Antoine Faivres Beitrag zur Methodik der Forschung
Von Lorenzo Ravagli
Der klassische Beitrag zur Methodologie der Esoterikforschung stammt von Antoine Faivre, dem Inhaber des Lehrstuhls für die »Erforschung esoterischer und mystischer Strömungen im modernen und zeitgenössischen Europa« von 1979 bis 2002 an der Sorbonne in Paris. Er veröffentlichte seine methodologischen Überlegungen zuerst 1986 unter dem Titel »Accèss de l’ésoterisme occidental« auf französisch, 1994 in einer englischen Übersetzung »Access to Western Esotericism«. Der folgende Essay orientiert sich an der englischen Übersetzung.
Faivre sieht in der Esoterik ein Bündel von geistigen Haltungen und ein Ensemble von Diskursen. »Esoterik an sich« lässt sich kaum definieren. Sie ist für ihn weniger ein bestimmter Inhalt als eine »Denkform«, deren Eigenart aufgrund der geistigen Strömungen, die sie repräsentieren, charakterisiert werden kann. Die Untersuchung der einzelnen esoterischen Diskurse führt so zu einem Katalog von Kriterien, nach denen beurteilt werden kann, ob ein bestimmter Diskurs zur Esoterik gehört oder nicht.
Faivre setzt sich zunächst von verbreiteten Vorstellungen ab. Der Begriff Esoterik evoziert die Idee von etwas Geheimem, die Idee einer Arkandisziplin, eines schwer zugänglichen Gebietes des Wissens und der Erkenntnis. Esoteriker pflegten das Geheimnis. Aber diese Assoziation schränkt den Begriff des Esoterischen zu sehr ein, denn weite Teile der Esoterik sind keineswegs geheim, sondern völlig öffentlich. Insbesondere die Alchemie hat seit dem 16. Jahrhundert eine Fülle von Literatur produziert. Dasselbe gilt von der Theosophie, vom Werk Jakob Boehmes. Und wenn es Geheimnisse gibt, dann sind es in der Regel offene Geheimnisse. Geheimnisvoll ist das Esoterische allein deshalb, weil der Zugang zu seinem Verständnis an gewisse Voraussetzungen gebunden ist. Ein Symbol, ein Mythos oder eine Realität können nur durch die persönliche Anstrengung erschlossen werden, die ihre Bedeutung über Stufen des Verstehens erhellt, das heißt durch eine Art von Hermeneutik (Interpretation). Es gibt kein letztes Geheimnis, wenn man einmal davon ausgeht, dass alles ein Geheimnis in sich birgt. Manchmal wird der Ausdruck esoterisch auch verwendet, um den »deus absconditus«, den verborgenen Gott zu bezeichnen (z. B. von Franz von Baader).
Esoterik wird manchmal auch als eine bestimmte Art von Wissen verstanden, das aus einer spirituellen Quelle fließt, das durch klar umschriebene Wege und Methoden erlangt werden kann. Die Sphäre dieses Wissens, überwölbt alle spezifischen Traditionen und Initiationen, die jeweils unterschiedliche Methoden darstellen, sich ihm anzunähern. Am Ende ist dieses Wissen für alle, die es erreichen, ein und dasselbe. Wer es durch Erfahrung erlangt, hält einen Beweis für die transzendente Einheit der Religionen in der Hand. In diesem Zusammenhang kann Esoterik sowohl den Weg bedeuten, der zu diesem Wissen hinführt, als auch das Wissen selbst. Esoteriker dieser traditionalistischen oder perennialistischen Richtung neigen zu dogmatischen Redeweisen.
Häufig wird Esoterik auch mit Initiation gleichgesetzt. Aber es existieren vielfältige Formen von Initiation, die sich je nach Kontext beträchtlich voneinander unterscheiden. Initiation ist auch wesentlicher Bestandteil jeder religiösen Tradition und gibt deshalb kein spezifisches Kriterium für Esoterik ab. Schließlich muss man sich auch vor der Marginalisierung von Esoterik hüten. Ignoranz oder apologetische Intentionen versuchen Esoterik als obskure Randphänomene abzutun. Aber der Versuch, esoterische Strömungen als Randphänomene etablierter Religionsformen zu deklarieren, ist nach Faivre Ausdruck geistiger Unredlichkeit. Indem Elemente religiöser Doktrinen aus esoterischen Diskursen herausgelöst werden, die zweifellos in ihnen enthalten sind, lassen sich gedankliche Scheingebilde konstruieren, die sich als Zielscheiben apologetischer Kritik eignen, aber mit der Realität der Esoterik wenig bis nichts zu tun haben.
