Theosophie in Deutschland vor hundert Jahren

Theosophie in Deutschland vor hundert Jahren

Dem deutschen Volksbewußtsein fiel am Ende des achtzehnten und am Beginne des neunzehnten Jahrhunderts die Aufgabe zu, das spirituelle Leben des reinen Gedankens in seinem Verhältnis zu dem einzelnen persönlichen Dasein auszugestalten.

Rudolf Steiner 1906


Autoreferat eines Vortrags, gehalten auf dem Kongress der Europäischen Föderation der Theosophischen Gesellschaft in Paris, 4. Juni 1906

Diejenigen, welche das geistige Leben Deutschlands vom Ende des achtzehnten und dem Anfang des neunzehnten Jahrhunderts darstellen, sehen gewöhnlich neben dem Höhepunkte der Kunst in Lessing, Herder, Schiller, Goethe, Mozart, Beethoven und anderen nur noch eine Epoche des rein spekulativen Denkens in Kant, Fichte, Schelling, Hegel, Schopenhauer und einigen weniger bedeutenden Philosophen. Es herrscht vielfach die Meinung, daß man in den letzteren Persönlichkeiten bloße Arbeiter auf dem Felde des Gedankens zu erkennen habe. Man gibt zu, daß sie auf spekulativem Gebiete Außerordentliches geleistet haben; aber man wird nur zu leicht geneigt sein, zu sagen: Der eigentlich okkulten Forschung, der wirklichen spirituellen Erfahrung standen diese Denker ganz ferne. Und so kommt es, daß der theosophisch Strebende sich wenig Gewinn von einer Vertiefung in ihre Arbeiten verspricht.

Viele, welche den Versuch machen, in das Gedankengewebe dieser Philosophen einzudringen, lassen die Arbeit nach einiger Zeit wieder liegen, weil sie dieselbe unfruchtbar finden. Der wissenschaftliche Forscher sagt sich: Diese Denker haben den strengen Boden der Erfahrung unter den Füßen verloren; sie haben in nebulosen Höhen Hirngespinste von Systemen ausgebaut, ohne alle Rücksicht auf die positive Wirklichkeit. – Und wer sich für den Okkultismus interessiert, dem fehlen bei ihnen die wahrhaft spirituellen Fundamente. Er kommt zu dem Urteil: Sie haben nichts gewußt von geistigen Erlebnissen, von übersinnlichen Tatsachen, und lediglich Gedankengebäude ersonnen.

Solange man dabei stehenbleibt, die bloße Außenseite der geistigen Entwickelung zu betrachten, wird man nicht leicht zu einer ändern Meinung kommen. Dringt man aber bis zu den Unterströmungen, dann stellt sich die ganze Epoche in einem ändern Lichte dar. Die scheinbaren Luftgebilde des bloßen Gedankens können erkannt werden als der Ausdruck eines tieferen okkulten Lebens. Und die Theosophie kann dann den Schlüssel liefern zum Verständnis dessen, was diese sechzig bis siebenzig Jahre geistigen Lebens im Enwickelungsgange der Menschheit bedeuten.

Es gibt in dieser Zeit in Deutschland zwei Reihen von Tatsachen, von denen die eine die Oberfläche darstellt, die andere aber als eine tiefere Grundlage betrachtet werden muß. Das Ganze macht den Eindruck eines dahingehenden Stromes, auf dessen Oberfläche sich in der mannigfaltigsten Weise die Wellen kräuseln. Und das, was man in den gewöhnlichen Literaturgeschichten darstellt, sind nur diese sich erhebenden und senkenden Wellen; man läßt aber unberücksichtigt, was in der Tiefe lebt und wovon die Wellen eigentlich ihre Nahrung ziehen.

Diese Tiefe enthält ein reiches, fruchtbares okkultes Leben. Und es ist dies kein anderes als dasjenige, welches einstmals in den Werken der großen deutschen Mystiker, Paracelsus, Jakob Böhme und Angelus Silesius, pulsierte. Wie eine verborgene Kraft war dieses Leben enthalten in den Gedankenwelten, welche Lessing, Herder, Schiller, Goethe, Fichte, Schelling, Hegel vorfanden. Die Art und Weise, wie zum Beispiel Jakob Böhme seine großen Geisteserlebnisse zum Ausdruck gebracht hatte, stand nicht mehr im Vordergrunde der tonangebenden literarischen Diskussion, aber der Geist dieser Erlebnisse wirkte lebendig fort. Man kann bemerken, wie zum Beispiel in Herder dieser Geist fortlebte. Die öffentliche Diskussion brachte Herder ebenso wie Goethe auf das Studium Spinozas. In dem Werk, das er «Gott» nannte, suchte der erstere die Gottesauffassung des Spinozismus zu vertiefen. Was er zum Spinozismus hinzubrachte, war nun nichts anderes als der Geist der deutschen Mystik. Man könnte sagen, daß, ihm selbst unbewußt, Jakob Böhme und Angelus Silesius die Feder führten. Aus solchen verborgenen Quellen ist es auch zu erklären, daß bei einem solch rationalistisch veranlagten Geist, wie es Lessing war, in seiner «Erziehung des Menschengeschlechtes» die Ideen über die Reinkarnation auftauchten. Der Ausdruck «unbewußt» ist allerdings nur halb zutreffend, weil solche Ideen und Intuitionen innerhalb Deutschlands zwar nicht an der Oberfläche der literarischen Diskussion, wohl aber in den mannigfaltigsten «okkulten Gesellschaften» und «Brüderschaften» ein volles Leben führten. Aber von den Genannten ist eigentlich nur Goethe als ein solcher zu betrachten, der in das intimste Leben solcher «Brüderschaften» eingeweiht war; die anderen standen mit denselben in einem mehr äußerlichen Zusammenhange. Es ging aus denselben vieles als Anregung in ihr Leben und Schaffen über, ohne daß sie sich der wirklichen Quellen völlig bewußt geworden wären.

