Wissenschaft und Esoterik XVII – Der Irrtum der Geschichte – »Okkultismus«

Zuletzt aktualisiert am 15. Juni 2013.

Okkulte Qualitäten: Mücke im Bernstein

3. Verdorbene Begriffe: das Okkulte

Schon der Fall der Astrologie hat gezeigt, dass etwas, was einst als rational und wissenschaftlich galt, nicht aus wissenschaftlichen, sondern aus theologischen Gründen dem Aberglauben zugeordnet werden konnte. Am Begriff des »Okkulten« lässt sich zeigen, dass dieselbe Zensur, die einst von der Kirche oder Theologie ausgeübt wurde, im Verlauf des 17. und 18. Jahrhunderts von der Wissenschaft auszugehen begann.

Am Anfang der Geschichte des Okkulten stand die Überzeugung, es gebe verborgene Kräfte in der Natur, die nicht erklärbar und deshalb mysteriös seien. Für uns haben der Magnet, die Schwerkraft oder die Fähigkeit des Willens, den Körper zu bewegen, scheinbar ihren mysteriösen Charakter verloren, aber noch David Hume vertrat die Ansicht, die Begriffe der »Kraft«, der »Energie« oder des »notwendigen Zusammenhangs« seien mysteriöser als alle anderen. Aus den griechischen Begriffen von »dynamis« (verborgene Kraft) und »energeia« (offenbar werdende, wirkende Kraft), »sympatheia« und »antipatheia« und den »idiotetes arretoi« (entwickelte sich in der Scholastik der lateinische Begriff der »okkulten Qualitäten« (verborgenen Eigenschaften) von Naturgegenständen, der eng mit den substantiellen Formen zusammenhing, jenen ideellen Formen, die dem Stoff der sinnlichen Wahrnehmungswelt seine Eigenschaften geben.

Der Begriff der okkulten Eigenschaften besitzt, wie die neuere Forschung gezeigt hat, für die Geschichte der Wissenschaften eine zentrale Bedeutung. Die an Aristoteles anschließende Naturphilosophie des Mittelalters unterschied zwischen den wahrnehmbaren und unwahrnehmbaren Eigenschaften der Dinge. Viele Naturphänomene, wie magnetische oder elektrostatische Anziehung, die Heilkraft der Pflanzen oder Mineralien, die Einflüsse von Sonne und Mond, konnten mit Hilfe der Lehre von den vier Elementen nicht hinreichend erklärt werden. Ihre unmittelbaren Ursachen waren deswegen verborgen, »okkult«, nicht nur, weil sie nicht wahrnehmbar waren, sondern weil sie sich einer rationalen Erklärung entzogen. Der Grund lag darin, dass sie nur aus ihren Wirkungen erschlossen und nicht direkt beobachtet werden konnten. Dadurch wurden sie für die Scholastik zu einer »black box«, einem notwendigen Bestandteil der theoretischen Begrifflichkeit, der zugleich daran erinnerte, dass Gott der Neugier des Menschen Grenzen gesetzt hatte.

Die »okkulten Qualitäten« spielten eine Hauptrolle bei der Herauslösung der alten Wissenschaften aus dem Gebiet des Aberglaubens und ihrer Legitimierung als natürliche Magie. Sie schienen überzeugend zu erklären, dass viele Naturerscheinungen, die die Ungebildeten für Wirkungen übersinnlicher Kräfte hielten, rein natürlich erklärbar waren. Entgegen dem heutigen Verständnis von »okkult«, waren die okkulten Qualitäten ursprünglich ein Instrument zur Entzauberung der Welt, das der Theologie den Bereich des Wunderbaren entzog und ihn der wissenschaftlichen Forschung zugänglich machte. Theologische Kritiker witterten darin ein trojanisches Pferd, konnte man doch auch Einflüsse der Sterne als okkulte Qualitäten definieren oder solche wundersamen Phänomene wie den bösen Blick, Missgeburten, die angeblich auf Eindrücke der Einbildungskraft zurückgingen oder Fernheilung. Dank der okkulten Qualitäten wurden all diese Phänomene zu legitimen Gegenständen wissenschaftlicher Forschung, mit denen sich die Wissenschaft in der Frühmoderne extensiv und intensiv beschäftigte.