Esoterik kann also nach Faivre nicht mit bestimmten Denkinhalten gleichgesetzt werden: sie ist eine Form des Denkens. Selbst im Herzen des Katholizismus gibt es eine Fülle von Esoterikern, die alles andere als häretisch sind. Dennoch sind die Beziehungen esoterischer Strömungen zu den etablierten Kirchen bis heute problematisch.
Faivre schlägt deshalb eine dritte Auffassung von Esoterik vor, eine Auffassung, die es zulässt, die Gesamtheit der esoterischen Strömungen des Westens einzuschließen. Westen, das ist für ihn die griechisch-römische Geisteswelt, das Mittelalter und die Neuzeit, in denen Judentum, Christentum und Islam für Jahrhunderte koexistiert und sich gegenseitig befruchtet haben. In der Renaissance entstand die Vorstellung, es sei möglich, die Gesamtheit des esoterischen Wissens als Einheit zu betrachten. Marsilio Ficino, Pico della Mirandola und andere vertraten die Auffassung, die verschiedenen religiösen Traditionen und geistigen Überlieferungen seien verschiedene Ausdrucksformen einer übergeordneten Wahrheit, einer philosophia perennis. Nach 1492, der Vertreibung der Juden aus Spanien, begann insbesondere die Kabbala die christlichen Milieus zu beeinflussen und mit der erneuerten alexandrinischen Hermetik überraschende Verbindungen einzugehen. Die prisca theologia des Mittelalters, die ursprüngliche Weisheit vom Göttlichen, wurde zur okkulten Philosophie oder philosophia perennis. Vermutete Repräsentanten dieser philosophia perennis wurden in eine Kette der Weisen eingefügt, die Moses, Zoroaster, Hermes Trismegistos, Plato, Orpheus, Pythagoras, die Sibyllen und viele weitere einschloss. Die Aufgabe des Historikers (des Esoterikforschers) besteht laut Faivre darin, die Entstehung dieser Idee einer Kette der Weisen, einer philosophia perrennis in der Vorstellungswelt und den Diskursen der Renaissancegelehrten zu untersuchen. Seine Aufgabe ist es nicht, zu untersuchen, ob eine solche Tradition vor der Renaissance wirklich existiert hat.
Was sich in den Diskussionen der Renaissancegelehrten allmählich als Corpus des »exoterischen« Wissens jenseits der offiziellen Religion etablierte, ist laut Faivre nichts anderes als der Inhalt, mit dem sich die Esoterikforschung heute befasst. Im Mittelalter musste sich dieser Wissenskorpus nicht von der Theologie absondern, weil die Theologie selbst ihn noch in sich enthielt. Als die Theologie in der beginnenden Neuzeit diesen Teil des antiken Wissens von sich aussonderte, bemächtigte sich seiner das Gelehrtentum und näherte sich ihm von außerhalb der Theologie an. Die Theologie hatte sich selbst außerhalb dieses Wissens gestellt, indem sie es von sich aussonderte, und wer sich damit beschäftigte, musste »nach innen« gehen, da die Gläubigen nun außerhalb waren. Im Mittelalter existierte dieser esoterische Innenraum nicht, da der Gläubige immer innerhalb war. Die humanistischen Gelehrten spielten bei der Entstehung der neuzeitlichen Esoterik eine entscheidende Rolle. Je mehr sich die Scholastik die Philosophie (des Aristoteles) aneignete, um so mehr beschäftigten sie sich mit Hermetik und Kabbala und monopolisierten dieses Wissen, so wie die Kirchen das theologische Wissen monopolisierten.
In der Hauptsache ging es in diesem Wissen um die Verbindung metaphysischer Prinzipien mit Kosmologie. Solange die Kosmologie der Metaphysik untergeordnet war, stellte ein solches Wissen kein Problem dar. Aber als sich die Naturwissenschaften von der Theologie emanzipierten, entstand das Feld der Esoterik, das sich in der Renaissance mit den Beziehungen zwischen Metaphysik und Kosmologie beschäftigte, den Beziehungen zwischen dem Reich der Engel und der Natur – und dieses Feld wurde für die Kirchen zunehmend zum Problem.
Im Meer dieses neuen, okkult-kosmologischen Wissens flossen laut Faivre drei Flüsse zusammen: die traditionellen Wissenschaften Alchemie, Astrologie und Magie, die alle in irgendeiner Form mit Arithmosophie verknüpft waren. Hinzu kamen seit dem Ende des 15. Jahrhunderts andere Ströme: die christliche Kabbala, die neoalexandrinische Hermetik, Diskurse über philosophia perennis und eine primordiale Tradition, die Naturphilosophie des Paracelsus, später die romantische Naturphilosophie, vom 17. Jahrhundert an die Theosophie und das Rosenkreuzertum, die beide zuerst in Deutschland hervortraten.