Ein interessantes Phänomen der geistigen Entwickelung stellt nach dieser Richtung Schiller dar. Man versteht den eigentlichen geistigen Nerv seines Lebens nicht, wenn man sich nicht in dasjenige seiner Jugendwerke vertieft, das in seinen Schriften sich findet als «Briefwechsel zwischen Julius und Raphael». Manches von dem, was darin enthalten ist, schrieb Schiller schon, als er noch auf der Karls-Schule in Stuttgart war, manches ist erst in den Jahren 1785 und 1786 entstanden. Es findet sich darin das, was Schiller die «Theosophie des Julius» nennt und womit er die Summe von Ideen bezeichnet, zu denen er sich damals erhoben hatte. Es ist nur nötig, die wichtigsten Gedanken aus dieser «Theosophie» anzuführen, um die Art zu charakterisieren, in der sich dieser Genius aus den ihm zugänglichen Rudimenten deutscher Mystik ein eigenes Ideengebäude zusammenfügte. Solch wesentliche Gedanken sind etwa die folgenden: «Das Universum ist ein Gedanke Gottes. Nachdem dieses idealische Geistesbild in die Wirklichkeit hinübertrat und die geborene Welt den Riß ihres Schöpfers erfüllte — erlaube mir diese menschliche Vorstellung — so ist der Beruf aller denkenden Wesen, in diesem vorhandenen Ganzen die erste Zeichnung wiederzufinden, die Regel in der Maschine, die Einheit in der Zusammensetzung, das Gesetz in dem Phänomen aufzusuchen und das Gebäude rückwärts auf seinen Grundriß zu übertragen … Die große Zusammensetzung, die wir Welt nennen, bleibt mir jetzo nur merkwürdig, weil sie vorhanden ist, mir die mannigfaltigen Äußerungen jenes Wesens symbolisch zu bezeichnen. Alles in mir und außer mir ist nur Hieroglyphe einer Kraft, die mir ähnlich ist. Die Gesetze der Natur sind die Chiffren, welche das denkende Wesen zusammenfügt, sich dem denkenden Wesen verständlich zu machen — das Alphabet, vermittelst dessen alle Geister mit dem vollkommensten Geiste und mit sich selbst unterhandeln … Eine neue Erfahrung in diesem Reiche der Wahrheit, die Gravitation, der entdeckte Umlauf des Blutes, das Natursystem  des Linnäus, heißen mir ursprünglich eben das, was eine Antike, im Herkulanum hervorgegraben – beides nur Widerschein eines Geistes, neue Bekannschaft mit einem mir ähnlichen Wesen … Es gibt für mich keine Einöde in der ganzen Natur mehr. Wo ich einen Körper entdecke, da ahne ich einen Geist. — Wo ich Bewegung merke, da rate ich auf einen Gedanken … Wir haben Begriffe von der Weisheit des höchsten Wesens, von seiner Güte, von seiner Gerechtigkeit – aber keinen von seiner Allmacht. Seine Allmacht zu bezeichnen, helfen wir uns mit der stückweisen Vorstellung dreier Sukzessionen: Nichts, sein Wille, und Etwas. Es ist wüste und finster — Gott ruft: Licht — und es wird Licht. Hätten wir eine Realidee seiner wirkenden Allmacht, so wären wir Schöpfer, wie Er …»

Solcher Art sind die Ideen von Schillers Theosophie, als er im Beginne seiner zwanziger Jahre stand. Und von dieser Grundlage aus erhebt er sich zur Erfassung des menschlichgeistigen Lebens selbst, das er in den Zusammenhang der kosmischen Kräfte hineinstellt: «Liebe also – das schönste Phänomen in der beseelten Schöpfung, der allmächtige Magnet in der Geisterwelt, die Quelle der Andacht und der erhabensten Tugend – Liebe ist nur der Widerschein dieser einzigen Kraft, eine Anziehung des Vortrefflichen, gegründet auf einen augenblicklichen Tausch der Persönlichkeit, eine Verwechslung der Wesen. Wenn ich hasse, so nehme ich mir etwas; wenn ich liebe, so werde ich um das reicher, was ich liebe. Verzeihung ist das Wiederfinden eines veräußerten Eigentums – Menschenhaß ein verlängerter Selbstmord; Egoismus die höchste Armut eines erschaffenen Wesens.» Von da aus sucht dann Schiller eine seinem Gefühle entsprechende Gottesidee, die er in den folgenden Sätzen darstellt: «Alle Vollkommenheiten im Universum sind vereinigt in Gott. Gott und Natur sind zwo Größen, die sich vollkommen gleich sind … eine Wahrheit ist es, die gleich einer festen Achse, gemeinschaftlich durch alle Religionen und Systeme geht – ‹Nähert euch dem Gotte, den ihr meinet›.»

Vergleicht man diese Ausführungen des jungen Schiller mit den Lehren der deutschen Mystiker, so wird man finden, daß bei diesen in scharf gezeichneten Gedankenkonturen vorhanden ist, was bei ihm wie der überschwängliche Ausfluß einer allgemeineren Gefühlswelt erscheint. Paracelsus, Jakob Böhme, Angelus Silesius haben als bestimmte Anschauung ihres intuitiven Geistes vor sich, was Schiller in unbestimmter Ahnung der Empfindung vorschwebt.

