Zuletzt aktualisiert am 23. Juli 2024.
Die Rückkehr der Historiker: Von Peuckert und Thorndike zu Frances Yates
Ungeachtet des Niedergangs der esoterischen Diskurse am Ende des 19. Jahrhunderts gab es immer auch Historiker, die in aller Stille ihrem Kerngeschäft nachgingen und Quellen studierten. Während »das Esoterische« in einem Meer von Trivialität versank, beschäftigten sie sich mit Hermetik, Astrologie und Alchemie. Die von Reitzenstein, Bousset und anderen begonnene Arbeit gipfelte in der Publikation von Festugières »La révélation d’ Hermes Trismégiste« Mitte des 20. Jahrhunderts. Daneben befassten sich Historiker am Warburg-Institut mit den esoterischen Traditionen in der Zeit nach der Antike. Diese Arbeit führte schließlich zu den bahnbrechenden Veröffentlichungen von Frances A. Yates. Unabhängig davon leistete ein einzelner, zu Unrecht vergessener deutscher Autor beträchtliche Arbeit: Will-Erich Peuckert. Er war nach Hanegraaff der erste, der den von Colberg und Brucker entwickelten Forschungszugang wieder aufgriff, und versuchte, die vergessene Welt des »hermetisch-platonischen Christentums« aus den Quellen zu rekonstruieren.
In den Autoren der Renaissance sah er die Begründer einer neuen Tradition der »Magie«, und verfolgte diese Tradition im Paracelsismus, der christlichen Theosophie und der Naturphilosophie weiter. Er verfasste eine Reihe von Monografien zu Paracelsus, Sebastian Franck, Jacob Böhme und den Rosenkreuzern, darunter die Bücher »Pansophie«, »Gabalia« und »Das Rosenkreutz«.
Der Konflikt zwischen »heidnischer« Philosophie und biblischem Christentum spielte für Peuckert jedoch keine Rolle. Er interpretierte das Aufkommen der neuen magischen Tradition, insbesondere ihre Fortentwicklung im deutschen Sprachraum, als Folge eines Konfliktes zwischen bäuerlicher Kultur und bürgerlicher Welt. Wie die Romantiker dachte er in Kategorien organischer und teleologischer Kulturentwicklung, historische Epochen betrachtete er wie Lebewesen, die danach streben, ihre inneren Anlagen zur Entfaltung zu bringen. Die magische Weltsicht sah er in der bäuerlichen Lebenswelt des Mittelalters verwurzelt, aber anstatt dass diese bei der Heraufkunft der neuen bürgerlichen Welt verschwand, begann sie zu Beginn der Moderne erst richtig aufzublühen.
Für die dabei entstehende spirituelle Weltsicht prägte er den Namen »Pansophie«. Sie nahm seiner Auffassung nach ihren Ausgang in der Renaissance und entwickelte sich zur vollen Reife in Deutschland in der Naturphilosophie des Paracelsus und der christlichen Theosophie Jacob Böhmes und lebte bis ins 18. Jahrhundert fort. In Goethes »Faust« sah Peuckert ihren archetypischen Ausdruck. Die Pansophie war für ihn eine spezifisch deutsche Schöpfung, sie entfaltete die von Plato beschriebenen zwei Flügel der Seele, den Flügel des Denkens, das die Geheimnisse der Natur ergründet und den Flügel der mystischen Kontemplation, die sich zu einer unmittelbaren Erkenntnis des Göttlichen emporschwingt. Im deutschen Sprachraum wurden aus den beiden Flügeln zwei Lichter: das Licht der Natur und das Licht der Gnade und zwei Bücher, das Buch der Natur und das Heilige Buch, die Bibel. Wie ein roter Faden zieht sich diese Unterscheidung zweier Erkenntniswege durch Peuckerts Schriften und dient als Leitfaden zur Anordnung einer Fülle historischen Materials. Trotz der unbestritten wissenschaftlichen Qualität seiner Arbeiten wurden diese so gut wie ignoriert. Dieser Rezeptionsmangel ist nach Hanegraaff auf die Tabuisierung der esoterischen Forschungsgebiete nach dem II. Weltkrieg in Deutschland zurückzuführen. Obwohl der Volkskundler Peuckert durch das NS-Regime nicht korrumpiert worden war, das ihm bereits 1935 die Lehrerlaubnis entzogen hatte, beschäftigte er sich mit Themen, die mit dem Vorwurf des Irrationalismus belastet waren. Der Rationalismus hatte aus der Sicht der progressiven Intellektuellen die Esoterik »überwunden« und das »völkische« Denken die Volkskunde vollständig kontaminiert. Alles, was auch nur im entferntesten in diese Richtung wies, wurde einem postulierten »Urfaschismus« zugeordnet. Was zu einer genuinen Tradition wissenschaftlicher Esoterikforschung hätte werden können, war aufgrund gesellschaftlicher Ächtung eine Totgeburt.