All diese Strömungen überlebten die große epistemologische Umwälzung im 17. Jahrhundert, auch der Szientismus des 19. Jahrhunderts brachte sie nicht zum Versiegen. Heute ist die Esoterik verbreiteter als jemals zuvor. Sie präsentiert sich als Gegengewicht zur wissenschaftlichen und säkularisierten Weltsicht. Sie jedoch als bloße Reaktion auf diese zu interpretieren, wäre eine unzulässige Vereinfachung. Sie stellt vielmehr die Ausdrucksform der mythischen Fähigkeit der menschlichen Seele dar, die dem rationalen Denken gegenübersteht und wie dieses in der Beschaffenheit der Menschenseele selbst begründet ist und durch sie ihre Berechtigung hat.
Esoterik muss, so Faivre, phänomenologisch, als Denkform beschrieben werden, wenn man ihr gerecht werden will. Diese Denkform kann durch sechs Komponenten charakterisiert werden. Vier von ihnen sind unabdingbar, zwei weitere können ebenfalls vorkommen, sind aber nicht zwingend.
Korrespondenzen
Symbolische und reale Korrespondenzen – sichtbare und unsichtbare – durchdringen die Welt. Die Idee der Entsprechung von Makrokosmos und Mikrokosmos gehört hierher, oder die Idee der universellen Interdependenz (alles hängt mit allem zusammen, alles hängt von allem ab). Die Korrespondenzen sind auf den ersten Blick verschleiert, können aber entziffert und gelesen werden. Das ganze Universum ist ein Theater aus Spiegeln, ein Gewebe aus Hieroglyphen, die auf ihre Deutung warten. Alles ist ein Zeichen – Goethe sagt: »alles Vergängliche ist ein Gleichnis des Unvergänglichen –; alles verbirgt und enthüllt Mysterien, jeder Gegenstand enthält ein Geheimnis. Statt dem Gegensatz und dem ausgeschlossenen Dritten, gibt es das eingeschlossene Dritte und die Synchronizität.
Zwei Arten von Korrespondenzen können unterschieden werden: sichtbare und unsichtbare in der Natur, zwischen den sieben Metallen und den sieben Planeten, zwischen den Planeten und Körperteilen oder Charaktereigenschaften oder Gliedern der Gesellschaft. Die Grundlage der Astrologie sind Korrespondenzen zwischen der natürlichen Welt und den unsichtbaren Regionen der himmlischen und überhimmlischen Welt.
Daneben gibt es Korrespondenzen zwischen der Natur oder der Geschichte und Offenbarungsschriften. Dieser Gedanke liegt der Kabbala zugrunde und verschiedenen Formen der physica sacra, der spirituellen Physik. Die Bibel und die Natur z.B. stimmen überein, die Kenntnis der einen erweitert die Kenntnis der anderen. Die Welt ist eine Erscheinungsform von Sprache. Aber weder Korrespondenzen, noch der Gedanke der Übereinstimmung allein deuten zwingend auf Esoterik. Diese Denkmotive finden sich auch in philosophischen oder religiösen Strömungen. Auch in der Wahrsagekunst, in der Dichtung, der Zauberei spielen Korrespondenzen eine bedeutende Rolle.
Lebendige Natur
Der Kosmos ist komplex, vielfältig, hierarchisch. Die Natur nimmt einen zentralen Platz ein. Vielschichtig und voller möglicher Offenbarungen muss sie wie ein Buch gelesen werden. Das Renaissanceverständnis von Magie beruht auf dieser Auffassung der Natur, die in all ihren Teilen lebendig ist und als lebendig erfahren wird. Sie ist von einem Licht oder einem verborgenen Feuer durchdrungen, das in ihr strömt. Die Magie ist das Wissen von den Netzwerken der Sympathie und Antipathie, das die Dinge der Natur verknüpft und die praktische Handhabung dieses Wissens. Der Magier lädt Talismane mit den Kräften der Sterne auf, die Orphik bringt die Sphärenharmonien musikalisch zum Ausdruck, Steine, Mineralien, Pflanzen vermögen die Harmonien des Körpers und der Seele wieder herzustellen. Der Paracelsismus greift dieses Motiv auf, ebenso die Homöopathie und der animalische Magnetismus Mesmers. Mehr jedoch als um bestimmte Techniken geht es in der Esoterik um die Gnosis, das Wissen von all diesen Verbindungen. Es ist jenes Wissen, von dem Faust sagt, es halte die Welt im Innersten zusammen, es schließe alle Wirkenskraft und Samen ein. Oft schließt diese Auffassung an Sätze des Paulus an, nach denen die leidende Natur auf ihre Erlösung wartet. Darauf gründet eine Naturwissenschaft, eine Gnosis, die mit Heilsmotiven angefüllt ist, eine Theosophie, die um die Dreiheit von Gott, Mensch und Natur kreist, zwischen welchen sie vielfältige Beziehungen erkennt.