Aus diesen Entwicklungen erklärt sich die Entstehung des Begriffs der »okkulten Philosophie« oder der »okkulten Wissenschaften« nahezu von selbst. In der Renaissance wurde die Idee der »magia naturalis« zu einer religiös aufgeladenen »prisca magia«, einer Art Uroffenbarung der Magie erweitert. Christliche Kabbalisten führten das Geheimnis und die Geheimhaltung in den Diskurs über die alte Weisheit ein. Es ist kein Zufall, dass Agrippa von Nettesheim eine »okkulte Philosophie« verfasste, die das geheime Wissen der Alten der christlichen Welt zugänglich machen wollte. Pico della Mirandola verhalf auch dem Denken in Korrespondenzen zu neuem Ansehen, das alle Gebiete der Welt in geheimen, nicht-kausalen Beziehungen sieht. Es war laut Hanegraaff nahezu unausweichlich, dass die Idee verborgener Kräfte, die geheim in der Natur wirken, mit der Idee der »magia naturalis« zusammenfloss und so erweitert wurde, dass die einstige »black box« der Scholastik zum »bevorzugten Schrein des göttlichen Geheimnisses in der Welt« wurde.

Diese Transformation der Begriffe führte zu einer »Wiederverzauberung« der »magia naturalis«. Der von der Scholastik technisch verstandene Begriff des »Okkulten« näherte sich allmählich seiner heutigen Bedeutung an. Deutlich zeigt sich dies an einem weitgehend unbekannten, aber repräsentativen Autor des 16. Jahrhunderts, der unter anderem Werke über Kryptographie verfasste (Blaise de Vigenère). Solange er über dieses Thema schrieb, verwendete er »okkult« im lexikalischen Sinn von »verborgen«. Aber er sprach auch von den okkulten Qualitäten, von den »am meisten okkulten und intimsten Geheimnissen der Natur«. Er war vermutlich der erste Autor, der im Hinblick auf diese Geheimnisse der Natur auch von »okkulten Wissenschaften« sprach. Er tat dies im Kontext einer Erzählung über die alte Weisheit und beeinflusst von Agrippa. In diesem Zusammenhang bedeutete »okkult« religiöse Geheimnisse, die vor den Uneingeweihten verborgen, aber den Weisen als höheres Wissen offenbart werden. Kabbala, Magie und Alchemie werden von ihm als drei »okkulte und geheime Wissenschaften« bezeichnet, die zu den drei Welten Agrippas in Beziehung standen: die Alchemie zur sublunaren Welt der Elemente, die Magie zur Planetenwelt und die Kabbala zur Fixsternwelt.

Der Begriff der »okkulten Wissenschaften« entstand im Renaissance-Diskurs über die alte Weisheit. Er war nicht nur ein Notbehelf, um eine Vielzahl unterschiedlicher Wissenstraditionen unter einen Begriff zu bringen, sondern zielte von Anfang an auf eine geheime Einheit, die nach damaliger Auffassung auf die alte Weisheit des Hermes Trismegistos zurückging. Magie, Astrologie, Kabbala und Alchemie sollten auf einer tieferen Ebene zusammenhängen, weil sie Ausdruck eines verborgenen allgemeingültigen Wissens über die wahre Beschaffenheit der Welt waren. Manche meinten sogar, die Disziplinen des okkulten Wissens gingen auf Adam zurück. Er habe sie in Hieroglyphenschrift auf steinerne Tafeln geschrieben, die bei der Sintflut verloren gingen. Eine dieser Tafeln mit dem astronomischen Wissen habe Noah nach der Flut wiedergefunden, andere fanden später andere Tafeln. Im Lauf der Zeit spaltete sich also das ursprüngliche Wissen auf und einzelne Menschen eigneten sich Teilkenntnisse davon an: manche wurden Alchemisten, andere Astronomen, andere Magier, andere wiederum Kabbalisten. Aber ursprünglich stammte alles Wissen aus einer Quelle.