Was bei Schiller in so charakteristischer Weise ans Licht tritt, ist auch bei anderen seiner Zeitgenossen vorhanden. Die Geistesgeschichte muß es nur bei ihm darstellen, weil es in seinen epochemachenden Werken zu einer treibenden Kraft der Nation geworden ist. Man kann sagen, in Schillers Zeitalter ist die spirituelle Tatsachenwelt der deutschen Mystik als Anschauung, als unmittelbare Erfahrung des Geisteslebens wie unter einem Schleier verborgen; aber in der Gefühlswelt, in den Empfindungen lebte sie fort. Man hatte sich die Devotion, den Enthusiasmus erhalten für dasjenige, was man nicht mehr mit den «Sinnesorganen des Geistes» unmittelbar sah. Man hat es mit einer Epoche der Verschleierung der spirituellen Anschauung, aber mit einer solchen des Empfindens, des gefühlsmäßigen Ahnens dieser Welt zu tun.

Diesem ganzen Vorgange liegt nun eine gewisse gesetzmäßige Notwendigkeit zugrunde. Was nämlich als spirituelle Anschauung in die Verborgenheit eingetreten ist, das kam als künstlerisches Leben in dieser Periode deutschen Geisteslebens zum Vorschein. – Man spricht im Okkultismus von aufeinanderfolgenden Zyklen von Involution und Evolution. Hier hat man es mit einem solchen Zyklus im Kleinen zu tun. Die Kunst Deutschlands in der Epoche Schillers und Goethes ist nichts weiter als die Evolution der deutschen Mystik auf dem Gebiete der äußeren sinnlichen Form. Aber in den Schöpfungen der deutschen Dichter erkennt der tiefer Blickende die involvierten Intuitionen des großen mystischen Zeitalters Deutschlands. – Das mystische Leben von ehemals nimmt nun völlig einen ästhetischen, einen künstlerischen Charakter an.

Klar kommt das zum Ausdrucke in derjenigen Schrift, in welcher Schiller die volle Höhe seiner Weltbetrachtung erreichte, in seinen «Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen». Der Dogmatiker des Okkultismus wird vielleicht auch in diesen «Briefen» nichts finden als die geistvollen Spekulationen eines feinen künstlerischen Kopfes. In Wirklichkeit herrscht aber in ihnen das Bestreben, die Anleitung zu einem ändern Bewußtseinszustande zu geben, als es der gewöhnliche ist. Eine Etappe auf dem Wege zu dem «höheren Selbst» soll geschildert werden. Zwar ist der Bewußtseinszustand, welchen Schiller darstellt, weit entfernt von dem astralischen oder devachanischen Erfahrungsleben; er stellt aber doch etwas Höheres dar gegenüber dem Alltagsleben. Und man wird bei unbefangener Auffassung in dem, was nach Schiller der «ästhetische Zustand» genannt werden kann, sehr wohl eine Vorstufe zu jenen höheren Anschauungsarten erkennen können. Schiller will den Menschen hinausführen über den Standpunkt des «niederen Selbst». Durch zwei Eigenschaften ist ihm dieses niedere Selbst gekennzeichnet. Erstens steht es in einer notwendigen Abhängigkeit gegenüber den Einflüssen der Sinnenwelt. Zweitens unterliegt es den Forderungen der logischen und moralischen Notwendigkeit. Es ist somit unfrei nach zwei Richtungen hin. In seinen Trieben, Instinkten, Empfindungen, Leidenschaften und so weiter herrscht die Sinnenwelt. In seinem Denken und in seiner Moral herrscht die Vernunftnotwendigkeit. Frei ist aber allein derjenige Mensch im Sinne Schillers, welcher seine Empfindungen, Triebe, Begierden, Wünsche und so weiter so veredelt hat, daß sich in ihnen nur das Geistige zum Ausdrucke bringt, und welcher andrerseits die Vernunftnotwendigkeit so vollkommen in sich aufgenommen hat, daß sie der Ausfluß seines eigenen Wesens ist. Man kann ein Leben, das in solcher Art geführt wird, auch als ein solches bezeichnen, in dem ein harmonisches Gleichgewicht zwischen «niederem und höherem Selbst» hergestellt ist. Der Mensch hat seine Wunschnatur so veredelt, daß sie die Verkörperung seines «höheren Selbst» ist. Dieses hohe Ideal stellt Schiller in diesen «Briefen» auf, und er findet, daß in dem künstlerischen Schaffen und in der reinen ästhetischen Hingabe an ein Kunstwerk eine Annäherung an dieses Ideal stattfindet. So wird für ihn das Leben in der Kunst zu einem echten Erziehungsmittel des Menschen in der Entwickelung seines «höheren Selbstes». — Das wahre Kunstwerk ist für ihn ein vollkommener Einklang von Geist und Sinnlichkeit, von höherem Leben und äußerer Form. Das Sinnliche ist nur ein Ausdrucksmittel; aber das Geistige wird erst zum Kunstwerk, wenn es ganz und gar seinen Ausdruck in der Sinnlichkeit gefunden hat. So lebt der schaffende Künstler im Geiste, aber er lebt darin auf eine ganz und gar sinnliche Art; alles Geistige wird durch ihn sinnlich-wahrnehmbar. Und derjenige, welcher sich ästhetisch vertieft, nimmt durch seine äußeren Sinne wahr; doch was er wahrnimmt, ist völlig durchgeistigte Sinnlichkeit. Man hat es also mit einer Harmonie zwischen Geist und Sinnlichkeit zu tun; das Sinnliche erscheint zum Geist hinaufgeadelt, das Geistige bis zur sinnlichen Anschaulichkeit zur Offenbarung gekommen. Diesen «ästhetischen Zustand» möchte Schiller auch zum Vorbild des gesellschaftlichen Zusammenlebens machen. Ihm erscheint ein Gesellschaftsverhältnis unfrei, in welchem die Menschen ihre gegenseitigen Beziehungen nur auf die Begierden des niederen Selbstes, des Egoismus stützen. Nicht minder unfrei erscheint ihm aber auch ein Zustand, bei welchem eine bloße Vernunftgesetzgebung berufen ist, die niederen Instinkte und Leidenschaften zu zügeln. Als Ideal stellt er eine Gesellschaftsverfassung hin, innerhalb welcher der Einzelne das «höhere Selbst» der Gesamtheit so stark als sein eigenes Wesen fühlt, daß er aus innerstem Trieb «selbstlos» wirkt. Das «Einzel-Ich» soll so weit kommen, daß es ganz der Ausdruck des «Gesamt-Ich» werde. Ein gesellschaftliches Handeln, das unter solchen Antrieben steht, empfindet Schiller als ein Handeln «schöner Seelen»; und solche «schöne Seelen», welche den Geist des «höheren Selbst» in ihrer alltäglichen Natur zur Offenbarung bringen, sie sind für Schiller auch die wahrhaft «freien Seelen». Er möchte die Menschheit durch die Schönheit und die Kunst zur «Wahrheit» führen. Einer seiner Kernsprüche ist: Nur durch das Morgenrot des Schönen dringt der Mensch in der Erkenntnis Land.