Imagination und Mediation
Bereits die Idee der Korrespondenzen setzt eine Form von Imagination, von Einbildungskraft voraus, die dazu neigt, alle Arten von Vermittlungen zu enthüllen und zu gebrauchen, wie Rituale, Symbole, Bilder, Mandalas, vermittelnde Geister. Hierin gewinnt die Engelslehre zentrale Bedeutung, aber auch der Vermittler, der Initiator oder Guru. Möglicherweise liegt hier ein Unterschied zwischen Esoterik und Mystik. Etwas vereinfacht gesagt, strebt der Mystiker nach der Unterdrückung von Bildern und Mittelzuständen, weil sie ihn an der Vereinigung mit Gott hindern. Der Esoteriker dagegen interessiert sich mehr für die Mittelzustände, die seinem inneren Auge dank seiner schöpferischen Imagination sichtbar sind, und weniger für die Vereinigung mit mit Gott. Er verweilt lieber auf den Sprossen von Jakobs Leiter, auf der die Engel auf und niedersteigen, als dass er bis zu ihrem Ende und über es hinaus klettert. Doch hat das Bild seine Grenzen: bei Hildegard von Bingen etwa gibt es in diesem Sinn viel Esoterik und bei vielen Theosophen, wie etwa bei Louis-Claude de Saint-Martin, findet sich eine starke mystische Tendenz.
Die Imagination erlaubt den Gebrauch dieser Mittelzustände, Symbole und Bilder, um mit ihrer Hilfe eine Gnosis, Erkenntnis zu gewinnen, die die Hieroglyphen der Natur durchdringt, die Theorie der Korrespondenzen praktisch macht und die Wesen, die zwischen der Natur und der göttlichen Welt vermitteln, erkennen lässt. Der Imagination. Einbildungskraft, Phantasie, kommt in der Geschichte des Abendlandes ein weit größere Bedeutung zu, als Theoretiker wie Kant glauben, für den sie bloß eine beschränkte Fähigkeit zwischen Wahrnehmung und Begriff ist, die Herrscherin des Irrtums und der Illusion, deren Opfer aus der Welt fliehen wollen und dabei in ihrem inneren Kosmos gefangen bleiben. Sie ist viel mehr als das: ein Organ der Seele, mit dessen Hilfe die Menschheit eine gedankliche und visionäre Beziehung zu einer mittleren Welt herstellen kann, einem Mesokosmos, den Henry Corbin als »mundus imaginalis« bezeichnet hat und Rudolf Steiner vor ihm als »Welt der Imagination«. Arabische Philosophen und Mystiker haben sich besonders mit der Theorie der Imagination befasst, Avicenna, Suhrawardi und Ibn Arabi haben mit ihren Interpretationen den Westen beeinflusst, aber unabhängig davon sind im Paracelsismus vergleichbare Anschauungen entstanden. Durch den Einfluss des im 15. Jahrhundert wieder entdeckten »Corpus Hermeticum« wurden Erinnerung (Gedächtnis) und Imagination so eng miteinander verknüpft, dass sie kaum mehr zu unterscheiden waren. Manche Lehren des Hermes Trismegistos verlangten, die Welt im Geist zu verinnerlichen, was zu den Gedächtniskünsten führte, die in der Magie während der Renaissance und später praktiziert wurden.
So verstanden ist die Imagination (die mit magnet, magia, imago verbunden ist) ein Werkzeug zur Erkenntnis des Selbstes, der Welt, des Mythos. Das Auge des Feuers durchdringt die Hülle der Erscheinungswelt, um die Bedeutungen freizulegen, um das Unsichtbare sichtbar zu machen, die imaginative Welt, zu der das Auge des Fleisches keinen Zugang hat, um von dort einen Schatz zu holen, der unsere prosaische Weltsicht erweitert. Die Betonung liegt auf Schau, Vision und auf Gewissheit, nicht auf Glaube und Vermutung. Diese Imagination begründete eine visionäre Philosophie. Sie beflügelt den theosophischen Diskurs, in dem sie praktiziert wird, geht von Offenbarungsschriften aus, in der jüdischen Kabbalah vom Sohar oder im großen Strom westlicher Theosophie, der zu Beginn des 17. Jahrhunderts in Deutschland zu fließen beginnt, von der Bibel.