So wurden die okkulten Disziplinen zunehmend als Alternative zum gewöhnlichen Wissen betrachtet: während dieses sich an der Oberfläche der Dinge entlang bewegte, drangen sie in das eigentliche Wesen der Natur und des Kosmos ein. Den Gegnern der okkulten Wissenschaften kam dieser Gedanke der Einheit entgegen, weil sie auf diese Weise die verfemten Wissensformen in Bausch und Bogen verwerfen konnten. Auch die heutige Verwendung des Begriffs »okkulte Wissenschaften« verweist als Sammelbegriff für die einzelnen Disziplinen noch auf das Renaissance-Projekt der okkulten Philosophie. Aber wenn die heutige Forschung von »okkult« spricht, erhebt sich die Frage, was damit gemeint ist. Erstaunlicherweise haben sich, so Hanegraaff, nur wenige Historiker mit dieser Frage auseinandergesetzt. In der Regel wird der Begriff unreflektiert verwendet und die Annahme, sie bildeten eine Einheit, impliziert, dass sie das irrationale und abergläubische Gegenbild von Vernunft und Wissenschaft sind. Am deutlichsten brachte dies Brian Vickers 1988 zum Ausdruck. Für ihn beruhen alle Disziplinen des okkulten Wissens auf der Unterscheidung zwischen sichtbaren und unsichtbaren Welten und benutzen Symbole, Analogien und Korrespondenzen, um offenkundig Unzusammenhängendes in Zusammenhang zu bringen. Sie seien von den Griechen als System aus dem Orient importiert und in der Zeit des Hellenismus »kodifiziert« worden. Danach hätten sie unverändert bis in die Gegenwart existiert. Vickers hält diese Resistenz gegen Veränderung für das Hauptmerkmal der okkulten Tradition – und sie ist für ihn ein Zeichen ihrer Unwissenschaftlichkeit. Vickers entgeht jedoch laut Hanegraaff, dass der Gedanke dieser Einheit erst in der Renaissance entstanden ist. Aber entscheidend ist, dass er das Okkulte ohnehin nicht als historisches Phänomen gelten lässt, sondern als Ausdruck einer anthropologischen Konstante betrachtet. Die Homogenität und Widerstandsfähigkeit gegen den Wandel sei Ausdruck einer Mentalität, die sich auch bei nicht-schriftlichen Kulturen finde. Die okkulten Wissenschaften gründen laut Vickers nicht in Experimenten, ja nicht einmal in Ideen, sondern in gewissen vorrationalen Mentalitäten, die auch den »Primitiven« eigen seien. Deswegen veränderten sie sich im Gegensatz zu den Wissenschaften auch nicht. Vickers Theorie ist eine Variation des Erklärungstypus, der auf Lévy-Bruhl zurückgeht, der die Magie aus dem Gegensatz von Partizipation und Kausalität ableitete. Im Unterschied zur Kausalität der rationalen Wissenschaften sollen die okkulten Disziplinen allesamt in einer »Verdinglichung von Symbolen und Analogien« wurzeln, in der Neigung des Menschen also, seine Vorstellungen in die reale Welt zu projizieren und Zeichen mit dem Bezeichneten zu verwechseln. Die Folge ist, dass Vickers jeden Einfluss der okkulten Wissenschaften auf die realen Wissenschaften für denkunmöglich erklärt, im Gegenteil, wirkliche Wissenschaft beruhe gerade auf der Überwindung des okkulten Symbolismus.

Aber neuere Historiker haben diese Erzählung vom Gegensatz zwischen Magie und Wissenschaft inzwischen einer fundamentalen Kritik unterzogen. Sie halten sie für anachronistisch und unhistorisch. Sie weisen darauf hin, dass das Renaissance-Konzept von der Einheit der okkulten Philosophie die Forschung blind gemacht hat für die relative Selbstständigkeit der einzelnen Disziplinen und dass diese Disziplinen keineswegs unveränderlich waren, sondern sich im Lauf der Geschichte in erheblichem Ausmaß gewandelt haben. Im Gegensatz zum verbreiteten Vorurteil, die okkulten Wissenschaften beruhten auf primitivem Denken, auf Begriffsverwirrung und Projektionen und seien insgesamt »vorwissenschaftlich« oder »pseudowissenschaftlich«, weisen diese Historiker darauf hin, dass jede einzelne dieser Disziplinen rationale Modelle der Kausalität entwickelte, auf einem empirischen Studium der Natur beruhte und zur Geschichte der heutigen Wissenschaften wesentliche Beiträge lieferte.