So wird aus Schillers Weltbetrachtung heraus der Kunst eine hohe erzieherische Mission im Evolutionsgange der Menschheit zugeteilt. Man kann sagen: Was Schiller hier darstellt, ist die ästhetisch-künstlerisch gewordene Mystik der älteren Zeit des deutschen Geisteslebens.

Es könnte nun scheinen, als ob nicht leicht eine Brücke zu schlagen sei von Schillers Ästhetizismus zu einer anderen Persönlichkeit derselben Zeit, die aber nicht minder aus einer okkulten Unterströmung heraus zu verstehen ist, zu Johann Gottlieh Fichte. Diesen wird man bei oberflächlicher Betrachtung ganz und gar als einen bloßen spekulativen Kopf ansehen, als intellektuellen Gedankenmenschen. Nun ist es richtig, daß seine Domäne diejenige des Gedankens ist, und daß derjenige, welcher solche spirituelle Höhen aufsuchen will, die über der Gedankenwelt liegen, sie bei Fichte nicht finden kann. Wer eine Beschreibung «höherer Welten» haben will, wird sie bei ihm vergeblich suchen. Von einer astralischen oder mentalen Welt hat Fichte keine Erfahrung. Dem Inhalte seiner Philosophie nach, hat er es nur mit solchen Ideen zu tun, welche zu der phyischen Welt gehören. – Ganz anders aber stellt sich die Sache dar, wenn man auf seine Behandlungsweise der Gedankenwelt sieht. Diese Behandlungsweise ist keineswegs eine bloß spekulative. Sie ist vielmehr eine solche, die vollständig der okkulten Erfahrung entspricht. Fichte betrachtet nur die auf die physische Welt bezüglichen Gedanken; aber er betrachtet diese so, wie sie ein Okkultist betrachtet. Daher kommt es, daß er selbst durchaus das Bewußtsein hat, ein Leben in höheren Welten zu führen. Man sehe nur, wie er sich in den Vorlesungen, die er 1813 in Berlin gehalten hat, selbst darüber ausspricht: «Denke man eine Welt von Blindgeborenen, denen darum allein die Dinge und ihre Verhältnisse bekannt sind, die durch den Sinn der Betastung existieren. Tretet unter diese und redet ihnen von Farben und den ändern Verhältnissen, die nur durch das Licht für das Sehen vorhanden sind. Entweder ihr redet ihnen von Nichts, und dies ist das Glücklichere, wenn sie es sagen; denn auf diese Weise werdet Ihr bald den Fehler merken und, falls Ihr ihnen nicht die Augen zu öffnen vermögt, das vergebliche Reden einstellen… Oder sie wollen aus irgendeinem Grunde Eurer Lehre doch einen Verstand geben: so können sie dieselbe nur verstehen von dem, was ihnen durch die Betastung bekannt ist: sie werden das Licht und die Farben und die ändern Verhältnisse der Sichtbarkeit fühlen wollen, zu fühlen vermeinen, innerhalb des Gefühles irgend etwas sich erkünsteln und anlügen, was sie Farbe nennen. Dann mißverstehen, verdrehen, mißdeuten sie.» Ein anderes Mal spricht Fichte es unmittelbar aus, daß für ihn seine Weltbetrachtung nicht bloß eine Spekulation über dasjenige ist, was die gewöhnlichen Sinne geben, sondern daß ein höherer, über diese hinausreichender Sinn dazu notwendig ist: «Der neue Sinn ist demnach der Sinn für den Geist; der, für den nur Geist ist und durchaus nichts anderes, und dem auch das Andere, das gegebene Sein, annimmt die Form des Geistes und sich darein verwandelt, dem darum das Sein in seiner eigenen Form in der Tat verschwunden ist… Es ist mit diesem Sinne gesehen worden, seitdem Menschen da sind, und alles Große und Treffliche, was in der Welt ist und welches allein die Menschheit bestehen macht, stammt aus den Gesichten dieses Sinnes. Daß aber dieser Sinn sich selbst gesehen haben sollte in seinem Unterschiede und Gegensatze mit dem ändern gewöhnlichen Sinne, war nicht der Fall. Die Eindrücke der beiden Sinne verschmolzen, das Leben zerfiel ohne Einigungsband in diese zwei Hälften.» Diese letzten Worte sind überaus charakteristisch für die Weltstellung Fichtes in dem Geistesleben. Für das bloß äußerliche (exoterische) philosophische Streben des Abendlandes ist es tatsächlich richtig, daß der Sinn, von dem Fichte spricht, sich «nicht selbst gesehen hat». In allen mystischen Strömungen des Geisteslebens, die auf okkulter Erfahrung und esoterischer Betrachtung beruhen, kommt er zwar deutlich zur Sprache; allein deren tiefere Grundlage war ja, wie oben bereits ausgeführt worden ist, zu Fichtes Zeit für die tonangebende literarische und gelehrte Diskussion unbekannt. Für die Ausdrucksmittel der damaligen deutschen Philosophie war in der Tat Fichte der Pfadfinder und Entdecker dieses höheren Sinnes. Davon kam es, daß er etwas ganz anderes an den Ausgangspunkt seines Nachdenkens stellte als andere Philosophen. Er verlangte als Lehrer von seinen Zuhörern und als Schriftsteller von seinen Lesern, daß sie vor allem eine innere Tat der Seele vollziehen sollten. Nicht eine Erkenntnis von irgend etwas außer ihnen Bestehendem wollte er ihnen vermitteln, sondern die Forderung stellte er an sie, eine innere Handlung auszuführen. Und durch diese innere Handlung sollten sie das wahre Licht des Selbstbewußtseins in sich entzünden. Er ging wie die meisten Philosophen seiner Zeit von der Kantschen Philosophie aus. Daher drückte er sich in der Form der Kantschen Terminologie, ebenso wie auch Schiller in seinen reifen Jahren, aus. Doch überflügelte er in bezug auf die Höhe des inneren, geistigen Lebens gleich Schiller die Kantsche Philosophie sehr weit. Wenn man den Versuch macht, aus der schwierigen philosophischen Ausdrucksweise in eine populärere Form das zu übersetzen, was Fichte von seinen Zuhörern und Lesern forderte, so mag sich dieses etwa folgendermaßen gestalten. Ein jedes Ding und eine jede Tatsache, die von dem Menschen wahrgenommen wird, drängt diesem das Sein auf. Es ist ohne das Zutun des Menschen, soweit dessen tiefstes Innere in Betracht kommt, da. Der Tisch, die Blume, der Hund, eine Lichterscheinung und so weiter sind durch etwas dem Menschen Fremdes da; und diesem kommt nur zu, die Existenz festzustellen, welche ohne ihn zustande gekommen ist. Anders ist das für Fichte bei dem «Ich» des Menschen. Dasselbe ist nur da, insofern es sich durch seine eigene Tätigkeit das Sein selbst beilegt. Daher bedeutet der Satz «Ich bin» etwas ganz anderes als jeder andere Satz. Daß man sich dieses Selbstschöpferische zum Bewußtsein bringe, forderte Fichte für den Ausgangspunkt einer jeglichen geistigen Weltbetrachtung. Bei jeder ändern Erkenntnis kann der Mensch bloß empfangend sein, beim «Ich» muß er Schöpfer sein. Und er kann sein «Ich» nur wahrnehmen, indem er sich als den Schöpfer dieses Ich anschaut. So verlangt Fichte eine ganz andere Betrachtungsart für das «Ich» als für alle ändern Dinge. Und er ist in dieser Forderung so streng wie möglich. Sagt er doch einmal: «Die meisten Menschen würden leichter dahin zu bringen sein, sich für ein Stück Lava im Monde als für ein Ich zu halten .. . Wer hierüber noch nicht einig mit sich selbst ist, der versteht keine gründliche Philosophie, und er bedarf keine. Die Natur, deren Maschine er ist, wird ihn schon ohne all sein Zutun in allen Geschäften leiten, die er auszuführen hat. Zum Philosophieren gehört Selbständigkeit: und diese kann man sich nur selbst geben. – Wir sollen nicht ohne Auge sehen wollen; aber sollen auch nicht behaupten, daß das Auge sehe.»