Erfahrung der Wandlung, Transmutation
Die Erfahrung der Wandlung ist laut Faivre für alle Esoterik zentral, sonst hätte man es lediglich mit einer Form spekulativer Spiritualität zu tun. Initiationsritualen kommt in der Esoterik, der Gnosis, der Alchemie eine große Bedeutung zu. Der Ausdruck Transformation bringt das Gemeinte nicht angemessen zum Ausdruck, weil sie nicht den Übergang von einer Ebene zu einer anderen oder die Wandlung des Subjektes in seine wahre Natur beinhaltet. Transmutation, dieser Begriff der Alchemie, trifft die Sache besser. Man könnte auch von Metamorphose sprechen. Eine Trennung zwischen Wissen (Gnosis) und innerer Erfahrung, zwischen denkender Aktivität und Imagination ist nicht möglich, wenn es darum geht, Blei in Gold zu verwandeln. Gnosis, ein Begriff der neuzeitlichen Esoterik, bezeichnet eine erleuchtete Erkenntnis, die die zweite Geburt ermöglicht, um die es besonders in der Theosophie geht. Auch weite Teile der Alchemie, besonders seit dem 17. Jahrhundert, konzentrierten sich weniger auf die Beschreibung von Laborexperimenten, als auf die bildhafte Darstellung dieser Transmutation, die einem bestimmten Pfad folgte: von der »nigredo«, dem Tod, der Enthauptung der ersten Materie oder des alten Mannes) über die »albedo« (der Arbeit an der Reinheit) zur »rubedo« (der Arbeit am Stein der Weisen). Eine Analogie stellen zu die mystischen Stufen dar: »purgatio« (Reinigung), »illuminatio« (Erleuchtung), »unificatio« (Vereinigung). Für die Alchemisten ist klar, dass die Transmutation ebenso in einem Teil der Natur wie in ihnen selbst stattfindet.
Damit sind die vier Grundbestandteile umrissen, auf denen Faivres Zugang zur neuzeitlichen westlichen Esoterik fußt. Zwei weitere fügt er hinzu, die er nicht für unverzichtbar hält, die aber dennoch häufig vertreten sind.
Praxis der Konkordanz
Das Bemühen um Konkordanz ist kein ausschließliches Kennzeichen der westlichen Esoterik, sondern geradezu ein Signal für den Beginn der Neuzeit. Es taucht Ende des 15. Jahrhunderts auf, beherrscht die Diskussionen im 16. und wird im 19. in einem neuen und geradezu triumphierenden Ton wieder aufgegriffen. Es geht darum, Gemeinsamkeiten zwischen zwei oder gar allen Traditionen zu erkennen, um dadurch eine Erleuchtung, eine Gnosis übergeordneten Ranges zu erreichen.
Es gibt auch eine exoterische Form von Konkordanz. Sie beruht auf der Anerkennung oder der Achtung aller bestehenden Religionen, die erforscht werden, um Übereinstimmungen zu finden, und alle guten Menschen in einem Geist indifferenter oder aktiver Toleranz zusammenzuführen. Esoterische Konkordanz meint etwas anderes. Sie ist schöpferischer. In ihr geht es um individuelle, aber auch kollektive Erleuchtung, und nicht nur um die Beseitigung einzelner Differenzen oder um die Aufdeckung von Übereinstimmung zwischen religiösen Traditionen, sondern um die Erlangung einer Gnosis, die die verschiedensten Traditionen in sich aufnimmt und in einer höheren Einheit verschmilzt. Daraus geht der Mensch hervor, »den es nach Gott dürstet« (Louis-Claude de Saint-Martin), ein Wesen, das den verborgenen Stamm, aus dem die Äste der verschiedenen Traditionen hervorgegangen sind, erkennt und in sich realisiert. Mit dem 19. Jahrhundert gewinnt dieses Ideal, aufgrund verbesserter Kenntnisse des Ostens, an Bedeutung, und führt dank vergleichender Religionsforschung zu einer neuen akademischen Disziplin. Diese Tendenz ermöglicht im 20. Jahrhundert den Traditionalismus oder Perennialismus, der eine primordiale Tradition postuliert, die alle Religionen oder esoterischen Traditionen der Menschheit überwölbt.
Transmission
Esoterische Lehre muss nach bestimmten Verfahren vom Meister auf den Schüler übergehen. Die zweite Geburt setzt eine solche Beziehung voraus. Dies impliziert zweierlei: 1. die Vorstellung der Regularität oder Authentizität eines esoterischen Wissens, das durch eine geschlossene Kette von Meistern verbürgt wird (der Suchende muss sich einer Tradition anschließen, die über eine solche Kette verfügt) und 2. eine Initiation, die vom Meister am Schüler durchgeführt wird. (In der Regel kann sich jemand nicht selbst initiieren). Diese Vorstellungen haben für die Entstehung und Entwicklung geheimer initiatorischer Gesellschaften im Westen große Bedeutung.
