Ausgewählte Aufsätze Rudolf Steiners

Einen »Garten der Reife« nennen alte Weise den Ort, den der Mensch betritt, wenn die Geheimnisse der Welt ihm offenbar werden. Keine Blume sei in dem Garten, die nicht ihre Frucht, kein Ei, das nicht das in ihm keimende Leben gereift hätte. Aber als dunkel und gefahrvoll werden zugleich die Pfade geschildert, die zur »engen Türe« führen, durch die dieser Garten abgeschlossen ist. Zugleich wird versichert, das Dunkel werde heller als die Sonne, die Gefahren machtlos gegen die in der Seele schwellenden Kräfte für den, welchem ein Myste, ein »Eingeweihter« mit sorgender Hand diese Pfade weist. Als kindliche Vorstellungen einer Zeit, in der man nichts ahnte von den Wissenschaften unserer Tage, wird solches beiseite geschoben von dem »Aufgeklärten«, der unterscheiden zu können vermeint zwischen den Wahngebilden »tastender Einbildungskraft« und den nüchternen Einsichten eines »wissenschaftlich geschulten« Verstandes. Und wer dennoch heute von solchen Vorstellungen spricht, der darf sicher sein, dass er bei vielen seiner Zeitgenossen, wenn nicht auf ein hochmütiges, so doch wenigstens auf ein mitleidiges Lächeln stößt.

Rudolf Steiner in »Einweihung und Mysterien« 1903


Ausgewählte Aufsätze Rudolf Steiners


»Diejenigen, welche das geistige Leben Deutschlands vom Ende des achtzehnten und dem Anfang des neunzehnten Jahrhunderts darstellen, sehen gewöhnlich neben dem Höhepunkte der Kunst in Lessing, Herder, Schiller, Goethe, Mozart, Beethoven und anderen nur noch eine Epoche des rein spekulativen Denkens in Kant, Fichte, Schelling, Hegel, Schopenhauer und einigen weniger bedeutenden Philosophen. Es herrscht vielfach die Meinung, daß man in den letzteren Persönlichkeiten bloße Arbeiter auf dem Felde des Gedankens zu erkennen habe. Man gibt zu, daß sie auf spekulativem Gebiete Außerordentliches geleistet haben; aber man wird nur zu leicht geneigt sein, zu sagen: Der eigentlich okkulten Forschung, der wirklichen spirituellen Erfahrung standen diese Denker ganz ferne. Und so kommt es, daß der theosophisch Strebende sich wenig Gewinn von einer Vertiefung in ihre Arbeiten verspricht.

Viele, welche den Versuch machen, in das Gedankengewebe dieser Philosophen einzudringen, lassen die Arbeit nach einiger Zeit wieder liegen, weil sie dieselbe unfruchtbar finden. Der wissenschaftliche Forscher sagt sich: Diese Denker haben den strengen Boden der Erfahrung unter den Füßen verloren; sie haben in nebulosen Höhen Hirngespinste von Systemen ausgebaut, ohne alle Rücksicht auf die positive Wirklichkeit. – Und wer sich für den Okkultismus interessiert, dem fehlen bei ihnen die wahrhaft spirituellen Fundamente. Er kommt zu dem Urteil: Sie haben nichts gewußt von geistigen Erlebnissen, von übersinnlichen Tatsachen, und lediglich Gedankengebäude ersonnen.

Solange man dabei stehenbleibt, die bloße Außenseite der geistigen Entwickelung zu betrachten, wird man nicht leicht zu einer ändern Meinung kommen. Dringt man aber bis zu den Unterströmungen, dann stellt sich die ganze Epoche in einem ändern Lichte dar. Die scheinbaren Luftgebilde des bloßen Gedankens können erkannt werden als der Ausdruck eines tieferen okkulten Lebens. Und die Theosophie kann dann den Schlüssel liefern zum Verständnis dessen, was diese sechzig bis siebenzig Jahre geistigen Lebens im Enwickelungsgange der Menschheit bedeuten.

Es gibt in dieser Zeit in Deutschland zwei Reihen von Tatsachen, von denen die eine die Oberfläche darstellt, die andere aber als eine tiefere Grundlage betrachtet werden muß. Das Ganze macht den Eindruck eines dahingehenden Stromes, auf dessen Oberfläche sich in der mannigfaltigsten Weise die Wellen kräuseln. Und das, was man in den gewöhnlichen Literaturgeschichten darstellt, sind nur diese sich erhebenden und senkenden Wellen; man läßt aber unberücksichtigt, was in der Tiefe lebt und wovon die Wellen eigentlich ihre Nahrung ziehen.