Es ist damit ganz scharf die Grenze bezeichnet, wo das gewöhnliche Erleben aufhört und das okkulte beginnt. Das gewöhnliche Wahrnehmen und Erleben reicht genau so weit, als objektiv dem Menschen die Wahrnehmungsorgane eingebaut sind. Das okkulte beginnt da, wo der Mensch anfängt, sich selbst durch die in ihm liegenden schlummernden Kräfte höhere Wahrnehmungsorgane aufzubauen. Innerhalb des gewöhnlichen Erlebens vermag sich der Mensch nur als Geschöpf zu fühlen. Beginnt er, sich als Schöpfer seiner Wesenheit zu fühlen, so betritt er das Gebiet des sogenannten okkulten Lebens. Die Art, wie Fichte das «Ich bin» charakterisiert, ist durchaus im Sinne des Okkultismus. Wenn er auch im Felde des reinen Gedankens verbleibt, so ist doch seine Betrachtung keine bloße Spekulation, sondern wahres inneres Erlebnis. Aber gerade aus diesem Grunde ist auch die Verwechselung seiner Weltbetrachtung mit bloßer Spekulation so leicht. Wen die Neugierde in die höheren Welten hinauftreibt, der wird durch die Vertiefung in Fichtes Philosophie eben nicht auf seine Rechnung kommen. Wer aber an sich arbeiten will, um die in der Seele schlummernden Fähigkeiten zu entdecken, dem kann gerade Fichte ein guter Führer sein. Er wird gewahr werden, daß es bei ihm nicht auf den Inhalt seiner Lehre oder seiner Dogmen, sondern auf die Kraft ankommt, die in der Seele wächst, wenn man die Gedankenwege Fichtes hingebungsvoll nachwandelt. Man möchte diesen Denker mit dem Propheten vergleichen, der nicht selbst das gelobte Land betreten hat, aber die Seinigen bis zu einem Gipfel führt, von dem aus sie die Herrlichkeiten desselben schauen konnten. Fichte führt das Denken bis zu dem Gipfel, von dem aus der Eintritt in das Land des Okkultismus vollzogen werden kann. Und die Vorbereitung, welche man durch ihn erlangt, ist die denkbar reinste. Denn sie hebt völlig über das Gebiet der Sinnesempfindung und über den Bereich dessen hinweg, was aus der Wunsch- und Begierdennatur des Menschen (aus seinem Astralleib) stammt. Man lernt durch Fichte leben und sich bewegen in dem ganz reinen Elemente des Denkens. Man behält nichts von der physischen Welt in der Seele, als was dieser physischen Welt aus höheren Regionen eingepflanzt ist, nämlich die Gedanken. Und diese bilden eine bessere Brücke zu den spirituellen Erlebnissen, als die Ausbildung anderer psychischer Fähigkeiten. Denn der Gedanke ist überall derselbe, ob er nun in der physischen, astralischen oder mentalen Welt auftritt. Nur sein Inhalt ist in jeder dieser Welten ein anderer. Und die übersinnlichen Welten bleiben dem Menschen nur so lange verborgen, als er aus seinen Gedanken den sinnlichen Inhalt nicht ganz entfernen kann. Wird der Gedanke sinnlichkeitfrei, dann ist nur noch ein Schritt zu vollziehen, und die übersinnliche Welt kann beschritten werden.