Die esoterische Denkform ist laut Faivre im selben Sinn eine Denkform, wie die wissenschaftliche, die theologische oder die utopische. Eine Denkform ist durch das Vorhandensein einer Summe von grundlegenden Charakteristika oder Elementen gekennzeichnet. Dasselbe Element kann jedoch in verschiedenen Denkformen auftreten. Jede Denkform setzt ihre eigenen Prozeduren und Aktivitäten in Gang, ihre unterschiedlichen Arten, die einzelnen Komponenten zu arrangieren und zum Ausdruck zu bringen. So bildet jede Denkform eine Gesamtheit von Beziehungen, eine Kultur. Es gibt Beziehungen, die mehreren Denkformen gemeinsam sind, zum Beispiel das Mystische oder das Esoterische. Zu dem letzteren steht die wissenschaftliche Denkform in einem komplexen und wechselnden Verhältnis, das in verschiedenen Naturphilosophien ausbuchstabiert wird. Besonders interessant sind die Gegensätze und Zurückweisungen. Sie sind nicht ausschließlich auf unvereinbare Grundelemente der verschiedenen Denkformen zurückzuführen, sondern können auch aus einem epistemologischen Bruch in einer dieser Denkformen entstehen. Faivre nennt die Theologie als Beispiel, die, solange sie in symbolischen Formen entwickelt wurde (bei den frühen Kirchenvätern, in der Schule von Chartres oder bei Bonaventura), der Esoterik nahestand, aber mit dem Erscheinen der Scholastik im 13. Jahrhundert in einen wachsenden Gegensatz zur Esoterik trat.
Studium der westlichen Esoterik heißt nach Faivre zunächst, die gleichzeitige Präsenz der sechs genannten Komponenten in Werken und Diskursen zu identifizieren. Sie können sehr ungleich gewichtet sein. Sie sind aber ebenso gut in der Musik, in der Kunst und in der Literatur zu finden.
Fragen an Faivre
Halten wir hier einen Augenblick inne und fragen uns, ob diese methodischen Umrisse einer Esoterikforschung hinreichend durchdacht sind. Vor allem Faivres Vorschlag, Esoterik als »Denkform« aufzufassen, wirft Fragen auf. Ist Esoterik als Denkform hinreichend beschreibbar, ist sie bloß eine Denkform? Ist sie nicht vielmehr eine Erfahrungsform, eine Form der Selbsterfahrung, der Welt- und Lebenserfahrung, die den Denkformen vorausgeht, durch die sie zum Ausdruck gebracht wird, in denen sie sich niederschlägt? Ist denn Wissenschaft oder Theologie auch bloß eine Denkform? Sind sie nicht vielmehr spezifische Erfahrungsformen, die sich in bestimmten Ideensystemen niederschlagen, die als Denkformen beschrieben werden können? Die Theologie als religiöse Erfahrungsform, die in theologischen Begriffssystemen formuliert wird, die Wissenschaft als empirische Erfahrungsform, selbst die Utopie als Erfahrungsform, in der das menschliche Erleben vor allem auf die Zukunft bezogen ist und seine Erwartungen gegenüber der Zukunft in entsprechenden Gedankenformen zum Ausdruck bringt?
Wenn man die einzelnen Komponenten betrachtet, die das Wesen der esoterischen Denkform ausmachen sollen, wird dies noch deutlicher. Die Idee der Interdependenz, der Korrespondenz zwischen natürlichen und geistigen Dingen, zwischen den Offenbarungen einer heiligen Schrift und der Natur oder der Geschichte: liegt ihr nicht eine spezifische Erfahrung zugrunde, eine Erfahrung der Natur, eine Erfahrung an der Geschichte, an heiligen Texten, die in hieratische Gesellschaften eingebettet sind, die erst zu bestimmten begrifflichen Ausformungen dieser Erfahrungen führen? Ginge die erlebte Überzeugung, aus bestimmten Offenbarungstexten lasse sich ein Aufschluss über den Verlauf der Geschichte gewinnen, dem Umgang mit diesen Texten nicht voraus, würden sie nie so interpretiert. Erlebte man nicht die Gesten der Naturwesen, die Sprache ihrer Formen als Offenbarung eines über sie hinausweisenden spirituellen Gehaltes, käme man jemals auf die Idee, in ihnen den Ausdruck eines Schöpfungswortes zu sehen? Denkformen sind der Niederschlag von Erfahrungen, nicht umgekehrt. Ebenso verhält es sich auch mit den anderen Komponenten. Wie käme man auf die Idee, die Natur als eine lebendige Einheit, als Lebewesen zu betrachten, wenn man sie nicht vorgängig als solche erlebt hätte? Läge dieser Idee keine solche Erfahrung zugrunde, wäre die Idee selbst ein bloßes Konstrukt, eine Illusion, die jeder Grundlage entbehrte. Erst recht gilt dies natürlich für die »subjektive« Seite, auf die sich die Begriffe Imagination, Mediation, Erfahrung der Wandlung (Transmutation) beziehen. Würde die Imagination nicht erlebt und als Fähigkeit praktiziert, wie könnte man sie ausdenken? Ohne die konkrete Erfahrung einer bildschaffenden Phantasie, die schöpferisch symbolische Zusammenhänge erzeugt und erschließt, schwebte die Idee einer solchen Phantasie völlig in der Luft. Schließlich: wo kommt die Vorstellung einer grundlegenden Wandlung der Seele her, wenn eine solche Wandlung nicht erfahrbar ist? Faivre selbst spricht ja davon, dass jede Esoterik, die nicht dieses Ziel der Wandlung einschließt oder zu ihr hinführt, eine »spekulative Spiritualität« wäre.