Etwas anders, wenn auch nicht unbedingt besser erging es dem amerikanischen Historiker Lynn Thorndike, dessen Lebenswerk die achtbändige »Geschichte der Magie und der Experimentalwissenschaften« war, die von 1923 bis 1958 erschien. Dieses nahezu erschöpfende enzyklopädische Werk beruhte auf gründlicher, gewissenhafter Archivarbeit und auch wenn manches darin überholt ist, besitzt es doch einen bleibenden Wert. Aber die Reaktion auf Thorndike war symptomatisch. Schon 1924, beim Erscheinen der ersten beiden Bände, erteilte der Doyen der amerikanischen Wissenschaftsgeschichte, George Sarton, ihm in einer hochemotionalen Attacke eine vernichtende Abfuhr, die mehr über die kollektiven Vorurteile aussagte, in denen Sarton befangen war, als über die Qualität des Werkes.
Die Rezension ist laut Hanegraaff ein Paradebeispiel für die Reifizierung der begrifflichen Kategorien »Magie« und »Wissenschaft«, deren absolute Unvereinbarkeit behauptet wurde. Während Sarton in der Wissenschaft ein fortschreitendes Unternehmen der Wissensakkumulation sah, das auf Rationalität und Skepsis beruht, hielt er die Magie für vollkommen irrational und statisch. Von einer »Geschichte der Magie« zu sprechen, sei deshalb ein Widerspruch in sich. Man könne höchstens eine Geschichte des Krieges zwischen Wissenschaft und Magie schreiben, aber Thorndike tue genau das Gegenteil. Er behaupte, der Magier sei der Vorfahre des modernen Wissenschaftlers, Vernunft die Frucht der Unvernunft und Wahrheit die Frucht von Aberglauben und Okkultismus.
Und in der Tat war Thorndike Pionier einer neuen, unparteiischen Form der Geschichtsschreibung, welche die von Sarton beschworene Urdualität aufweichte und schließlich im Verlauf der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu ihrem Untergang führen sollte.
Die durch Thorndike angestoßene Revolution bestand in Folgendem. Er sah zwischen Magie und Wissenschaft keine antithetische, sondern eine konstruktive Beziehung, die Magie war ein der Entwicklung fähiges historisches Phänomen, das von Wissenschaftshistorikern Ernst genommen werden musste. Die Unterscheidung zwischen Magie und Experimentalwissenschaft wurde um so fragwürdiger, je genauer man hinsah. Die Folge war, dass Wissenschaftshistoriker die Magie nicht nur Ernst nehmen, sondern auch zu Historikern der Magie werden mussten. Das Mittelalter erschien nicht mehr als dunkles Zeitalter, sondern als Epoche, in der sich die Wissenschaften weiter entwickelt hatten. Je mehr das Mittelalter als Zeitalter der Experimentalwissenschaft erschien, umso deutlicher wurde auch, dass die Magie in der Neuzeit weiter existierte und dass viele »Helden« des wissenschaftlichen Fortschritts ihr zutiefst verbunden waren.
Thorndike war kein Parteigänger der modernen Wissenschaft, sondern ein an Kontext und Komplexität interessierter Historiker. Er wollte nicht die Moderne und den Fortschritt gegen das Gespenst des Irrationalismus verteidigen, sondern die Vergangenheit gewissenhaft beschreiben. Diese methodischen Grundsätze führten ihn zu einem für Historiker typischen Relativismus, der Sarton zutiefst beunruhigte.
Während Peuckert und Thorndike die Magie noch als ein Überbleibsel der Geschichte betrachteten, änderte sich dies schlagartig mit den Publikationen von Frances A. Yates ab den 1960er Jahren. Sie vertrat genau jene Ideen, die Sarton noch als Gefahr erschienen waren: dass der Magier der Vorfahr des heutigen Wissenschaftlers und die Vernunft ein Kind der Unvernunft sei. Zwar sah sie das Mittelalter immer noch als dunkle Zeit, aber statt ihm die Magie und der Renaissance die Wissenschaft zuzuordnen, sah sie in der Magie sowohl rückwärts als auch vorwärts gewandte Elemente. Ja, sie hielt die Magie sogar für den Schlüssel zum Verständnis der Renaissance. Der dunklen, schmutzigen Form der Magie des Mittelalters stellte sie die neue, lichte, vernunfterfüllte Magie der Renaissance gegenüber, welche ihrer Auffassung nach die italienischen Humanisten vertreten hatten. Die Magie war mit einem Mal eine eigenständige intellektuelle Tradition voller Innovationskraft, die möglicherweise zur modernen Wissenschaft führte. Zwar hielt sie immer noch am Gegensatz zwischen beiden fest, aber in Wahrheit untergrub ihre Forschung diese Dualität. Ihre Arbeit zerstörte die Grundbegriffe, die bisher für die historische Forschung wegleitend gewesen waren und zwang die Historiker dazu, die Standarderzählungen von der Entstehung der modernen Wissenschaft neu zu schreiben.