Die Anschauung des eigenen Selbst im Sinne Fichtes ist deshalb so bedeutsam, weil in bezug auf dieses «Selbst» der Mensch überhaupt ohne allen Gedankeninhalt bleibt, wenn er sich einen solchen nicht von Innen heraus gibt. Für den ganzen übrigen Weltinhalt, für alles Wahrnehmen, Empfinden, Wollen und so weiter, welche den Inhalt des gewöhnlichen Daseins ausmachen, erfüllt die Außenwelt den Menschen. Er braucht – nach Fichtes Worten – im Grunde nichts zu sein als die «Maschine der Natur», welche «ohne sein Zutun seine Geschäfte leitet». Das «Ich» aber bleibt leer, keine Außenwelt erfüllt es mit Inhalt, wenn dieser nicht aus dem Innern kommt. Die Erkenntnis «Ich bin» kann daher niemals etwas anderes sein, als des Menschen intimstes Innen-Erlebnis. Es spricht also in diesem Satze etwas innerhalb der Seele, das nur von innen sprechen kann. Aber so wie diese scheinbar ganz leere Bejahung des eigenen Selbst auftritt, so spielen sich alle höheren okkulten Erlebnisse ab. Sie werden inhalt- und lebensvoller, aber sie haben dieselbe Form. Man kann durch das Ich-Erlebnis, wie es Fichte darstellt, den Typus aller okkulten Erlebnisse zunächst auf rein gedanklichem Gebiete kennenlernen. Es ist daher richtig gesprochen, wenn man sagt, daß mit dem «Ich bin» der Gott in dem Menschen zu sprechen beginnt. Und nur weil das in rein gedanklicher Form geschieht, wollen es so viele Menschen nicht anerkennen.

Nun mußte aber gerade bei den schärferen Geistern, die auf solchen Wegen wandelten wie Fichte, eine Grenze der Erkenntnis eintreten. Das reine Denken ist nämlich bloß eine Betätigung der Persönlichkeit, nicht der Individualität, welche in immer wiederkehrenden Reinkarnationen durch die verschiedenen Persönlichkeiten hindurchgeht. Die Gesetze auch der höchsten Logik werden niemals anders, auch wenn in der Stufenfolge der Wiederverkörperungen die menschliche Individualität bis zur Etappe des höchsten Weisen hinaufsteigt. Die geistige Anschauung steigert sich, das Wahrnehmungsvermögen erweitert sich, wenn eine Individualität, die in einer Inkarnation hoch stand, wieder verkörpert wird, die Logik des Denkens aber bleibt dieselbe auch für eine höhere Bewußtseinsstufe. Daher kann dasjenige, was über die einzelne Inkarnation hinausgeht, auch niemals durch ein noch so feines Gedanken-Erlebnis erfaßt werden, selbst wenn sich dieses zu den höchsten Stufen erhebt. Darin ist der Grund zu suchen, warum die Betrachtungsart Fichtes und auch diejenige seiner Zeitgenossen, welche in seinen Bahnen wandelten, sich nicht zur Erkenntnis der Gesetze von Reinkarnation und Karma durchringen konnten. Wenn auch verschiedene Hinweise bei den Denkern dieser Epoche zu finden sind – sie gehen mehr aus einem allgemeinen Gefühle hervor und stehen nicht in einem notwendigen organischen Zusammenhang mit ihren Gedankengebäuden. Man darf vielmehr geradezu sagen, daß die geistesgeschichtliche Mission dieser Persönlichkeiten darin bestanden hat, die reinen Gedankenerlebnisse einmal darzustellen, insofern sich diese innerhalb einer Inkarnation abspielen können, mit Ausschaltung alles dessen, was vom Wesen des Menschen über diese eine Verkörperung hinausreicht.

