an männlichen Jugendlichen, die ihm zur Erziehung anvertraut waren, sexuell vergangen zu haben. Leadbeater konnte sich einer Verurteilung durch ein Ehrengericht der TG nur entziehen, indem er aus der TG austrat und alle seine Ämter niederlegte. Annie Besant gehörte damals zu jenen, die Leadbeater am schärfsten moralisch verurteilten. Rudolf Steiner hat sich in diesem Skandal in einer überaus charakteristischen Art verhalten. Er hat nicht in den Chor der moralischen Empörung eingestimmt, sondern nach den Ursachen für Leadbeaters Verfehlungen gefragt. Er hat darauf hingewiesen, dass Leadbeaters Verfehlungen die Folge einer fehlgeleiteten okkulten Schulung waren, der Leadbeater sich unterzogen hatte, eben jener okkulten Schulung, die damals in der TG gebräuchlich war, der er bereits ab 1904 die anders geartete Schulung gegenüber stellte, die im Buch »Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?« dargestellt ist. In einem Brief an Annie Besant brachte Steiner im Juni 1906 die Gefahren der Schulung zum Ausdruck, denen Leadbeater erlegen war: »Ich muss das Schlimme an der ganzen Sache in der Eigenart von Mr. Leadbeaters okkulter Methode sehen. Diese okkulte Methode muss notwendigerweise in gewissen Fällen zu solchen oder ähnlichen Fehlern führen, … weil sie für die abendländische Bevölkerung nicht mehr anwendbar ist. … Diese Methoden können nur dann zu einem sicheren Resultat führen, wenn hinter jedem, der den Pfad betritt, eine so absolute Autorität eines Guru steht, wie sie im Abendlande wegen der allgemeinen Kulturverhältnisse ganz unmöglich ist. Eine Person darf im Abendland zu der Stufe psychischer Entwicklung, auf welcher Leadbeater stand, nur geführt werden, wenn bei ihr der Teil von Führung, die nicht mehr vom Guru ausgehen kann, durch eine bis zu einem gewissen Grade gekommene mentale Schulung ersetzt wird. Und diese Schulung fehlte Mr. Leadbeater … Ich meine damit nicht eine bloß intellektuell-philosophische Schulung, sondern die Entwicklung jener Bewusstseinsstufe, welche in gedanklich-innerem Schauen besteht … In Deutschland z.B. müssen die Wege zu dieser Schulung von der Gedankenmystik Fichtes, Schellings und Hegels genommen werden, die eigentlich nach ihrer in Wahrheit okkulten Grundlage gar nicht verstanden werden … Bei der im gegenwärtigen Zeitpunkte so nahen Verwandtschaft aller höheren Menschenkräfte mit den Kräften, die auf niederer Stufe der Sexualsphäre angehören, kann in jedem Augenblick eine Entgleisung ähnlich derjenigen Mr. Leadbeaters stattfinden. Es ist doch sein Fall nicht der einzige, sondern etwas, das auf das Gebiet gehört, welches gegenwärtig in vielen okkulten Gruppen geübt wird, die mehr oder weniger dem linken Pfad zustreben … « (GA 264, S. 279-280) Wahrscheinlich hat A. Besant diesen Hinweis nicht verstanden oder aus anderen Gründen ignoriert, jedenfalls hat sie Leadbeater zwei Jahre später (Ende 1908) wieder in die TG aufgenommen, mit der Begründung, die theosophische Moral gebiete, dass man einen Menschen, der einmal entgleist sei, auch verzeihen können müsse.