Schließlich ist die Theorie, »die« Magie oder »der« Okkultismus beruhten auf einer Verdinglichung von Ideen, ironischerweise selbst eine Verdinglichung von Ideen. Aus denselben Gründen wie der Begriff der Magie muss daher auch der Begriff der »okkulten Wissenschaften« als Forschungsinstrument verworfen werden. Er wirft eine Fülle unterschiedlicher historischer Phänomene in einen Topf und hindert die Forschung daran, diese Phänomene in ihrer komplexen historischen Entwicklung zu untersuchen. Er unterstellt, die betreffenden Disziplinen hätten sich nicht für empirische Beobachtung und Experimente interessiert und das Kausalprinzip abgelehnt, weil sie in einem vor-rationalen, primitiven Denken befangen gewesen seien, das sie für das genuine Anliegen der Wissenschaft unempfänglich machte. Indem man von »okkulten Wissenschaften« spricht, schließt man diese, trotz aller gegenteiligen historischen Befunde, aus der Geschichte der Wissenschaften aus.

Wenn Vickers »Verdinglichung von Analogien« als Erklärung der okkulten Wissenschaften verworfen werden muss, was haben sie dann gemeinsam und wie lassen sie sich verstehen? Trotz aller Kritik zweifelt niemand daran, dass sie in der hellenistischen Kultur verwurzelt sind, die durchdrungen war vom Glauben an verborgene Korrespondenzen und analogischem Denken. Und eben diese Qualitäten erlebten in der Renaissance einen bedeutenden Aufschwung. Auch die neueren Historiker leugnen dies nicht. Die Aufgabe der Historiker besteht aber laut Hanegraaff darin, diese Qualitäten zu analysieren, die man sowohl im vormodernen Denken als auch in jenem der Renaissance findet, und gleichzeitig nicht in die Gewohnheit zu verfallen, sie gegen die Wissenschaft oder die Wissenschaft gegen sie auszuspielen. Diese Aufgabe ist nicht leicht, da das analogische Denken in der Tat Formen annehmen kann, die allen Gesetzen der Logik und des gesunden Menschenverstandes widersprechen. Eine solche Form liegt laut Hanegraaff vor, wenn Namen und Symbole in bestimmten Zweigen der Magie nicht nur als Zeichen für Wesen verstanden werden, sondern als Verkörperungen dieser Wesen. Die elaborierten Tabellen in Agrippas »okkulter Philosophie«, die Zahlen, Talismanbilder und Engelshierarchien miteinander durch Korrespondenzen verknüpfen, hält Hanegraaff für ein Beispiel eines solch überschießenden analogischen Denkens. Auch die Paradoxa in der kabbalistischen Spekulation, die coincidentia oppositorum des Nicolaus von Kues, oder die Neigung des Paracelsus, Mikroskosmos und Makrokosmos vielfach ineinander zu verspiegeln, führt er als Beispiele an. (Über den Realitätsgehalt solcher Analogien kann man natürlich unterschiedlicher Meinung sein).

Aber die genannten »überschießenden« Ideen wurden laut Hanegraaff nicht von »irgendwelchen unbedeutenden Leuten« entwickelt, sondern von außerordentlich gebildeten Denkern. Sie einfach als Beispiele für Irrationalität, primitives Denken und Narrheit zu verwerfen, mache daher keinen Sinn. Die betreffenden Denker können auch nicht als Angehörige einer okkulten Subkultur marginalisiert werden, denn das waren sie nicht. Vielmehr sind sie Repräsentanten von Denktraditionen, die uns heute fremd geworden sind, von Formen des Denkens, die andere Prioritäten setzten, als die heutige Wissenschaft und Philosophie. Es gibt laut Hanegraaff keinen Grund, die frühmodernen Denkformen als »okkult« zu verunglimpfen, außer unsere Ignoranz. Wenn wir diese Denkformen nicht mehr verstehen, dann nur, weil wir die Fähigkeit verloren haben, ihre Sprache zu verstehen.

Fortsetzung

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