Die Evolution des Menschengeistes geht ja in der Art vor sich, daß von der esoterischen Urweisheit in gewissen Epochen immer Teile in das Volksbewußtsein übergeführt werden. Und dem deutschen Volksbewußtsein fiel eben am Ende des achtzehnten und am Beginne des neunzehnten Jahrhunderts die Aufgabe zu, das spirituelle Leben des reinen Gedankens in seinem Verhältnis zu dem einzelnen persönlichen Dasein auszugestalten. Zieht man in Betracht, was schon im Zusammenhange mit Schillers Persönlichkeit hier ausgeführt worden ist, daß die Kunst zu dieser Zeit in den Mittelpunkt des geistigen Lebens gerückt werden sollte, so wird man die Betonung des persönlichen Gesichtspunktes um so begreiflicher finden. Die Kunst ist doch das Ausleben des Geistes in sinnlich-physischen Formen. Die Wahrnehmung dieser Formen ist aber durch die Organisation der einzelnen Persönlichkeit bedingt, die innerhalb der einen Inkarnation lebt. Was über die Persönlichkeit in das Gebiet des Übersinnlichen hineinragt, wird, nicht mehr unmittelbar in der Kunst zur Geltung kommen können. Zwar wirft die Kunst ihren Widerschein in das übersinnliche Gebiet; aber dieser Widerschein wird doch nur als die Frucht des künstlerischen Schaffens und Erlebens hinübergeführt durch das bleibende Wesen der Seele von einer Reinkarnation zur ändern. Das, was als Kunst und als ästhetisches Erleben unmittelbar ins Dasein tritt, ist an die Persönlichkeit gebunden. Deshalb trägt bei einer Persönlichkeit der gekennzeichneten Epoche eine im eminentesten Sinne theosophische Weltbetrachtung auch einen durchaus persönlichen Charakter. Es ist das der Fall bei Friedrich von Hardenberg, der als Dichter den Namen Novalis trägt. Er ist geboren 1772 und starb schon 1801. In einigen Dichtungen und in einer Reihe dichterisch-philosophischer Fragmente liegt vor, was in dieser ganz von theosophischer Gesinnung getragenen Seele gelebt hat. Aus einer jeden Seite seiner Schöpfungen strömt dem Leser diese Gesinnung entgegen; dabei ist aber alles so, daß die höchste Geistigkeit mit einer unmittelbaren sinnlichen Leidenschaft, mit ganz persönlichen Trieben und Instinkten gepaart ist. Eine wirklich pythagoreische Denkungsart lebt in dieser Jünglingsnatur, die noch dadurch eine besondere Nahrung erhielt, daß Novalis sich zum Berg-Ingenieur durch eine gründliche mathematische und naturwissenschaftliche Schulung hindurchgearbeitet hat. Die Art, wie der menschliche Geist die Gesetze der reinen Mathematik aus sich selbst heraus entwickelt, ohne Zuhilfenahme einer jeglichen sinnlichen Anschauung, wurde ihm zum Vorbild für alles übersinnliche Erkennen überhaupt. Wie das Weltgebäude harmonisch nach den mathematischen Gesetzen gebildet ist, welche die Seele in sich selbst findet, so dachte er sich dies für alle der Welt zu Grunde liegenden Ideen. Deshalb nahm für ihn des Menschen Verhältnis zur Mathematik einen geradezu devotioneilen, religiösen Charakter an. Aussprüche wie die folgenden lassen die eigenartig pythagoreische Grundwesenheit seiner Anlagen erkennen: «Echte Mathematik ist das eigentliche Element des Magiers… Das höchste Leben ist Mathematik … Der echte Mathematiker ist Enthusiast per se. Ohne Enthusiasmus keine Mathematik. Das Leben der Götter ist Mathematik. Alle göttlichen Gesandten müssen Mathematiker sein. Reine Mathematik ist Religion. Zur Mathematik gelangt man nur durch eine Theophanie. Die Mathematiker sind die einzig Glücklichen. Der Mathematiker weiß alles. Er könnte es, wenn er es nicht wüßte … Im Morgenlande ist die echte Mathematik zu Hause. In Europa ist sie zur bloßen Technik ausgeartet. Wer ein mathematisches Buch nicht mit Andacht ergreift und es wie Gottes Wort liest, der versteht es nicht… Wunder als widernatürliche Fakta sind amathematisch – aber es gibt kein Wunder in diesem Sinn, und was man so nennt, ist gerade durch die Mathematik begreiflich, denn der Mathematik ist nichts wunderbar.»

Bei solchen Aussprüchen schwebt Novalis nicht bloß eine Apotheose der Wissenschaft von den Zahlen und Raumgrößen vor, sondern die Anschauung, daß alle inneren Seelenerlebnisse zu dem Kosmos sich verhalten sollen, wie die reine sinnlichkeitfreie mathematische Geisteskonstruktion zu der äußeren zahlenmäßigen und räumlich geordneten Weltharmonie sich verhält. Schön kommt dies zum Ausdrucke, wenn er sagt: «Die Menschheit ist gleichsam der höhere Sinn unseres Planeten, das Auge, was er gen Himmel hebt, der Nerv, der dieses Glied mit der obern Welt verknüpft.» Die Identität des menschlichen Ich mit dem Grundwesen der objektiven Welt ist das Leitmotiv in allem Schaffen des Novalis. Unter seinen «Fragmenten» ist der Spruch aufgezeichnet: «Unter Menschen muß man Gott suchen. In den menschlichen Begebenheiten, in menschlichen Gedanken und Empfindungen offenbart sich der Geist des Himmels am hellsten.» Und die Einheit des «höhern Selbst» in der Gesamtmenschheit bringt er in der folgenden Art zum Ausdruck: «Im Ich, im Freiheitspunkte sind wir alle in der Tat völlig identisch – von da aus trennt sich erst jedes Individuum. Ich ist der absolute Gesamtplatz, der Zentralpunkt.» – Bei Novalis tritt nun ganz besonders die Stellung zutage, welche das damalige Bewußtsein der Kunst und dem künstlerischen Empfinden anwies. Kunst ist ihm etwas, wodurch der Mensch über sein engumgrenztes «niederes Selbst» hinauswächst und wodurch er sich mit den schaffenden Kräften der Welt in Beziehung setzt. In der schaffenden künstlerischen Phantasie sieht er einen Abglanz der magischen Wirkenskräfte. So kann er sagen: «Der Künstler steht auf dem Menschen, wie die Statue auf dem Piedestal» -«Die Natur wird moralisch sein, wenn sie aus echter Liebe zur Kunst sich der Kunst hingibt, tut, was die Kunst will; die Kunst, wenn sie aus echter Liebe zur Natur für die Natur lebt und nach der Natur arbeitet. Beide müssen es zugleich, aus eigener Wahl, um ihrer selbst willen, und aus fremder Wahl, um des anderen willen, tun … Wenn unsere Intelligenz und unsere Welt harmonieren, so sind wir Gott gleich.» — Von solchen Gesinnungen getragen sind des Novalis lyrische Dichtungen, besonders seine «Hymnen an die Nacht», ferner sein unvollendet gebliebener Roman «Heinrich von Ofterdingen» und das ganz in mystischer Denk- und Empfindungsweise wurzelnde Werkchen «Die Lehrlinge zu Sais».