Zu Beginn des Jahres 1907 kam es im Zusammenhang mit dem Tod von Henry Steel Olcott und der Frage seiner Nachfolge zur nächsten Katastrophe. Auch hier hat sich Steiner wieder höchst charakteristisch verhalten. Olcott war seit der Gründung der TG 1875 Mitpräsident und nach dem Tod HPBs alleiniger Präsident laut Statuten hatte der Gründerpräsident das Recht, einen Nachfolger vorzuschlagen. Die Mitglieder mussten dem Vorschlag allerdings durch Wahl zustimmen (d.h. sie konnten ihn auch ablehnen). Wenige Tage vor seinem Tod teilte Olcott in Rundschreiben mit, zwei Mahatmas seien an seinem Krankenlager erschienen und hätten ihm geraten, A. Besant als künftige Präsidentin zu bestimmen. Dieser Vorgang, der die ganze Wahlprozedur und die Entscheidungsfreiheit der Mitglieder ad absurdum führte, rief in der TG weltweit Proteste hervor. A. Besant antwortete auf diese Proteste mit der Mitteilung, sie betrachte es ihrerseits als von den Meistern auferlege Pflicht, die Wahl anzunehmen, falls sie denn gewählt würde. Rudolf Steiner hat angesichts dieser Situation zweierlei getan: 1. er hat die Berufung auf die Meister abgelehnt, weil durch sie in fataler Weise spirituelle Erkenntnis und administrative Fragen vermengt würden und weil durch sie die Willensfreiheit der Mitglieder aufgehoben werde; 2. er hat trotzdem die Wahl von A. Besant befürwortet, weil sie ihm als die geeignetste Kandidatin erschien und das, obwohl er durch ihre Präsidentschaft die größten Schwierigkeiten kommen sah. In Rundschreiben an die Mitglieder der TG hat er im März/April 1907 seine Auffassung dargelegt. Zunächst hat er die irrtümliche Ansicht von den Meistern korrigiert, die in der TG verbreitet war: »Keine derjenigen Individualitäten, die wir in übersinnlichem Schauen erkennen können, wird jemals sich in eine solche Angelegenheit mischen, wie die gegenwärtige Präsidentenwahl ist. Das hieße unseren Willen binden, diese Individualitäten wollen aber unseren Willen durch die Art, wie sie zu uns stehen, gerade frei machen, so dass er im Einzelnen das Richtige treffen kann. Daher kommen die Strömungen geistigen Lebens niemals von ihnen in der Form zu uns, dass darinnen eine Beeinträchtigung der freien Wahl liegen kann.« In einem zweiten Schritt, hat er seine Bedenken gegen A. Besant formuliert: »Nun muss ich sogleich offen sagen, dass ich gerade durch Dinge, die zu meinem Schmerz mit der okkulten Schulung von Frau Besant … zusammenhängen, manche Schwierigkeiten voraussehe, die gerade unserer Arbeit in der deutschen Sektion durch sie kommen könnten …« In einem dritten Schritt hat er, trotz dieser Bedenken, A. Besant als Präsidentin empfohlen. A. Besant wurde gewählt und zu den von Steiner vorausgesehenen Konflikten kam es auch. Bevor aber der Urkonflikt über die Wiederkunft Christi in Jiddu Krishnamurti ausbrach, der 1912/13 zur Trennung der Deutschen Sektion von der TG und der Gründung der ersten Anthroposophischen Gesellschaft führte, zog Steiner im Jahr 1907 unmittelbar nach dem Münchner Kongress im Mai die Konsequenz aus den Vorgängen der vergangenen Jahre und führte die organisatorische Verselbständigung der von ihm geleiteten Esoterischen Schule herbei. A. Besant schrieb kurz darauf, im Juni 1907 an Hübbe-Schleiden über diese Verselbständigung, Steiner kenne den »östlichen Weg« nicht und könne ihn deswegen auch nicht lehren – er lehre den christlich-rosenkreuzerischen Schulungsweg, der für manche Menschen eine Hilfe sei, aber vom östlichen Weg verschieden – sie beide arbeiteten aber in Freundschaft und Harmonie, wenn auch in verschiedener Richtung. Rudolf Steiner dachte aber doch sehr anders über diese Angelegenheit. Wie anders, geht aus Aufzeichnungen hervor, die er im September 1907 für Edouard Schuré verfasste. In diesen Aufzeichnungen skizziert Steiner erschütternd hellsichtig den Weg, den die angloindische Theosophie unter dem Einfluss von Leadbeater und der Leitung von A. Besant in den folgenden Jahren gehen sollte: es war dies ein Weg der vollständigen Abwendung vom Christusprinzip, ja, der Verleugnung des Sinnes der Erde. Steiner schreibt Anfang September 1907: »Die östlichen Initiatoren müssen notwendig das Christusprinzip als zentralen kosmischen Faktor der Evolution unberührt lassen … Eine Hoffnung auf Erfolg in der Evolution könnten sie nur haben, wenn sie das Christusprinzip aus der christlichen Kultur vertilgten. Dies wäre aber identisch mit dem Auslöschen des eigentlichen Sinnes der Erde, der in der Erkenntnis und Realisierung der Intentionen des lebendigen Christus liegt. Diese zu enthüllen in voller Weisheits-, Schönheits- und Tatform ist aber das tiefste Ziel des Rosenkreuzertums. Über den Wert der östlichen Weisheit als Studium kann nur die Meinung bestehen, dass dieses Studium von allerhöchstem Wert ist … Über die Einführung der richtigen Esoterik im Westen sollte aber auch nur die Meinung bestehen, dass dies nur die rosenkreuzerisch-christliche sein kann, weil diese auch das westliche Leben geboren hat, und weil durch ihren Verlust die Menschheit der Erde ihren Sinn und ihre Bestimmung verleugnen würde. Allein in dieser Esoterik kann die Harmonie von Wissenschaft und Religion erblühen, während eine jede Verschmelzung westlichen Wissens mit östlicher Esoterik nur solche unfruchtbaren Bastarde erzeugen kann, wie Sinnetts ›Esoterischer Buddhismus‹ einer ist.« (GA 262, S. 17-18) Damit sind wir wieder am Anfang unserer Betrachtungen angelangt: bei Alfred Percy Sinnetts »Esoterischem Buddhismus«, jenem »unfruchtbaren« geistigen Zwitterwesen, das schon in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts abstoßend auf Steiner gewirkt hat.