Den Formen des Denkens liegen Erfahrungen zugrunde, diese wiederum sind in Bewusstseinsformen begründet. Ein esoterisches Bewusstsein ist ein Bewusstsein, das über bestimmte Erfahrungen verfügt, ein wissenschaftliches oder theologisches Bewusstsein ebenso. Die religiöse Erfahrung geht der Theologie voraus, die utopische Erfahrung der Utopie, die empirische Erfahrung der empirischen Wissenschaft als methodologischem Gebäude.
Diese Unterscheidung zwischen Denkform und Erfahrungsform ist von grundlegender Bedeutung: entscheidet sie doch darüber, ob in der Esoterik ein bloßes Sprachspiel gesehen wird, oder etwas, das in der Beschaffenheit der Wirklichkeit begründet ist. Wäre das erstere der Fall, könnte man sich damit begnügen, die Geschichte der esoterischen Diskurse zu erforschen, und zu beschreiben, wie bestimmte gedankliche Motive sich durch die Jahrhunderte hindurch bewegen, von Autor zu Autor hier oder dort modifiziert oder erweitert werden, verschwinden und wieder auftauchen. Letztlich beschäftigt man sich aber nie mit etwas anderem, als mit Abstraktionen. Bestenfalls betreibt man Ideengeschichte. Blickt man hingegen auf die den Ideenformen zugrunde liegenden Erlebnisse, gewinnt man Einblick in spezifische Formen der Welt- und Selbsterfahrung und über diese erschließt sich wiederum die Geschichte des menschlichen Bewusstseins. Esoterikgeschichte ist in Wahrheit Bewusstseinsgeschichte.
Die Bedeutung der Empirie in der Esoterikforschung
Faivre ergänzt seine Überlegungen zu den sechs Komponenten der esoterischen Denkform um einen Abschnitt über Empirie. Was versteht er darunter? Findet sich in dieser Ergänzung vielleicht eine Antwort auf die zuvor gestellten Fragen?
Die sechs Komponenten, so Faivre, sind keine dogmatischen Festlegungen, sie sind empfänglich für die unterschiedlichsten Inhalte. So findet man hierarchische Weltsichten wie im Neuplatonismus, in denen das Hohe über dem Niederen steht, oder nicht-hierarchische wie in der Hermetik, in denen Gott in jedem Staubkorn gegenwärtig ist. Auch Transformation kann sehr unterschiedlich verstanden werden, je nachdem, ob ein Esoteriker an die Existenz spiritueller Leiber glaubt oder nicht. Eine Theosophie kann emanatistisch oder kreationistisch sein. Sie kann die Idee der Reinkarnation akzeptieren oder verwerfen, ohne dass dadurch ihr esoterischer Charakter verloren ginge. Es geht weniger darum, zu glauben, als zu wissen oder zu sehen. Die Frage ist hier natürlich: ist es beliebig, was gesehen wird – gibt es möglicherweise gar nichts, was gesehen wird, sondern ist alles Gesehene letztlich nur ein subjektives Konstrukt des Sehenden?
Für Faivre jedenfalls bietet die Arbeit mit den sechs Komponenten den Vorteil, dass sich die Esoterikforschung nicht auf bestimmte Glaubensinhalte oder Überzeugungen festlegen muss, sondern untersuchen kann, wie sie sich jeweils mit unterschiedlichen, konkreten Inhalten anfüllen.
Darüber hinaus erlauben die Komponenten auch eine Abgrenzung des Forschungsgebietes. Diese Abgrenzung bleibt fließend, offen gegen andere Disziplinen, wie Literatur, Kunst, Politik und Ideengeschichte. Jede Transdisziplinarität setzt einerseits klare Grenzbestimmungen voraus, andererseits Offenheit für Grenzüberschreitungen.