So zeigt sich an diesen wenigen angeführten Persönlichkeiten, wie im damaligen Zeitraum dem deutschen Dichten und Denken eine theosophisch-mystische Unterströmung zu Grunde liegt. Die Beispiele ließen sich durch zahlreiche andere vermehren. Deshalb kann hier nicht einmal versucht werden, etwas Vollständiges zu geben, sondern es sollte nur die Grundnote dieser geistigen Epoche mit ein paar Linien charakterisiert werden.

Nicht schwer einzusehen wird es nun aber auch sein, daß einzelne mystisch und theosophisch angelegte Naturen mit einem spirituell-intuitiven Geiste aus diesem ganzen Leben heraus auf ihre Art die theosophischen Grundideen selbst zum Teile fanden. So leuchtet uns Theosophie aus den Schöpfungen mancher Persönlichkeit dieser Epoche in schöner Weise entgegen. Viele könnten angeführt werden, bei denen dies der Fall ist. Da könnte von Lorenz Oken gesprochen werden, welcher eine Naturphilosophie begründete, die auf der einen Seite durch ihren mystischen Geist zurück auf Paracelsus und Jakob Böhme weist, auf der ändern Seite durch genialische Konzeptionen über die Evolution und den Zusammenhang der Lebewesen eine Vorläuferin der berechtigten Teile des Darwinismus ist. Es könnte Steffens angeführt werden, der in den Vorgängen der Erdentwickelung Spiegelungen eines kosmischen Geisteslebens suchte. Man könnte auf Eckartshausen (1752 bis 1803) verweisen, welcher die abnormen Erscheinungen des Natur- und Seelenlebens auf theosophisch-mystische Art zu erklären suchte. Auch Ennemoser (1787-1854) mit seiner «Geschichte der Magie», Gotthilf Heinrich Schubert mit seinen Arbeiten über die Traum-Erscheinungen und die verborgenen Tatsachen in der Natur und die geistvollen Ausführungen von Justinus Kerner, von Karl Gustav Carus wurzeln in derselben Geistesrichtung. Schelling ging vom reinen Fichteanismus immer mehr zur Theosophie über, um dann in seiner «Philosophie der Mythologie» und «Philosophie der Offenbarung», die erst nach seinem Tode erschienen sind, die Entwickelungsgeschichte des Menschengeistes und den Zusammenhang der Religionen bis zu ihrem Ausgangspunkt in den Mysterien zu verfolgen. Auch Hegels Philosophie müßte einmal in das theosophische Licht gerückt werden, und man würde dann sehen, wie fehlerhaft es von der Geschichte der Philosphie ist, dieses tiefinnere spirituelle Seelenerlebnis für bloße Spekulation anzusehen. Das alles erforderte, wollte man es erschöpfend behandeln, ein ausführliches Werk. Hier aber soll nur noch auf eine wenig bekannte Persönlichkeit hingewiesen werden, welche in dem Brennpunkt ihres Geistes die Strahlen theosophischer Weltbetrachtung vereinigte und ein Ideengebäude schuf, das in vieler Beziehung völlig mit den heute wieder erneuerten Gedanken der Theosophie übereinstimmt. Es ist J. P. V. Troxler, der von 1780 bis 1866 lebte und von dessen Werken namentlich das 1812 erschienene «Blicke in das Wesen des Menschen» in Betracht kommt. Troxler wendet sich gegen die übliche Einteilung der menschlichen Natur in Seele und Leib, die er irreführend findet, weil sie die Natur nicht erschöpft. Er unterscheidet zunächst vier Glieder der menschlichen Wesenheit: Geist, höhere Seele, Leib (der ihm die niedere Seele ist) und Körper. Man braucht diese Einteilung nur im rechten Lichte zu sehen, um zu erkennen, wie nahe sie der heute in theosophischen Büchern üblichen ist. Der Körper in seinem Sinne fällt vollkommen zusammen mit dem, was man jetzt physischen Leib nennt. Die niedere Seele, oder das, was er, im Gegensatze zum Körper, den Leib nennt, ist nichts anderes als der sogenannte Astralleib. Das ist nicht etwa in seine Gedankenwelt hineingelegt, sondern er sagt selbst, daß dasjenige, was subjektiv die niedere Seele ist, man objektiv dadurch charakterisieren solle, daß man zurückgreife auf die von den alten Forschern gebrauchte Bezeichnung Astralleib. «Es gibt demnach» – so führt er aus – «notwendig etwas im Menschen, was die Weisen der Vorzeit als ein σώμα άστεροείδες (Soma asteroeides) und οΰράνιον σώμα (Uranion soma), oder als ein σχήμα πνευματικόν (Schema pneumatikon) geahndet und verkündet, und was als Substrat der mittleren Lebenssphäre das Band des unsterblichen und des sterblichen Lebens ist.» Bei den Dichtern und Philosophen, welche Troxlers Zeitgenossen sind, lebt die Theosophie als Unterströmung; er selbst aber wird diese Theosophie bis zu einem hohen Grade in der ihn umgebenden geistigen Welt gewahr und gestaltet sie in origineller Art aus. So kommt er durch sich selbst auf Vieles, was sich in den uralten Weisheitslehren findet. Es ist um so reizvoller, sich in seine Gedankengänge zu vertiefen, da er nicht direkt auf alten Überlieferungen baut, sondern aus dem Denken und der Gesinnung seiner Zeit heraus etwas wie eine ursprüngliche Theosophie schafft.


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