Diese Tiefe enthält ein reiches, fruchtbares okkultes Leben. Und es ist dies kein anderes als dasjenige, welches einstmals in den Werken der großen deutschen Mystiker, Paracelsus, Jakob Böhme und Angelus Silesius, pulsierte. Wie eine verborgene Kraft war dieses Leben enthalten in den Gedankenwelten, welche Lessing, Herder, Schiller, Goethe, Fichte, Schelling, Hegel vorfanden. Die Art und Weise, wie zum Beispiel Jakob Böhme seine großen Geisteserlebnisse zum Ausdruck gebracht hatte, stand nicht mehr im Vordergrunde der tonangebenden literarischen Diskussion, aber der Geist dieser Erlebnisse wirkte lebendig fort. Man kann bemerken, wie zum Beispiel in Herder dieser Geist fortlebte. Die öffentliche Diskussion brachte Herder ebenso wie Goethe auf das Studium Spinozas. In dem Werk, das er «Gott» nannte, suchte der erstere die Gottesauffassung des Spinozismus zu vertiefen. Was er zum Spinozismus hinzubrachte, war nun nichts anderes als der Geist der deutschen Mystik. Man könnte sagen, daß, ihm selbst unbewußt, Jakob Böhme und Angelus Silesius die Feder führten. Aus solchen verborgenen Quellen ist es auch zu erklären, daß bei einem solch rationalistisch veranlagten Geist, wie es Lessing war, in seiner «Erziehung des Menschengeschlechtes» die Ideen über die Reinkarnation auftauchten. Der Ausdruck «unbewußt» ist allerdings nur halb zutreffend, weil solche Ideen und Intuitionen innerhalb Deutschlands zwar nicht an der Oberfläche der literarischen Diskussion, wohl aber in den mannigfaltigsten «okkulten Gesellschaften» und «Brüderschaften» ein volles Leben führten. Aber von den Genannten ist eigentlich nur Goethe als ein solcher zu betrachten, der in das intimste Leben solcher «Brüderschaften» eingeweiht war; die anderen standen mit denselben in einem mehr äußerlichen Zusammenhange. Es ging aus denselben vieles als Anregung in ihr Leben und Schaffen über, ohne daß sie sich der wirklichen Quellen völlig bewußt geworden wären.«

Rudolf Steiner, Theosophie in Deutschland vor hundert Jahren


Das soziale Hauptgesetz, welches durch den Okkultismus aufgewiesen wird, ist das folgende:

«Das Heil einer Gesamtheit von zusammenarbeitenden Menschen ist um so größer, je weniger der einzelne die Erträgnisse seiner Leistungen für sich beansprucht, das heißt, je mehr er von diesen Erträgnissen an seine Mitarbeiter abgibt, und je mehr seine eigenen Bedürfnisse nicht aus seinen Leistungen, sondern aus den Leistungen der anderen befriedigt werden.» Alle Einrichtungen innerhalb einer Gesamtheit von Menschen, welche diesem Gesetz widersprechen, müssen bei längerer Dauer irgendwo Elend und Not erzeugen.

Dieses Hauptgesetz gilt für das soziale Leben mit einer solchen Ausschließlichkeit und Notwendigkeit, wie nur irgendein Naturgesetz in bezug auf irgendein gewisses Gebiet von Naturwirkungen gilt.

Man darf aber nicht denken, dass es genüge, wenn man dieses Gesetz als ein allgemeines moralisches gelten lässt oder es etwa in die Gesinnung umsetzen wollte, dass ein jeder im Dienste seiner Mitmenschen arbeite. Nein, in der Wirklichkeit lebt das Gesetz nur so, wie es leben soll, wenn es einer Gesamtheit von Menschen gelingt, solche Einrichtungen zu schaffen, dass niemals jemand die Früchte seiner eigenen Arbeit für sich selber in Anspruch nehmen kann, sondern doch diese möglichst ohne Rest der Gesamtheit zugute kommen. Er selbst muss dafür wiederum durch die Arbeit seiner Mitmenschen erhalten werden.

Worauf es also ankommt, das ist, dass für die Mitmenschen arbeiten und ein gewisses Einkommen erzielen zwei voneinander ganz getrennte Dinge seien.

Rudolf Steiner, Geisteswissenschaft und soziale Frage


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