Yates arbeitete seit 1936 am Warburg-Institut in London, dessen Mitarbeiter Saxl, Panofsky, Cassirer, Klibansky und Wind schon länger die Geschichte der Bilder und Symbole in die allgemeine Geschichte zu integrieren versuchten. »Giordano Bruno und die Hermetische Tradition« war das erste ihrer einflussreichen Bücher (1964), durch die sie das sogenannte Yates-Paradigma etablierte. Ein Teil ihres Erfolges erklärt sich aus ihrem Stil, der Staunen und Begeisterung weckt und sie selbst als Außenseiterin erscheinen lässt, die grundlegende Annahmen der herrschenden Lehre in Frage stellt. Diese Haltung traf den Zeitgeist der 1960er Jahre, und brachte die Gefühlslage einer sich damals entwickelnden Gegenkultur zum Ausdruck.
Das Yates-Paradigma behauptete, es habe eine hermetische Tradition gegeben, und diese sei eine bisher vernachlässigte Dimension der modernen Geistes- und Kulturgeschichte. Diese Tradition sei lebendig, vielschichtig und folgte ihren eigenen Gesetzen. Sie sei eine Tradition, die von Magie, persönlicher Erfahrung und der Macht der Imagination beherrscht war, die eine verzauberte, ganzheitliche Weltsicht vertrat, die Natur als Lebewesen betrachtete, das von geistigen Energien erfüllt ist und dem Menschen eine zentrale, optimistisch gedeutete Rolle in der Welt zuwies. Sie erschien wie eine tief in der europäischen Geschichte verwurzelte Gegenkultur, die mit jener verwandt war, nach der die 68er-Generation sich sehnte.
Die Erzählung von Yates entbehrte auch nicht der Tragik: Bruno starb auf dem Scheiterhaufen, die rosenkreuzerischen Hoffnungen gingen im 30-jährigen Krieg unter, und Casaubon versetzte dem Fundament der Hermetik den Todesstoß. Aber den Lesern der 1960er- und 70er Jahre erschien es so, als habe die magische und verzauberte Weltsicht der Renaissance eine Schlacht gegen das kirchliche und wissenschaftliche Establishment verloren, aber nicht den Krieg, den diese Leser selbst fortzusetzen gewillt waren. Yates demaskierte die gängigen Erzählungen über den wissenschaftlichen Fortschritt als ideologische Konstrukte und setzte eine bessere Erzählung von der Wiederverzauberung der Welt dagegen.
Aber dieses Paradigma hielt der historischen Kritik doch nicht stand. Die von Yates beschriebene hermetische Tradition hatte – in der Form wie sie von ihr geschildert wurde – nie existiert. Hermes Trismegistos war nur einer von vielen alten Weisen das Diskurses über alte Weisheit und er war nicht einmal der wichtigste. Plethon und Ficino sprachen vielmehr von einer Tradition des Zoroaster. Und der einzige, der explizit an eine hermetische Tradition glaubte, Lodovico Lazzarelli wurde von Yates aus ihrer Geschichte hinausgeschrieben, weil er nicht zu ihr passte. Zwar ist die Rezeption der Hermetika in der Renaissance wichtig für das Verständnis der letzteren, aber diese Rezeption begründete keine hermetische Tradition. Zudem hatte Yates behauptet, die hermetische Tradition sei durch und durch magisch gewesen und habe den Menschen dazu aufgefordert, die Welt zu verändern. Das Fatale ist nur, dass das »Corpus Hermeticum« praktisch keinen Text enthält, der explizit magisch ist. Daher berief sich Yates auch nicht auf die von Ficino übersetzte Textsammlung, sondern auf den sogenannten Asklepios, der allerdings schon das ganze Mittelalter hindurch bekannt. Die damit in Verbindung stehenden magischen Motive waren für die Renaissance nicht neu und was für diese neu war, war nicht magisch. Zwar kommt der Magie für die Renaissance zweifellos eine große Bedeutung zu, aber es hat laut Hanegraaff keinen Sinn, diese Magie als »hermetisch« zu bezeichnen. Daher muss das Yates-Paradigma, die Erzählung von der hermetischen Tradition, verabschiedet werden. Sie wird der Komplexität der Quellen nicht gerecht und lässt ein falsches Bild entstehen. Besonders problematisch ist die Gegenüberstellung des finsteren Mittelalters und eines Zeitalters des Lichtes, das mit der Renaissance angebrochen sei, die Verdinglichung der Hermetik als eigenständiger Tradition, die magische Natur dieser Hermetik und ihre angebliche Deutung des Menschen als autonomer Gestalter der Welt.
Der von Yates entwickelte Begriff der Hermetik dominierte die wissenschaftliche Diskussion bis in die 1990er Jahre. Erst unter dem Einfluss von Antoine Faivre begann sich dies zu ändern.
Fortsetzung:
Wissenschaft und Esoterik XXVI – Antoine Faivre, Henry Corbin und die Esoterikforschung
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