Die restliche Geschichte ist schnell erzählt. C.W. Leadbeater, der von A. Besant wieder in die TG aufgenommen wurde, siedelte Anfang 1909 nach Adyar über und entdeckte im April 1909 den damals 14-jährigen Jiddu Krishnamurti, in dem er das »Vehikel«, das Werkzeug des künftigen Weltlehrers, des Lord Maitreya, das Gefäß für die Reinkarnation Christi zu erkennen glaubte. Im Dezember 1909 wurde Krishnamurti in die Esoterische Schule der TG von A. Besant aufgenommen (mit 14 Jahren) und vom 10.-12. Januar 1910 fand die erste Einweihung Krishnamurtis durch Leadbeater in Adyar statt. A. Besant, die damals das Geschehen von Benares aus astral, während der Nacht, mit verfolgte, schrieb am 12. Januar 1910 in einem Telegramm an C.W. Leadbeater: »Es steht also fest, dass der Lord Maitreya den Körper dieses lieben Knaben in Besitz nehmen wird«. »Das liebe Kind sah so wundervoll aus, wie ein Abbild des Christuskindes, mit seinen großen feierlichen Augen voller Liebe und Vertrauen« (Luytens, The Years of Awakening, S. 39). Am selben Tag, dem 12. Januar 1910 weilte Rudolf Steiner in Stockholm und hielt abends um halb Sechs, zu einer höchst ungewöhnlichen Zeit, einen Vortrag, in dem er das erste Mal von der ätherischen Wiederkunft Christi sprach, die ab den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts bevorstehe. Für diese erschütternde zeitliche Koinzidenz gibt es keinerlei äußerliche Erklärung. Während sich in Adyar der Irrtum verfestigte, Christus werde sich bald erneut physisch inkarnieren, begann Rudolf Steiner in Stockholm davon zu sprechen, dass die Menschheit im 20. Jahrhundert nicht in der physischen Welt, sondern in der ätherischen Welt, der Lebenssphäre der Erde und im Seeleninnern eines jeden Menschen einen Zugang zu einer neuen, spirituellen Christusoffenbarung finden werde, wenn sie sich in der richtigen Art darauf vorbereite. Aber das Ereignis, der Beginn einer neuen Christusoffenbarung, könne auch unbemerkt an der Menschheit vorübergehen, und falsche Christusgestalten, falsche Messiasgestalten könnten die zarten Anfänge dieser ätherischen Offenbarung verdunkeln. Am 1. Jahrestag der Einweihung Krishnamurtis am 11. Januar 1911 wurde in Adyar der Orden des Sterns im Osten gegründet, der die Welt auf den künftigen Lord Maitreya vorbereiten sollte. Der Orden begann weltweit Mitglieder zu werben, u.a. wurde Wilhelm Hübbe-Schleiden Repräsentant in Deutschland und im Dezember 1912 schließlich fasste die Generalversammlung der Deutschen Sektion der TG zwei Beschlüsse: einen zur Unvereinbarkeit der Mitgliedschaft im Orden des Sterns im Osten und der Mitgliedschaft in der Deutschen Sektion der TG sowie einen zweiten, A. Besant zum Rücktritt aufzufordern. Gleichzeitig wurde am 28.12.1912 aus der deutschen Sektion die Anthroposophische Gesellschaft gegründet.
Im Jahr 1929, vier Jahre nach dem Tod Rudolf Steiners und vier Jahre vor dem Tod A. Besants (20. September 1933) hat Jiddu Krishnamurti den Orden, dessen Oberhaupt er war, bei einer feierlichen Versammlung von Tausenden von Verehrern aufgelöst und sich von der Rolle, die ihm Besant und Leadbeater zugedacht hatten, offiziell verabschiedet. Er sagte damals: »Die Wahrheit ist ein wegloses Gelände. Sie kann nicht organisiert werden … Sie haben sich daran gewöhnt, sich immer von jemandem sagen zu lassen, wie groß ihr geistiger Fortschritt ist. Wie kindisch! Mein einziges Anliegen besteht darin, den Menschen in absoluter und unbedingter Weise in Freiheit zu setzen.« (Lutyens, The Years of Awakening, S. 272) Und damit war er auf dem Standpunkt angelangt, auf dem Steiner schon immer gestanden hatte.
Autoreferat eines Vortrags
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