Deswegen spricht sich Faivre auch gegen einen »universellen« Begriff von Esoterik aus. Zwar mag es so etwas wie Esoterik im alten Ägypten, im fernen Osten oder in indianischen Kulturen geben, aber es erscheint ihm methodisch sinnvoller, den Geltungsbereich dieses Begriffs auf das westliche Abendland zu begrenzen. Das Material, auf das sich ein solcher Begriff bezieht, ist schon hinreichend vielfältig und schwer zu durchdringen. Die Eingrenzung des Geltungsbereichs schützt auch vor Anachronismen wie dem, im Hinblick auf das alte Ägypten von Esoterik zu sprechen. Denn in Wahrheit hat man es laut Faivre mit einer bestimmten Form von Religiosität zu tun, die mit anderen Religionsformen verwandt ist, aber nicht mit einer Form von Esoterik. Der Esoterikforschung liege es näher, die abendländische Ägyptomanie oder Ägyptophilie zu untersuchen, die viele Esoteriker befallen habe, denn die einzige Form ägyptischer Esoterik sei die, die die modernen Esoteriker in das alte Ägypten hineinprojizierten. Auch hier wiederum ist es laut Faivre nicht die Aufgabe des Esoterikforschers, zu ergründen, ob die Vorstellungen, die über das alte Ägypten gebildet wurden, der Wahrheit entsprechen, sondern wie diese Vorstellungen entstanden sind und welches die Geschichte ihrer Rezeption und Wandlung im Lauf der Jahrhunderte ist.
Die Begrenzung des Forschungsgebietes führt auch dazu, dass Phänomene wie das New Age nicht von der Esoterikforschung bearbeitet werden müssen, sondern der Religionsgeschichte überlassen bleiben können, die das New Age unter dem Titel »Neue religiöse Bewegungen« abhandelt. (Hierzu hat Wouter J. Hanegraaff einen wesentlichen Beitrag geleistet, der jedoch inzwischen Esoterikforschung betreibt). Dasselbe gilt für Parapsychologie und die Hexenbewegung, die zwar mit modernen esoterischen Strömungen in Beziehung stehen, aber der Esoterik nicht eigentlich zugehören. Auch nicht jede Form der Freimaurerei sei der Geschichte der Esoterik zuzurechnen.
Ein weiterer Vorteil der Arbeit mit den sechs Komponenten besteht nach Faivre darin, dass sie eine Abgrenzung gegen Esoteriker erlauben, die den Anspruch erheben, die einzig wahre Form von Esoterik zu vertreten. Vor allem Traditionalisten hängen einer Auffassung von Esoterik an, deren Kern in einer primordialen Tradition, einer ursprünglichen Form des Heiligen bestehen soll, von der alle späteren lediglich Abwandlungen sind, was im Endeffekt dazu führen würde, dass der Gegenstand der Esoterikforschung nicht mehr von dem der Religionsgeschichte unterscheidbar wäre.
Dennoch sind solche Strömungen wie der Neo-Guéononismus, der Traditionalismus oder die Schule Frithjof Schuons aus Faivres Sicht intellektuell respektabel, was man von manch anderen Bewegungen nicht behaupten könne, die sich das Etikett esoterisch zulegten. Heutzutage, so Faivre, lasse sich mitunter eine Entstellung oder Pervertierung der bedeutendsten Erbschaften der Menschheitsgeschichte beobachten, wenn Karikaturen der Esoterik von Anhängern oder paranoiden Gegnern gezeichnet würden.
Schließlich rät Faivre dazu, den Begriff »Esoterik« mit Bedacht zu gebrauchen. Er trage keinen spirituellen oder semantischen Wert in sich. »Esoterik« sollte eine Denkart bezeichnen, einen Stil der Ideenbildung, die sich einer Vielfalt von Inhalten zuwenden kann, um ihnen ihre spezifische Färbung zu geben.
Fazit
Faivres Überlegungen zum Thema Empirie sind nicht unbedingt das, was der Leser erwartet. Die Frage hätte hier interessiert, wie er das Verhältnis des Esoterikforschers zu seinem Gegenstand, der Esoterik sieht, was den Esoterikforscher vom Esoteriker unterscheidet – ob es möglicherweise gerade dieser Aspekt ist, Esoterik nicht als Erfahrung, sondern lediglich als Diskursform zu betrachten. Auch andere Esoterikforscher haben diese Unbestimmtheit Faivres – die Ausklammerung der Frage nach der Erfahrbarkeit esoterischer Wahrheit – als unbefriedigend empfunden. Arthur Versluis, einer der führenden amerikanischen Esoterikfoscher, hat in einem längeren Essay 2002 und 2003 versucht, eine alternative Methodologie zu formulieren, die in einem anderen Beitrag untersucht wird.
Faivres Buch findet man hier: Access to Western Esotericism (Suny Series, Western Esoteric Traditions).
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